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2

Der Generalkonsul hatte bis gegen elf seine Frühpost so ziemlich aufgearbeitet. Es war da eine Anzahl von Geschäftsberichten der verschiedenen Gesellschaften, deren Aufsichtsrat er als Großaktionär angehörte und die um diese Zeit zu ihren Generalversammlungen rüsteten. Mancherlei Reisen standen in Verbindung damit bevor. Es wird wieder eine unruhige Zeit werden, dachte Stenzel, verbesserte sich aber sofort. Wieso unruhig? Oder vielmehr wieso unruhiger als irgendeine andere Zeit, die ich hier zu Hause am Schreibtisch oder sonstwo verbringe? Ist nicht alles unter dem gemeinsamen Generalnenner der Arbeit zu begreifen? Arbeit hier! Arbeit dort! Wo sollte der Unterschied liegen? Ich tue meine Pflicht! Das ist alles! Man muß sich vor Selbsttäuschungen hüten.

Stenzel legte die gedruckten oder mit der Schreibmaschine vervielfältigten Übersichten in das Körbchen zu seiner Rechten. Manche hatten rote oder blaue Vermerke bekommen. Nicht weniges bedurfte noch gründlicher Gedankenarbeit. Schlaflose Nachtstunden konnten auf diese Weise nutzbar gemacht werden. In dem Sammelkorb links häufte sich der Stoß der Geschäftsbriefe und Aktenstücke. Rotstift und Blaustift hatten auch hier tüchtig geackert. Das weitere oblag dem Sekretär. Es war dafür gesorgt, daß das Feld nie brach lag.

Jetzt waren noch die Privatbriefe, zehn oder elf. Meistens Geburtstagskarten von gleichgültigen Personen, die ihm irgendwie Dank schuldig waren, womöglich sich wieder in Erinnerung bringen wollten. Dank! Er brauchte keinen Dank! Man erfüllt nur seine Pflicht, sagte er sich, wenn man den Menschen hilft, sobald man in der Lage dazu ist. Danach handle ich und habe also keinen Anspruch auf Dank. Das einzige Schlimme ist, daß es soviel Zeit kostet, den Menschen zu helfen. Wertvolle Zeit, die man sich von der andern Arbeit abstehlen muß. Aber schließlich ist es gleich, was man tut, wofern man nur überhaupt und immerfort etwas tut.

Es waren noch zwei Briefe übrig. Beide offenbar von weiblicher Hand. Die steilen haardünnen Schriftzüge auf dem stahlblauen Umschlag des einen schienen anzuzeigen, daß seine Schreiberin dem jungen Geschlecht von heute angehöre. Die nachdrückliche, aber flüssige Handschrift des andern ließ auf eine Absenderin der älteren Generation schließen. Die Jugend braucht zuerst Hilfe, dozierte Stenzel. Vor allem natürlich die weibliche Jugend, wenn sie zum Theater oder sonstwie zur Kunst gehört. Man muß Grundsätze im Leben haben.

Er öffnete den stahlblauen Brief also zuerst, nicht ohne vorher festzustellen, daß ein ihm bisher fremd gebliebenes Parfüm daran hafte. Die Zeilen lauteten:

Ich unterzeichnete Ginevra van Düren (ja, so heiße ich aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz!) lebe seit sechs Monaten in dieser von den Musen und Grazien etwas stiefmütterlich behandelten Stadt und betreibe das Kunsthandwerk einer gelernten Photographin. Im Nebenberuf bin ich Malerin, wenn auch noch keine gelernte, da man hierzu ein Leben braucht und ich mich erst im Blütenalter von zweiundzwanzig Jahren befinde. Mein Vater war der Maler Gotthardt van Düren, dessen Name auch hierher und bis zu Ihnen gedrungen sein dürfte. Meine Mutter hieß mit ihrem Mädchennamen Helene Goertz und will in diesem Zustande eine Jugendfreundin von Ihnen gewesen sein. Sie hat mir, als ich vor einem halben Jahr hierherkam, Grüße an Sie aufgetragen. Ich richte sie mit einer kleinen Verspätung und schriftlich aus, da man mir sagt, daß Sie von Damenbesuch überlaufen sind. Seien Sie also in aller Form gegrüßt.

Ginevra van Düren

Stenzel fand den Brief nicht übel. Er überlas ihn ein zweites Mal und nickte mit einigem Wohlgefallen. Entschlossenheit gab sich da kund. Und Selbstbewußtsein, das doch wohl auch von Tüchtigkeit und Arbeitsamkeit zeugte. Ginevra van Düren! Natürlich kannte er den Namen. Ein paar Pastelle van Dürens, mythologische Stoffe mit Aktfiguren, hingen in eben diesem Zimmer, an der Wand da drüben. Er fühlte das Bedürfnis, sie sich wieder einmal anzusehen, obwohl das ja mitten in der Arbeit eigentlich eine Zeitverschwendung war.

Er stand nachdenklich auf und trat vor die Bilder hin. Ja, der hatte viel gekonnt! Kein Wunder, daß sein Name heute die Welt erfüllte! Der hatte gearbeitet! Immerfort an sich gearbeitet! Nun war er tot! Was hatte er jetzt eigentlich davon? Gewiß! Die Kunstgeschichte verzeichnete ihn unter ihren ersten Meistern. Wie das Kirschrot des flordünnen Schleiers um die Schenkel der Aphrodite gegen das blühende Fleisch abgesetzt war! Es stammte übrigens aus van Dürens Frühzeit, vor bald dreißig Jahren mit dem farbigen Stift gemalt. Und Aphrodites Gesichtszüge? Ja! Das war Helene van Düren, Ginevras Mutter! Damals vielleicht noch Helene Goertz! Was wußte man! Dieselbe, von der jetzt die Tochter ihm in Erinnerung bringen wollte, daß sie seine Jugendfreundin gewesen sei.

Der Generalkonsul ging kopfschüttelnd wieder zu seinem Schreibtisch. Hatte er nicht immer gewußt, daß das Urbild jener Aphrodite Helene Goertz gewesen war? Hatte er das Bild nicht vielleicht eben deshalb in seinen Besitz gebracht, als er es damals in der Berliner Ausstellung hängen sah? Brauchte man ihn wirklich an Helene Goertz zu erinnern, die beinahe ... beinahe seine Frau geworden wäre, wenn er ... wenn er ... nun ja, wenn er Zeit dazu gehabt hätte? Wie kam diese Ginevra dazu, ihm ihre Mutter ins Gedächtnis zu rufen? Dieses zweiundzwanzigjährige Küken, das ebensogut seine Tochter hätte werden können und jetzt Stenzel hieße statt van Düren, wenn die Kugel auf dem Roulettetisch des Lebens ein klein wenig anders gerollt wäre! Und doch, so schloß er seine Betrachtungen, indem er wieder Platz nahm und nach dem letzten noch übrigen Briefe griff, habe ich denn wirklich noch gewußt, daß ich Helene Goertz an der Wand habe? Mit Bewußtsein gewußt? Habe ich überhaupt noch von ihr gewußt oder an sie gedacht? Habe ich auch nur Zeit dazu gehabt?

Kopfschüttelnd öffnete er den elfenbeinfarbenen Brief, mit der flüssigen und doch nachdrücklichen Handschrift, die ihn plötzlich an irgend etwas erinnerte. In der Tat! Der Brief kam von Helene van Düren, die einst Helene Goertz geheißen hatte. Mutter und Tochter hatten ihm gleichzeitig geschrieben. Welch ein Abstand zwischen den beiden Handschriften! Und doch nicht auch eine Familienähnlichkeit? Die Natur läßt ihrer nicht spotten, allen Stilkünsten zum Trotz.

Helene Goertz – der alte Name war ihm doch lieber – schrieb ihm zu seinem achtundfünfzigsten Geburtstage, um nach so langer Zeit, wie sie selbst bekannte, wieder eine Art von äußerer Anknüpfung zu finden. Man sei durch das Leben recht auseinander gekommen. Das Leben sei überhaupt eine niederträchtige und tückische Einrichtung. Was es uns mit der einen Hand zustecke, stehle es uns mit der andern doppelt wieder weg. So habe es ihr ihren Mann gerade in dem Augenblick genommen, als nach einem Menschenalter voller Kämpfe endlich der Erfolg und der Ruhm bei ihnen eingekehrt seien. Ihr armer Mann habe noch mit brechendem Auge seinen Sieg gesehen. Aber seiner Früchte sei er nicht mehr teilhaftig geworden. Die ernte nun sie, da ja noch viele van Dürens im Atelier ständen und die Kunsthändler begonnen hätten, ihr die Tür einzurennen. Doch was nütze das alles! Wäre das Glück gekommen, als sie jung war und es mit dem hätte teilen können, den sie liebte! Das sei nun vorbei. Sie sei alt, wenn auch gewisse Freunde ihr schmeichelten, sie habe sich leidlich konserviert und sehe aus wie eine Rokokomarquise in dem gewissen Alter, wo sich nicht unterscheiden lasse, ob das Haar nur gepudert oder schon durch die Jahre so sei. Aber sie lasse sich von dem Unsinn nicht betören und wisse ganz genau, was die Uhr geschlagen habe. Es sei sinnlos, vom Apfelbaum zu verlangen, daß er Blüten bekomme, wo schon die Winteräpfel daran hängen. Sie habe sich immer gewünscht, an die Riviera oder nach Ägypten zu gelangen und sich dort von der großen Welt bewundern zu lassen, wenn auch nur, um ihren Mann mit seinen vielen Modellen etwas eifersüchtig zu machen und ihm den Wert ihres Besitzes sinnfällig zum Bewußtsein zu bringen. Aber damals, als sie schön war – ja, so hieß es von ihr – und es sich gelohnt hätte, sei sie eine arme Malersfrau gewesen, die sich ihre Fähnchen selbst habe schneidern müssen. Heute, wo sie sich das alles und noch mehr gönnen könne, sei es zu spät, noch einmal anzufangen. Und selbst, wenn es das nicht sei, so mache es ihr eben keinen Spaß mehr ohne den, der sie es erst hätte wahrhaft genießen lassen, und sie pfeife, mit Respekt zu sagen, auf den ganzen Affenkram. Es fehle auch überdies nicht an Verdruß, und den verschaffe ihr ihre einzige Tochter Ginevra zur Genüge. Diese sei ja zwar ein schönes und schneidiges Frauenzimmer, das müsse sie, obwohl ihre Mutter, zugeben, und viele behaupteten, daß sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Aber leider sei das auch die einzige Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden. Im übrigen habe Ginevra Grundsätze, mit denen sie sich niemals befreunden werde, wenn es auch freilich die Grundsätze aller dieser heutigen Jugend seien. Nicht daß es gerade mit Ginevras Liebesleben so erschreckend bestellt sei. Sie wisse wenig oder nichts davon, denn Ginevra sei verschlossen wie ein Grabgewölbe und ähnle darin leider ihrem verstorbenen Vater. Im Grunde werde es sich wohl nicht viel anders damit verhalten als bei den meisten dieser verdrehten jungen Geschöpfe von heute: Viel Geschrei und wenig Wolle! Heute rede man große Töne, früher habe man den Mund gehalten und gehandelt. Was besser sei, wolle sie nicht entscheiden, ziehe aber für ihre Person das letztere vor und glaube, daß auch die Männer, selbst die heutigen, so dächten, wenigstens nach ihrem Mann zu schließen, der in diesem Punkt bis zuletzt ein Kindskopf geblieben sei. Richtigen Ärger bereite ihr jedoch Ginevras dummer und bockiger Hochmut, womit sie auf ihre Selbständigkeit in allen Dingen poche. Sie wolle ihr ganzes Leben, alles, was sie sei, nur sich selbst zu verdanken haben; als ob sie überhaupt in der Welt wäre, wenn ihr Vater und ihre Mutter sie nicht durch persönliche Bemühung hineingesetzt hätten. Dies vergäßen die heutigen jungen Leute immer wieder, so daß man wahrhaftig meinen könne, diese moderne Jugend sei eher vom Mond gefallen, als aus dem Mutterleib gekrochen. Auch Ginevra habe es nicht länger zu Hause ausgehalten, obwohl es ihr doch an nichts gefehlt habe, und sei vor sechs Monaten auf und davon gegangen, um sich in D. als Malerin und Photographin ihr Brot zu verdienen. Dorthin habe es sie getrieben, weil diese Stadt und das dazugehörige Land eben die Heimat ihrer Eltern und Vorfahren gewesen sei; und so zeige es sich doch wieder, daß Abstammung und Familiengefühl selbst in diesem entwurzelten Geschlecht noch nicht ganz erstorben seien. Seither habe sie von Ginevra nicht viel mehr gehört, als daß sie sich wohl befinde und es ihr gut gehe und wie das übliche Geschreibsel schon sei. Sie wisse nicht einmal, ob Ginevra die Grüße bestellt habe, die sie ihr für den Generalkonsul in alter Freundschaft mitgegeben habe. So werde wohl nichts andres übrig bleiben, als daß sie selbst sich aufmache und ihrer verschrobenen Tochter den Kopf zurechtsetze, was dann eine gute Gelegenheit sei, auch mit ihm, dem Generalkonsul, nach so vielen Jahren ein Wiedersehen herbeizuführen. Das werde schon in nächster Zeit geschehen, und hoffentlich werde er sie wiedererkennen, wenn sie an seine Tür klopfe. Inzwischen bitte sie ihn, sich doch einmal nach ihrer Tochter umzusehen und ihr hilfreich die Hand zu reichen, falls sie dessen bedürfen sollte: was aber nicht etwa bedeute, daß er ihr einen Heiratsantrag machen solle, da er doch immerhin sechsunddreißig Jahre älter sei als Ginevra, wie der heutige Geburtstag einwandfrei erweise.

Stenzel ließ den Brief sinken und starrte vor sich hin. Ja, das war Helene Goertz in ganzer Figur! Leibhaftig so hatte er sie vor dreißig, ja, bald vor vierzig Jahren gekannt! Das kleine heißblütige Mädchen ... der heranwachsende herbe Backfisch ... die Achtzehnjährige mit den dunkelbraunen, merkwürdig sprechenden, zugleich lockenden und versagenden Augen ... Tauchte das nicht alles wie in einem einzigen Bilde verdichtet aus diesen flüssigen und doch nachdrücklichen Schriftzügen auf? Und jetzt sollte ein Wiedersehen bevorstehen? Vielleicht schon in den nächsten Tagen? War das wünschenswert? War das notwendig? Brachte das nicht unnütze seelische Belastungen mit sich? Mußte nicht, von allem andern abgesehen, die Arbeit darunter leiden, die grade in diesen Wochen noch mehr als sonst drängte? Alle diese Generalversammlungen, diese Rechenschaftsberichte, diese Sitzungen, diese Reisen! Wichtige brennende Gegenwart! Und dahinein Helene Goertz! Szenenwechsel in eine ferne Vergangenheit zurück! Was konnte Gutes dabei herauskommen?

Der Generalkonsul saß zurückgelehnt in seinem Schreibstuhl und zupfte nervös an seinem Knebelbart. Nicht genug an der Mutter! Nun auch noch die Tochter! Womöglich beide nebeneinander in dem Sofa da drüben! Wäre es noch die Tochter allein ...! Aber diesen Gedanken schüttelte er ab. Das war eines Generalkonsuls Stenzel unwürdig! Die Tochter von Helene Goertz mußte ihm heilig sein, wie es ihm einst die Mutter gewesen war.

O ja! Nur allzuheilig! dachte Stenzel und hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Der andere, der van Düren, war weniger bedenklich gewesen. Dieser Maler, von dessen Namen heute die Welt voll war, hatte mit beiden Händen zugepackt. Die Aphrodite dort mit dem kirschroten Flor um die Hüften legte Zeugnis dafür ab. Ist es nicht meine eigene Schuld? murmelte Stenzel. Hätte ich sie mir nicht ebensogut nehmen können, wenn ich Zeit dazu gehabt hätte?

Plötzlich kam ihm eine merkwürdige Erinnerung, die ihn nicht loslassen wollte, obwohl er sich dagegen wehrte. Er lehnte sich tiefer in seinen Stuhl zurück und dachte nach. War da nicht irgend so etwas wie ein Versprechen, das man sich gegeben hatte? Etwas wie eine Verabredung mit Helene Goertz und ihren beiden älteren Schwestern? Wie war das doch gleich? Ein Besuch im Lehrerhause zu Ellerndorf bei seinen schon bejahrten Eltern ... Er war junger Kaufmann damals im Industriegebiet, in schnellem Aufstieg begriffen ... Zeche Fürst Bismarck III ... Großer Gott! War das nicht wie gestern nachmittag? Jener Sommerurlaub in der Heimat? Und doch war es einunddreißig Jahre her! Drüben auf dem Gutshof die drei Schwestern Goertz ... Olga, Ottilie und die achtzehnjährige Helene ... Hatte er sie nicht alle drei der Reihe nach angebetet? Auf der Schule die brünette energische Olga. In seiner kaufmännischen Lehrzeit bei Wiedemann und Hopf, Schiffsreederei, die zarte ätherische Ottilie. Und dann in jenem heißen unvergeßlichen Juli die schöne achtzehnjährige Helene. Kaum eine Stunde am Tage, die er nicht mit den drei in Anlage und Charakter so verschiedenen und doch auf den gleichen Lebenston gestimmten Mädchen zugebracht hätte. Der alte Goertz – war der nicht jünger gewesen als er selbst heute? – hatte sie alle vier ihren Weg gehen lassen, der hatte andere Sorgen im Kopf gehabt, als sich um seine ohnehin sehr selbständig gearteten Töchter zu kümmern. Bald danach war ja auch der Zusammenbruch des Goertzschen Hofes gekommen. Die Mutter ein paar Jahre zuvor gestorben. Die drei Mädchen, ganz auf sich selbst angewiesen, hatten ihren eigenen Stil entwickelt, jedes anders und doch alle drei in einem schönen schwesterlichen Reigen verbunden. Damals – in einer der Fliederlauben des alten Goertzschen Gartens – um den gedeckten Kaffeetisch herum hatte man sich zu vieren ein Versprechen gegeben und es mit lustigem Handschlag bekräftigt. Nach fünfundzwanzig Jahren wolle man sich am selben Tage und zur nämlichen Stunde auf dem gleichen Platz wiederfinden, um zu sehen, was aus jedem von ihnen geworden sei. Und ob Länder und Meere zwischen ihnen lägen, das Versprechen müsse gehalten werden. Das hatten die vier sich Hand in Hand gelobt.

Sonderbar, wie das so lange in ihm geschlummert hatte und jetzt plötzlich mit wachen, fast vorwurfsvollen Augen ihn anstarrte! Nach fünfundzwanzig Jahren! Du lieber Himmel! Die Frist war längst verflossen. Ein Vierteljahrhundert! Damals war es ihnen als eine Ewigkeit erschienen. Jetzt war es um sechs Jahre überschritten. Niemand von ihnen hatte daran gedacht. Verjährte Schulden! Wozu sich den Kopf darüber zerbrechen! Hatten sie nicht sogar eine Art von Protokoll darüber verfaßt? Auf einem Bogen Papier von kirschroter Farbe (oder war es meergrün gewesen?) hatte er, Johann Sebastian Stenzel, Prokurist auf Zeche Fürst Bismarck III – wie die Zahlen plötzlich flackerten! – das gemeinsame Gelöbnis niedergeschrieben ... jeder von ihnen hatte seinen Namen darunter gesetzt ... Als letzter er selbst, indem er sich, er, Johann Sebastian Stenzel – war denn das möglich? – die Ader der rechten Hand aufgeritzt und einen Blutstropfen in die Goldfeder hatte fließen lassen. Der Boden hatte merkwürdig dabei geschaukelt. Kein Erdbeben übrigens. Eher eine Bootsbewegung. Man hatte sich ja auf dem Wasser befunden. Der Garten war in Wirklichkeit ein See. Wie kam denn der in die Landschaft? Man spürte deutlich das Stampfen der Schiffsschraube. Sie fuhren alle zusammen auf einem großen Überseedampfer. Es war die Normannia, Reederei Wiedemann und Hopf. Das Namensband lief quer über den Spiegel. Offenbar um den Sprung zu verdecken. Und da stand ja auch der Schreibtisch an der Kajütenwand. Sein eigener Schreibtisch, den er sich im vorigen Jahr nach persönlichem Entwurf hatte anfertigen lassen. Den hatte er also schon damals im Lehrerhause besessen. Seine Mutter – ganz jung, wie er sie nie gekannt hatte – sah ihm über die Schulter und zeigte mit dem Finger auf das Geheimfach. Man öffnete es, indem man auf eine Feder drückte, deren Vorhandensein nur ihm selbst bekannt war. Wie peinlich, daß seine Mutter auf diese Weise davon erfuhr! Er hätte ihr die Vorrichtung gern verheimlicht. Aber sie hatte eine Art, mit ihren großen fremden Augen (war es denn überhaupt seine Mutter?) durch ihn hindurchzusehen, als sei er von Glas. Da half keine Ausrede und kein Verstecken. Man mußte tun, wie sie befahl. Das Geheimfach war übrigens schon ohne sein Zutun aufgesprungen. Obendrauf lag der Brief mit den fünf schwarzen Siegeln. Er griff danach, obwohl irgendeine innere Stimme ihn warnte, hielt ihn ans Licht, las die Aufschrift. Was waren das doch für flüssige und zugleich nachdrückliche Buchstaben? Sie erinnerten ihn an jemand, den er sehr gut kannte. Nur der Name fiel ihm nicht ein, so sehr er sich auch abquälte. Er hörte sich selbst ächzen, brachte aber nichts heraus. Die Aufschrift lautete: An meinen Sohn! An seinem achtundfünfzigsten Geburtstag zu lesen. Wie gut sich das traf! Der war heute! Wiedemann und Hopf, Schiffsreederei, hatten zum Zeichen dessen auf Halbmast geflaggt. Eine große tiefviolette Fahne, die sich um den Mast bauschte. Warum nur diese Angst in ihm war? Er hörte sein Herz schneller und schneller pochen wie die letzten Hammerschläge, wenn der Sarg zugemacht wird. Da war auch wieder dieses Stöhnen! Prokurist Bauhofer, uralt und verwittert, kniete vor ihm und wies mit dem Zeigefinger auf eine Trauerkarte. Stenzel bemühte sich zu lesen, was da gedruckt war, aber es schien eine fremde Sprache zu sein. Wozu hatte man gearbeitet und gearbeitet, wenn man die nicht verstand! Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Und jetzt hatte er es! Es war seine eigene Todesanzeige. Die Worte zerflossen vor seinen Augen. Aber es war kein Zweifel über ihren Sinn. Und eine schwarzumränderte Zahl grub sich ins Hirn:

59

Eine unsagbare Angst schnürte ihm plötzlich die Kehle zu. Ein elektrischer Schlag züngelte an ihm hinunter wie der Funke am Blitzableiter. War das das Sterben?

Er schlug die Augen auf und wußte, daß er geträumt hatte. Er, Johann Sebastian Stenzel, Generalkonsul von Honduras, hatte von seiner eigenen Todesanzeige geträumt.


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