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17

In Ellerndorf wurde davon gesprochen, daß Generalkonsul Stenzel im Garten seines Neffen Kletterübungen betreibe. Erst wurde nicht recht daran geglaubt. Aber Leute, die von weitem zugesehen haben wollten, versicherten es so bestimmt, daß schließlich kein Zweifel mehr blieb. Man hatte Stenzel immer für einen wunderlichen Heiligen gehalten: ein Urteil, dem doch auch ein geheimer Respekt beigemischt war vor der großartigen Laufbahn des Ellerndorfer Lehrersohnes. Aber diese Tatsache war ja nun lange genug bekannt, als daß man sie noch besonders hätte schätzen sollen. Es scheint im Wesen des Menschlichen zu liegen, daß wir die positiven Leistungen des andern sehr bald als etwas Selbstverständliches ansehen, dem weiter keine Beachtung mehr zukommt, dagegen seine negativen Seiten, seine Schwächen, Fehler, Unterlassungen, Seltsamkeiten täglich von neuem kritisieren und verurteilen, als ob die Herabsetzung des andern die eigene Vortrefflichkeit erhöhte. In Ellerndorf konnten die ältesten Leute sich nicht erinnern, daß ein bald sechzigjähriger Mann sich noch aufs Klettern verlegt habe. Also mußte man an seinem Verstande zweifeln, aber da es ja eine harmlose Verrücktheit war, so eröffnete sich damit eine Quelle ungetrübter Heiterkeit für das gesamte Dorf.

Stenzel hatte zuerst mit leichteren Übungen angefangen. Es standen ja in dem weitläufigen Obstgarten genug Apfel-, Kirsch- und Birnbäume ganz verschiedenen Alters und Wuchses, an denen man seine Fertigkeit erproben konnte, indem man allmählich vom Einfacheren zum Schwereren aufstieg. Anfangs waren es leichte Klimmzüge und ähnliche Reckübungen, bei denen ein untergesetzter Stuhl nachhalf. Dann begann das eigentliche Klettern an jüngeren und niedrigeren Bäumen, die man leicht mit Armen und Beinen umspannen konnte. Dickere Stämme wurden nach und nach in den Übungsbereich einbezogen. Es setzte zerkratzte Hände und zerschundene Knie dabei. Eine nagelneue Turnhose platzte an entscheidender Stelle beim Aufschwung zum Geäst eines älteren Birnbaums. Das eigentliche Ziel des Stenzelschen Strebens blieb der Wipfel des zweihundertjährigen Lindenbaums, dieses bemoosten Veterans und Häuptlings, nicht nur im Köhlerschen Garten, sondern von ganz Ellerndorf und weit darüber hinaus. Stenzel war entschlossen, mit der Kraft seiner Muskeln ebendorthin zu gelangen, wo Jan Wilhelm die über das Plättbrett balancierende Ginevra in seinen Armen aufgefangen hatte. Er wollte der Welt insgemein und seiner Angebeteten im besonderen beweisen, daß ein Generalkonsul Stenzel auch auf diesem ihm bisher ferngelegenen Gebiet durch eiserne Willenskraft und unermüdliche Arbeit es jedem andern gleichtun könne. Der Wille versetzt Berge! So hatte er es Ginevra gelobt, und danach wollte er handeln.

Gewöhnlich verrichtete er seine Turnarbeit in den frühen Morgenstunden oder zu einer andern passenden Zeit, wo niemand im Garten war. Denn es genierte ihn doch etwas, sich so als Anfänger zur Schau zu stellen und gelegentlich vielleicht zu versagen. Er gedachte, erst mit der sichern und fertigen Kunstleistung vor die doch einmal nicht zu umgehende Kritik zu treten und sie mit einem Schlage zu entwaffnen. Es war dabei nicht ganz zu vermeiden, daß Unberufene durch den Gartenzaun sahen und eben als Zaungäste dem Schauspiel des wie wild von Baum zu Baum kletternden Generalkonsuls beiwohnten. So verbreitete sich die Mär von dem bejahrten Kletterer schnell.

Auch im eigenen Hause und im Kreise der Nächststehenden wurde viel darüber gewitzelt, aber diese Heiterkeit war nicht frei von Beunruhigung. An dem kleinen zappligen Mann fielen in letzter Zeit nicht nur seine Baumbesteigungen, sondern auch seine manchmal recht merkwürdigen Redewendungen auf. Der Mensch müsse zu den Gewohnheiten seiner Ahnen zurückkehren, die ja bekanntlich auf Bäumen gelebt hätten. Es seien höchst wertvolle Fertigkeiten, die uns leider im Laufe der Jahrtausende abhanden gekommen seien und die es wiederzugewinnen gelte. Vom Klettern zum Fliegen sei ohnehin nur ein Schritt. Die heutige Fortbeförderung im Luftschiff oder Flugzeug sei eine Umständlichkeit, die überwunden werden müsse. Der fliegende Mensch der Zukunft werde es ohne alle Apparate tun und werde sich zu der heutigen Art von Flugbewegung verhalten wie ein Kompressorwagen zu dem Vehikel von Drais.

»Wenn bei dem armen Kerl schließlich noch eine Schraube locker wird, so bist du schuld!« äußerte Helene sehr unmutig zu Ginevra.

»Dann will es eben sein Schicksal so! Sein Karma, würde der Großfürst sagen!« erwiderte Ginevra achselzuckend. Ihre Miene war starr und unzugänglich. Helene verzweifelte an diesem Panzer von Eis, unter dem kein Herz zu schlagen schien.

»Wie ist es möglich, daß meine Tochter so mit einem ehrlichen, braven Menschen spielt?« rief sie ganz außer sich. »Wenn du nur wenigstens verraten wolltest, ob du ihn zu heiraten gedenkst oder nicht!«

Ginevra blieb kühl und ungerührt von der mütterlichen Aufregung.

»Das wird ganz davon abhängen,« sagte sie, »ob er auf den Baum hinaufkommt oder nicht! Abgesehen von einer andern Bedingung, die auch noch erfüllt werden muß!«

»Auf den Baum hinaufkommt?« wiederholte Helene mit offenem Munde. »Du wirst doch nicht im Ernst verlangen, daß er sein blödsinniges Wort wahr macht, auf den Lindenbaum zu klettern?«

»Und ob ich das verlange!« erwiderte Ginevra nachdrücklich. »Er hat es versprochen! Also muß er es auch halten! Hätte er es nicht versprochen! ... Das ist eben dieser Größenwahn! Den treibe ich ihm aus! Oder es gelingt! Na, gut! Dann halte ich eben mein Versprechen auch und werde Frau Generalkonsul. Es wäre das Schlimmste nicht! Ich baue mir dann meine eigene Jacht. Aber klettern muß er mir! Es fehlt ihm sowieso an Bewegung!«

»Und wenn er sich das Genick dabei bricht?«

»Karma! Alles Karma, liebste Mama! Wir kommen um unser Schicksal nicht herum. Das wird von Tag zu Tag klarer.«

Frau van Düren redete nach diesem Gespräch ein paar Stunden nicht mit Ginevra. Ihr Entschluß stand fest, den Freund zu warnen. Bald darauf traf sie ihn im Garten. Offenbar hatte er sich mitten in seinen Übungen befunden. Er war hochrot im Gesicht. Am linken Hosenbein klaffte über dem Knie ein Loch.

»Gut, daß ich dich finde!« sagte Helene. »Du bist beschäftigt?«

»Arbeit!« erwiderte Stenzel. »Arbeit! Arbeit! Es ist der Inhalt unseres Lebens! Und das ist gut so!«

»Du lernst jetzt klettern?« sagte Frau van Düren ziemlich unvermittelt. »Wozu tust du das?«

Der Generalkonsul klopfte sich Erde und Rindenstücke von der ganz zerfledderten Hose.

»Ich halte es für notwendig! Wir haben zu lange an der Erde geklebt! Wir müssen wieder hinauf wie der Pithekanthropus! Aber jetzt mit Gehirn! Mit Geist! Neuzeitlich! Durch Klettern zum Fliegen! Ich führe meine Idee durch! Wie ich noch alle meine Ideen durchgeführt habe! Durch Arbeit zum Erfolg!«

Helene van Düren warf einen besorgten Blick auf ihn und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Fürchtest du nicht, daß dir was dabei passieren könnte?«

»Passieren ...?«

»Zum Beispiel herunterfallen?«

»Nein! Diese Furcht liegt mir ganz fern! Ich weiß genau, daß ich noch neun Monate weniger einige Tage zu leben habe! Bis dahin kann mir nichts geschehen!«

Frau van Düren schlug erschrocken die Hände zusammen und trat einen weiteren Schritt zurück.

»Hans ...?! Um Gottes willen ...! Du bist krank!«

Der Generalkonsul arbeitete noch immer an seiner Hose herum.

»Entschuldige den Aufzug!« sagte er. »Es ist mein Arbeitskittel, eigens für diesen Zweck. Im übrigen kann ich dich beruhigen. Ich habe mich vorgestern von Professor Oberstein untersuchen lassen! Ich habe Herz, Lunge, Leber, Niere, Milz, Darm eines Fünfzehnjährigen!«

Helene mußte trotz ihrer Aufregung laut auflachen.

»Und wie ist es hier?« fragte sie und deutete leicht auf ihre Stirn. Der Generalkonsul lachte fröhlich mit. Er war nicht im geringsten beleidigt.

»Hoffentlich habe ich nicht auch das Gehirn eines Fünfzehnjährigen, willst du sagen? ... Oh! Ich weiß, man lacht über mich! Aber das berührt mich, nicht! ... Obersteins Diagnose ist glänzend, wie gesagt! Ich könnte hundertundzwanzig Jahre alt werden, wenn das nicht dazwischen käme!«

»Was?«

»Das, wovon ich bestimmt weiß, daß es eintreten wird! Aber nicht schon jetzt, sondern erst in neun Monaten! Bis dahin gedenke ich das Leben noch in vollen Zügen zu genießen!«

»Und da fängst du mit der Kletterei an? ... Hans! Armer Hans!«

Der Generalkonsul lächelte mild und verzeihend.

»Es ist ja nur eine kleine Vorübung. Die Hauptsache kommt gleich hinterher.«

Frau van Düren trat wieder einen Schritt näher.

»Ihr wollt euch heiraten? Du und Ginevra?«

»Es ist alles abgemacht! Ginevra hat unter gewissen Bedingungen versprochen, meine Frau zu werden. Die Bedingungen sind erfüllt oder werden erfüllt!«

Helene legte ihre beiden Hände auf seine Schultern.

»Hans! Mein lieber alter Hans! Ich warne dich vor Ginevra! Sieh, Hans! Es ist meine eigene Tochter, vor der ich dich warne! Und doch bin ich es dir schuldig! Ginevra spielt mit dir! Weiter nichts!«

Stenzels Haltung veränderte sich sichtlich. Seine Miene wurde steif und frostig.

»Ich danke dir für deinen guten Rat! Aber mit einem Generalkonsul Stenzel spielt man nicht! Meine Entschlüsse sind gefaßt und unabänderlich!«

So endete das Gespräch zwischen den beiden Jugendfreunden auf unfrohe Weise. Frau van Düren ging sehr verstimmt ihrer Wege, und der Generalkonsul setzte seine unterbrochenen Kletterübungen fort. Als er bald danach unter der Vorlaube seinem Neffen begegnete, sagte er zu ihm, indem er die Hand in den Westenausschnitt steckte und eine offizielle Haltung annahm:

»Ich habe dir eine Mitteilung zu machen, mein lieber Willi!«

»Bitte?«

»Ich werde mich in nächster Zeit mit Fräulein van Düren verloben. Fräulein van Düren ist von meinen Plänen unterrichtet und billigt sie. Wir sind uns in allen Punkten einig.«

Jan Wilhelm verbeugte sich. Ein satirisches Lächeln glitt über sein Gesicht. Er gab sich kaum Mühe, es zu verbergen.

»Ich nehme Kenntnis von eurer Verlobung, mein lieber Oheim!« sagte er förmlich.

»Bevorstehenden Verlobung!« verbesserte Stenzel. »Es wird in Hinsicht darauf notwendig sein, gewisse Änderungen in meinem Testament vorzunehmen. Für dich wird aber dessenungeachtet gesorgt sein.«

»Ellerndorf genügt mir!« erwiderte Jan Wilhelm kurz. »Ich möchte meiner zukünftigen Tante nichts wegnehmen!«

»Zukünftigen Tante?« wiederholte Stenzel verwundert, klopfte sich aber sofort mit den Fingern gegen die Stirn. »Natürlich wird sie deine Tante! Daran hatte ich noch gar nicht gedacht!«

Er klemmte sein Monokel ein, faßte Jan Wilhelm fest ins Auge und lachte auf seine eigentümliche Weise nach innen.

»Ja, ja, das Leben!« sagte er kopfschüttelnd. »Das Leben, mein lieber Willi! Das Leben! Es will, daß sie deine Tante wird! ... Ein Glück, daß sie nicht deine Großmutter wird! Nehmen wir an, du wolltest sie nach meinem Tode dann heiraten: was gäbe das für ein Geschrei?!«

Er lachte von neuem in sich hinein, winkte dem Neffen zu und entfernte sich.

»Es ist also entschieden, Sie werden sich mit meinem Onkel verloben?« sagte der junge Mann zu Ginevra, die unter den Erlen im Vorgarten saß und ein Buch im Schoß hatte.

»Hat Ihr Onkel Ihnen das gesagt?«

»Ja, er behandelt es als feststehende Tatsache! ... Man darf demnach als zukünftiger Neffe gratulieren?«

»Wie Sie wollen! ... Ein rothaariges Mädchen kann nie früh genug auf seine Versorgung bedacht sein. Lassen Sie das, bitte, nie außer acht, mein lieber Freund!«

Da habe ich meine Ohrfeige weg! dachte Jan Wilhelm bei sich. Er hatte das Gefühl, er habe sie klatschen hören. Als er aufsah, war Ginevra verschwunden.

Beim Gutenachtsagen an jenem Abend bemerkte Frau van Düren zu ihrer Tochter:

»Fällt dir am Generalkonsul nichts auf?«

Ginevra schüttelte den Kopf.

»Kletterübungen! Sonst nichts! Und auch die sind begreiflich! Sogar sehr!«

Frau van Düren war nicht in der Stimmung, auf Ginevras burlesken Ton einzugehen.

»Er muß an irgendeiner fixen Idee leiden!« sagte sie. »Man kann nicht ganz klug daraus werden.«

»Wahrscheinlich Minderwertigkeitskomplex!« äußerte Ginevra und streifte ihr Kleid über den Kopf.

»Er scheint an seinen baldigen Tod zu glauben! Behauptet aber gleichzeitig, daß er hundertundzwanzig Jahre alt werden kann! Das ist doch nicht normal!«

»Um so mehr Grund also, daß eine liebende Seele sich seiner annimmt, soweit Liebe heute noch Existenzberechtigung hat!«

Helene saß auf ihrem Bett und machte eine heftig abwehrende Bewegung.

»Geh mir doch ab! Es wird ein Ende mit Schrecken geben! Für dich und für ihn! Für euch beide!«

Ginevra streckte ihre schlanken weißen Arme in wohliger Müdigkeit über ihrem Kopf und bog ihre Glieder nach Art einer Schlangentänzerin.

»Du weißt ja, was Programmusik ist, Mumpili!« gähnte sie. »Nun also! Dasselbe in Grün wird unsere Ehe! Programmehe! Alles hat seinen Sinn und Zweck! Jede Stunde, jede Minute ist eingeteilt, damit vor allem auch keine Zeit verlorengeht! Ist dir sein Spitzname bekannt, wie es in der Stadt von ihm heißt? Der Herr, der niemals Zeit gehabt hat? ... Und jetzt ist es Zeit ins Bett! Sonst wecken wir deine Schwestern nebenan auf, und es gibt ein Tantenkonzil über die moderne Programmehe!«

*

Auf der Schloßterrasse der Cäcilienhöhe bei Willomin saß in diesen Sommertagen Großfürst Kasimir Wladimirowitsch und schrieb seine Lebenserinnerungen. Er sah über die weißen Häuser und grünen Gärten von Willomin gradeswegs auf das hyazinthfarbene Meer, das der schmale weiße Strandsaum in weitem Bogen umschlang. Rauchfahnen ein- und ausfahrender Dampfer zogen am glitzernden Horizont dahin.

»Wann gedenkst du mit deinem Buch fertig zu werden?« fragte Adele Waldmann, die geräuschlos herangeglitten war und hinter dem in Gedanken versunkenen Exherrscher stand.

»Es ist eine Arbeit auf lange Sicht,« erwiderte der Fürst. »Aus meinem Horoskop, das ich mir vor einiger Zeit habe stellen lassen ... ich erzählte dir davon ... Oder nicht?«

»Mein hoher Herr war so gütig, mich einzuweihen!« sagte die Schauspielerin in ihrem leicht ironisierenden Ton und kreuzte die Arme über der Brust. »Also, was besagt das Horoskop darüber?«

Der Großfürst hatte den Arm aufgestützt und blickte zu der ultramarinblauen Meeresflut hinüber.

»Es besagt, daß mich eine große Arbeit viele Jahre beschäftigen wird. Und erst, wenn ich sie fertig habe, werde ich sterben. Einige Zeit nachher!«

»Und ist das die Arbeit, die du jetzt unter der Feder hast?«

»Ich nehme es vorsichtshalber an und habe also nicht die geringste Ursache, mich zu übereilen. Meiner Schätzung nach werde ich zwanzig Jahre mit der Niederschrift meiner Memoiren zu tun haben. Du darfst nicht vergessen, daß mein Leben einigermaßen merkwürdig gewesen ist. Es wird allerhand zu erzählen geben.«

Adele legte die Arme von rückwärts um die Schultern des Großfürsten. Er fühlte ihren atmenden Busen ganz warm und nahe.

»Zwanzig Jahre für ein einziges Werk! Das nenne ich Geduld und Ausdauer haben!«

»In Syrmien lernt man das, meine Adelina!«

»Ob ich dann wohl auch noch das Amt der Muse bei meinem hohen Herrn versehen werde ... in zwanzig Jahren?«

Der Großfürst lächelte und beugte seinen Kopf zu ihr zurück.

»Das wird von der Geduld und Ausdauer der Muse abhängen! Von ihrer Artigkeit, Folgsamkeit! Und schließlich auch etwas von ihrer Treue!«

»Auch von ihrer Treue?« hauchte die Schauspielerin.

»Ja, auch von ihrer Treue!« nickte der Fürst.

»Können Musen denn wirklich ganz treu sein? Liegt das in der Art ihres Berufs?«

»Eben deshalb sind meine Ansprüche in dieser Beziehung auch nur die allerbescheidensten, meine blonde Muse! Aber soweit sie vorhanden sind, rechne ich auf ihre Erfüllung oder ...«

»Oder ...?«

»Oder es käme zu einem Abschied von der Muse mit allen seinen Folgen!«

Adeles Arme hielten den Großfürsten noch immer von rückwärts umschlungen. Ihr Kopf beugte sich über den seinen. Ihr Atem ging schwül und heiß.

»Tragische Folgen?« flüsterte sie.

»Ja! Für die Muse und ihren Entführer!« kam es ebenso zurück.

»Kugel? Dolch? Oder was es sonst auf dem Balkan gibt?«

»Weder Kugel noch Dolch! Hübsche alte Fakirkünste! Tempelgeheimnisse aus dem Zauberland am Ganges! Der bloße Wille kann töten! Es ist wie mit den Giften. Die schwache Dosis heilt und nützt. Die starke vernichtet. Der Wille in seiner konzentriertesten Bindung ist das gefährlichste Gift, das die Erde schuf. Freilich! Man muß es zu gebrauchen wissen. Ich habe mich dreißig Jahre damit befaßt. Ich hoffe mein Handwerk zu verstehen!«

Die Schauspielerin schnellte mit einem Satz in die Höhe. Kasimir Wladimirowitsch sah lächelnd zu ihr auf.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

Die Schauspielerin schüttelte sich.

»Es war plötzlich ein Blutgeruch um Sie, Hoheit! Entschuldigen Sie! ... Einbildung natürlich! Aber ich bin schrecklich abergläubisch in diesen Dingen! Sie haben eine Art, einem gruselig zu machen ...!«

Der Großfürst lächelte weich. Seine Stimme klang betörend wie immer, mit einem fernen Klirren.

»Ich werde doch wohl noch mit Sklavinnen umzugehen wissen! ... Und wann fährst du nun nach Ellerndorf zu deinem Lebensretter?«

»Gar nicht! Oder nur mit meinem hohen Herrn zusammen!« hauchte die Schauspielerin und glitt willenlos an ihm nieder. An diesem Nachmittag schrieb Kasimir Wladimirowitsch an seinem auf zwanzig Jahre berechneten Lebenswerk keine Zeile weiter.


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