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Der Frühlingsgarten

Vor etwa einem Menschenalter stand am äußersten Rande der alten süddeutschen Universitätsstadt, in der ich mein erstes Studentensemester verlebt habe, ein einstöckiges, breit hingelagertes Landhaus von vornehmem, wenn auch etwas baufälligem Ansehen, in der Art eines Schlößchens aus dem achtzehnten Jahrhundert. Der kokett geschweifte Dachgiebel über dem Mittelgeschoß, in den die einzige Oberstube des sonst ebenerdigen Hauses eingebaut war, trug noch die Formen eines vereinfachten und ländlichen Rokokos. Dagegen zeigte der auf sechs glatten hölzernen Säulen ruhende Verandavorbau vor dem Mitteltrakt bereits ausgesprochene Empirebehandlung und mochte einem äußeren Bedürfnis zuliebe in der späteren Napoleonischen Zeit angefügt worden sein.

Der Überlieferung zufolge sollte der letzte Kurfürst aus der nachmals erloschenen Linie, die über Stadt und Land regiert hatte, das Schlößchen für eine seiner Mätressen erbaut und hier in ihren weißen Armen so manchen heiter lichten Frühlingsabend und manche schwüle Sommernacht verlebt haben. In der Tat sah man unter dem Verandasäulenbau dicht vor dem Hauseingang eine runde Porphyrfliese in den Boden eingelassen, die das kurfürstliche Wappen mit der Umschrift MON REPOS und der Jahreszahl A D 1773 trug.

Was aber das Schönste war an diesem einstigen kurfürstlichen Liebesheim: es lag inmitten eines mächtigen, ganz verwilderten und verwachsenen Obst-, Blumen- und Baumgartens, der ursprünglich wohl ebenso wie das Haus selbst im französischen Geschmack angelegt gewesen war, denn es zeigten sich noch Reste von Wasserkünsten, schnurgeraden Gartenwegen und ausgearteten Taxushecken. Über dies alles aber waren die Mairegen und Juligluten, Novemberstürme und Märzenschnee eines vollen Jahrhunderts niedergegangen und hatten die zierlichen Blumenbeete fortgewaschen, die gezirkelten Bosketts in wildes Gestrüpp verwandelt und die nackten Leiber der Marmorgöttinnen mit grünen Mänteln von Moos bedeckt. Die warme, weiche, südliche Natur hatte den feuchtüppigen Schoß dieses Bodens mit ihrem fruchtbaren Atem gesegnet. In unerschöpflicher Werdelust hatte sie keimen, wachsen, blühen, absterben und von neuem verschwenderisch aufsprießen lassen, und die bürgerlich geschäftigen Menschen, die hier nach dem wollüstigen Kurfürsten und der galanten Hofdame eingezogen und wieder verschwunden waren, hatten unbekümmert um den Geschmack eines vergangenen Geschlechts in die verfallenen Reste der alten Herrlichkeit hineingepflanzt und -gesät, -gewühlt, -gegraben, bis die einst so übersichtliche und regelmäßige Gartenanlage sich zu einer wuchernden und schier undurchdringlichen Wildnis zusammengeschlossen hatte.

Da standen hundertjährige Ulmen, Linden und Kastanien, breitästig und hochwipflig, in deren Zweigen viele Generationen von Amseln und Finken genistet und ihre Sehnsucht mit immer gleichem Wohllaut in den jungen Lenz hinausgeflötet und -geschluchzt hatten. Der Faulbaum war da, dessen weiße Dolden die ersten Maiennächte mit schwülem Hauch erfüllten, Goldregen, Weiß- und Rotdorn, die es ihm an betäubendem Duft gleichtaten, zarte Pfirsich- und Aprikosenstämmchen, ein Wald von Apfel-, Kirsch- und Birnbäumen, die, angetan mit ihrem weiß und rosa Blütenkleid, in der bleichen Dämmerung windstiller Aprilabende wie Geisterbäume dastanden. Da sah man Reben- und Obstspaliere, an den Mauern des Hauses hinauf- und von Baum zu Baum in Mannshöhe entlang gezogen, dazwischen die langen Rücken der Gemüsebeete: Kohlköpfe, Salate, Küchenkräuter, hochumsponnene Bohnenstangen und niedrigeres Erbsengerank, ein blinkendes, schillerndes, gleißendes, saftgrünes, fettgraues, würziges Blattwerk. Einige Schritte weiter, und man trat über einen üppig weichen Rasenteppich, in den der Fuß versank, in die vornehme Zurückgezogenheit hochstämmiger Rosenstöcke, leidenschaftlich duftender Nelkenbeete und schmachtender Gruppen von Narzissen und Feuerlilien. Aber als ob die neugierige und anmaßende Zudringlichkeit des weit und breit wuchernden Volkes von Nutzpflanzen und Küchenkräutern selbst vor diesem aristokratischen Quartier hochmütig und zwecklos blühender Schönheit nicht haltmachen wolle, so mischten sich zwischen die abgeschlossenen Zirkel der Rosen, Päonien und Narzissen auch hier wieder einzelne Obstbäume von zwangloser Behäbigkeit, verwachsene Himbeer- und Stachelbeersträucher, winzige Beete kriechender Gartenerdbeeren und das Emporkömmlingsgeschlecht kletternder Rebengewinde.

Ringsherum aber um diese Welt von Fruchtbarkeit und Wachstum, geilen Sprießens und hochmütigen Blühens, verwitterter Marmornymphen und zartgrüner Salatköpfe mit dem inmitten eingebetteten Rokokoschlößchen, ringsherum um dies alles zog sich eine dicke, weiße, mannshohe Steinmauer, innen überragt von einer fortlaufenden, undurchdringlich dichten Fliederhecke, die sich zur Himmelfahrts- und frühen Pfingstzeit über und über mit weißen und lila Blütendolden wie zum Brautfest des jungen Frühlings schmückte.

Schlößchen und Garten mochten zur Zeit des alternden Kurfürsten und seines jungen Liebchens noch einsam in der wohlbebauten Ebene gelegen haben, weitab von der schicksalsreichen Universitäts- und einstigen Residenzstadt, die sich mit ihrer hochragenden, efeuumgrünten Schloßruine wohl gerade nur auf das schmale kleine Fleckchen beschränkte, wo die Waldhöhen sich öffnen und dem schnell hinschießenden Bergfluß den Austritt in die dunstige Ebene freilassen.

Auch zu der Zeit, als ich mit ahnungsvollem Herzen und leichtem Gepäck meinen Einzug in das Studententum hielt, war die Stadt, wenn auch auf beiden Ufern dem Fluß entlang weiter hinausgewachsen, doch immer noch mit ihren ausgreifenden Spinnenarmen in einiger Entfernung von der verzauberten Gartenwildnis, und man mußte wohl eine gewisse Mühe und Pfadfinderschaft aufwenden, um den Weg zu entdecken.

Schon am ersten Tage, als ich, um Quartier zu suchen, durch die Straßen der Stadt und weiter hinaus vor die Tore streifte, hatten mich die hohen, fernen Baumwipfel wunderlich angezogen, aber vor der verschlossen abweisenden Parkpforte hatte mich plötzlich der Mut verlassen, und gesenkten Kopfes, als schämte ich mich vor irgendwem oder irgendetwas, hatte ich den Rückzug angetreten. Und nun stand ich an einem warmen, wolkenlosen Aprilnachmittag, tags darauf, zum zweitenmal vor dem bronzenen Gartentor mit seinem hochmütigen Löwenhaupt, das in einer unwahrscheinlichen Heraldik modelliert war.

Ich war mittelgroß, blond, schlank und achtzehn Jahre alt. Die Welt, in die ich soeben hinausgetreten war, erschien mir voller seltsamer Rätsel und holder Abenteuer, die wie bunte Schmetterlinge unter einem tiefblauen Frühlingshimmel vor meinen berauschten Augen gaukelten und mich lockten, ihnen in die traumhafte Ferne nachzujagen. Was Wunder, daß diese grüne wilde Parkeinsamkeit, die hier wie eine umgürtete Insel mitten in den offenen Feldern der reichen Ebene lag, es mir mit ihrer geheimnisvollen Unnahbarkeit angetan hatte!

Das Herz klopfte mir bis zum Halse herauf, als ich mit einem selbstvergessenen Ruck, wie es der letzte Griff eines Ertrinkenden ist, an dem rostigen Ringe des Löwenmaules zog und gleich darauf ein kleiner grauhaariger, über die Maßen dicker Mann, fast wie ein Alräunchen aussehend, mit einem uralt verwitterten und doch wieder merkwürdig zeitlosen Gesicht, mir öffnete. »Kommen Sie nur herein, junger Herr!« sagte er gleichmütig und rückte an seinem Sammetkäppchen. Die Frau wartet schon auf Sie.«

Ohne mir im Augenblick klarzumachen, was das bedeuten könne, da ich mich doch ganz unbekannt hier wußte, folgte ich dem voranwatschelnden Alten, der so etwas wie ein Gärtner oder ein allgemeines Hausfaktotum sein mochte, durch einen dämmergrünen Laubengang und befand mich um eine kurze scharfe Wegbiegung herum plötzlich angesichts des dichtumrankten Schlößchens und vor der schon wartenden Hausherrin.

Es war eine feine, zarte, aber wohlgewachsene und ebenmäßige Erscheinung in mittleren Jahren, mit edeln Zügen, die noch schön zu nennen waren, und großen dunkeln leidenschaftlichen Augen, in die sich verlorne Jugend und überwundener Schmerz gerettet zu haben schienen. Das tief kastanienbraune Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel wellig um die reine freie Stirn. Sie trug ein leichtes, helles, duftiges Sommerkleid und einen Florentinerhut am Arm. Alles an ihr erschien anmutig und mädchenhaft und von so gewinnendem Reiz, daß ich sofort eine unendliche Sympathie in mir empfand, als sei ich einer längst gekannten mütterlichen Freundin wieder begegnet.

Auch schien es, als werde diese rasche Sympathie von der schönen graziösen Frau ein wenig erwidert, denn ich fühlte ihre Augen nicht ohne Wohlgefallen auf mir ruhen, als ich ihr nun mein Anliegen vorbrachte. Seltsam! Alle meine Bangigkeit, mit der ich soeben noch vor dem Gartentor gestanden hatte, war wie durch ein Zauberwort von mir genommen, und es war, wie wenn der heimatliche Friede dieses Frühlingsgartens mir mit sanften weichen Händen über die heißen Schläfen streichelte.

»Haben Sie wirklich den Weg zu uns gefunden?« sagte die schöne Frau und schüttelte lächelnd den Kopf. »Es muß schon ein Sonntagskind sein, wem das gelingt.«

»Ein Sonntagskind?« erwiderte ich. »Das bin ich allerdings. Wenigstens an einem Sonntag geboren. Also halt' ich mich dafür.«

Die schöne Frau sah mich mit einem bedeutsamen Blick an und lächelte wieder.

»Zu uns kommen nur Sonntagskinder heraus. Und nur Sonntagskindern wird aufgemacht.«

Wir schwiegen beide. Ich hatte das Gefühl, als hielte mich irgend etwas im Bann, ich wußte nicht was.

»Aber es ist ja gar nicht so schwer, hier herauszufinden,« meinte ich schließlich unsicher. »Man sieht die Linden und Ulmen schon von weitem.«

»Es mag doch wohl schwerer sein, als es scheint,« entgegnete sie nachdenklich. »Man muß auch die richtigen Augen im Kopfe haben, um die Bäume zu entdecken. Vielleicht haben nur Sonntagskinder die Augen.«

»Ja, eine verzauberte Insel!« sagte ich plötzlich, scheinbar ohne Zusammenhang, und fegte mit meinem Arm begeistert durch die Luft. »Eine richtige verzauberte Insel! Hier werd' ich Gedichte machen können! Gedichte ...!«

»Wollen Sie Gedichte machen oder wollen Sie leben?« fragte sie mit einem reizend mokanten Lächeln um die Mundwinkel, das ihrem mädchenhaft fraulichen Antlitz eine ganz neue Beleuchtung gab.

»Am liebsten beides!« rief ich entzückt. »Denn gehört nicht auch beides zusammen wie Donner und Blitz oder wie Flamme und Licht?«

»Erst leben,« erwiderte sie und hob bedeutsam, doch ohne Lehrhaftigkeit, den Finger. »Erst leben und dann Gedichte machen! Dazu sind Sie nach Monrepos gekommen. Auf die verzauberte Insel, mein Herr.«

Ich sah sie an in ihrer reifen und doch so jugendlichen Grazie und fühlte, wie mir eine Blutwelle ins Gesicht schoß.

»Ja, leben!« rief ich und breitete die Arme hoch über dem Kopf. »Leben! Leben! Und alles andere ... alles andere nachher ...«

»Das findet sich dann von selbst,« fiel sie ein und lächelte ungemein schalkhaft. »Bei Sonntagskindern natürlich nur. Die schütteln die Verse nur so von den Bäumen herunter wie Äpfel und Nüsse. Aber erst müssen doch Bäume gewachsen sein, nicht wahr, mein Herr?«

»Hier gibt es ja Bäume in Hülle und Fülle, um Verse zu schütteln,« sagte ich übermütig.

»Und auch die Menschen sind da, um leben zu lernen,« nickte sie.

Ich mußte mich wohl etwas verwundert umgesehen haben, denn sie setzte lächelnd hinzu:

»Ich habe drei Töchter, mein Herr. Es ist nicht so einsam, wie es scheint. Und jetzt wollen wir Ihren künftigen Musensitz betrachten gehen.«

Plötzlich fiel mir ein, daß ich mich noch nicht vorgestellt hatte.

»Mein Name ist Ziegler, Bernhard Ziegler,« sagte ich und machte eine ziemlich linkische Verbeugung, über die ich mich selbst im stillen ärgerte.

»Frau von Mitnacht,« entgegnete sie einfach.

Auf der Oberstube des Hauses, zu der sie mich über die breite schöngeschnitzte Holztreppe hinaufführte, war wieder die grüne, kühle Dämmerung, die mich schon auf dem Wege durch den Laubengang umfangen hatte. Dunkle Kastanienwipfel hielten sorgsame Wacht vor den drei offenen Fenstern der niedrigen altertümlichen Stube und dämpften das helle Tageslicht mit ihrem dichten Laubschleier, durch den sich nur ein paar besonders vorwitzige Sonnenkringel hindurchstahlen und zitternd auf dem Estrich tanzten.

Die Einrichtung schien aus verschiedenen Zeiten zu stammen. Zierliche Polsterstühle und Sessel, bezogen mit Seidenrips in verschossenem Resedagrün, waren da. Ein kleines gleichfarbiges Sofa auf fünf niedrigen vergoldeten Füßen, zerbrechlich wie für eine Märchenprinzessin, mit mattgoldener Leiste, die in der Mitte der Rücklehne von einem überhöhten Goldkränzchen gekrönt war, stand an der einen Wand. Davor ein länglich schmaler Damenschreibtisch aus Rosenholz, mit hohen geschweiften Beinen, einer kirschroten Tuchbespannung und zart gemalten Blumengewinden auf der erdbeerfarbenen Holzeinfassung rings um das rote Tuch herum. Wie ein unendlich ferner, kaum noch geahnter Duft eines vor Zeiten verstäubten Parfüms schien es den blaßgrünen Sesseln, dem Miniatursofa und dem Rosenholztisch zu entschweben. Aber an der andern Wand brachten das derbe, geblümte Kanapee und der große feste ovale Familientisch, beide im hellen Mahagoni der Biedermeierzeit, einen Ton von gesetzter Wohlanständigkeit in die leise beklemmende Atmosphäre verblichenen Rokokoprunks, und der halbgefüllte Bücherschrank mit wissenschaftlichen Werken verschiedener Disziplinen sowie die beiden gekreuzten Schläger über dem Kanapee verrieten, daß schon vor mir studentische Insassen in der grünen Dämmerung dieser schweigsamen und abgeschiedenen Stube gehaust hatten.

Ein dunkler Vorhang schied den Hauptraum von dem dahinter liegenden Alkoven, der als Schlafzimmer diente. Meine holde Führerin schlug die Portiere zurück und wies in das Stübchen, das durch ein Mansardenfenster in der Rückwand erhellt wurde. Das Fenster stand offen, und man blickte auch hier wieder in die hohen Wipfel der Ulmen und Kastanien. Ein altertümliches französisches Bett von einer Breite, wie sie mir noch nie vorgekommen war, bildete das Hauptmobiliar, das durch ein Paar niedrige Rokokostühlchen, von gleicher Art wie die nebenan gesehenen, und einen breiten, blau bemalten Schrank vervollständigt wurde. Was aber meine Blicke vor allem anzog, das waren die beiden lebensgroßen Porträts, die zu Häupten des übergeräumigen Ruhelagers an der Wand hingen. Ein nicht mehr junger wohlbeleibter Herr in gesticktem Hofkleid mit mächtiger Allongeperücke und von gebietendem Ansehen. Neben ihm eine junge, schlank gewachsene Dame, tief dekolletiert, von zierlichen und dennoch runden und recht greifbaren Formen, in weit gebauschtem Reifrock, hochgekämmter Puderfrisur und mit Gesichtszügen, so anmutig weich und ebenmäßig rein, daß sie mich auf den ersten Blick gefangen nahmen und mir zugleich eine dunkle Erinnerung wachriefen, als sei ich ihnen schon einmal irgendwo und irgendwann im Leben begegnet.

»Wer ist der dicke Herr mit der Hakennase und dem Doppelkinn?« fragte ich meine Nachbarin, die versunken dastand und wie ich zu den Bildern aufsah.

»Das ist Karl Philipp der Fünfte, Kurfürst von der Pfalz,« entgegnete sie nachdenklich, und ihre Augen schienen sich in die Ferne zu verlieren.

»Und das wunderschöne Mädchen daneben? Wer ist das?«

»Liselotte von Merenberg,« sagte sie leise, und dann nach einem Augenblick, mit einem fast wie schmachtenden Ausschlag ihrer tiefen braunen Augen, »meine Urgroßmutter, mein Herr.«

Mein Blick wanderte von der schönen Frau neben mir zu dem schönen Mädchen an der Wand und wieder zurück. Darum also waren mir die Züge auf dem Bilde so vertraut erschienen. Das lebendige Menschenbild an meiner Seite und das gemalte da oben über der Ruhestatt, sie glichen einander wie Mutter und Tochter, oder eher noch wie eine ältere und eine jüngere Schwester. Waren es nicht eigentlich nur der Reifrock und die Puderfrisur, die sie bei flüchtigem Hinsehen unterschieden? Frau von Mitnacht schien meine Gedanken zu erraten.

»Sie finden, daß wir uns ähnlich sehen, meine Ahne und ich, nicht wahr, mein Herr?«

»Ja, das ist geradezu überraschend! Verblüffend wirklich diese Ähnlichkeit! Diese Gleichheit, könnte man sagen!«

»Nur mit dem kleinen Unterschied, daß hier die Urahne die Junge ist, die Urenkelin aber die Alte,« fiel meine Nachbarin ein und hatte ein melancholisches Lächeln um den Mund, wie ich es noch nicht an ihr bemerkt hatte.

»Ach, das ist ... das ist Einbildung, das mit dem Alter, und weiter nichts!« rief ich feurig und wagte es, mir selber unbewußt, ihre feine weiche Hand zu ergreifen. »Sie sind genau so jung und genau so schön wie die Dame da oben aus dem Rokoko. Nein, Sie sind schöner ... Sie sind ... Sie sind ... süßer und schöner ... denn Sie sind wirklich und lebendig, Sie sind von Fleisch und Blut! Die andere aber ist nichts als ein gemalter Schatten an der Wand!«

Ich hatte die Worte herausgesprudelt und gestammelt. Eine seltsame Erregung hielt mich im Bann. War es der zeitferne Duft, der den Resedasesseln, dem Rosenholztisch und der schwülen Lagerstatt entstieg, was mich berauschte?

Frau von Mitnacht hatte den Kopf etwas gesenkt, so daß ich nur ihr feingeschnittenes Profil mit dem ganz leicht angedeuteten Stumpfnäschen sah. Jetzt blickte sie mit ihrem schalkhaften Lächeln zu mir auf und drohte mir mit dem Finger.

»Ei, ei, mein Herr! Wissen Sie auch schon Schmeicheleien zu sagen? Wie früh doch die jungen Leute das lernen! ... Aber ich darf das wirklich nicht hören. Ist das nicht eine alte Frau, die drei erwachsene Töchter hat?«

»Sind die auch so schön wie die Mutter und wie die Urgroßmama?« fragte ich, immer noch in meinem Rausch.

»Anders sind sie!« entgegnete sie nachdenklich. »In ihrer Art vielleicht schöner! Aber es ist ein anderes Geschlecht als wir beide.«

»Ja, Sie beide! Sie beide!« fiel ich ein. »Merkwürdig doch, eigentlich ganz geheimnisvoll, wie die Natur da nach einem ganzen Jahrhundert noch einmal das gleiche Bild aus dem gleichen Holz geschnitten hat!«

»Nur daß die Ahne einen großmächtigen Kurfürsten zum Freunde gehabt hat. Und der Urenkelin Mann ist ehrsamer Theologieprofessor gewesen. Das ist auch ein Unterschied, mein Herr, und kein ganz geringer.«

»Ach, das ist nur so im Äußern der Zeit,« sagte ich und kam mir sehr verwegen mit meiner Hypothese vor. »Ich bin überzeugt, hätten Sie im Rokoko gelebt und Ihre Urgroßmutter heute, es hätte ebensogut umgekehrt sein können.«

»Sie meinen, daß ich dann neben dem Kurfürsten da hinge?«

»Ich weiß ja nicht,« stammelte ich, nun doch etwas verlegen. »Ich könnte mir das ausgezeichnet vorstellen. Und ich würde auch nicht das mindeste daran finden. Ich für mein Teil!«

»Ist das nun ein Kompliment oder ist es keins?« meinte meine holde Nachbarin und wandte ihren Kopf ein wenig zur Seite mit einem entzückend schalkhaften Ausdruck von hilfloser Nachdenklichkeit.

»Für mich unbedingt!« beteuerte ich mit einer mächtigen Armbewegung. »Ganz unbedingt! Ich stehe auf dem Standpunkt ...«

»Sie stehen also auch schon auf einem Standpunkt mit Ihren siebzehn Jahren?« fiel sie ein und lachte herzlich.

»Achtzehneinhalb!« verbesserte ich etwas unmutig.

»Ah, Pardon!« sagte sie mit einer anmutigen Neigung des Kopfes.

»Natürlich stehe ich auf einem Standpunkt!« fuhr ich fort. »Was denn sonst? Erst recht! Wann soll man denn Prinzipien haben, als wenn man jung ist? Später macht ja das Leben doch alles zu Brei.«

»Wissen Sie das so genau?« meinte sie ein wenig spöttisch. »Aber gut! ... Auf welchem Standpunkt stehen Sie denn?«

»Daß das alles so menschlich ist! So natürlich! So schön sogar, wenn die Umstände danach sind!«

»Ei, ei, was für Grundsätze, mein Herr!« sagte sie und drohte mir mit dem Finger. »Denkt die heutige Jugend so?«

»Ich glaube, ja!« rief ich in Ton und Haltung eines Blutzeugen für meine Generation. »Wenigstens viele! Und wenn man so denkt, warum soll man's nicht auch sagen? ... Oder darf ich das nicht?«

»Sagen Sie nur ruhig, was Sie denken,« entgegnete sie mütterlich begütigend. »Dazu haben Sie ja den Weg nach Monrepos gefunden.«

»Dann sag' ich ... aber Sie dürfen's mir nicht übelnehmen ... ich beneide den alten Kurfürsten um seine Wahl, und ich an seiner Stelle hätte es ebenso gemacht. Und was seine Dame da anbetrifft: ich würde der letzte sein, einen Stein auf sie zu werfen. Das ist meine heilige Überzeugung! Und so werd' ich mein Leben lang denken!«

»Bravo, mein junger Herr!« sagte Frau von Mitnacht und klatschte graziös in die Fingerspitzen. »Ich danke Ihnen im Namen von Liselotte von Merenberg. Es sind nicht alle so liebenswürdig in ihrem Urteil wie Sie. Ich glaube, wir werden uns gut verstehen in Monrepos.«

 

Die drei Töchter meiner holden Hausherrin hießen Apollonia, Scholastika und Euphrosyne. Apollonia war etwa dreiundzwanzig Jahre alt, groß, stattlich, mit schwarzen Augen und Haaren und elfenbeingelber Hautfarbe. Die tiefdunkeln breitgezogenen Augenbrauen stießen über der Nasenwurzel beinahe zusammen und überschatteten das klassisch geschnittene Gesicht mit einer Wolke von tragischem Ernst. Etwas Schweres, Düsteres, Klagendes war um die ganze Persönlichkeit, die man für die einer Italienerin hätte halten können, wenn nicht der hohe, nordländische Wuchs gewesen wäre.

Einen merkwürdigen schwesterlichen Gegensatz zu Apollonias stolzer und strenger Erscheinung bildete die mittelgroße, schlanke, zierliche Gestalt von Frau von Mitnachts zweiter Tochter Scholastika. Sie war achtzehn Jahre und erinnerte unter den drei Schwestern in Figur, Gesichtsschnitt und Haarfarbe am meisten an ihre schöne und liebenswürdige Mutter. Nur mangelte ihr das Freie, Heitere, Gewinnende, das die Mutter in Haltung, Miene und Sprechweise auszeichnete. Sie schien mehr von nachdenklichem, versonnenem, träumerischem Wesen, aber ganz ohne die abweisende Würde der älteren Schwester, und was das Schönste und eigentlich Auffallende an ihr, das waren ihre großen, dunkeln, glänzenden Augen von unbestimmter Färbung und vieldeutig wechselndem und geheimnisvollem Ausdruck. Diese Augen waren es, die im Verein mit dem lichtbraunen, kraus um die schmale Stirn fallenden Haar ihrem Gesicht und ihrem ganzen Wesen etwas Märchenhaftes und Erdenfremdes gaben. Sie herrschten und thronten gleichsam über der schlanken, biegsamen Mädchengestalt, wie Sternenlicht über Elfentanz funkelt, und so schien es denn, als sei das wundersame Menschenkind nur wie durch einen Zufall oder durch Götterspruch aus einem unbekannten und schöneren Zwischenreich in diese Erdennacht verschlagen.

Wieder einen ganz eigenen und von der Mutter wie von den älteren Schwestern ganz abweichenden Typus stellte die Jüngste, Euphrosyne von Mitnacht, dar. Sie war mit ihren fünfzehn Jahren bereits groß wie Apollonia und hinwiederum schlank wie Scholastika und übertraf sie beide bei weitem an Raschheit, Gewandtheit, Gelenkigkeit der Bewegungen. Sie besaß die Geschmeidigkeit einer Weidengerte, die einer pfeifend durch die Luft sausen läßt, oder einer Katze, die geduckt und sprungbereit, mit flackernden Augen, auf die Maus lauert. In ihrem Gesicht, das schon ganz das eines erwachsenen Mädchens war, zuckte und wetterleuchtete es beständig von überraschenden Einfällen, Launen, Streichen und trotziger Auflehnung gegen irgendwen oder irgendwas. Ihre graugrünen Augen flimmerten wie das Wasser eines Bergsees durch alle Schattierungen von durchsichtiger Klarheit bis zu tintiger Schwärze und konnten düster klagend wie Apollonias oder träumerisch verloren wie Scholastikas Augen, aber auch recht schelmisch und spitzbübisch in die Welt blicken, welches offenbar ihre eigentliche und ursprünglich eigene Euphrosyne-Art war. Gerade hierin aber erinnerte sie doch wieder auch an ihre Mutter. Von dieser schien sie das Irdische, Selbstgewisse, zugleich Kapriziöse geerbt zu haben, ohne es ihr, wie natürlich, vorerst an gefälliger Harmonie und lächelnder Überlegenheit gleichtun zu können.

Seltsam und von einer absonderlichen Zufälligkeit war es, wie ich die erste Bekanntschaft der drei Mädchen, und zwar eines jeden für sich, machte. Frau von Mitnacht hatte mir, als sie mich in mein Quartier einführte, gesagt, daß sich im hintersten und entlegensten Teile des Parks, der sich in seiner steinernen Ummauerung ein gutes Stück nach rückwärts in die Ebene erstreckte, ein nicht gar großer und tief im Grünen versteckter Weiher befinde, in dem sie und ihre Töchter bei der warmen Jahreszeit täglich zu baden pflegten. Auch mir stände das Baden in dem weichen und milden Wasser frei, und wenn wir uns dort etwa begegnen sollten, so werde es sie und ihre Töchter nicht weiter anfechten, und sie hoffe das gleiche von mir, denn sie denke, daß wir alle wohlgebildete Menschen seien, die sich voreinander nicht zu verstecken brauchten und zugleich doch auch die geziemenden Grenzen einzuhalten wüßten.

Mir war dieses reine und freie Menschentum, das mir in meinen Träumen immer als ein Höchstes vorgeschwebt hatte, doch in der Wirklichkeit und leibhaftig noch nie begegnet, und meine Sinne fieberten ein wenig und bangten zugleich, als ich schon am ersten Abend, wenige Stunden nach meinem Einzug in die Garteninsel, den Weg nach dem geheimnisvollen Weiher suchte. Es war wirklich nicht so leicht, sich durch all diese wuchernden Büsche, Hecken, Laubengänge hindurchzuwinden, um die jungen Salatbeete herumzusteuern und den Haufen von dornigen, zartbegrünten Rosenstämmen klüglich aus dem Wege zu gehen. Auch begann es zu dämmern, und in dem dichten Grün und Grün schienen Weg und Richtung vollständig zu verschwimmen und sich zu verlieren. Während ich mich ratlos umsah und nahe daran war, weder vorwärts noch rückwärts zu wissen, tauchte glücklicherweise, ich wußte selbst nicht recht woher, das alte Gartenfaktotum vor mir auf.

»Sie sind ganz nahebei,« sagte er vertraulich und schien wieder, wie schon nachmittags, ohne weiteres zu wissen, was ich wollte. »Nur hier rechts den Efeugang hinunter, dann über den kleinen Buchenhügel an dem Dianatempelchen vorbei, die Kastanienallee entlang und zwischen den beiden großen Holunderbüschen durch, quer über die Wiese, wo die Sternblumen stehen, zum Nymphenweiher hinab. Sie können es gar nicht verfehlen, junger Herr!«

Damit nickte er mir zu, rückte an seinem Käppchen und war im nächsten Augenblick – ich wußte wieder nicht recht, wie und wohin – verschwunden. Ich sah ihm ganz verblüfft in das sinkende Zwielicht nach, das ihn wie mit einer Tarnkappe umhüllte, und folgte der angegebenen Wegrichtung, die sich mir nun mit einem Male ganz mühelos und wie von selbst zu erschließen schien. Der Efeugang, der Buchenhügel mit dem Dianatempelchen, die hochgewölbte, düstere Kastanienallee, das Schlupfloch zwischen den beiden Holunderbüschen hindurch, die Sternenblumenwiese, alles stimmte, wie es mir das zwergenkleine, faßrunde Männchen beschrieben hatte, und nur eines hatte es vergessen, die blühenden Apfel- und Birnbäume, die den Weiher dicht umstanden und in der fahlen Dämmerung sich merkwürdig unwirklich und gespenstisch, fast wie eine das Wasser hütende Geistergarde ausnahmen. Mir war seltsam bänglich und erwartungsvoll zumut, als ich nun über den dunkeln, unbeweglichen Wasserspiegel hinsah, und fast graute mir vor der ersten Berührung mit der wie verzaubert daliegenden Flut. Plötzlich kam ein Amselpfiff ganz nahe her aus dem Blütenschnee der Apfelbäume, ein zweiter, etwas ferner, antwortete mit einem süßen Flötentriller. Der Geisterbann war gebrochen.

Der Tag war trotz der frühen Jahreszeit heiß, fast schwül gewesen, und mich verlangte nach Kühlung. Ich zog mich aus und sprang kopfüber ins Wasser. Als ich prustend und schluckend wieder zum Vorschein kam, bemerkte ich in einiger Entfernung am entgegengesetzten Ende des länglichen Weihers eine hohe, anscheinend weibliche Gestalt, die mit erhobenen Armen wie aus Stein gemeißelt aufrecht am Ufer stand. Ich erschrak und fühlte unter Wasser mein Herz heftig klopfen. Es beruhigte sich aber ebenso schnell wieder, und ich schwamm mit ein paar kräftigen Stößen näher an die Erscheinung heran.

»Hallo!« rief ich. »Hallo! Wer ist da?«

»Apollonia von Mitnacht!« klang es dunkel und melodisch vom Ufer her.

Ich nannte ebenfalls meinen Namen und entdeckte dabei in meiner nächsten Nähe mitten im Weiher eine kleine, schilfumgrenzte Insel, die mit Büschen bestanden war. Ein schlanker Nachen war halb auf den Strand geschoben. Ich ruderte mich dicht heran und schwang mich auf den Bootsrand, so daß meine Beine in das tintige Wasser hinunterbaumelten. Drüben die Gestalt am Ufer war ruhig auf ihrem Platz stehen geblieben und hatte die Arme ineinandergekreuzt. Zwischen uns waren vielleicht zwanzig Schritt über das Wasser hin Abstand. Einige Augenblicke war Schweigen. Dann sagte die dunkle melodische Stimme:

»Sie sind unser neuer Hausgenosse, nicht wahr?«

Ein leises Echo schien irgendwoher zu antworten.

Ich bejahte und fragte, ob ich sie durch mein plötzliches und unerwartetes Auftauchen etwa erschreckt hätte.

»Ich bin nicht so schreckhaft von Natur,« kam es zurück.

»Also gar keine Furcht?«

»Wovor?«

»Nun, so mutterseelenallein hier in der Einsamkeit und der Dämmerung?« sagte ich und wunderte mich, warum das Echo immer nur ihr zu erwidern schien und nicht auch mir.

»Wir sind unser Leben lang allein,« klang es wieder über das Wasser her, und das Echo wiederholte wie aus weiter Ferne: »Leben lang allein.«

»Selbst im hellsten Tageslicht und im dichtesten Menschenschwarm,« fuhr die düstere, klagende Stimme fort. »Ich ziehe mir die Einsamkeit und die Dämmerung vor,« und »Dämmerung vor« antwortete es hinter mir aus den Tiefen des Gartens.

Ich sah mich unwillkürlich um, als habe mir jemand die Hand auf die Schulter gelegt. Wie ich den Kopf zurückwandte, war die dunkle Gestalt des einsamen Mädchens verschwunden. Mich fror plötzlich, und ich merkte, daß der Abend kühl wurde. Ich schwamm eilig wieder ans Ufer, zog mich an und suchte durch den schon stark dunkelnden Park den Rückweg zum Hause, den ich merkwürdigerweise auch ohne Schwierigkeit fand.

Als ich am anderen Morgen nach kurzem, traumschwerem Schlaf erwachte, zwinkerte die Frühsonne vergnügt auf meine geräumige Lagerstatt, und das Mobiliar ringsum, das am Abend vorher wie mit schwarzen Schleiern angetan dagestanden hatte, blinzelte mich mit lustig verkniffenen Augen an und schien auf einem Bein tanzen zu wollen. Ehe ich's mich versah, befand ich mich wieder im Garten und auf dem Wege zu dem vertrackten Weiher, der sich mir jetzt endlich im klaren Tageslicht und entkleidet alles Geheimnisvollen zeigen sollte. Der Morgentau funkelte auf Gräsern und Blättern. Die Sonne, die einige Augenblicke verhüllt gewesen war, arbeitete sich unter ihrer Decke wieder empor und lag groß, breit und selbstzufrieden auf ihrem Wolkenpfühl wie das Haupt des Gerechten auf einem Polster von Daunenkissen.

An einem Spargelbeet stand wieder das alte, wurzelhafte Alräunchen, das ich nun schon als einen unvermeidlichen und allgegenwärtigen Hausgeist ansah, und jätete das zwischen den Spargeln sich vorwagende Unkraut aus dem sandigen Grund.

»Wie geht's, Alterchen?« fragte ich und klopfte ihm auf die Schulter. »Schon wieder rüstig bei der Arbeit?«

»Danke der Nachfrage, junger Herr!« erwiderte er, während er aus einer kurzen Stummelpfeife paffte. »Es ist genug zu versehen in so einem Revier, wo es kein Aufhören gibt.«

»Kein Aufhören? Wie meinen Sie das?« forschte ich kopfschüttelnd.

»Wenn die Kirschen ausgeblüht haben, ist der Spargel da, und wenn es mit dem Spargel zu Ende will, schickt sich der Wein zum Blühen an. So geht es das ganze Jahr. Es steht nie still hier im Revier. Kein Tag, wo man seine Hände in den Schoß legen kann.«

»Aber im Winter?« warf ich ein. »Da ist doch alles tot?«

»Tod ist Leben und Leben ist Tod,« sagte der Alte und stieß aus seiner Stummelpfeife eine dicke, graublaue Wolke, die sich sacht zerteilte und dünner und dünner verschwebte. »Ein Gärtner muß es auch im Winter wachsen hören. Ein Gärtner muß eigentlich immer mit den Ohren am Boden liegen und auf das Junge lauern, was kommt.«

»Oder auf das Alte, das geht,« warf ich ein.

»Das Alte, das geht von selbst,« erwiderte das Männchen und sah mit seinem verschlissenen und verwetterten Gesicht seinerseits so uralt aus, wie mir noch kein Mensch im Leben begegnet war. Es mochte auch wirklich etwas von meinen Gedanken erraten, da es ein ganz pfiffiges Lächeln um die Mundwinkel hatte, wie es bedächtig hinzusetzte: »Aber das Junge, das noch sozusagen unter der Erde ist, dafür heißt es Augen, Ohren und Hände haben, sonst wächst es ins Kraut, statt in Blüten und Samen.«

»Und wie lange treiben Sie das hier schon?« fragte ich nach einem Augenblick des Schweigens.

»Das weiß ich selbst nicht zu denken,« kam die Antwort.

»So ungefähr?« forschte ich weiter.

»So lange wie der Garten hier steht,« erwiderte der Alte etwas mürrisch und beugte sich wieder in die Knie, um weiter zu jäten.

»Aber das ist doch ganz unmöglich!« rief ich ganz betreten, indem ich an Karl Philipp den Fünften von der Pfalz und seine Rokokodame dachte, die schon in diesem Garten gewandelt waren.

Das Wurzelmännchen sah mich aus seiner Hantierung herauf mit grimmigem Lächeln an.

»Wenn Sie es besser wissen als ein einfacher Gärtnersmann, der schon alt war, als die Bäume ringsum noch klein und jung standen, dann fragen Sie doch nicht erst, junger Herr! Und jetzt gehen Sie nur zum Nymphenteich! Unser jüngstes Fräulein ist schon da.«

Es war, wie er gesagt hatte. Als ich mich durch die Holunderbüsche hindurchzwängte und über die Sternenblumenwiese zum Weiher hinuntereilte, hörte ich es aus dem Wasser her bereits lustig plätschern und dazwischen hell aufjauchzen. Ich sprang in großen Sätzen hinab, um nicht zu spät zu kommen, und stand im nächsten Augenblick am Rande des Teiches, dessen Spiegel jetzt im Morgensonnenlicht so blank und klar glitzerte, als seien Dunkel und Grauen des gestrigen Abends ein verschollener, nie wiederkehrender Traum gewesen. Auch die blühenden Birn- und Apfelbäume um das Wasser herum standen wieder als richtige, ehrbare, sozusagen bürgerliche Obstbäume da, die sich ihrer nutzbringenden wirtschaftlichen Bedeutung wohl bewußt waren und keine Erinnerung mehr an ihr voriges Spukwesen zu bewahren schienen. Ich hatte dies alles mit dem ersten Blick aufgefaßt und sah mich suchend nach dem plätschernden und ausgelassenen Menschenkind um, das mich schon von weitem mit seinem Jubel angezogen hatte. Richtig tauchte auch sogleich ein sprudelnder und strudelnder Mädchenkopf über der zerteilten Flut auf und schüttelte lachend das lange, fließende, rotbraune Haar. Das ziemlich durchsichtige hellrosa Schwimmkostüm schmiegte sich klatschnaß um die schlanken, nervigen Glieder, indem es Hals, Nacken und Arme freiließ.

»Ah! Unser Herr Dichter! Unser frisch aus der Fremde importierter Herr Dichtersmann!« rief das weißnackige Fräulein und strampelte so ausgelassen mit den Beinen im Wasser herum, daß es wie eine Fontäne um sie aussprühte und die stiebenden Tropfen in der Sonne funkelten.

»Ja, und Sie sind gewiß eine Feenmaid,« gab ich zurück, »der alte Gartengeist hat Sie mir zwar als Fräulein Euphrosyne von Mitnacht angekündigt.«

»Zu dienen! Die bin ich! Auch Käthchen genannt! Das äußerst widerspenstige und borstige Käthchen genannt! ... Aber jetzt schnell! Ins Wasser mit Ihnen! Ich schwimme nach drüben und kehre Ihnen den Rücken! In zwei Minuten haben Sie bei mir zu sein! Und das da als Vorgeschmack, mein hochwohlweiser Herr Prinz und Dichter!«

Dabei holte sie mit ihrer Hand wie mit einem Schöpfeimer über das Wasser hin und schleuderte mir eine größere Ladung herüber, so daß ich ein hübsches Teil davon abbekam. Na warte! dachte ich mir, zog mich, so schnell ich konnte, aus und war gleich darauf im Wasser.

Ich schwamm eilig und fast lautlos durch die Länge des Weihers, vorüber an dem bebuschten und umschilften Inselchen mit dem etwas morschen Boot, und war nach wenigen Minuten dicht hinter dem scheinbar lässig dahinschwimmenden Mädchen, dessen gestreckter Amazonenkörper sich in den dünnen, enganliegenden Schwimmhöschen kraftvoll und jugendlich abzeichnete. Aber wie ich eben zu einem gehörigen Spritzer gegen sie ansetzen wollte, warf sie sich überraschend herum, holte mit beiden Armen wie eine Schnitterin, die eine Garbe auf den Erntewagen wirft, eine mächtige Tracht Wasser aus der Tiefe des Weihers und schüttete sie mir in klatschender Sturzflut über den Kopf. Ehe ich noch das Wasser, das mir aus Nase, Ohren und Mund troff, richtig abschütteln konnte, hatte sie mich in einem geschickten Bogen umgangen, war mit langen Stößen über die Breite des Weihers geschossen und in einem kurzen jähen Satz aus dem Wasser ans Ufer geschnellt, wo ich die geschmeidige Gestalt hinter den Büschen verschwinden sah. Eine helle, schmetternde Lache kündigte mir den Platz, im Grünen versteckt, auf dem sie sich ihrer nassen, durchsichtigen Hülle entledigte und wieder in ihre sittsamen Mädchenkleider schlüpfen mochte. Aber meine Hoffnung, sie wenigstens noch aus der Ferne zu erblicken und einen lustigen Gruß von Wasser zu Land mit ihr auszutauschen, war vergebens. Recht enttäuscht und im wahrsten Sinne begossen, schwamm ich noch ein paarmal patrouillierend in dem Weiher auf und ab und ging dann, als sich nichts mehr regte und nur das Amselkonzert sich von Ufer zu Ufer antwortete, ebenfalls an Land.

Um die Mittagsstunde des gleichen Tages lernte ich Scholastika, die zweite Tochter der Frau von Mitnacht, kennen. Ich hatte den Vormittag mit Ordnen und Einrichten im neuen Heim verbracht und ging, als ich es von fernen Türmen zwölf schlagen hörte, noch etwas in den Garten, um mich von der ungewohnten Mühe des Auspackens und Einräumens zu erholen. Auf den sonnigen, aber doch etwas zweifelhaften Morgen war wieder ein heißer und wolkenloser Tag gefolgt. Das Firmament breitete sich in einer tiefen, strahlenden Bläue, die meine nordischen Augen hier zum ersten Male erblickten. Mir war, als sähe ich den Äther wie in kleinster, durchsichtigen Kristallkügelchen leuchten, zittern und funkeln, und ich mußte geblendet die Hand als Schirm über die Augen halten.

So ging ich eine Weile zwischen verwilderten Bosketts und über einst vielleicht wohlgepflegte Gartenwege, auf denen Gras und Unkraut um die Wette wuchsen. Es war totenstill in der grünen Einsiedelei. Ein weißer Schmetterling gaukelte lautlos vor mir her wie ein vom Baum geglittenes Blatt. Sonst regte sich nichts. Auch die Finken und Amseln schienen nach ihrem Frühkonzert sich in einem Mittagsschläfchen auszuruhen, und selbst von dem zeitlosen und allgegenwärtigen Gartenwart war keine Spur zu entdecken. Aber nein! Da sah ich ihn bei einem unvermuteten Durchblick über Wiesen und Gemüsebeete hin an einem kleinen Hain alter Waldbäume stehen und mit einer langen, weitausgreifenden Gartenschere aus dem hellen, zarten Grün der hohen Wipfel trockene Äste und Reiser herausschneiden. Und jetzt, war es nicht, als habe er mich ebenfalls bemerkt und mache mir ein Zeichen mit seiner Stangenschere hinüber nach der Richtung, wo ich nun schon den Nymphenweiher wußte?

In einer Art von unwillkürlichem Trieb, der schon fast der Gewohnheit entsprang, schlug ich den bekannten Weg ein und kam über den Hügel mit dem Dianenrund in die Kastanienallee, an deren anderem Ende man zum Weiher hinabstieg. Hier unter den hochgewölbten, dicht zusammengeschlossenen Baumwipfeln war Kühlung und Schatten, und ich mußte meine Augen erst aus dem blendenden Sonnenlicht an die Dämmerung des Laubenganges gewöhnen, ehe ich die helle Gestalt eines langsam dahinwandelnden Mädchens gar nicht weit vor mir gewahrte. Ich dachte mir sofort, daß dies Fräulein Scholastika sein werde, und ging schneller in dem Gefühl, ich müsse dem artigen Zufall zu Hilfe kommen, der mir auf so einfache und doch wieder besondere Weise nun auch die Bekanntschaft der dritten Schwester vermitteln wolle. Je näher ich kam, desto auffallender war es mir, wie sehr die Erscheinung, von hinten gesehen, in Schlankheit des Wuchses und Grazie der Haltung der meiner holden Hausherrin selbst glich. Wie aber, blitzte es gleichzeitig in mir auf, wenn es weder Mutter noch Tochter, sondern ihrer beider Urahne wäre, die aus dem Rokokorahmen über meinem Kurfürstenbett gestiegen und dazu verurteilt wäre, für eine schwüle Mittagsstunde hier an der Stätte ihres Erdenromans geisternd umzugehen?

Ähnelte nicht die galante Hofdame, deren längst zu Staub zerfallene Reize ein vergessener Maler der Nachwelt vorbehalten hatte, ähnelte sie nicht, wie ich mich gestern überzeugt hatte, ihrer schönen Urenkelin auf ein Haar, so wie die Mädchengestalt da von rückwärts gesehen es tat? Und konnten in diesem verzauberten Garten, in dem der Geist des Rokokos aus aller Verwilderung zu mir sprach, nicht auch die Geister jener versunkenen Welt wieder lebendig werden und dem Spätgeborenen zu reden beginnen?

Ein fremder Schauer wie aus einem Grabgewölbe wehte mir durch den Kastaniendom entgegen, und ich fühlte mich fast versucht, wieder kehrtzumachen. Aber dann schalt ich mich selbst einen Feigling und Hasenfuß und beschleunigte meine Schritte, um mir auf jeden Fall den Rückzug abzuschneiden.

Bald hatte ich die ruhig und wie sinnend hinschreitende Gestalt eingeholt und räusperte mich kurz. Sie schien ein wenig zusammenzuschrecken und wandte sich zu mir um, und nun war kein Zweifel mehr, daß ich es weder mit der schönen, reizenden Mutter noch mit der schmachtenden, graziösen Urahne, sondern mit einem ganz eigenen, achtzehnjährigen Mädchenwesen zu tun hatte, das zwar in vielen einzelnen Zügen Mutter und Urahne glich, in anderen aber von ihnen abwich, und vor allem durch die großen, dunkeln, phantastischen Augen seinen besonderen Ausdruck erhielt. Glänzten und leuchteten sie nicht, wie ein wundersamer Stein tief aus dem Bergschacht gleißt und von geheimnisvollem Zauber unterirdischer Gewalten kündet? Ein Strahl aus diesen Augen genügte, um, wen er traf, ohne Hilfe und Rettung zu verblenden, und fühlte ich nicht, wie auf den ersten Blick der Strahl mich getroffen und der Zauber mich gebannt hatte?

»Fräulein Scholastika von Mitnacht, nicht wahr?« sagte ich mit einem leisen Beben in der Stimme, nachdem ich zuvor meinen eigenen Namen genannt hatte.

Sie nickte mit einem verträumten Augenaufschlag und hatte ein eigentümliches, ernsthaftes Lächeln um den Mund. »Das ist seltsam!« sagte sie.

»Was denn, mein Fräulein?«

»Daß wir uns um diese Stunde hier begegnen. Lieben Sie auch so die Mittagsstille wie ich? Ich finde, es ist die geheimste Stunde am Tage. Nicht?«

»Ja, sonderbar dieses Schweigen ringsum!« nickte ich.

»Aber das Schweigen tönt,« meinte sie versonnen. »Man kann sich so viel daraus deuten, wenn man will.«

Wir gingen ein Stückchen wortlos nebeneinander hin. Ein jedes schien seinen Gedanken überlassen. War es die Stille, die auf mich drückte? Ich fühlte mir das Herz beklommen und die Kehle zugeschnürt. Wie ein Mantel von Blei lag es mir um die Glieder. Ich mußte mich gewaltsam aufraffen, ihn abzuschütteln.

»Ich glaube gar, Sie machen ebenfalls Gedichte, Fräulein Scholastika?« sagte ich schließlich und lachte etwas gezwungen.

»O nein! Fürchten Sie nichts!« antwortete sie und hatte wieder das ernsthafte Lächeln, das mir zuerst aufgefallen war. »Ich bin ein ganz prosaisches Menschenkind, das noch nicht einen einzigen Vers auf dem Gewissen hat. Ich wüßte gar nicht, wie man das macht.«

»Wirklich?« meinte ich ziemlich ungläubig. »Ich würde Ihnen ohne weiteres die schönsten Verse zutrauen. Aber freilich ... andere dazu begeistern, ist noch tausendmal schöner als selber welche zu dichten.«

Das schöne Mädchen drehte mir halb den Kopf zu und sah mich von der Seite her mit einem Blick an, in dem sich Verwunderung, Zweifel und ein wenig Spott zu mischen schienen.

»Soviel ich weiß,« sagte sie dann ruhig, »habe ich noch niemand zu Gedichten begeistert.«

»Dann werd' ich also der erste sein, der sich begeistern läßt!« sprudelte ich heraus und hielt, erschrocken über meine eigene Verwegenheit, sogleich wieder inne.

Sie schwieg und runzelte etwas die Stirn. Hatte ich sie durch meine täppische Plumpheit, ohne es zu wollen, gekränkt? Ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopfe stieg und ich über und über rot wurde. Sie sah mich wieder von der Seite an, schien es zu bemerken und lächelte, was zur Folge hatte, daß ich noch tiefer errötete. Ich ärgerte mich im stillen über mich selbst und nahm mir vor, meine Dummheit wieder gut zu machen.

»Seien Sie mir nicht böse, Fräulein Scholastika!« sagte ich, zuerst noch etwas stotternd. »Ich habe Sie nicht verletzen wollen. Es entfuhr mir so. Ich weiß selbst nicht, wie es kam.«

Sie lächelte versöhnt und warf mir einen dankbaren Blick aus ihren dunkelglänzenden Belladonnaaugen zu, der mich sofort von neuem in Flammen setzte.

»Eigentlich kann es doch niemand beleidigen,« rief ich, »wenn er einen andern zu etwas begeistert! Die Sonne da oben weiß ja auch nicht von sich selbst, daß sie leuchtet und wärmt und das alles hier wachsen läßt, und doch tut sie's. Warum soll sich ein junger Mensch nicht von einem wunderschönen jungen Mädchen zu Versen anregen lassen? Wozu ist man denn jung und neu? Doch nicht, um wie ein Wasserapostel durch die Welt zu nüchtern! ... Also gelt, Fräulein Scholastika, Sie sind wieder gut? Sie geben mir Ihre Hand und lassen mir wieder Ihre Gnade leuchten?«

»Hier haben Sie meine Hand!« sagte sie mit offener Herzlichkeit. »Und böse bin ich Ihnen gewiß nicht gewesen. Aber Sie haben so etwas Spöttisches im Ton. Das wissen Sie vielleicht selbst nicht?«

»Ich spöttisch?« rief ich ganz verdutzt. »Ich spöttisch? Wer das von mir sagt! ... Begeistert war ich! Begeistert bin ich, wie noch nie in meinem Leben! Ich spöttisch? Sie sind spöttisch, Fräulein Scholastika! Sie! Sie!«

»Dann sind wir es eben beide und wissen es nicht,« lachte sie. »Aber nein!« fuhr sie ernster fort. »Sie müssen nicht denken, daß wir zimperlich sind, wir drei Mädchen hier! Das haben wir von unserer Mutter gewiß nicht gelernt! ... Was sagen Sie zu unserer Mutter? Ist unsere Mutter nicht schön?«

Ich stimmte lebhaft und eifrig ein.

»Und gut und klug!« setzte sie hinzu. »Eine solche Frau wird es so bald nicht wieder geben.«

»Und wissen Sie, woran Sie mich vorhin von rückwärts erinnerten?«

Sie sah mich fragend an.

»Nun eben an Ihre Mutter, Fräulein Scholastika!«

»Sagen Sie Gretchen,« fiel sie ein. »Wir drei nennen uns untereinander Klärchen, Gretchen und Käthchen, der Einfachheit halber. Unsere richtigen Namen klingen so tantenhaft. Käthchen, das ist Euphrosyne, unsere Jüngste, meint, zu den Namen gehören eigentlich große Nachthauben, die bis über die Ohren gehen und mit langen Bändern vorne zum Zubinden unterm Kinn. Wenn wir einmal alte zittrige Damen sind, glaub' ich, werden die Namen wohl passen.«

»Wie sind Sie denn zu den Namen gekommen?« fragte ich mit einiger inneren Verwunderung, daß mir das Ungewöhnliche daran erst in diesem Augenblick auffiel.

»Unser Vater war Kirchenhistoriker und Theologe, ein hochgelehrter Mann. Unsere Namen stehen hintereinander im Kirchenkalender vom Februar. Er hat gewiß eine ganz tiefe und sinnvolle Absicht dabei gehabt. Nur weiß kein Mensch mehr, welche. Aber die Namen haften uns nun wie Nachtmützen durchs Leben an. Wissen Sie, wie unsere Freunde uns nennen? Die drei Fastnachtsheiligen! Im Gegensatz zu den drei Eisheiligen! Weil öfters Fastnacht auf unsere Namenstage fällt.«

Ich mußte herzlich lachen, wie sie das alles so ruhig und ernsthaft und mit einem kaum merkbaren Lächeln erzählte.

»Die Fastnachtsheiligen!« tröstete ich sie. »Das ist doch so übel nicht! Das klingt ja lustig genug! Man möchte sofort zu tanzen anfangen!«

»Ach, wir sind alle drei keine Fastnachtsmenschen,« erwiderte sie melancholisch. »Selbst Käthchen nicht, die noch die lustigste von uns ist. Wir sind spätes Blut. Sie sagten vorhin, ich ähnele meiner Mutter. Nein, dazu hab' ich's weit. Unsere Mutter ist von ganz, ganz anderm Schlag.«

»Soll ich Ihnen verraten, an wen Sie mich noch erinnerten, als Sie so durch die Allee hingingen?«

»Nun?«

»An Ihre Ururahne! Die bei mir oben im Zimmer hängt!«

»An Liselotte von Merenberg, die Geliebte Karl Philipps von der Pfalz? Ja, es heißt allgemein, daß ich ihr ähnlich sehe. Übrigens unsere Mutter noch mehr! ... Ach ja, wer Liselotte von Merenberg wäre!«

Ich sah meine Begleiterin von der Seite an. Sie hatte den Kopf ein wenig geneigt. Die Augen blickten verschleiert in die Ferne.

»Wünschten Sie, die zu sein?« fragte ich nach einem Augenblick.

»Was hilft alles Wünschen?« erwiderte sie mit einem müden Achselzucken. »Gerade, was man sein möchte, das kann man nie werden. Dazu müßte man eben ganz anders sein, als man ist.«

»Und dann wünschte man sich vielleicht wieder das Gegenteil,« warf ich ein.

»Nein, nein,« fuhr sie fort, »wir alle drei sind alte Menschen, so jung wir sind. Das werden wir wohl von unserem Vater haben. Unsere Mutter ist jung und wird es auch bleiben. Und wie jung muß erst unsere Ururahne gewesen sein! ... Darum kann sie auch nicht zur Ruhe kommen.«

Ich sah überrascht auf.

»Nicht zur Ruhe kommen?«

Sie nickte mehrere Male nachdenklich vor sich hin.

»Ja, es soll Leute geben, die sie im Garten wandeln sehen.«

Wir schwiegen beide. Ich fühlte, wie es mir leise über den Rücken kroch.

Nichts rührte und regte sich in den spitzbogigen Wipfeln der uralten Kastanien, in deren kühlem Schatten wir langsam nebeneinander auf und ab schritten. Ich glaubte, das Mädchen an meiner Seite atmen und ihr Herz klopfen zu hören.

Mir war plötzlich seltsam weich und wunderlich zumute. Ich sehnte mich nach einer Seele, die wie die meine zu bangen und sich zu sehnen verstünde, nach Augen, in denen ich untertauchen, nach Lippen, von denen ich trinken, nach einem klopfenden Herzen, das ich umfangen könnte, und wie ein Lichtpünktchen in fernster Ferne eines stockdunkeln Grubenganges blitzte ein augenblickskurzes Erinnern auf, als ob dies alles schon einmal vor urlanger Zeit sich zugetragen, blitzte auf, das Pünktchen, und verschwand im Nu.

»Glauben Sie nicht auch,« sagte meine Begleiterin in die traumschwere Stille, »daß man wiederkommen kann, weil man sich noch nicht ausgelebt hat auf Erden? Vielleicht weil man jung gestorben ist, oder auch, weil man nicht satt geworden ist am Lebenstisch, so alt man war?«

»Schon möglich!« sagte ich zerstreut und dachte an das Grubenlichtchen, das sich im Dunkel des Bergschachts verloren hatte.

»Dann werden wir wohl alle drei einmal hier im Garten spuken, Apollonia, Euphrosyne und ich,« sagte sie mit einem kurzen Lächeln, »und werden nach dem Schein des Lebens jagen, nachdem das wirkliche Leben an uns vorübergegangen ist.«

Ihre Worte klangen trüb und resigniert. Und doch mußte ich unwillkürlich lächeln, wenn ich mir vorstellte, daß es ein achtzehnjähriges Mädchen, nicht älter als ich, war, das so sprach.

»Aber was hätte denn Ihre Urahne für einen Grund, hier umzugehen?« fragte ich. »Ich dächte, die hätte sich ausgelebt genug?«

»Wer weiß?« meinte sie achselzuckend. »Vielleicht hat sie sich noch nach etwas anderem gesehnt, als einen alten Kurfürsten zum Freund zu haben! Vielleicht auch nicht! ... Aber daß sie den Mut hatte, das zu sein, was sie war, trotz des Urteils der Welt, darum nenn' ich sie jung. So jung, wie keine von uns!«

»Den Mut hätten Sie also nicht?« fragte ich leise und fühlte mein Herz stärker schlagen.

Sie sah mir voll ins Gesicht. In ihren Augen schien hinter dichtem Schleier ein tief geheimes Feuer zu leuchten.

»So zu sein wie Liselotte von Merenberg?« sagte sie. »In manchen Stunden vielleicht den Wunsch! Aber wohl niemals im Leben den Mut! ... Ist das nicht lächerlich dumm?«

»Und verwünscht tragisch zugleich!« erwiderte ich und fühlte eine warme, weiche Flut von Mitleid in mir aufsteigen. Ich hätte die Arme ausbreiten und das schöne, ernsthaft lächelnde Mädchen an meine Brust ziehen mögen, um ihm die dunkeln Schatten von Stirn und Lidern wegzuküssen und Herz an Herz, Mund auf Mund mit ihm das Alter und den Tod zu vergessen.

 

Holde, unvergeßliche, beflügelte Tage von Monrepos! Beglänzt vom Rosenlicht feuchtschimmernder Morgenfrühe! Überstrahlt von blendender Mittagshelle über tiefschweigendem Wipfelmeer! Durchleuchtet von ausgegossener Sonnenuntergangspracht in Hecke und Busch, in Garten und Hain! Umdroht von zuckendem Schwefelschein und dumpf krachendem Donnerschlag, von stürzender Regenflut und tausendstimmigem Sturmgeheul! Befriedet vom weißen fließenden Silberlicht um mitternächtliche Giebel und Erker und von unendlicher Sterne Gefunkel über Wiesendämmern! Goldene, nie wiederkehrende Tage von Monrepos! Es stehen die hundertjährigen Kastanien über und über bis in die höchsten Kronen hinauf mit weißen und roten Kerzen wie Weihnachtsbäume besteckt. Es jubeln die Vogelchöre in den Dämmerstunden, kurz vor Tag, dem heraufsteigenden Morgen entgegen und begleiten das sinkende Gestirn mit sehnsuchtsvoller Klage zur abendlichen Rast. Der schwüle Atem des Faulbaums streicht Welle nach Welle durch die Mondnacht zu mir herüber, und die weichen violetten Wogen fernher über den Garten getragener pfingstlicher Fliederdüfte am lichtesten Maientag umfangen meine morgendlichen Sinne ganz. Helle, flatternde Mädchengewänder blitzen zwischen wucherndem Efeugrün auf und verschwinden hinter undurchdringlich verwachsenen Taxuswänden. Weiße Marmornymphen, die nackten Reize kokett und dürftig von Moos umhüllt, schmachten aus blühender Narzissen Umarmung dem tastenden Blick entgegen, und zwischen verschlafenen Bosketts, unterm düsteren Kastaniendom und durch das entfesselte Traumreich schwüler mitternächtlicher Sehnsuchtswünsche schwebt lockend, gaukelnd, sinnlich graziös meine Dame aus dem Rokoko.

Über dem allen aber schienen unermüdlich Auge und Hand des eisgrauen, uralt geschäftigen Gartenmeisters zu walten. Oftmals hörte man den hellen schürfenden Klang seiner Erdhacke von entfernten Gemüsebeeten her. Axtschlag hallte dumpf durch das grüne Revier, und das gierige Wetzen seiner Sense schrillte gell über den feuchten dunstigen Wiesenplan.

»Ist es wahr, daß er so alt wie der Garten hier ist?« fragte ich eines Tages Frau von Mitnacht, als wir in der Jasminlaube saßen und wieder einmal aus weiter Ferne sein rastloses Dengeln vernahmen.

»Schlößchen und Garten sind gut ein Jahrhundert alt,« entgegnete sie nachdenklich, und es schien, als ob sie mir ausweichen wolle. »Haben Sie nicht die Jahreszahl auf der Porphyrfliese vor der Haustür gelesen?« setzte sie nach einem Augenblick hinzu.

»Gewiß! Gewiß!« sagte ich. »Aber was hat das mit Eli zu tun?« Eli war die Form, unter der wir seinen ehrwürdig biblischen Namen Elias abzukürzen pflegten.

»Er behauptet ja sogar,« fuhr ich fort, »er sei schon alt gewesen, als die Bäume und das alles hier noch jung waren. Danach müßte er ja seine zweihundert Jahre auf dem Rücken haben?«

Frau von Mitnacht lächelte vor sich hin.

»Sieht er nicht auch so aus?«

Ich fuhr mir aufgeregt mit der Hand durchs Haar und klopfte mir auf die Schädeldecke.

»Zweihundert Jahre gelebt, Frau Amalia? Das ist doch grauenvoll! Zweihundert Sommer und Winter auf Erden gelebt!? Das ist doch nicht auszudenken!«

»Für einen Gärtnersmann? Warum nicht?! ... Aber vielleicht macht es ihm Spaß, Sie ein bißchen zum besten zu haben, liebster Bernardo! Oder er bildet sich's wirklich ein, die Kastanien und Ulmen mit eigener Hand gepflanzt zu haben. Dann lassen Sie ihm doch seinen Wahn! Alte Leute sind wunderlich! Wir werden es dermaleinst auch nicht besser treiben, mein Freund!«

»Gott bewahre mich vor zweihundert Jahren!« schrie ich ganz entsetzt und faßte mir an den Kopf, in dem es zu wirbeln begann. »Und sagen Sie, Frau Amalia,« fuhr ich, nun einmal im Zuge, fort, »wie konnte er wissen, daß ich kommen würde, damals, am ersten Tag?«

»Wußte er das?«

»Er sagte, Sie erwarteten mich schon. Also müßten auch Sie ...? Ganz unbegreiflich!«

Sie unterbrach mich lächelnd.

»Er hat nun mal die Manie, alles vorauszusehen und alles besser zu wissen. Und was mich betrifft ... Warum soll man denn nicht auf etwas Liebes und Angenehmes warten, das vielleicht unterwegs sein könnte? Manche warten ihr Leben lang darauf, und es kommt nie. Ich habe doch wenigstens nicht umsonst gewartet. Sie kamen ja, mein Freund!«

Sie sah mich mit einem Blick schalkhafter Sympathie an, vor dem ich unwillkürlich die Augen niederschlug. Ihre Stimme hatte den süßen, schmeichelnden Celloklang, der von Seele zu Seele spricht. Vom ersten Moment an hatte mich der tiefe Wohllaut dieser Stimme gebannt und mit geheimem Gesang erfüllt. Aber heute schienen die Worte weicher und schmelzender denn je von ihren Lippen zu fließen. Und ein verborgener rätselhafter Sinn schien in den Geigentönen mitzuklingen. Ich erhob meine Augen und ließ sie in einem umfangenden Blick an ihrer schmiegsamen Gestalt heruntergleiten. Ihre Augen begegneten den meinen, und es war, als neige sich ihr jugendlich-fraulicher Leib der kosenden Umarmung meines Blicks. So war das Schweigen weniger Sekunden. Ein leiser Seufzer hob ihren schön atmenden Busen. Sie sah aus ihrer Verlorenheit auf und lächelte von neuem.

»Schon vor Ihnen haben junge, hoffnungsvolle, lebensfrohe Menschen an die Parkpforte von Monrepos geklopft, und Eli der Alte hat ihnen aufgetan. Vielleicht hat er sie ähnlich begrüßt wie Sie, Bernardo?«

»Und eine wunderschöne Frau im duftigen Frühlingskleid wird sie auch ebenso herzlich und freudig empfangen haben wie mich, nicht wahr, Frau Amalia?« erwiderte ich und fühlte eine Welle des Unmuts in mir aufsteigen. War es am Ende gar kindische Eifersucht, was mir wie ein häßlicher Geschmack auf die Zunge trat?

Sie neigte anmutig den Kopf und hatte, wie mir plötzlich schien, ein kokettes, um nicht zu sagen herzloses Lächeln um die Lippen.

»Wenn es Sonntagskinder waren, gewiß!«

»Ich dächte, nur Sonntagskinder sollen Zutritt in Monrepos haben?«

»Gewiß, mein Freund!« nickte sie und drohte mir mit dem Finger. »Nur dürfen sie auch nicht gar zu ungebärdig sein. Es wird ihnen ja vieles nachgesehen, ihrem Stern zu Liebe, aber sie müssen ihrem Stern auch Ehre machen. Daß man als Sonntagskind geboren ist, das hat man im Alltag zu erweisen.«

Sie war ernst geworden und sah mir mit mütterlicher Überlegenheit ins Gesicht.

Ich errötete und senkte den Kopf.

Sie legte mir die schmale, vornehme Hand auf den Arm.

»Es kann keiner in Monrepos bleiben,« sagte sie in einem seltsam verschleierten Tone, der den Sinn der Worte undurchsichtig zu machen schien. »Der Frühlingsgarten ist nur, um hindurchzugehen. Auch Ihre Stunde wird schlagen, Bernardo!«

»Nur nicht daran denken!« warf ich dazwischen und hatte ein erstickendes Gefühl im Halse, wie jemand, der aus einem schweren Traum zu erwachen trachtet.

Sie schien es zu bemerken und strich mir sanft und begütigend über mein wirres Haar.

»Ja, ja, mein Freund, auch Sie werden wir der Welt da draußen wieder zurückzugeben haben.«

»Und Sie, Frau Amalia?« fragte ich noch immer beklommen. »Sie bleiben Ihr Leben lang hier? Sie gehen nie von hier fort?«

»Das ist unser Frauenlos,« erwiderte sie ernst. »Wir haben den Garten zu hüten. Auch nach Ihnen, mein Freund Bernardo, werden junge, sinnenfrohe, zukunftsvolle Menschen an die Pforte von Monrepos klopfen, und Eli der Alte wird sie empfangen. Sollen sie umsonst nach Amalia von Mitnacht fragen?«

Ihre Hand, die sie mir mütterlich auf die heiße Stirn gelegt hatte, war sanft heruntergeglitten. Ich erfaßte sie und drückte das kühle sammetweiche Fleisch in der meinen.

»Erinnern Sie sich noch, Frau Amalia, was Sie mir damals bei meinem Einzug für eine Lehre gaben?«

Sie sah mich erwartend an.

»Erst leben! Und dann Gedichte machen! So sagten Sie!«

»Nun?«

»O, wie haben Sie recht gehabt! Kaum einen einzigen Vers habe ich zustande gebracht! Dabei ist mir die Seele so voll! Zum Zerspringen voll! Ich könnte weinen und mich zu Tode sehnen! Ich weiß nicht warum! Ich weiß nicht wonach! Helfen Sie mir! ... Warum fallen mir keine Lieder mehr ein? Ist es mit mir schon aus? Ach, wär's doch dann mit allem aus und vorbei!«

Ich hatte die Worte gestammelt und geschluchzt und sank, den brennenden Kopf in die Hände gepreßt, vornüber, der holden, duftigen Frau in den Schoß. Sie aber beugte sich über mich und drückte mir einen Kuß auf das Haar, der mir warm und lösend durch die Glieder rann.

»Alles wird wiederkommen. Das ist der Frühlingsgarten, mein Freund, das ist der Mai!«

 

Ganz anders als mit der schönen, reifen, überlegenen Mutter schien es mir mit ihren drei Töchtern umzugehen. Dem anmutig hin und her bewegten Mädchentrio gegenüber, das bald gemeinsam bei den Blumenbeeten auftauchte, bald in die Fernen des Parks sich zerstreute, diesem schwachen und hilflosen Geschlecht gegenüber, wie es mir erschien, erwachte der ganze Stolz meiner achtzehn Jahre als König, Herrscher und einziger Mann im weiten, einsamen Revier. Denn unsern zweihundertjährigen bemoosten Gartenmaulwurf, den ich vom frühesten Morgen bis tief in die Nacht unermüdlich graben, hacken, jäten und mähen und dabei anscheinend immer dicker und runder werden sah, ihn betrachtete ich als außerhalb des engeren männlichen Wettbewerbes stehend.

So spazierte ich denn geschwellt und gehoben von Mannesstolz durch die grüne wuchernde Wildnis, die mit dem reifenden Frühling immer üppiger ineinander wuchs, und fühlte an jeder Wegbiegung mein Herz mächtig gegen die Rippen pochen, da es doch jeden Augenblick geschehen konnte, daß mir in Gestalt eines oder zweier von den Mädchen, oder gar ihrer drei, das Märchen und Abenteuer in eigener Person begegnete und meinen ritterlichen Heldenmut auf die Probe stellte.

Selbst der stolzen und tragischen Apollonia gegenüber empfand ich in meinem Innern etwas von dieser mitleidigen Überlegenheit, die es freilich immer nur in der Phantasie meiner Träume blieb und, wenn die Wirklichkeit herantrat, entweder linkischer Schüchternheit oder knabenhaftem Trotz oder auch überhitzter Erregung Platz machte.

Trotzdem hatte ich mich gerade mit Apollonia nach kurzer Zeit herzlich angefreundet. Ihre herbe Unnahbarkeit war, wie ich bald herausfühlte, nichts als die mühsam zurechtgemachte und teuer erkaufte Maske, mit der eine im Tiefsten enttäuschte und verwundete Mädchenseele sich gegen Spott und Hohn der Welt, selbst der eigenen Mutter und Schwestern, zu schützen suchte. Andeutungen bald von der einen, bald von der anderen Seite hatten mich nach und nach erraten lassen, daß sie vor einer Reihe von Jahren, noch als ganz junges Mädchen, ihr Herz an einen meiner studentischen Vorgänger hier im Reich verloren gehabt hatte.

Es schien ein apollinisch schöner Mensch gewesen zu sein, an dessen Feueraugen sich ihre siebzehnjährige Phantasie berauscht hatte. Drei kurze Frühlingsmonde hatte der in Monrepos gehaust, hatte die Kastanienwipfel vor den offenen Fenstern der dämmerigen Giebelstube von fremder Zeit raunen hören, war mit dem taumelnden Mädchen durch ferne versteckte Laubengänge geschlichen und hatte ihm süße gärende Liebesworte wie Mohnsaft zu trinken gegeben. Dann war er gegangen, wie alle vor ihm und auch schon wieder so mancher nach ihm, und graue Verlassenheit hatte gleich einem unendlichen Landregen das Mädchen dichter und dichter umfangen.

»Und haben Sie ihn nie wiedergesehen, Apollonia?« (Ich konnte mich nicht entschließen, sie in diesem Augenblick Klärchen zu nennen.) »Haben Sie ihn nie wiedergesehen?« fragte ich sie eines Tages, als sie in erwachendem Vertrauen mir ihr Herz geöffnet und mit verhaltener Klage von ihrer kurzen Liebesgeschichte erzählt hatte.

»Haben Sie ihn niemals wiedergesehen?« wiederholte ich nach einem Weilchen, da sie immer noch schweigend vor sich hinstarrte.

Sie sah mich mit ihren großen schwarzen, tragischen Augen an, und ein fremder Schauer schien von ihr auszugehen. »Ihn wiedergesehen? ... Niemand kehrt wieder nach Monrepos! Wer einmal von diesem Garten ging, dem ist der Weg verschlossen für alle Zeit! Noch keiner ist wiedergekommen nach Monrepos!«

Wie mit einem kurzen jähen Degenstoß durchzuckten mich die Worte. Alles Blut schien aus meinem Herzen zu weichen, und ich fühlte, wie mir heiße Tränen in die Augen schossen.

»Nie wieder zurück?!« rief ich und ergriff ganz außer mir ihre Hand. »Keine von Ihnen allen je wiedersehen? Nicht Ihre holde, unvergleichliche Mutter? Nicht Scholastika mit ihren Wunderaugen, wie aus einem alten vergessenen Lied? Nicht Euphrosyne, die wilde Hummel, und nicht Sie selbst, Apollonia, Sie Ernste?! Sie Hohe?! Fort von Ihnen allen?! Und nie wieder zurück in den Frühlingsgarten?! Nie wieder nach Monrepos?!«

Apollonia stand hoch und aufrecht vor mir. Es war, als sei sie aus der Tiefe und Enge des eigenen Leids zu Höhen des Lebens gewachsen.

»Nähe ist Ferne und Ferne wird Nähe,« klang es dunkel melodisch von ihren Lippen. »Nur wer für ewig verloren hat, der besitzt. Was einst unser war und nie mehr das unsere sein wird, das allein bleibt in Ewigkeit unser.«

Ich sah sie mit einer ruhigen Kopfneigung sich entfernen und die gemessen hinschreitende weiße Gestalt unter dem überhängenden Rankenwerk blühender Glyzinen verschwinden, während ihre Rede geheimnisvoll in mir nachtönte.

»Nähe ist Ferne und Ferne wird Nähe!« wiederholte ich mir ratlos deutend, »und nur, was ewig verloren ist, das allein ist unser.«

Seltsame Rätselworte! Wie nahe ist mir heute euer tiefster Sinn, da ich euch aus den blaudämmernden Fernen von Monrepos zu mir herüberklingen höre! ...

Wenn ich so in ernstem, fast feierlichem Gespräch mit Apollonia durch die Laubengänge hinschritt, die einst ihr erstes Liebesgestammel belauscht hatten, oder mit ihr auf der entlegenen eschenbeschatteten Rasenbank saß, von wo man über den täglich bunter aufblühenden Wiesenteppich hinweg in fernster Verkürzung zwischen Baumgruppen das Rokokoschlößchen wie ein Bildchen im umgekehrten Opernglase aufblitzen sah, so geschah es manchmal, daß Euphrosyne-Käthchen gleich einem Feuerwerksfrosch mitten zwischen uns hineinplatzte und mit ihrem aufreizenden Lachen die Stimmung gründlich zerriß.

»Sitzt ihr schon wieder unter den Trauerweiden,« rief sie, »und begrabt die Toten zum hundertsten Male?! Muß man das Leben denn durchaus zum Grabgewölbe machen? Ist dieser blühende Irrgarten etwa zum Friedhof geschaffen? Kann man bei Blumen und Sonne und Wind an nichts Besseres denken, als was einmal wie Blumen und Sonne und Wind vorüberging?«

Und ob Apollonia auch die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte, die quecksilberne Schwester faßte mich am Arm und zog mich mit einem kräftigen Ruck von der Bank.

»Auf mit Ihnen, Bernardo! Wollen Sie Fett ansetzen in Monrepos? Sie kennen unsere beiden Fichtenbäume hier beim Nymphenteich! Wir klettern um die Wette! Und wer zuerst ganz oben in der Spitze ist, wirft dem andern als Gruß einen Fichtenzapfen auf die Nase! Das wird die faulen Glieder gelenkig machen!«

So wurde ich aus schwermütigem Nacherleben, Erinnern und Gedenken oft genug hinübergerissen in lebendig nahes Tun und morgenfrisches Ergreifen des Augenblicks. Ich mußte vergessene Kletterkünste wieder hervorholen, mußte mit dem eidechsenflinken Mädchen um die Wette laufen, springen, schwimmen und rudern und brachte es nach anfänglichem Stümpern und Schwitzen auch wirklich zum Wiederbesitz meiner Knochen und Gelenke, die im vieljährigen Schulpanzer eingezwängt und verrostet gewesen waren. Mit Schwimmen, Rudern und Laufen tat ich es nach einiger Zeit auch meiner Lehrmeisterin gleich, aber in den uralten Ahnenkünsten des Kletterns und Springens blieb sie mir überlegen, und mancher Tannenzapfen aus ragender Wipfelhöhe ist mir um die Nasenspitze gesaust.

Aber das wilde widerhaarige Käthchen konnte zuzeiten auch seinem eigentlichen Namen Ehre machen, mit dem sie der würdige Kirchenrat in der Taufe bedacht hatte, und konnte sich als eine wirkliche Euphrosyne manchmal recht klug und nachdenklich zeigen, bis schließlich doch eine Laune den Zwang durchbrach. Das war, wenn sie mich in meinem oberen Revier unter den Resedasesseln besuchte und die langen sehnigen Füllenbeine über die wacklige Lehne des geblümten Kanapees baumeln ließ, während ich ihr gegenüber an meinem Schreibtisch von Rosenholz thronte und irgendein Buch oder ein halb bekritzeltes Papier vor mir hatte.

»Wissen Sie, wie Klärchen, Gretchen und ich mir vorkommen?« sagte sie eines Vormittags, als wir wieder so zusammen saßen und ein verstohlenes Flüstern durch die Wipfel der Kastanien vor meinen Fenstern ging. Ich sah von meiner Schreiberei auf und erwartend zu ihr hinüber.

»Wie das Parzentrio, das man in der griechischen Geschichte zu lernen bekommt! Wie heißen sie doch gleich, die drei würdigen Damen?«

»Klotho, Lachesis und Atropos,« haspelte ich wie am Schnürchen herunter und ärgerte mich eigentlich, daß ich es von der Schule her noch so gut im Kopfe hatte, oder mir nicht wenigstens den Anschein gegeben hatte, es vergessen zu haben.

Fräulein Käthchen schlug sich mit der flachen Hand auf die Wade, daß es klatschte. »Potztausend!« rief sie und lachte. »Das ging ja wie ein Blitz! Ob nicht doch ein Oberlehrer an Ihnen verloren ist?«

Ich runzelte die Stirn und trommelte heftig auf die gemalten Blumengewinde des Rosenholztisches.

»Ich Oberlehrer?! Ich?! Lieber als Nilpferd oder als Blattlaus meine Tage beschließen!«

»Nur nicht gleich wieder wie ein Brausepulver, mein Prinz!« entgegnete das Fräulein. »Auch Oberlehrer hat Gott geschaffen!«

»In seinem Zorn!« warf ich dazwischen.

»Oder in seiner Langenweile!« verbesserte sie. »Als er am siebenten Tage, am Sonntagnachmittag, sich zu Tode gähnte und ihm auch gar nichts mehr einfallen wollte. Aber nun hören Sie zu!«

Ich setzte mich in Positur und wartete.

Sie nahm eine sehr belehrende Miene an und erhob den Finger: »Klotho, das ist Apollonia, die spinnt den Faden der Vergangenheit. Erinnerung, das ist für sie alles. Sie lebt einzig von dem, was war und nie mehr sein wird. Scholastika lebt von dem, was ist. Nur davon! Was war und was sein wird, das geht sie nichts an. Darum kümmert sie sich nicht. Scholastika ist Lachesis, die Gegenwart!«

»Dann sind also Sie selbst ...?«

»Ja, ich bin Atropos! Ich bin, was ewig sein wird und noch niemals war! Was weder Scholastika noch Apollonia waren, noch irgendein Wesen vordem! Ich bin die Zukunft! Fallen Sie nieder und beten Sie mich an, mein Prinz!«

Sie hatte sich gegen die Lehne des Kanapees zurückgeworfen, daß es in seinen Fugen krachte. Ihre langen Laufbeine baumelten und strampelten halb in der Luft und waren spaßhaft anzusehen. Aber in ihren wetterwendischen Zügen zuckte es hin und wieder, wie von kurzen Windstößen, die über den Bergsee fegen, die graugrünen Augen spielten und schillerten ins Dunkle, Schwärzliche, um die umwölkte Mädchenstirn flammte ein Schein wie Blitze um ferne Berghäupter. Es war etwas Starkes, Verhülltes, Drohendes um sie, was mich wirklich halb niederzwang und mich vielleicht gerade dadurch erst recht zum Widerspruch reizte.

»Ich falle vor niemand in die Knie!« warf ich ihr von meinem Stuhl aus entgegen. »Am wenigsten vor einem jungen Frauenzimmer, das sich wunder wie groß und erhaben dünkt! Ich bin geradeso gut Zukunft wie Sie, Fräulein Käthchen! Wir wollen sehen, wessen Arm einmal weiter hinaus zu schleudern vermag!«

»Sie sind ein veritabler Klotz, mein Prinz,« antwortete sie höchst gelassen, »und verdienen gar nicht, daß sich Ihnen die Zukunft in ihrer ganzen Größe und wilden Schönheit offenbart! Also lassen wir das! Sie werden noch einst bedauern, daß Sie in Ägypten waren und die Sphinx nicht erkannten, obwohl Sie mit der Nase dicht vor ihr saßen!«

Sie lachte hell und provozierend auf, so daß ich unwillkürlich angesteckt wurde und nun, wenn auch widerwillig, mitlachte. So war es denn wieder gut zwischen uns, und der Fluß der Rede ging ruhig weiter.

»Wissen Sie, was mir an Ihrem Vergleich nicht gefällt, Fräulein Käthchen?« sagte ich.

Sie richtete ihre Augen auf mich, die sich jetzt wieder entdüstert hatten und neugierig spitzbübisch dreinblickten.

»Daß Sie gerade Scholastika mit Lachesis vergleichen,« fuhr ich fort. »Die hat doch gewiß am allerwenigsten von so einer flachen, nüchternen Gegenwartsnatur. Alles andere mag stimmen. Aber das stimmt nicht.«

Fräulein Käthchen zuckte kühl mit den Achseln.

»Es braucht ja auch nicht alles zu stimmen, was man sich so zusammenphantasiert. Die Hauptsache ist, daß ich Atropos, die Zukunft, bin! Und das bleibt bestehen!«

»Gewiß! Gewiß!« beeilte ich mich zu bestätigen.

Fräulein Käthchen warf sich mit einem Ruck auf die andere Seite des Kanapees, so daß ihre Amazonenbeine von der rechten Lehne auf die linke zu liegen kamen und nun dort herunterbaumelten.

»Übrigens, was Gretchen anbetrifft,« rief sie und machte mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand einen Schnalzer, daß es knallte, »was Gretchen anbetrifft, da sind Sie sehr auf dem Holzwege! Gretchen ist eine ganz kühle, ruhige, hausbackene Natur und durchaus nicht das Märchenbild, das Sie hinter ihr suchen. Gretchen ist der richtige Gegenwartsmensch, wie nur einer auf Erden lebt!«

Jetzt war es an mir, mit den Achseln zu zucken.

»Gretchen hausbacken?« stammelte ich aufgeregt. »Wer solche Augen im Kopfe hat, soll hausbacken sein? Das ist doch ... Das ist doch ... Eifersucht ist das und weiter nichts! Weibliche Eifersucht! Da liegt der Hase im Pfeffer!«

Mein Gegenüber war bei den letzten Worten, die ich ordentlich mit Wut und jede Silbe auskostend herausschleuderte, in einem Satz vom Kanapee bis in die Mitte der Stube geschnellt und wirbelte hier auf einem Bein pirouettierend etwa ein halbes Dutzend Mal um seine eigene Achse.

»Sind Sie vom Veitstanz besessen?« fragte ich, immer noch innerlich kochend, als sie endlich wieder ruhig auf ihren zwei Beinen stand.

Sie schlug die Arme übereinander, trat gemessen auf mich zu und tippte mir mit einer großen Gebärde auf die Stirn.

»Eifersüchtig? Ich? Auf Gretchen? Und etwa Ihretwegen, mein Prinz? Hahahaha!«

Ihr Lachen klang rhythmisch und bühnengerecht wie das Gelächter der Salonschlange, die sich entlarvt sieht.

Ich lächelte überlegen mit, was sie noch mehr zu ärgern schien. Denn sie fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und stampfte heftig mit dem Fuß auf.

»Plustern Sie sich nur nicht, Prinz Gockelhahn! (Dies war ihre Bezeichnung für mich, wenn sie besonders erbost über mich war). Seit wann ist es denn Mode, daß die Zukunft eifersüchtig auf die Gegenwart ist?«

»Immer! Immer!« gab ich wie aus der Pistole zurück und machte im stillen eine Verbeugung vor meiner eigenen Erleuchtung und Schlagfertigkeit, die, wie es schien, nicht ohne Eindruck auf das Fräulein geblieben waren.

»Hm!« machte sie nachdenklich und trat mit ihren Stelzbeinen einen Spaziergang durch das Zimmer an.

»Ich weiß übrigens einen besseren Vergleich für Sie drei als den mit den Parzen,« sagte ich, den Faden wieder aufnehmend und mit der ruhigen Sicherheit des gewonnenen Triumphes.

»Nun?«

»Ich vergleiche Sie mit den Musen!«

»Sind wir etwa neun Schwestern und Sie unser Apoll?« fragte sie höchst spöttisch, aber ich ließ mich nicht beirren.

»Apollonia, das ist die klassische oder die Muse des Dramas. Scholastika ist die moderne Muse, die Muse der Lyrik.«

»Und was bin ich?« forschte Fräulein Käthchen mit offenbarer Spannung, als ich einen Augenblick innehielt.

»Sie sind die komische Muse, mein Fräulein!« erwiderte ich, während meine Blicke nicht ohne Anspielung an ihren eckigen Gliedmaßen herunterglitten.

»Dann wirft die komische Muse also ihren ewigen Fluch über Sie, mein Prinz!« schmetterte sie wie aus der Trompete und stülpte mir mit einer ungestümen Handbewegung das gefüllte Sandfaß, das neben dem Tintenglas stand, auf mein halb jungfräuliches Schreibpapier.

»Da! Der komischen Muse Fluch!« lachte sie und deutete mit ausgestrecktem Arm auf das Häufchen, das sich höhnisch auf dem weißen Bogen erhob und mich anzugrinsen schien. »Möge Ihre komische Phantasie so fruchtbar wie dieser Sandberg sein!«

Ich griff nach der Feder und tunkte sie tief in das Tintenglas.

»Was wollen Sie?« fragte sie neugierig.

»Die komische Muse nach der Natur konterfeien! Neben den Sandberg hin! Vielleicht hilft mir das gegen den Fluch.«

Ich zog eilfertig die Feder aus dem Tintenglas. Ein mächtiger schwarzer Klecks tropfte dicht neben einen schon vorhandenen, aber längst verblaßten ersten Klecks auf die kirschrote Tuchbespannung des Rosenholztisches.

»Bravo!« rief das Fräulein, außer sich vor Vergnügen, und klatschte wie unsinnig in die Hände. »Jetzt sind Sie der Konkurrent von Karl Philipp dem Fünften von der Pfalz.«

»Wieso?« forschte ich verwundert.

»Haben Sie noch nie den alten Klecks da bemerkt?« fragte sie vorwurfsvoll. – Allerdings! Ich hatte ihn bemerkt, mir aber nie Gedanken darüber gemacht.

»Nehmen Sie den Hut ab vor dem Klecks, mein Prinz!« fuhr sie fort, indem sie ihre Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern dämpfte. »Der Klecks ist länger als ein Jahrhundert alt und hat über ein Menschenleben entschieden. Er ist aus der Feder getropft, als Karl Philipp der Fünfte von der Pfalz das Todesurteil von Liselotte von Merenberg unterschrieb.«

Ich fuhr wie von einem Hornissenstich in die Höhe.

»Das ... das ... das hatte ich ja noch gar nicht gewußt, daß Ihre Urahne auf dem Schafott ... Erzählen Sie mir doch ...«

Aber sie ließ mich nicht aussprechen.

»Ein andermal, mein Prinz! ... Aber jetzt haben wir den zweiten historischen Klecks auf dem Rosenholztisch! Der wird den Enkeln erzählen, wie die komische Muse ihren ewigen Fluch über den Prinzen Bernardo verhängte.«

Damit machte sie mir eine ellenlange Nase und eine rechtwinklige Verbeugung, fast bis auf den Boden hinab, und war aus dem Zimmer verschwunden. Ich aber trat mit erregten, prickelnden Sinnen durch die offene Tür meiner gründämmernden Schlafstube vor die lebensgroßen Porträts des finster gebietenden Kurfürsten und seiner schönen, unglücklichen Dame, und sah den zierlichen Nacken und den weißen Hals dicht über dem rundlichen Busenansatz vom sausenden Henkersschwert durchschnitten.

 

Obstbäume, Rot-und Weißdornhecken, Goldregen, Kastanien und Flieder, Tulpen, Hyazinthen und Narzissen waren mit- und nacheinander verblüht, Himmelfahrt und Pfingsten waren mit Glockengeläut und hallendem Liederklang fernwandelnder Menschenscharen gekommen und gegangen. Die prallsten Spargel, die rosigsten Radieschen und die zartesten Salatköpfe aus dem Reiche Elis des Alten hatten unsern Tisch geziert und waren mit jugendlichem Appetit verspeist worden. Schon reizten hin und wieder junge Gurken den Gaumen, und um den Fuß, der durch die grüne Wildnis des Küchengartens irrte, tändelten lieblich errötend die ersten Erdbeeren und boten sich willig der naschenden Hand. Dunkler und ernster in ihrem Kleide, wie weltgewiegte Leute, standen Ulmen, Buchen und Linden. Aus dem fremdartigen Blätterwerk der Akazien hingen die schweren gelblichen Blütentrauben, umsummt vom honigsuchenden Volk der Bienen, Hummeln und Wespen. Noch ging hin und wieder die sehnsuchtstrunkene Klage eines Finkenmännchens oder eines Schwarzdrosselgesellen durch die Dämmerstunden des frühen Morgens wie des sinkenden Abends oder durch lastende Mittagsschwüle; doch der Vielklang jubelnder Chöre war verstummt, und ängstliches Piepsen, Flattern, Zwitschern verrieten, daß wichtigere Sorgen das Vogelreich erfüllten, als Frühlingslieder zu singen. Dafür waren Frosch und Unke noch eifrig am Werk, die bleichen Juninächte mit dem gellenden, hallenden Leid ihres Daseins zu erfüllen und, einander ewig unerreichbar, von Weiher zu fernstem Weiher den Ruf ihrer Liebe hinüberzuquaken. Und im abgeschlossenen Quartier vornehm aristokratischer Blumenzirkel begann nächtens die weiße Lilie zu sehnen. Zärtliche Nelken schmachteten im Mondlicht, und stolz und hochstämmig entfaltete Frau Rose ihre erste, samtweiche, dunkelrote Knospe.

An einem schwülen Juninachmittag ruderte ich mit Scholastika auf dem Nymphenteich. Der Himmel war mit einer dünnen, gleichmäßigen, fedrigen Wolkenschicht bedeckt, aus der der Sonnenball sich als große, runde, gelbe Glocke abhob. Ein fahler, bleierner Glanz lag über dem dunkeln, undurchsichtigen Wasser, das in diesem Augenblick fast einer Moorlache gleichsah. Unser Kahn, dessen Boden undicht war und immer ein wenig Wasser zog, glitt träge und langsam über die Flut. Ich saß auf der Mittelbank und hielt die leichten Ruder eingezogen, tat nur hier und da, wenn wir gänzlich stillzustehen schienen, einen flüchtigen Schlag mit den Riemen. Dann gab es ein kurzes, hölzernes Poltern der Bootswände, ein Aufklatschen des Wassers, und wieder war die schwüle, drückende Stille des Juninachmittags.

Scholastika saß mir Auge in Auge gegenüber auf der Hinterbank. Ihr weißer Strohhut mit dem Kranz von roten Mohnblumen lag neben ihr. Sie hatte den feinen Kopf mit dem in der Mitte leichtgescheitelten, braunen Kraushaar ein wenig gesenkt, die schmalen Hände im Schoß gefaltet und träumte vor sich hin. Ihre weiten Ärmel fielen bis zum Ellenbogen zurück und ließen den schlanken Unterarm frei. Zuweilen blähte ein leiser Windhauch den leichten Batiststoff, dann sah man die ebenmäßigen Arme bis hoch hinauf, aber schon der nächste Augenblick deckte sie wieder zu. Ihre junge Brust, auf die ein tiefer Ausschnitt spitz hinunterging, atmete ruhig und gleichmäßig. Oder schien es nur so? Mußte nicht auch über ihr etwas von der bleiernen Schwüle liegen, die Himmel und Wasser und die graugrünen Obstbäume ringsum im Bann hielt und mir selbst den Atem versetzte und das Herz zum Weinen schwer machte?

Wir hatten wieder, wie schon so manchesmal, vom Leben gesprochen. Vom Leben hier in unserm umhegten Gartenfrieden und von dem andern Leben, weit draußen, wo Märkte lärmen und Menschen, bis an die Zähne bewaffnet, das Weiße im Auge des Gegners suchen. Die Worte waren Tropfen für Tropfen gefallen, immer spärlicher, bis auch der letzte Tropfen versiegt war. Aber noch im Schweigen war das Gespräch unserer Seelen weitergeklungen, hatte sich vertieft, vergeistigt, entkörpert, um schließlich im Unnennbaren, wie Lufthauch und Lufthauch ineinander zu fließen. Eine unendlich wehe und schmerzliche und zugleich über die Maßen süße Schwermut erfüllte mich gleichsam bis zum Rande und fast zum Überlaufen darüber hinaus. Augenblicke lang fühlte ich mich nur als hilf- und willenloses Geschöpf einer unaussprechlich-göttlichen Drang- und Werdelust, eines unbegreiflich abgründigen Schmerzens und Verzweifelns. Es war, als sei das ewige Chaos in mich eingezogen und müsse Leib und Seele voneinander sprengen. Schon schienen die Sehnen, Bänder und Gelenke, die mein Sterbliches zusammenhielten, sich zu lösen, die Knochen dahin zu schmelzen, und ich fühlte mich in mir selbst versinken.

Mit einem letzten Ruck riß ich mich aus dem Bodenlosen zurück, das schon über mir zusammenschlagen wollte, und sah mich um. Der schwanke Kahn schaukelte heftig bei meiner plötzlichen Bewegung. Ein Kuckuck rief fernher aus den Tiefen des Parks. Vielleicht war es sein lauter Weckruf, der mich dem Leben und der Wirklichkeit zurückgegeben hatte. Vor mir saß Scholastika, immer noch leicht gesenkten Kopfes. Ihre Augensterne waren wie im Traum verschleiert und gingen ins Weite. Aber selbst jetzt war ihr Glanz nicht völlig verdeckt und erloschen. Ich empfand ein geheimes Leuchten, das mich umspielte und mir Trost gab in der furchtbaren Finsternis und Verlassenheit des Weltraumes. Eine Seele doch, die die gleiche Bahn durch die Unendlichkeit dahinzog wie die meine! Reisekameraden konnten wir sein und eines dem andern Mut zusprechen wie Kinder, die sich des Nachts im meilenweiten Wald verirrt hatten und sich nun aneinander schmiegten und heiße Tränen zusammen weinten, um endlich wie in der Wiege zu entschlummern. Ja, so etwas war es wohl mit dem Leben überhaupt. So etwas mußte es mit zwei Menschen, die sich gern hatten, wohl sein. Ich wollte die Probe aus meine Rechnung machen und berührte leise ihr Knie mit der Hand.

»Fräulein Gretchen?« Sie sah ernsthaft und unbefangen zu mir auf.

»Glauben Sie, daß man auch im Schweigen miteinander reden kann? Daß man sich auch ohne Worte alles, alles sagen kann?«

»Gewiß!« nickte sie, »das kann ich sehr gut verstehen. Erinnern Sie sich, was wir sprachen, als wir uns zum erstenmal sahen? Das Schweigen tönt, sagte ich. Man muß es nur zu deuten verstehen. Ist es nicht das?«

»Dann deuten Sie mir, was ich soeben gedacht habe! Deuten Sie mir das, Fräulein Gretchen! Ach, könnten Sie's doch! Dann wird ja noch alles gut!«

Meine Stimme war belegt und zitterte leise, so daß ich, um meine Erregung zu verbergen, mich räuspern mußte. Ich sah, wie sie nachdachte und sich zum Sprechen anschickte, dann plötzlich errötete und innehielt.

»Nun, Fräulein Gretchen?« drängte ich fiebernd und fühlte, wie ich nun selbst über und über rot wurde. Sie besann sich ein paar Augenblicke. Ihr Gesicht hatte seine gewöhnliche, etwas ätherische Farbe wiedergewonnen.

»Sie haben an etwas ganz Großes, ganz Fernes, ganz Unerreichbares gedacht,« begann sie leise.

»Ebenso wie Sie, Fräulein Gretchen!« fiel ich triumphierend ein, denn nun wußte ich ja, daß mir mein Experiment der Seelenübertragung geglückt war.

»Sie haben an etwas gedacht, was nie sein wird!« fuhr sie fort. »Was es gar nicht auf Erden gibt! Ist es nicht so?«

»Doch! Doch!« rief ich dazwischen. »So etwas gibt es auf Erden! So etwas gibt es auf Erden! Sonst müßte man ja verzweifeln und sich lieber heute als morgen mit einer Kugel von diesem Jammerleben befreien!«

»Und dann haben Sie noch an etwas gedacht,« kam es wie ein Flüstern von ihren Lippen.

Ich horchte hoch auf.

»Daß Sie sich in die Welt hinaussehnen! Daß Sie nun bald von unserem Garten für immer fort müssen! Und daß dann alles vorbei ist!«

»Nichts ist vorbei!« rief ich begeistert und brachte durch mein Ungestüm den Kahn abermals in ein bedenkliches Schwanken. »Dann fängt es erst richtig an, das Leben und das Glück und die Welt!«

»Vielleicht für Sie! Für Sie sogar gewiß! Aber wir bleiben hier und hören die Bäume rauschen und die Frösche quaken. Das ist alles!«

»Und den Kuckuck rufen, so wie jetzt!« warf ich ein und lauschte einen Augenblick dem fernen Rufen, das nach einer Pause des Schweigens von neuem eingesetzt hatte.

»Also haben Sie wirklich nie daran gedacht,« fing ich wieder an, »nie daran gedacht, Fräulein Gretchen, daß es auch da draußen ein Leben und ein Glück für Sie geben könnte?«

Sie schüttelte ruhig und besonnen den Kopf.

»Wir würden niemals da draußen gedeihen, wir von Monrepos. Wer im Frühlingsgarten geboren ist, steht unter eigenem Gesetz. Nur die Sehnsucht darf über die weiße Gartenmauer dort hinten fliegen. Unser Fleisch und Blut bleibt ewig hier festgebannt. Wir sind wie unsere Marmornymphen im Park, die auch nicht von ihren Sockeln herunter dürfen. Nur zu träumen ist ihnen erlaubt, sie wären frei und sie könnten hinaus! Hinaus aus Monrepos! ... So träumen wir denn!«

Sie hatte die letzten Worte nur noch geflüstert. Wie ganz weiche, verklingende Geigentöne war es von ihren Lippen geflossen. Seltsam, wie sie mich in diesem Augenblick wieder an ihre schöne, holdselige Mutter erinnerte! War es nicht ganz der gleiche, einschmeichelnde Wohllaut der Stimme, der mich so oft entzückt und hingenommen hatte? Aber aus dem Munde der Tochter war die Süßigkeit der Melodie mir neu und bezauberte mich doppelt.

»Ja, träumen wir, Fräulein Gretchen!« rief ich wie entrückt und beugte mich zu ihr hinüber, meine Hand in die ihre zu legen, die lässig auf dem Schoß ruhte. »Träumen wir, es wäre Rokokozeit und die Welt ein Jahrhundert jünger, und Sie wären das Fräulein von Merenberg, und ich ... und ich ...«

Ich hielt inne, nach Bild und Worten suchend, während ich mit meiner Hand die ihre drückte, die sich willenlos ergab, und die nahe Wärme ihres Schoßes in mich hinüberströmen fühlte. Ihre tiefen, glänzenden Augen waren wie starr auf mich gerichtet. Jetzt schien sie ein feuchter Schimmer zu netzen. Ein schwerer, dunkler Rausch, wie von einem unbekannten, noch nie geschlürften Saft, brodelte in mir auf.

»Und ich ... und ich ...,« sprudelte ich halb außer Atem heraus, »ich wäre nicht der alte, feiste Tyrann mit dem Doppelkinn, der sein wunderschönes Liebchen einfach um einen Kopf kürzer machen ließ! Der Bluthund, der! ... Nein! Ich wäre ein Page auf Besuch hier im Schloß oder ein junger Dichter aus fernen Landen, den der Ruf der verzauberten Prinzessin herangezogen, und während der Tyrann da oben in seinem Schloß Todesurteile dutzendweise unterschriebe, säßen wir zwei hier im kleinen Kahn auf dem Nymphenteich, das Fräulein von Merenberg und ich, und der Kuckucksruf ginge aus dem Wald so wie jetzt, und wir fragten ihn an, wie lange wir noch leben ...?« Ich schwieg unwillkürlich und legte die Hand ans Ohr. Auch das tief in sich versunkene Mädchen schien den Atem anzuhalten. So lauschten wir beide dem unermüdlich mahnenden Rufer im Walde und begannen leise mitzuzählen. Der aber, als wolle er uns zum Narren halten, ließ noch ein paarmal sein Kuckuck! Kuckuck! durch die Gartenwildnis schallen und schwieg dann plötzlich still. Wir warteten noch einen Augenblick. Aber es half nichts. Der boshafte Einsiedler blieb stumm.

»Das Kuckucksorakel verkündet frühes Ende,« sagte mein Gegenüber und lächelte mir bedeutsam zu.

»Es kommt nur darauf an, für wen?« rief ich und schwenkte den Hut über dem Kopf. »Ich nehm's auf mich! Ich nehm's auf mich! Und jetzt hole der Kuckuck den Kuckuck und den Tyrannen im Schloß und alles, was gegen uns ist! Jetzt bin ich mit Liselotte von Merenberg allein auf dem Teich und jetzt ... jetzt ...«

Ich machte einen ungestümen Satz von meinem Mittelbrett hinüber auf die Hinterbank, an die Seite des Fräuleins von Merenberg, das meine Phantasie leibhaftig dort sitzen sah. Der Kahn kippte über, schlug um, und wir beide lagen im Wasser. Ich schoß in meiner Überraschung wie ein Bolzen bis auf den Grund des Teiches, kam im nächsten Augenblick wieder zu mir selbst und tauchte schwimmend empor. In einiger Entfernung von mir sah ich Scholastika auf dem Wasser treiben. Sie schien nur bis etwa an die Achseln untergetaucht. Ihr helles, weites Gewand hatte sich wie ein Fallschirm rings um sie ausgebreitet und sah mit seinem zierlichen Blumenmuster aus, als sei ein Blütenregen auf die schwarze Flut gefallen. Auch ihre Arme lagen ausgestreckt und unbeweglich über dem Wasser, so daß sie eigentlich aufrecht darin zu stehen und Grund unter den Füßen zu haben schien. Ich hatte meinen ersten Schreck verwunden und weidete mich an dem wundersamen, blumenhaften Anblick des langsam treibenden Mädchens. Aber plötzlich bemerkte ich, daß es seine Augen geschlossen hatte und das Gesicht todesbleich war.

Ich schwamm ängstlich und hastig näher.

»Gretchen!« rief ich erschrocken. »Gretchen!«

In diesem Moment schienen ihre Kleider sich voll Wasser gesogen zu haben, denn sie versank plötzlich vor meinen Augen, und mit einem kleinen Strudel schloß sich die Tiefe über ihrem Kopf. Der Mohnblütenhut schwamm daneben wie ein letzter Blumengruß, den eine liebe Hand ihr aufs Grab gelegt hatte. Einen Augenblick glaubte ich mein Herz still stehen. Die Ringe des Strudels erweiterten sich zusehends nach den Ufern des Weihers. Mein Herz setzte mit starken Schlägen wieder ein. Volle Klarheit war in mir und um mich. Ich schnellte mich in einem Satz an die Stelle, wo mir der Mohnhut ihr Versinken anzeigte, tauchte unter, erfaßte mit einem starken Griff den halb leblosen Körper und ruderte mich mit den Beinen und dem linken Arm wieder in die Höhe und ans leuchtende Tageslicht. In wenigen Stößen war ich mit meiner schwellenden, triefenden Bürde am Ufer und bettete sie auf die sanft ansteigende Grashalde unter die dicht verzweigten Apfelbäume. Ja, sie lebte, sie atmete! Ihr zarter Busen hob und senkte sich in sanftem, regelmäßigem Takt. Ihre braunen Haare hatten sich aus ihrem Band gelöst und ringelten sich feucht um Stirn und Wangen, und eine lange, dunkle Strähne fiel quer über den weißen Hals. Über den spitzen und tiefen Busenausschnitt rieselten blanke Wassertropfen. In weicher Rundung sah ich die jugendlichen Brüste und jede Linie, jede Schwellung der Glieder unter dem dünnen, nassen Gewand deutlich abgezeichnet und modelliert, und so sehr ich mich selbst als die Ursache des Unfalls schalt, so sehr mußte ich zugleich meine Ungeschicklichkeit segnen, durch die ich das Glück genoß, diesen holden Mädchenleib in seiner unverhüllten Schönheit meinen trunkenen Augen als willenlose Beute hingegeben zu sehen.

Ich lag auf den Knien, halb über sie gebeugt, und wußte selbst nicht, ob ich kniete, um sie um Verzeihung zu bitten oder um mich an all ihrem atmenden Reiz nah und näher satt zu trinken. Mir war, als sei es seit dem verhängnisvollen Sprung an ihre Seite eine kleine Ewigkeit her, und doch mochten erst ein paar kurze Minuten verflossen sein.

Plötzlich fiel mir ein, daß sie sich in ihrem triefenden Batistkleidchen, das sich knapp und verräterisch an ihren Körper schmiegte, erkälten könne, und ich suchte sie durch Schütteln und Rütteln und zärtliche Worte, ins Ohr geflüstert, zu erwecken. Endlich schlug sie die Augen auf und sah mich groß und fremd an.

»Gretchen!« rief ich entzückt und zerknirscht, »Gretchen!« und bedeckte ihre Hände und Arme, Hals und Busen, Stirn und Wangen und auch den leicht geöffneten Mund mit schnellen, wilden, inbrünstigen Küssen. Sie ließ es ein paar Augenblicke geschehen, regte sich kaum, als hielte noch die Ohnmacht sie fest, Dann richtete sie unter meinen Armen den Kopf ein wenig empor, sah mit einem ersten, aufdämmernden Blick mir ins Gesicht, mit einem andern an sich hinunter, schien sich zu besinnen und sich zu schämen.

»Nicht! Nicht! ... Bitte! Bitte! ... Nicht!«

Nur als ein Hauch, als ein Seufzer glitt es von ihren Lippen. Mit dem rechten Arm hatte sie ihr Gesicht verdeckt. Mit dem linken suchte sie mich schwach von sich abzuwehren. So lag sie, ein Bild hilfloser Ergebenheit, während mein Blut sich immer heißer entzündete und es mir vor den Augen wirbelte.

»Gretchen!« stammelte ich wie von Sinnen und umfing sie von neuem. »Mein süßes, einziges Gretchen! Wenn ich dich verloren hätte! Mein Gott! Wie kam das nur? Wenn du ertrunken wärst und ich wäre schuld gewesen! Ich Unmensch ich! Dich vor meinen Augen ertrinken zu sehen! Ach du ... du ... du unvergleichliches Menschenbild!«

Ich hatte mich über sie geworfen und strich mit der Hand liebkosend über ihre Augenlider, die sich wieder geschlossen hatten.

»Nicht sterben!« schrie ich ganz außer mir und ohne mehr recht zu wissen, was ich tat. »Nicht sterben! Oder wir beide zusammen!«

»Zum Sterben ist noch ein Weilchen Zeit, junger Herr!« hörte ich auf einmal eine tiefe, gleichmütige Stimme dicht neben mir klingen, die mir bekannt schien. Ich raffte meinen Kopf auf, der sich in den feuchten kühlen Busen des unter mir liegenden Mädchens gewühlt hatte, und erblickte Eli den Alten mit seinen braunen, verwetterten Zügen, gleich alter zerfurchter Eichenrinde, dem Samtkäppchen auf dem eisgrauen Schopf und dem Tonnenbauch.

Ich war so verdutzt von seinem urplötzlichen Erscheinen, daß ich kein Wort herausbringen konnte, ihn nur mit offenem Munde, immer noch auf den Knien liegend, anstarrte.

Der Alte schien es zu bemerken und sich schmunzelnd an meiner Bestürzung zu weiden.

»Es ist nichts Besonderes dabei,« nickte er endlich und paffte dazwischen. »Wir haben schon so manches Menschenkind aus dem Nymphenweiher gezogen. Die da unten im Moorwasser hausen, die bangen sich nämlich von Zeit zu Zeit nach etwas wie Menschenwärme und Fleisch und Bein. Da heißt es hübsch auf dem Posten sein, junger Herr! Sonst geben sie einen nicht wieder heraus.«

Er schwieg nachdenklich, strich sich das borstige, verrunzelte Kinn und blies verschwebende Dampfwolken vor sich her, wie von fernen Erinnerungen umwittert.

»Die schöne Dame,« fuhr er fort, »die oben in Ihrer Schlafstube hängt, die hat auch einmal so in dem Wasser gelegen, und Eli der Alte hat sie auf seinen Armen ins Schlößchen getragen, 's ist schon ein Weilchen her, junger Herr! Das zierliche Köpfchen da und Ihr Köpfchen auch, junger Herr, die haben beide noch tief unter der Erde geschlafen. Aber was ein alter Gärtnersmann ist, wenn sein Schädel auch noch so vertrackt auf den Schultern sitzt, weiß sich an solche Geschichten noch gut zu erinnern. Und jetzt, denke ich, wollen wir das arme kranke Kind zu ihrer schönen Frau Mutter bringen.«

Damit beugte er sich breitbeinig in die Knie, ohne daß ihm sein vorspringender Doppelbauch im geringsten im Wege war, und hob sorgsam und zärtlich, als gälte es, ein zartes Pflänzchen mitsamt seinem Wurzelwerk aus dem Erdboden herauszunehmen, das immer noch entrückte Mädchen in seine starken Gärtnersarme und trug es durch den Kastaniendom, über den Dianahügel und durch den Efeugang dem fernen Hause entgegen. Ich aber trottete wortlos und jämmerlich, wie ein ganz zusammengebrochener Leidtragender hinter dem Totengräber, meinem rüstig voranschreitenden Wurzelmännchen mit seiner süßen, quellenden Bürde nach und merkte jetzt erst, daß auch ich, gleich einem soeben an Land gestiegenen Seehund, vom Kopf bis zum Fuße von Feuchtigkeit troff.

 

War es unsere gute und junge Natur, war es das Klima von Monrepos – trotz Schreck, Erregung und Nässe hatten wir beide, Scholastika und ich, nichts als einen kleinen, unschuldigen Schnupfen davongetragen, der schnell verging. Auch Frau Amalias drohende Strafpredigt, der ich in Demut und Zerknirschung entgegengesehen hatte, war recht milde und glimpflich ausgefallen.

»Eigentlich sollte ich euch törichten Kindern gründlich den Kopf waschen,« sagte sie, als Scholastika glücklich ins Bett gepackt war und ich, mit einem dicken Hauskaftan angetan, vor einem heißen Weinpunsch ihr gegenüber saß, »aber was könnte ich Ihnen sagen, was Sie sich nicht auch schon gesagt hätten! Die Vorwürfe, die wir uns selbst über irgendeine Unklugheit im Leben machen, gehen ja doch tiefer und wirken länger nach als die schärfsten Worte, die wir von anderen zu hören bekommen. Selbsterziehung, das ist der beste Erfolg der Dummheiten, die wir begehen. Tadel von Fremden reizt höchstens zum Widerspruch und zur Beschönigung der eigenen Fehler. Für diesmal hat das Schicksal nur ein bißchen mit euch gespielt oder ihr mit ihm. Ein andermal könnten Sie härter angepackt werden! Nehmen Sie sich eine Lehre daran, Bernardo, und springen Sie niemals in Kähnen herum, auch wenn Ihnen die schönste Rokokodame gegenübersitzt!«

Sie hatte die letzten Worte lachenden Mundes gesprochen und drohte mir mit dem Finger.

»Man darf keine Trauben im Juni pflücken und soll keine Sprünge machen, ehe man nicht festen Boden unter den Füßen. hat! Drum Haltung, mein Freund! Und Selbstbeherrschung! Und warten können! Versprechen Sie mir das?«

Sie hatte mir ihre weiche, leise vibrierende Hand hinübergereicht. Ich schlug dankbar und reuig ein, löffelte eifrig meinen Punsch zu Ende, und die Sache war abgetan.

Und doch schien es, als sei es seit diesem Tage anders geworden in Monrepos. Etwas Fremdes hatte sich eingeschlichen zwischen Scholastika und mich. Voreilig und unerfahren, wie ich war, hatte ich mir ausgemalt, wie das wässerige Abenteuer, mit seiner überstandenen Gefahr und dem enggeschmiegten Beieinander unter den Apfelbäumen, nun in der Seele des Mädchens weiterwirken und es mir, seinem Lebensretter, der es allerdings auch hineingeworfen hatte, ganz zu eigen machen müsse. Aber das Gegenteil geschah. Noch fühlte ich die brennenden Küsse, mit denen ich meine Leidenschaft über sie ausgeströmt hatte, und spürte das weiche Rund ihrer gelösten Glieder in meinen umfangenden Armen und in den tastenden Händen. Und nun schien nichts von dem allen in ihrer Erinnerung geblieben, oder wenn ich's mir recht überlegte, so war es vielleicht gerade diese Erinnerung, die sie beschämte und verwirrte und durch den Drang, darüber hinwegzukommen, sie fremd und kühl gegen mich machte. Die Unbefangenheit des Zusammenseins war von uns genommen, und zum ersten Male im Leben dämmerte mir eine Ahnung, was es wohl mit dem Baum der Erkenntnis auf sich habe und wie dem geweckten Begehren des Mannes die erwachte Scham des Weibes als ein Widerstrebendes und schier Unbesiegliches entgegentrete.

So wurde ich unruhig, gereizt und kopfhängerisch und entfernte das unsicher gewordene Mädchen dadurch nur weiter von mir. Nur einmal, am Tage nach dem Begebnis, hatte ich zaghaft darauf angespielt und sie gefragt, was denn gestern im Wasser so plötzlich über sie gekommen, da ich sie doch als eine gute Schwimmerin gleich ihren beiden Schwestern und gleich der Mutter kannte. Vielleicht der Schreck oder eine kleine Schwäche oder irgend etwas sonst, sie wisse selbst nicht was, hatte sie kurz zur Antwort gegeben und sich über ein Levkoienbeet beugt, das gerade am Wege stand. Also hatte sie der Erinnerung ausweichen wollen, und ich hatte mir auf die Lippen gebissen und mich in die Büsche geschlagen.

Was war es denn, was mich noch in Monrepos hielt, fragte ich mich ärgerlich und verdrießlich, und öfter und öfter begannen meine Gedanken und Wünsche über die weiße Parkmauer hinauszufliegen, wie Gretchen es an jenem unvergeßlichen Nachmittag genannt hatte. Ach! Aus dem zärtlich hingegebenen Gretchen, wie ich es in der Erinnerung sah, war eine kühle und abweisende Scholastika geworden, und Käthchens Worte unter den Resedasesseln fielen mir ein: Gretchen ist hausbacken! Gretchen denkt an niemand als an sich selbst! Mit einer Art von selbstquälerischem Vergnügen wiederholte ich mir: Gretchen ist hausbacken! Gretchen denkt nur an sich selbst! und empfand es als Wonne, die Worte hart und gewichtig wie Felsblöcke auf das Grab zu wälzen, in dem ich meine früh verstorbene Liebe zu ihr beigesetzt hatte. Da ruhte sie nun bis zum Jüngsten Tag. Ich aber wollte dem kindischen Schmerz, der beim Anblick des frischen Grabes doch stets neu und schluchzend in mir aufstieg, als starker Überwinder die Kehle zudrücken und wollte als ein Held von tausend ungeborenen Taten, deren Kunde aus der Welt da draußen über die Mauer des Frühlingsgartens bis zu Scholastikas Ohren dringen sollte, sie noch dereinst salzige Tränen weinen lassen, daß sie einen solchen Helden hätte den Ihren nennen können und ihn durch eigene Schuld verloren hatte. Wie wollte ich den Triumph auskosten, wenn ich, angetan mit der Siegerkrone des Lebens, vor die Parkpforte von Monrepos geritten käme, und Eli der Alte machte mir auf, und Scholastika stünde da, reuig und gebrochen, und reichte mir gesenkten Kopfes die Hand aufs Roß, und ich drückte sie mild und herablassend in der meinen. Und vielleicht ... vielleicht würde dann aus der hartgestraften Scholastika doch noch das einstige liebende Gretchen, und sie stürzte mir an die Brust ... Aber nein! Keine Vereinigung! Kein dauerndes Glück! Das hatte sie sich verscherzt für immer! Ein Kuß! Ein letzter Gruß! Mein Roß scharrte den Sand, und wir schieden in Freundschaft und Resignation.

Mir schwindelte vor der Weite der Perspektive wie vor der unendlichen Vielheit meiner Gefühle, und stolz erhobenen Hauptes – um so stolzer, je näher ich Scholastika irgendwo wußte – wandelte ich zwischen Salatbeeten und Bohnenstangen und spann den Faden meines Leides zu einem vielverschlungenen, tausendfältigen Gewebe, das es an Buntfarbigkeit getrost mit den üppig überblühten Parkwiesen von Monrepos aufnehmen konnte.

In diesen Tagen grüblerischer Selbstanklage, grollenden Unmuts, schneidenden Schmerzes, schweifenden Lebensdranges und einer dunkeln quälerischen Ahnung, als sei meinem Bleiben in Monrepos ein nahes Ende gesetzt, in diesen umwölkten Tagen von wilder Zerrissenheit, die mir Erinnerung mit Rosenglanz und Morgenschöne übergießt, gab einzig Frau Amalias warme, sinnenfreudige Nähe mir Trost und Linderung in meinem Jugendfieber. Es war, als wüchse mir ihre reife und frauliche Sympathie in dem gleichen Maße entgegen, wie sich das Gefühl des Mädchens von mir entfernte, und als sollte ich dem Verlust der Tochter erst den vollen Gewinn der Mutter verdanken. Und doch hatte sie, dessen erinnerte ich mich Wohl, das erste Keimen und Werden unserer Neigung, all die hundert kleinen Anzeichen beginnender Annäherung, wachsender Anziehung, die sich ihrem scharfen Frauenauge unmöglich verbergen konnten, freundlich gehegt, verstehend belächelt, schweigend zugedeckt, ohne eine Wallung kleinlicher Eifersucht zu zeigen, wie es Frauen geringerer Art natürlich gewesen wäre, da ihr Herz doch schon bei der ersten Begegnung für mich gesprochen hatte. Aber vielleicht – so sagte ich mir – hatte sie dieses ganze übertriebene und doch so süße, immer gleich unvernünftige Kinderspiel von allem Anfang an in seinem Verlauf überblickt und sein natürliches Ende vorausgesehen, denn ihrem Scharfblick in allen Herzensdingen traute ich das Unmögliche zu und hätte mich nicht gewundert, die leisesten Regungen meiner Seele, die mir selbst ganz unbewußt, von ihr gedeutet zu sehen, als seien es die Linien meiner Hand und sie eine Wahrsagerin, die daraus mein Schicksal zu lesen verstünde.

Öfter als früher begegnete ich ihr auf meinen einsamen Streifereien durch ferne, vordem noch kaum gekannte Partien des Parks. Dann gingen wir nebeneinander her und verspannen uns in immer neuen, wechselnd hin und her springenden Gesprächen über tausend Dinge des Lebens und der Welt sowie des eigenen Ichs. Obwohl sie Kindheit und Jugend – ihre Wiege hatte in meiner Oberstube unter den Resedasesseln gestanden –, Mädchenjahre und Ehezeit und nun auch ihr frühes Witwentum in der Gartenstille von Monrepos verbracht und die Welt außerhalb der Parkmauer nur selten zu Gesicht bekommen hatte, war es ihr doch wie durch eine angeborene Sehergabe verliehen, alles Menschentum mitfühlend zu begreifen und die verschlagensten Pfade verstehend nachzuwandeln.

»Sie werden ein schweres und kämpferisches Leben zu führen haben, Bernardo!« sagte sie auf einem solchen Spaziergang zu mir – einem der letzten, deren ich mich entsinne –, als ich wieder einmal alles Brodeln, Gären und Überschäumen meines Herzens ausgeschüttet hatte. »Denn Sie werden nicht nur mit der Welt ringen müssen, was ja keinem da draußen erspart bleibt. Sie werden noch mehr unter sich selbst und unter der Vielheit Ihres Wollens, Ihrer Ansprüche und Bedürfnisse zu leiden haben. Zersplitterung der Kräfte, das ist die größte Gefahr, die Sie bedroht. Sie werden sich selbst überfliegen wollen. Dabei überschlägt man sich allzu leicht. Hüten Sie sich vor dem Überschlagen, mein Freund!«

»Aber was ist der wert, der nicht über sich selbst hinaus will!« rief ich aufgeregt und durchsägte mit dem Arm die Luft nach alter Weise. »Ich behaupte, der Mensch kann alles, was er will, er muß es nur auch mit Leidenschaft wollen! Und nur, wer von vornherein mehr will, als er vielleicht kann, der wird am Ende überhaupt etwas können! Auf die Leidenschaft des Wollens allein kommt es an!«

Frau Amalia wehrte lächelnd ab.

»O jugendlicher Brausekopf! Auf die Sicherheit des Könnens kommt es an. Wer die kleinste Tat vollbringt, steht größer da, als wer das Höchste will und nicht kann.«

»Niemals! Niemals!« schrie ich mit einer Stimme, die sich selbst überschlug. »Was bedeutet vor dem Auge des Weltgeistes irgend so ein kleiner Könner, irgend so einer, der Masche für Masche abzählt und Schritt für Schritt, gegen den Menschen, der nach den Sternen gegriffen hat und vielleicht dabei in den Abgrund stürzt! Nein! Nein! Tausendmal nein! Leidenschaft ist alles in dieser Welt! Und seit wann tritt Frau Amalia von Mitnacht gegen die Leidenschaft auf?«

Ich hatte die letzten Worte wie aus einer Schleuder gegen meine graziöse Begleiterin abgeschnellt und wartete nun siegesbewußt, mit blitzenden Augen und vorgestemmtem Bein, auf den glorreichen Moment des Einschlagens.

Frau Amalia war stehen geblieben und hatte ein verschleiertes Lächeln auf den feinen, wundersam jugendreinen Zügen.

»Leidenschaft ist schön und mir nicht fremd,« klang es von ihren Lippen. »Und auch nach den Sternen greifen ist schön, wenn auch mehr Männer- als Frauenart. Aber wie nennen wir den, der nach vier Sternen zugleich greift, mein Freund? Und glauben Sie, wer nach vier Sternen greift, wird sich auch nur einen einzigen vom Himmel holen?«

»Vier Sterne zugleich?« wiederholte ich kopfschüttelnd und ungeduldig, ohne den Spott zu merken, der in ihren Worten lag.

»Wer tut denn das?« wollte ich hinzusetzen, als mir plötzlich Apollonia, Scholastika und Euphrosyne, das Dreigestirn, einfielen und als vierter der Stern, der, im Augenblick sie alle überstrahlend, an meinem Himmel stand: Frau Amalia selbst.

Ich wurde dunkelrot und fühlte den Boden unter meinen Füßen weichen.

»Nein, kein anderer Stern!« stammelte ich und glitt halb an ihrem duftigen Kleid nieder. »Kein anderer Stern! Nur Sie, Frau Amalia! Nur Sie allein!«

Ich heftete meine brennenden Lippen auf das weiche, kühle Fleisch ihrer lässig herunterhängenden Hände und drückte Stirn und Haar tief in das schmeichelnde Seidengespinst ihres Kleides, unter dem ich ihre schön geformten Knie deutlich sich abzeichnen fühlte.

Sie ließ es ruhig geschehen, beugte sich leicht zu mir herab, so daß auch das Heben und Senken ihres atmenden Busens mir nah und näher kam und mich wonnevoll durchrann.

So verharrten wir ein Weilchen schweigend, auskostend, dem Augenblick ergeben. Dann erhob ich mich aus meiner halb lauernden Stellung, während sie meinen Kopf in ihre Hände nahm und ihn wie ein Kind an ihre Brust bettete.

»Werden Sie des Sterns gedenken, der über Ihrem Leben stand, ehe Sie von Monrepos gingen?« fragte sie mit einer leisen, verklingenden Melodie in der Stimme.

»Immer! Immer! Immer!« schluchzte ich aus tiefster Seele. Aber dann mit einem Ruck mich aufraffend: »Ist es denn wirklich so weit? Sie sprechen, als sei der Tag schon da, wo ich fort muß von Monrepos.«

Sie streckte den Arm aus und deutete auf die hohen Kronen der runzligen Eichen, die in malerischen Gruppen auf dem sanft geneigten Wiesenplan standen.

»Wo ist das helle Frühlingsgrün der Eichenwipfel, mein Freund? Die Bäume stehen dunkel und ernst und mahnen zum Scheiden. Der Hochsommer ist vor der Tür, und Ihre Stunde ist nah, Bernardo.«

Sie seufzte leise und schwieg. Ein fremdes, wie zeitloses Rauschen ging durch die dunkeln Kronen, und meine Seele war traurig bis zum Grund.

 

Einige Tage zogen in Bangen und Schweben vorbei, und Johannistag kam. Am Morgen dieses Tages, dessen ich immer gedenken werde, sah ich Frau Amalia beim Baden im Nymphenweiher. Ich war ihr und ihren Töchtern wohl so manches Mal hier im Wasser begegnet, aber war es Zufall oder Absicht, noch nie war mir ihr voller Anblick zuteil geworden. Stets hatte es sich gefügt, daß sie, in einen weiten Mantel gehüllt, aus dem Wasser schlüpfte, wenn ich kam, oder im Wasser blieb, bis ich ging. Vielleicht hatten auch die Reize der Töchter meine Augen von der schönen Mutter abgelenkt und mich undankbar dafür gemacht. In diesen Tagen nun schien es, als habe Scholastikas sichtliche Entfremdung von mir sie langsam auch von der Mutter entfernt, ja als teilten in einem unausgesprochenen Einverständnis die beiden anderen Schwestern das Gefühl der dritten gegen ihre Mutter wie gegen mich und gingen gemeinsam ihre abgesonderten Wege, uns beide hinwiederum den unseren überlassend.

So mochte es kommen, daß ich am tauigen Morgen dieses Johannistages Frau Amalia zum ersten Male allein und unverhüllt am Nymphenteich traf. Ich hatte gerade hinter den Büschen meine Kleider abgeworfen und wollte nichtsahnend ins Wasser schnellen, als ich sie plötzlich in ihren weißen Mantel geschmiegt unter den Apfelbäumen in kurzer Entfernung mir schräg gegenüber auftauchen und ruhig zum nahen Uferrand hinabschreiten sah.

Ob der Mantel nicht endlich, endlich doch einmal fällt? dachte ich mir und hielt in bangem Erwarten den Atem an. Sie aber, als trüge mein Wunsch die Kraft sofortiger Erfüllung in sich, löste mit der Linken die Mantelspange über der Busenwölbung, während die Rechte das rötlich kastanienbraune Haar seiner Haft entband. Der Mantel sank rings an ihr herab, so daß es aussah, als steige ihr weißer Leib auf einem Postament empor, und im gleichen Augenblick strömte die Flut des gelösten Haars ihr über Schultern und Brüste hinab, meinen Augen einen Teil ihres Raubes wieder entreißend. Aber nicht auf lange! Eine jähe Bewegung des Kopfes nach rückwärts schleudert die rötlich flimmernde Fülle des Haares über die Schultern auf ihren gebührenden Platz, und die meisterhaft modellierte Fülle des Wuchses entschleiert sich mir ganz. Die befreiten Glieder atmen tief auf und dehnen sich in seligem Entzücken dem jungen Morgen entgegen, der sie mit rosigem Hauch übermalt. Die schlanken Arme breiten sich wie in fesselloser Lust über dem zurückgeworfenen Kopf. Straff und voll spannen sich die jugendfrischen Brüste über dem zierlich geformten Leib, zwei schwebende Monde über dem Erdenrund. Auf kräftigen, ebenmäßigen Beinen sonnt sich im Frührot Eva, das erste Weib.

Ich aber, ein blöder tatloser Adam, noch diesseits des Baums der Erkenntnis, hielt mich zitternd hinter den Büschen versteckt und hörte die Ströme meines Bluts durch die Adern brausen, während meine Augen den Rhythmus ihres nackten Leibes tranken und tranken.

Jetzt ein Vogelruf durch die tiefe Stille. Das nie geschaute Bild da drüben löst sich aus seinem wachen Traum, die weißen Arme strecken sich vor, spitzen sich zu, Kopf und Oberkörper beugen sich weit hinaus.

Ein Sprung! Ein Schlag! Und Eva ist kopfüber in ihrem eigenen Spiegelbild versunken.

Im nächsten Augenblick war ich mit einem Satz tiefer in die Büsche zurück, warf mich, so schnell ich konnte, wieder in meine Kleider und rannte spornstreichs, wie ein ertappter und verfolgter Verbrecher, immer kreuz und quer springend, durch die grüne Wildnis, bis ich angesichts des Schlößchens Ruhe und Atem wiederfand und meine Schritte verlangsamte, um schließlich unbefangen, als sei nichts geschehen, an den drei frühstückenden Mädchen vorbei, die Treppe und meine Oberstube zu gewinnen.

Stunden waren vergangen. Im Hause herrschte ein seltsames und drückendes Schweigen, während ich immer noch ruhelos durch meine Zimmer wanderte und mühsam gegen die Brandung ankämpfte, die das Erlebnis des Morgens in mir aufgewühlt hatte. Da hörte ich einen schweren, polternden Schritt langsam Stufe für Stufe zu mir heraufsteigen und über die Vorderdiele wuchten. Es klopfte, und die Tür öffnete sich. Eli der Alte stand auf der Schwelle und lüftete das Sammetkäppchen.

»Junger Herr, es ist ein Brief für Sie da.«

Obwohl dies nichts Seltenes war und das Hausfaktotum mir schon manchen Brief heraufgetragen hatte, so kämpfte sich mir doch das Herz vor Bangigkeit zusammen, und ich griff, schwerer Ahnung voll, nach dem versiegelten Schreiben. Es kam von meinem Vormund und kündigte mir mit langatmigen Gründen an, daß ich zur Ordnung dringender Familienangelegenheiten meinen Aufenthalt in Monrepos abbrechen und so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren müsse. An eine Rückkehr sei vorderhand nicht zu denken, weshalb ich am besten täte, alle meine Sachen zu packen und endgültigen Abschied zu nehmen.

Ich ließ die Hand mit dem Schicksalsbrief sinken und murmelte ganz zerknirscht:

»Also fort! Fort! Fort für immer!«

»Ja, ja, junger Herr!« nickte der Alte vor sich hin. »Es ist Johannistag heut. Wir haben den letzten Spargel gestochen, und die Kirschen sind rot und prall. Machen Sie sich fertig, junger Herr! Ihre Zeit ist um!« ...

 

Johannisabend war da! Ich hatte meinen leichten Kram zusammengepackt. Koffer und Tasche standen reisefertig im Flur. Noch ein letztes Beieinandersein sollte mich mit den Damen des Hauses vereinigen. Ein kurzer fröhlicher Abschied sollte gefeiert werden, so war es Frau Amalias Wunsch. Dann, in der nächsten Morgenfrühe, wenn alles noch schlief, wollte ich weg.

Ein lauer lichter Sommerabend träumte über Wiese und Hain, über Garten und Haus. Wir saßen zu ebener Erde unter dem Verandasäulenbau rings um den runden Familientisch. Die Windlichter brannten ruhig und gleichmäßig. In den Gläsern blinkte die Erdbeerbowle. Aber wie leicht und flüchtig der Wein auch perlte, über uns allen lag die Dumpfheit der Stunde und machte uns einsilbig, wortkarg, versonnen. Ein jedes schien seinen eigenen einsamen Gedanken nachzuhängen. Die unsichtbaren Drähte, die uns sonst verbunden hatten, schienen zerschnitten, zerrissen. Wie einzelne schwere Regentropfen in lastender Gewitterschwüle, so fielen die Worte, hörten auf, tropften von neuem. Aber statt Erleichterung zu bringen, ließen sie die Atmosphäre, die uns umgab, nur um so drückender erscheinen.

Eine Kristallschale mit dunkelroten, heiß duftenden Rosen stand auf dem Tisch. Aus der nächtlichen Dämmerung des Gartens sandte der blühende Holunder seinen starken würzigen Atem. Lindendüfte mischten sich drein. Ein jedes der Mädchen hatte sich mit Blumen geschmückt. Apollonia trug roten Mohn in dem blauschwarzen Haar, Scholastika einen Strauß von weißen Rosen im Gürtel ihres mattlila Kleides. Euphrosyne hatte einen bunten Feldblumenkranz auf das wirre Haar gedrückt. Frau Amalia selbst, mit dem weißen fließenden Gewand und den blutenden Feuernelken auf der sanft atmenden Brust, war in reifer sommerlicher Schöne anzusehen.

Meine Augen streiften zu ihr hinüber, hingen sich an Wurf und Falten ihres Kleides und zogen darunter den ach! so unvergeßlichen Linienfluß ihrer Glieder nach. Wenn Blicke sprechen, stammeln, jubeln, liebkosen, bis zur letzten Hülle entkleiden und besinnungslos taumelnd umfangen könnten, so taten meine Blicke dies alles jetzt und stürmten über die Regenbogenbrücke der Phantasie in Frau Amalias entrückten Liebesgarten.

Mir war, als sei ich an diesem einen Tage zwischen Morgen und Abend um Jahre gereift und als müsse ich mit zusammengebissenen Zähnen, durch die gesammelte Kraft meines Willens mir zurückerzwingen, was ich des Morgens am Weiher fast schon in Atemsnähe gehabt und als ein blöder Tor mir hatte entschlüpfen lassen. Wie ein heißer, brodelnder Sprudel stieg es aus nächtiger Tiefe in mir auf und wollte mir fast die Brust zersprengen. Ich mußte mir Luft machen, mußte mich aufbäumen gegen das Unaussprechliche, das uns allen die Zunge band, mußte irgend etwas hinausschreien in die zwingende Stille, und wenn es das Unpassendste und Ungereimteste von der Welt war.

»Hier geht es ja wie bei einem Leichenbegängnis zu!« rief ich und sah mich herausfordernd um.

»Vielleicht ist es auch so,« meinte Apollonia mit ihrer tiefen klagenden Altstimme. »Vielleicht wird auch jemand begraben!«

»Meine Jugend wird begraben!« rief ich mit einer großen Gebärde und fühlte mich in diesem Augenblick so jahrhundertalt, daß mir ob meiner eigenen Tragik das helle Wasser aus den Augen rann.

»Meine Jugend wird begraben!« wiederholte ich, während mich ein kalter Schauer überlief, und stürzte ein großes Glas Erdbeerbowle hinunter.

Frau Amalia, die mir gerade gegenüber in ihrem rosa Seidensessel lehnte, hatte ein schalkhaft mokantes Lächeln um die Mundwinkel.

»Unser törichter Freund ist jung wie Adam im Paradies und bildet sich ein, seine Jugend zu begraben! Was soll dann eine alte Dame wie unsereins sagen?«

Ihre Worte schienen nur so leicht hingeworfen und klangen mir doch so merkwürdig anspielungsreich und bedeutungsvoll. Die Szene von heute früh trat mir mit Blitzesschnelle wieder vor die Seele. Ich errötete zu meinem Ärger bis hinter die Ohren und setzte, um es zu verbergen, das Bowlenglas an den Mund.

»Ach Sie, Frau Amalia, Sie!« rief ich hinter meinem Glase und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Sie sind ja die Jugend selbst! Wie können Sie jemals altern!«

»Wissen Sie das so genau, mein Freund?«

Unter ihren Augenwimpern hatte es heiß und verräterisch aufgeleuchtet. In dem Strahl, der mich traf, war etwas, was mir die Sinne benebelte. Oder war es der Wein, der seine Wirkung tat?

»Ja, ich weiß es!« beteuerte ich aus tiefstem Grund. »Ich weiß es, so wahr heute morgen die Sonne schien und die Vögel sangen!«

Meine Augen flammten triumphierend zu ihr hinüber und genossen die Wonne, sie nun ihrerseits an Stirn und Wangen, wenn auch nur mit einem leisen Hauch, erröten zu sehen.

Sie warf mir abermals einen schnellen, fragenden, gleichsam kundschaftenden Blick zu und fächelte sich dabei die heißen Wangen mit dem Spitzentaschentuch. Ich antwortete mit Blicken, die wie Reiterscharen gegen sie anstürmten und wie schmetternde Fanfaren dahergingen. Sie schien alles zu erraten, senkte anmutig hilflos den Kopf und zog sich in ihren Sessel wie in eine uneinnehmbare Festung zurück.

»Ach, was wollen wir von so traurigen Dingen wie Alter und Tod reden!« sagte sie nach einem Augenblick mit einer nachlässigen Geste. »Das einzige, was wir heute vielleicht begraben, das ist der Frühling. Und der kehrt wieder.«

»Aber ich kehre nie wieder!« sagte ich mit einem trotzigen Aufstampfen des Fußes. »Was nützt es mir, daß andere den Frühling hier sehen werden! Was nützt es dem, der sterben soll, zu wissen, daß andere noch nach ihm leben werden! Das macht das Sterben und Abschiednehmen nicht leichter! Die Welt und der Frühling und dieser Garten, das ist alles nur einmal für den, der es gerade hat!«

»Die Welt und der Frühling und dieser Garten sind immer für den, der sie einmal hatte!« sagte Apollonia und zog die schwarzen Brauen auf der schön gebildeten klassischen Stirn zusammen.

»Nein! Nein! Nein!« wehrte ich heftig ab und schlug mit der Hand auf den Tisch, daß die Gläser klirrten. »Was vordem war und was nachher kommt, das ist alles Rauch und eitel Dunst! Nur dieser Augenblick ist unser! Alles andere ist keinen Groschen wert! Also trinken wir auf den Augenblick, der unser ist! Auf diesen letzten im Frühlingsgarten von Monrepos!«

Ich wollte mein neu gefülltes Glas erheben, aber Euphrosyne, die bisher geschwiegen hatte, nur durch das hin und her huschende Lächeln auf den nervösen Zügen ihre Anteilnahme verraten hatte, packte mit einem Griff meinen Arm.

»Halt! Halt! Sagen Sie mir nichts gegen das, was kommt! Sonst könnten Sie sich die Rache von Atropos auf den Hals ziehen. Und Sie wissen, wer die zum Feinde hat ...«

Sie hielt wie drohend inne und blitzte mich mit ihren Meeresaugen an. Ich aber sah wehmutsvoll den sonnenschönen Frühlingsvormittag, wo sie mich mit dem Fluch der komischen Muse bedacht und das Sandfaß auf mein Versegekritzel gestülpt hatte.

Plötzlich, wie Erinnerung so ihre Flügel breitete, fiel mein Blick auf die immer noch stumm dasitzende Scholastika. Ein tiefer nagender, brennender Schmerz stieg in mir auf, daß dies zauberhafte Menschenbild mit dem Märchenschein um die Stirne einmal mir gehört hatte und mir nun für immer verloren sein sollte. Durch eigene Schuld! Durch meine eigene Schuld! Ein unendliches Mitleid mit dem verlassenen Mädchen und mit mir selbst, der es verließ, erfüllte mich ganz. Aber was mir über die Lippen trat, war ein fremder, feindlicher Ton, aus Trotz und Erbitterung gemischt. »Und was sagt Fräulein Scholastika zu dem allen?«

»Scholastika träumt und schweigt,« antwortete Euphrosyne statt der Angeredeten und lachte schnippisch auf.

»Und wovon träumt Fräulein Scholastika?« fragte ich mechanisch weiter, halb zu dieser, halb zu Euphrosyne gewendet.

»Vielleicht von unserer Ururahne, die's besser hatte als ein armes verratenes Erdenkind von heute!«

Wieder hatte Euphrosyne für Scholastika geantwortet und ihr anzügliches Lachen dazu angestimmt.

Ich sah, wie die großen dunkeln Augen des schweigenden Mädchens sich mit Tränen füllten. All das himmelschreiende Unrecht, das ich ihr angetan, trat vor mich hin und klagte mich an. Ich hätte ihr zu Füßen fallen und sie um Verzeihung bitten mögen. Aber da begegnete ich dem lächelnden, wissenden Blick Frau Amalias, und sofort trieb ein boshafter Dämon, über den ich keine Gewalt hatte, mich an, nun erst recht mich in Positur zu werfen und vor mir selbst und noch mehr vor den Frauen Komödie zu spielen.

»Wir sind alle arme verratene Erdenkinder!« rief ich mit einer wegwerfenden Gebärde. »Der eine verrät, und der andere wird verraten, und dann verrät wieder der andere den einen! Es ist immer das alte Spiel. Geben Sie mir die Hand, Fräulein Gretchen, und trinken Sie mit mir auf das Gedächtnis Liselottes von Merenberg und ihres Kurfürsten mit dem Doppelkinn, der ihr zu guter Letzt den Kopf abschlagen ließ.«

Ich wollte mit Scholastika über Euphrosyne weg, die neben mir saß, anstoßen, aber Frau Amalia fiel mir verwundert in die Rede.

»Was ist das für eine blutige Geschichte vom Kopfabschlagen?«

»Ja, ist es denn nicht wahr, daß das Fräulein von Merenberg zuletzt aufs Schafott gemußt hat?« fragte ich ganz verdutzt und wandte mich geärgert zu Euphrosyne, in deren Gesicht es spitzbübisch verwegen wetterleuchtete.

»Fressen Sie mich nur nicht, Prinz Brausepulver!« sagte sie lachend. »Ich habe Sie ein bißchen gruselig machen wollen.«

»Also, es ist nicht wahr?! Sie haben mich angelogen?!«

»Ich habe Sie angelogen! Gewiß, mein Prinz! Aber wäre es nicht viel schöner, wenn es wahr wäre und unsere pikante Urgroßmama hätte wirklich auf dem Schafott geendet, statt in ihrem seidenen Himmelbett?«

Ich wandte mich gereizt von ihr ab und grollte vor mich hin.

»Übrigens hat es mit dem Klecks seine Richtigkeit,« fuhr sie fort. »Nur bezieht er sich nicht auf Liselotte von Merenberg, sondern auf ihre Vorgängerin. Die hat der verrückte Kurfürst hinrichten lassen, als er unsere Urgroßmama nahm. Also Blut ist auf alle Fälle im Spiel!«

Ich sah sie ungläubig an und dann fragend zu Frau Amalia hinüber. Aber die hatte wieder ihr schalkhaftes, verschleiertes Lächeln, und es war nicht zu erkunden, ob man mich mit dem Klecks zum besten hatte oder nicht.

»Ich werde nächstens überhaupt nichts mehr glauben!« murrte ich und schüttete zur Tröstung ein neues Glas der immer besser schmeckenden Bowle in mich hinein.

»Bravo!« lachte Fräulein Euphrosyne und klatschte in die Hände. »Nehmen Sie sich das als Lehre ins Leben mit! Wir werden es in Monrepos ebenso machen und auch keinem Menschen mehr Glauben schenken! Ich werde es jedenfalls anders halten als Klotho und Lachesis! Ich werde über niemand weinen, mein Prinz! Ich will, daß andere über mich weinen sollen!«

Unser alter feister Gartenmaulwurf schnaufte heran und flüsterte Frau Amalia ins Ohr. Sie nickte mit dem Kopf, erhob sich und folgte ihm ins Haus.

Sonderbar, wie mir die Sinne zu Wirbeln begannen! Mir war, als trüge der Alte einen scharlachroten Mantel um die stämmigen Schultern, und aus der Gartensense, vor der ich Blumen und Gräser in Schwaden hatte hinsinken sehen, schien mir ein Richtschwert geworden. Und war das noch Frau Amalia von Mitnacht, die da schwebenden Schrittes hinter ihm ging? War es nicht vielmehr das Fräulein von Merenberg, wie ich es von dem Porträt über meiner Lagerstatt so gut in Erinnerung hatte? So manches Mal hatte ich sinnend davor gestanden, wenn es draußen in den Kastanien und Ulmen rauschte, und hatte mich in die lächelnden Augen, die mich zu beobachten, zu verfolgen schienen, in die verlangenden Lippen, in den halb entblößten gefälligen Busen versenkt, als vermöchte mein inbrünstiger Wunsch dies alles noch einmal zum Leben zu erwecken. Und nun sah ich mein längst verstorbenes, zu Asche zerfallenes Traumliebchen leibhaftig in Fleisch und Blut erstanden, aber nur auf einen einzigen flüchtigen Augenblick, und ehe meine Hände den Augenblick fassen, ihn halten konnten, war sie hinter ihrem voranwatschelnden Henkersknecht durch die Falltüre des Hochgerichts verschwunden, um noch einmal ihren zierlichen Hals auf den Block zu legen und das Richtschwert durch die Luft sausen zu hören.

Eine urgewaltige und weltengroße Rührung über die grausame Blindheit und Unvernunft des Lebens brandete in mir gleich einer dunkeln See und stieg höher und höher gegen mich an, den einsamen Mann, der am Ufer stand und diese ganze schaurige und unbegreifliche Tragödie über sich kommen sah. Ich blickte zu Gretchen hinüber, die mit gekreuzten Armen und erstarrten, wie toten Augensternen noch immer der Ferne zu gehören schien. Vielleicht stand auch sie am Ufer einer ebenso dunkel brandenden See und durchlebte die gleiche Tragödie wie ich, und wir waren Leidensgenossen und konnten uns zum letzten Male die Hände drücken, ehe wir für ewig auseinandergingen.

»Haben Sie über mich geweint, Gretchen?« stammelte ich und wischte mir über die feuchten Augen. »Ja, weinen Sie, Gretchen! Weinen Sie nur! Weinen Sie über mich und über sich und über unser Leben! Es ist ja doch alles ein einziger Brei!«

Ich hörte ein schrilles Lachen dicht neben meinen Ohren und erkannte Euphrosynes schmetternden Ton. Aber als ich mich zu ihr wandte, um ihr die Handknöchel zu pressen, daß sie schreien sollte, erblickte ich statt ihrer die ernste dunkle Apollonia an meiner Seite, und Euphrosyne schien irgendwo im Nebel zu verschwimmen.

Scholastika hatte sich erhoben und trat auf mich zu. Ich richtete mich unsicher in meinem Sessel empor und reichte ihr die Hand. Einen kurzen Moment, vor dem Scheiden auf immer, ruhten unsere Blicke ineinander, als müsse ein jedes das Bild des andern für die Ewigkeit festzuhalten suchen.

»Leben Sie wohl!«

»Leben Sie wohl!«

Uns beiden standen die Augen voll Wasser. Sie neigte den Kopf und ging von dannen. Ich sah die zarte, schlanke Gestalt über den erleuchteten Hausflur verschwinden. Es war zu Ende. Ich warf mich in den Sessel zurück, griff nach dem Glase und fühlte dicke Tränen in meine Bowle kullern.

Frau Amalia kam wieder. Eli der Alte, der seinen Scharlachmantel und das Richtschwert abgelegt hatte und wieder als uralt zeitloses Hausfaktotum einherging, trug ihr eine verstaubte, weinlaubbekränzte Flasche und zwei Gläser auf einem Tablett nach.

Frau Amalia hatte eine heitere Majestät auf den lichten Zügen, während der Alte die Flasche entkorkte und aus breiten Nüstern schnobernd die Gläser vollschenkte. Ein lieblicher, unendlich zarter und seiner Blumenduft schwebte über den Tisch und durch die Veranda hin, ganz ähnlich dem, den ich in meiner Oberstube, unter den Resedasesseln, geatmet hatte. Ich war ein wenig wacklig aufgestanden. Meine schöne, holdselige Freundin erhob ihr Glas zu dem meinen.

»Der Wein ist über ein Jahrhundert alt. Meine Urahne hat ihn gebaut und gekeltert. Es darf keiner von Monrepos scheiden, der nicht von ihm gekostet hat. Er soll Jugend und Glück bringen, wie man sagt. So trinken Sie sich Jugend und Glück, mein Freund Bernardo! Möge Ihr Leben wie der Frühlingsgarten von Monrepos sein! ... Auf das Sonntagskind!«

Wir stießen unsre Gläser zusammen. Es gab einen hellen, silbernen Glockenklang. Ich sah noch, wie meine Freundin über den Glasrand weg ihr Auge liebkosend über mich gleiten ließ, ehe sie trank. Mein Auge begegnete taumelnd dem ihren und umfing sie von Kopf bis zu Fuß. Ich setzte den Kelch an die Lippen und trank ihn, Auge in Auge, Zug um Zug, mit ihr leer. Ein Glas zerschellte auf der Porphyrfliese neben uns am Boden. War es das meine? War es das ihre? Die Bilder des Lebens zerrannen in Dunst. Meine Sinne schwanden.

 

Es war tief in der Nacht, als ich zu erwachen glaubte. Ich fühlte, daß ich in meinem breiten, prunkhaften Kurfürstenbett lag. Aber irgend etwas schien mich im Bann zu halten, so daß ich mich nicht rühren noch regen konnte. Nur meine Hände tasteten dunkel über die Decke, und meine Augen öffneten sich halb und starrten um sich. Ein schräger Strahl des späten Mondes blinzelte durch den Fensterladen hinüber zur verschlossenen Tür meines Wohnzimmers, in deren Schatten ich die dunkeln Umrisse einer Gestalt zu erblicken glaubte. Ich strengte meine Augen, so weit ich konnte, an, um deutlicher zu sehen. Ich wollte meinen Oberkörper erheben, aber der Bann drückte mich in die Kissen nieder. So lag ich mit sehenden Augen und gelähmten Gliedern und lauschte auf das, was kommen würde.

Der Mond war weiter gegangen und lugte über meinen Bettpfosten weg. Gleichzeitig löste sich die Gestalt aus dem Dunkel der Türfüllung und schwebte näher zu meinem Lager hin.

»Wer ist da?« stöhnte ich wie unter einem schweren Alp.

»Ich bin's, mein Freund!«

Die Stimme klang süß und melodisch, und ich erkannte sie wohl. Es war die Stimme des Fräuleins von Merenberg, wie ich sie so manches Mal in meinen Träumen vernommen hatte.

»Kommst du zu mir?« fragte ich, und alle Bangigkeit war von mir gewichen.

»Ich komme zu dir,« klang es weich und verlangend zurück.

Mich durchschüttelte es, und ich raffte mich mit einem gewaltsamen Ruck in die Höhe. Da stand im Mondlicht, wie von einer Blendlaterne beleuchtet, die wonnevolle Gestalt, die ich heute früh am Weiher gesehen. Der weiße Mantel schmiegte sich eng und verräterisch um die blühenden Glieder. Die linke Hand nestelte an der goldenen Spange, die das durchsichtige Gewebe über der Busenwölbung zusammenhielt. Die Rechte, hoch über den Kopf erhoben, löste die Haft des Haares. Die rotbraune Flut sank rücklings über die weißen Schultern hinab, und aus dem niedergleitenden Mantel wie aus Erdfalten empor stieg nackten, schimmernden Leibes im Mondenlicht Eva, das erste Weib.

»Bist du's? Bist du's?« jubelte ich ihr entgegen und richtete mich hoch empor.

»Ich bin's, mein Freund! Ich bin die Jugend! Ich bin das Glück!«

Ich dehnte meine Arme in einer nie gekannten, unendlichen Lust, und all die weiße, quellende Weibespracht sank mir mit einem letzten verhauchenden Seufzer an die Brust.

»Ich bin die Liebe! ... Ich bin das Glück!«

Kühle, umfangende Arme zogen mich nieder. Seidenweiches, duftiges Haar rieselte um mich und sie, und das Mondlicht deckte uns zu.

 

Als ich erwachte, leuchtete heller, klarer Frühschein ins Zimmer. Eli der Alte stand an meinem Bett und rüttelte mich an der Schulter.

»Stehen Sie auf, junger Herr! Der Wagen wartet! 's ist an der Zeit!«

Ich rieb mir die Augen und sah zu meiner Seite. Das Lager war leer. Hatte ich gewacht oder geträumt? Ich erfuhr es nie. Ich zog mich an, während der Alte mit seinem Tonnenbauch geschäftig hin und her watschelte und mir behilflich war.

Ich warf einen letzten Blick nach dem Bild meiner Dame aus dem Rokoko. Es lächelte, verschleiert und wissend zugleich, von der Wand auf mich hernieder. Wer dieses Lächeln hätte ergründen können! Vielleicht war ihm der finster gebietende Mann an ihrer Seite auf die Spur gekommen und hatte an meinem Rosenholztisch mit einem kurzen Federstrich das Urteil darüber vollzogen. Vielleicht ... aber wer wollte die Rätsel lösen, die sich aus diesen Monden und Tagen und aus der in allen meinen Sinnen nachschwingenden Nacht um meine Seele schlichen?!

Vielleicht ist alles nur Traum und holdseliger Jugendwahn gewesen, dünn wie Spinnenfäden, in der Sommernacht gewoben, zart wie der Mondstrahl, der um die nackten Glieder meiner schönen Frau Eva rann. Ich habe es niemals ergründet und erfahren.

Ich habe auch niemand von ihnen allen wiedergesehen. Nicht die hohe Apollonia. Nicht Euphrosyne, die wilde. Nicht Scholastika mit den Wunderaugen. Nicht Frau Amalia, die Unvergeßliche, selbst. Sie alle sind wie vom Erdboden fortgeweht, mitsamt Eli dem Alten und ihrem Frühlingsgarten. Denn als ich nach zwanzig Jahren wieder an die Stätte kam, wo ich nach vier Sternen auf einmal gegriffen und um vier schöne Frauen zugleich geworben hatte, um endlich in der Johannisnacht der schönsten von ihnen allen in den Schoß zu sinken, da schüttelten die klugen Leute, die ich nach Monrepos fragte, bedenklich den Kopf und sagten, ich müsse den Frühlingsgarten wohl anderswo suchen gehen, denn hierzulande habe es niemals so etwas gegeben.

Mir aber klingen zeitlebens die letzten Worte im Ohr, mit denen das Traumbild sich zu mir neigte:

»Ich bin die Jugend! Ich bin die Liebe! Ich bin das Glück!«


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