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Der Teebesuch Jan Wilhelms bei seinem Onkel hatte nicht lange gedauert. Der junge Mann fand, daß der Oheim sich noch zerstreuter und wunderlicher gebärde als sonst, und führte das auf den Besuch der beiden Damen zurück, ohne im übrigen den Zusammenhang zu ahnen. Mit Ginevra war das Wiedersehen etwas befangen, so sehr er sich über sein linkisches Auftreten ärgerte und sich bemühte, es zu verbergen. Ginevra ihrerseits zeigte das Benehmen einer vollendeten Weltdame. Es war ebensoviel Hoheit darin wie freundliche Herablassung gegenüber einem doch beinahe fremden jungen Manne. Der Generalkonsul, der mit eingeklemmtem Monokel in sehr offizieller Haltung dasaß, gewann den bestimmten Eindruck, daß nicht das geringste zwischen den beiden vorlag, also kein Grund zu Argwohn bestehe. Und er wußte, daß er seinem Urteil und seiner Menschenkenntnis vertrauen könne. Sie hatten ihn noch niemals betrogen! Wie wäre er sonst der geworden, der er war? Sein Verhalten gegen den Neffen wurde zusehends freundlicher.
Ungetrübtes Wohlgefallen hatte Jan Wilhelm bei Frau van Düren erweckt. Das war einmal ein junger Mann aus anderem Holz, als man sie sonst zu Gesicht bekam, zumal in ihren Berliner Kreisen, wo es einem gelegentlich übelwerden konnte. Auch seine Zurückhaltung und Verlegenheit gegenüber Ginevra, nachdem er doch mehrmals und stundenlang Tee bei ihr getrunken hatte, gefielen ihr ausnehmend. Sie fand sie angenehm jungenhaft und eines großen Kindes, wie es alle rechten Mannsbilder sein sollen, durchaus würdig.
Das Hauptgespräch am wiederbesetzten Teetisch war natürlich der Zwischenfall mit der fremden jungen Dame, der Jan Wilhelm das Leben gerettet hatte. Der Held des Abenteuers wollte zwar eine so weitgehende Ausdeutung nicht zugeben. Sein Bericht war überhaupt äußerst sparsam und zugeknöpft. Im Grunde war nichts Besonderes vorgefallen. Die Dame hatte ganz in der Nähe des Theaters die Straße überquert, offenbar sehr in Gedanken. Aus einer Seitengasse war plötzlich ein Auto um die Ecke geschossen, ganz vorschriftswidrig schnell, noch dazu auf der falschen Seite. Jan Wilhelm, zwei Schritte entfernt, hatte die Dame aus der Fahrbahn gerissen. Das war alles. Daß die zu Tode Erschrockene Zuspruch und männlichen Beistand gebraucht hatte, war selbstverständlich, sie nach Hause zu begleiten, Menschenpflicht gewesen. Dies war das Stichwort, auf das auch der Generalkonsul in die Debatte eingriff und dem Neffen ein ausdrückliches Lob wegen seines geistesgegenwärtigen Verhaltens erteilte. Begreiflicherweise wurde auch nach Namen, Person, Aussehen der Geretteten gefragt, besonders von den Damen. Aber da war Jan Wilhelm sehr einsilbig geworden und hatte sich bald darauf, unter dem Vorgeben, nach Willomin zurück zu müssen, in einer etwas steifen Weise empfohlen, ohne die Neugierde der Zurückbleibenden zu befriedigen.
Erst am Abend dieses immerhin schicksalsvollen Tages wurde Genaueres über den Hergang des Vorfalls bekannt. Ginevra wurde aus dem Landhause des Großfürsten angerufen. Adele Waldmann war am Fernsprecher und teilte ihrer Freundin mit, daß sie nachmittags die Bekanntschaft von Jan Wilhelm Köhler gemacht habe. Allerdings auf eine ungewöhnliche und für beide Teile nicht ganz gefahrlose Weise. Jan Wilhelm habe ihr nämlich das Leben gerettet. Nicht mehr und nicht weniger. Das dahinrasende Auto hätte sie ganz ohne Zweifel überfahren, wenn er nicht im letzten Augenblick hinzugesprungen wäre und sie zurückgerissen hätte. Daß in solchen Fällen auch der Retter sich aufs schwerste gefährde, sei einleuchtend. Sie sei ihm zeitlebens zu Dank verpflichtet. Ginevra biß sich auf die Lippen und beglückwünschte die Freundin von ganzem Herzen. Nach Adele wurde im Apparat auch die klare Stimme des Großfürsten vernehmbar. Kasimir Wladimirowitsch erklärte, daß diese verteufelte Karrete beinahe zwei Menschen zur Strecke gebracht hätte und daß es an ihm sein werde, sich dem Retter erkenntlich zu erweisen. Frau van Düren, die gerade bei ihrer Tochter Abendbrot aß und Zeugin des Gesprächs wurde, wiederholte und verstärkte ihr nachmittägiges Lob des erfreulichen und zugreifenden jungen Mannes. Ginevra stimmte mit besonderem Eifer zu, zeigte sich aber im übrigen ziemlich zerstreut und schweigsam, was wiederum Frau van Düren zu mehrmaligem, von Ginevra hartnäckig übersehenem Lippenkräuseln Veranlassung gab.
Schon am nächsten Mittag fuhr der nicht grade ganz neue, aber sehr komfortable Kraftwagen des Großfürsten in Willomin vor dem Herrenhaus vor. Kasimir Wladimirowitsch, der sonst seine persönliche Bequemlichkeit nicht leicht zu opfern und überhaupt sich streng an die Schnur seiner Lebensgewohnheiten zu halten pflegte, hatte in diesem besonderen Falle geglaubt, eine Ausnahme machen zu müssen. Er wollte dem Retter Adeles, die seinem Herzen näherstand, als er sich selbst bekennen mochte, in Person seinen Dank abstatten und zu dessen Betätigung ihm gewisse Vorschläge unterbreiten. Aber der junge Verwalter befand sich gerade auf dem Felde, in einer ziemlich entfernten Gegend der ausgedehnten Domäne, und war nicht so schnell zu erreichen. Kasimir Wladimirowitsch hinterließ ein für diesen Fall bereitgehaltenes Handschreiben mit dem großfürstlichen Insiegel und kehrte auf der kurzen, aber recht ausgefahrenen Waldstraße, die das Seebad Willomin mit der gleichnamigen Domäne verbindet, nach seiner Behausung zurück. Etwa um die gleiche Zeit war ein kleiner, aber ausgewählter Kreis von Personen in den Besitz einer durchaus standesmäßig abgefaßten Karte des Großfürsten gelangt. Es war die Einladung zu einer Gartenpartie, die am Abend des nächsten Tages in dem Landhause auf der Cäcilienhöhe oberhalb Willomins stattfinden sollte.
Kasimir Wladimirowitsch mochte sechzig Jahre zählen, war also etwas älter als der Generalkonsul. Seine äußere Erscheinung hatte nichts besonders Fürstliches. Wer ihn nicht kannte, hätte ihn mit seiner schweren, breitschultrigen, untersetzt mittelgroßen Gestalt für einen durchschnittlichen Gutsbesitzer oder Oberförster halten können. Man hätte dabei allerdings den Kopf übersehen müssen, der unbedingt einen bedeutenden Menschen anzeigte. Vor allem fiel die mächtige Stirn auf, über der ein noch voller, graublonder Haarschopf sich wie ein Hahnenkamm aufsträubte. Aus den Brillengläsern blickten blaugrüne verschleierte Augen, die aber oft messerscharf blitzten, manchmal auch überraschend gütig sein konnten. Der üppige sinnliche Mund und das energische, fast quadratische Kinn schienen einander Lügen zu strafen. Kopf, Gesicht, Figur waren überhaupt voll solcher Widersprüche, die vielleicht nur scheinbar waren und sich irgendwo in der Tiefe des Menschlichen auflösen mochten. Dazu gehörte auch, daß dieser durch seine Laufbahn und seine Schicksale merkwürdige, oft verlästerte, manchen unheimliche Mann, der ein nachgeborener deutscher Fürstensohn von reinem deutschem Geblüt war, doch eine ausgesprochen mongolisch-tatarische Schädelbildung hatte, als habe das Blut eines Dschingiskhan sich mit dem einer seiner Stammütter vermischt. Vielleicht hatte die Natur, die manchmal seltsam prophetische Anwandlungen hat, damit schon äußerlich seinen späteren Lebensweg prädestinieren wollen. Denn wenn man den Stimmen seiner unzähligen Feinde, die aus dem fernen, halb märchenhaften Balkanbergland bis zu uns drangen, Glauben schenken wollte, so wäre seine dreißigjährige Regierungszeit durch ganz asiatische Methoden gekennzeichnet gewesen und hätte nicht viel weniger Blutspuren hinterlassen, als die eines Tamerlan oder Dschingiskhan.
Das war natürlich maßlos übertrieben. Kasimir Wladimirowitsch, der als Prinz Alban ein kleiner deutscher Husarenleutnant gewesen war und mit der Annahme der ziemlich abenteuerlichen Thronkandidatur auch den angemessenen Namens- und Glaubenswechsel vollzogen hatte, war nur ein höchst gelehriger Schüler jener verborgenen Drahtzieher gewesen, denen er seine Berufung verdankte. Ja, er hatte seine Lehrer sehr bald in der Anwendung ihrer heimatlichen Methoden übertroffen und aus dem Felde geschlagen. Es erging diesen dunkeln Hintermännern ähnlich mit ihm wie vordem seinen Standesgenossen und Kameraden. Kein Mensch hatte hinter dem unscheinbaren, beinahe plebejischen jungen Mann etwas Besonderes gesucht. Seine Balkankandidatur galt als ein ganz ausgefallener Jux und wurde allgemein belacht. Beim Abschied wurde ihm eine vergnügte Rückkehr gewünscht. Wetten wurden darüber abgeschlossen. Alle jene Spötter und Zweifler verloren ihr Geld. Großfürst Kasimir Wladimirowitsch herrschte dreißig Jahre über Syrmien und würde noch heute diesen Thron innehaben, allen Verschwörungen, Attentaten, Putschen, Aufständen zum Trotz, wenn nicht inzwischen das Weltbeben eingetreten wäre, das er als gewiegter politischer Wetterprophet längst hatte kommen sehen und dem entsprechend er das Steuer seines Lebensschiffes plötzlich umstellte. Wenige Wochen vor dem Beginn der Weltkatastrophe hatte er freiwillig seine Abdankung vollzogen und unter hohen Ehrungen seines getreuen Bergvolkes, mit vielen guten Wünschen für seinen Nachfolger, die Rückkehr in die Heimat angetreten, die er vor einem Menschenalter als unbekannter abenteuernder Prinz verlassen hatte. Gleich darauf brach der Sturm los und fegte als ersten den Thron seines Nachfolgers fort. Kasimir Wladimirowitsch aber befand sich mit seinen Kunstschätzen und den dazugehörigen Millionen in Sicherheit.
Vor einigen Jahren hatte er sich in Willomin niedergelassen. Nicht nur die bezaubernde Lage des internationalen Seebades war es, die ihn anzog. Auch die Erinnerung an seine lustige, unbeschwerte Jugendzeit sprach entscheidend mit. Er hatte den größten Teil seiner Leutnantsjahre in der benachbarten Garnison verlebt und hatte natürlich jede freie Minute an dem schönen Willominer Strande zugebracht. Es steckte ein gutes Stück Sentimentalität in dem robusten Balkanpotentaten, der nach der Behauptung seiner Feinde über Leichen gegangen war und selbst bei wohlwollenden Beurteilern in dem Ruf stand, daß nicht gut Kirschen essen mit ihm sei. Kasimir Wladimirowitsch bekannte sich auch ganz offen zu seiner Sentimentalität und erklärte sie für wohlberechtigtes slawisches Erbgut das eben irgendwann einmal seiner Familie überkommen sein müsse. Die Bekanntschaft mit Johann Sebastian Stenzel stammte übrigens auch aus jenen Leutnantstagen. Der junge Offizier hatte schon früh seine geschäftliche Ader entdeckt und war dadurch auf den jungen und strebsamen Prokuristen bei Wiedemann und Hopf aufmerksam geworden. Auch der Zufall hatte das Seine getan. Aber es gehörte zu den feststehenden Sätzen des Großfürsten, daß es keinen Zufall gebe. Was wir Zufall nennen, sei es nur durch die Begrenztheit unserer geistigen Optik.
Das Haus auf der Cäcilienhöhe in Willomin, das der Exherrscher sich als Altersresidenz erkoren hatte, war vordem lange Jahre im Besitz einer sehr hohen Persönlichkeit gewesen. Von dieser hatte es, als der Umsturz kam, ein über Nacht reichgewordener Holzhändler erworben. Holz und Millionen waren gerade im Begriff, wieder hinunterzuschwimmen, als Kasimir Wladimirowitsch auf den Plan trat und mit dem gewohnten Blick und Glück den Augenblick erfaßte. Der große Besitz, der in Anbetracht der allgemeinen Geldknappheit nur schwer anzubringen war, ging für ein Butterbrot in seine Hand über.
Es war in der Tat ein fürstlicher, ja königlicher Ruhesitz. Von der Cäcilienhöhe, die unter den die Küste in weitem Halbkreise begleitenden Waldkuppen eine der höchsten war, hatte man einen unvergleichlichen Blick auf die weißen Landhäuser und grünen Gärten von Willomin, auf den schöngeschwungenen blinkenden Strandsaum und auf die unendliche Weite des Meeres, das wie eine tiefblaue Glocke sich gegen den Horizont zu wölben schien. Über diese Glocke oder über diesen Spiegel sah man tagaus, tagein die Masten und Schlote der den großen Seehafen verlassenden oder einlaufenden Dampfschiffe dahinziehen. Sie hatten in ihren dunkeln und doch bleichen Umrissen und in der Art, wie sie gleichsam über das Wasser dahinflogen, ohne es zu berühren, alle etwas Gespenstisches. Der Großfürst konnte oft stundenlang, auf der Terrasse seines Hauses sitzend, mit dem Fernglas diese Pilger des Meeres auf ihrer Bahn verfolgen. Eine Bahn, die eigentlich niemals zum Ziel führte. Denn jeder Hafen ist doch immer wieder nur eine Station der unabsehbaren Reise, und ein Ende ist selbst mit dem schärfsten Fernglas nirgendwo zu sichten, außer jenem letzten, das uns allen Ruhe bringt.
Im Innern war das Haus von verschwenderischer Weiträumigkeit, wie man es nur von einem Fürstenschloß verlangen konnte, und bot dadurch für die bedeutenden fürstlichen Kunstschätze die geeignete Unterkunft. Vielleicht hatte Kasimir Wladimirowitsch es hauptsächlich deshalb gekauft. Er hatte außer der selbstverständlichen Balkankunst, von der er ganz seltene und einmalige Stücke besaß, vor allem asiatische und insbesondere indische Tempelkunst gesammelt. Ein Hauptsaal im Erdgeschoß war mit Buddhawerken angefüllt, was ja auch der Weltanschauung des Großfürsten entsprach. Der rücksichtslose Politiker und Vertreter eines reinen Machtgedankens liebte es, sich im Privatkreise als weltverachtender Buddhajünger, allerdings in moderner Maskierung, vorzustellen.
Das im üppigsten Geschmack der Jahrhundertwende und des Kaiserreichs aufgeführte Haus stand sehr imposant, ja schloßmäßig auf der Cäcilienhöhe und sah beherrschend über Land und Meer hinweg. Nach hinten lehnte es sich an einen der Laubwaldkämme, die alle diese lehmigen Hügelkuppen krönten und tiefer ins Land hinein sich zu meilenweiten Buchenforsten verdichteten.
Der Garten zur Seite des Hauses, noch nicht sehr herangewachsen, suchte durch moderne gärtnerische Künste zu ersetzen, was ihm an natürlichen Reizen fehlte. Hier sollte die Abendgesellschaft stattfinden, zu der der Großfürst geladen hatte, vorausgesetzt, daß das Wetter so blieb, wie es nun schon seit zwei Wochen war. Dieser jetzt bald zu Ende gehende Mai übertraf alle Hoffnungen und Wünsche einer freilich nicht verwöhnten nordischen Menschheit. Tag für Tag strahlte ein wolkenloser Himmel, die Wärme nahm kräftig zu, der kalte Nordostwind, sonst vom nordischen Frühling unzertrennlich und natürlich auch diesmal zur Stelle, hatte sich bald gelegt. In wenigen Tagen war alles aufgeschossen und grün geworden. Kirschbäume und Birnbäume standen im weißen flaumigen Blütenmantel. Das Gartenfest versprach also ein volles Gelingen. Der Großfürst wollte damit die glückliche Errettung Adeles aus Lebensgefahr feiern. Es verstand sich von selbst, daß außer dem Helden des Tages auch dessen Oheim, der Generalkonsul, sowie Adeles Freundin Ginevra und deren Mutter eingeladen waren. Ein paar andere Personen, denen wir noch begegnen werden, vervollständigten die Liste.
Am Spätnachmittag des dem Fest vorausgehenden Tages fuhr der Generalkonsul bei Ginevra van Düren vor, um sie zu einem Ausflug nach Willomin und anschließendem Strandspaziergang abzuholen. Eigentlich hatte an diesem Tage die gemeinsame Fahrt von Onkel und Neffen nach Ellerndorf zur Gutsbesichtigung stattfinden sollen. Sie war aber um wenige Tage verschoben worden, weil jetzt ja auch Frau van Düren und Ginevra mit von der Partie sein sollten und erstere sich noch etwas reisemüde fühlte. Sie wollte den Tag im Hotel verbringen, ihre Tochter sich selbst überlassen und womöglich früh zu Bett gehen.
Stenzel fand diese Wendung nicht unangenehm. Sie bot ihm eine vielleicht nicht so bald wiederkehrende Gelegenheit, mit Ginevra allein zu sein. Er handelte wie immer als Mann des raschen Entschlusses, nachdem des Grübelns genug war. Seine Hauptaufgabe war, sich der inneren Qualitäten seiner Angebeteten, ihres geistigen und moralischen Wertes zu versichern, dieweil ja über den Reiz ihrer äußeren Erscheinung kein Zweifel bestehen konnte. Er befand sich in einer merkwürdig schwebenden und getragenen Stimmung, wie er sie eigentlich noch niemals an sich beobachtet hatte. Bin ich wirklich verliebt? fragte er sich im stillen. Sollte das die vielberedete und gefürchtete Krankheit sein, die mich so lange verschont hat? Mußte ich noch so spät von ihr befallen werden, jetzt, wo ich sowieso nur noch wenig Zeit übrig habe? Könnte man diesen knappen Rest nicht wirklich auf edlere Weise verwenden, als für dumme unnütze Liebesgedanken? Er versuchte sich über sich selbst zu ärgern, aber es gelang ihm beim besten Willen nicht. Es war eine Wonne im Leiden, ein Genuß im Schmerz, die wie ein süßes Gift durch seine Adern rannen und jeden Tropfen Bluts zum Gären brachten. Damit hing es offenbar zusammen, daß die Farben des Lebens plötzlich eine ihm bis dato unbekannte Leuchtkraft zu gewinnen schienen. Man war versucht, an einen schweren Schnaps- oder Opiumrausch zu denken. Beide waren ihm Gott sei Dank unbekannt geblieben. Wo hätte er auch die Zeit dazu hernehmen sollen? Aber sie konnten gewiß nicht viel anders sein, als jetzt diese Liebe, dieser verrückte unkontrollierbare Zustand, der einen sonst vernünftigen und würdigen Mann dahin brachte, alle seine Grundsätze durcheinanderzuwerfen, wie ein Betrunkener seine Beine. So sehr er sich jedoch anstrengte, sich zu schämen, er konnte es nicht und befand sich damit wieder auf dem gleichen Punkt wie vorher, nur daß er sich rund um seine Achse gedreht hatte.
»Haben Sie eigentlich viel von Ihrem Leben genossen, Herr Generalkonsul?« fragte Ginevra auf eine scheinbar beiläufige Weise, während sie auf dem blanken, festgewalzten Strand nebeneinander hinschritten.
»Wie kommen Sie grade darauf, gnädiges Fräulein?« fragte Stenzel verwundert, indem er stehenblieb und sie mit eingeklemmtem Monokel scharf ins Auge faßte. »Sehe ich etwa aus, als ob ich ein Duckmäuser gewesen wäre?«
»Das will ich damit nicht sagen,« meinte Ginevra nachdenklich und lächelte ein wenig. »Es würde ja auch dem Ruf widersprechen, der Ihnen in der Stadt vorangeht.«
»Wie soll ich es ausdrücken? Nun, ja! Man hält Sie für einen Damenfreund!«
»Ich? Ein Damenfreund?«
Stenzel blieb von neuem stehen, stemmte die Arme in die Hüften und sah teils geärgert, teils geschmeichelt zu dem schönen Mädchen empor.
»Es sollen doch so viele Damen in Ihr Büro kommen?« bemerkte Ginevra. »Damen vom Theater? Und wer sonst noch! Was weiß ich! Es wird nur erzählt.«
»Künstlerinnen, denen ich nach meinen bescheidenen Kräften zu helfen suche!« beteuerte Stenzel, die Hand auf die Stelle legend, wo er sein Herz rascher denn je klopfen fühlte. »Es ist ganz platonisch! Ohne die geringsten Hintergedanken!«
»Rein aus Nächstenliebe?«
»Rein aus Nächstenliebe! So merkwürdig das in unserer Zeit klingen mag!«
»Also was man einen Mäzen nennt?«
»Wenn Sie so wollen, ja! Ich habe es für meine Pflicht als vermögender Mann gehalten, jungen Künstlerinnen ihren Weg zu erleichtern. Mein Herz ist immer frei geblieben! Abgesehen vielleicht von der Jugendzeit ...«
»Aha!« rief Ginevra und nickte befriedigt. »Mama hat mir so etwas angedeutet.«
Der Generalkonsul schien verlegen zu werden.
»Ihre Frau Mama? Nun, ja! ... Abgesehen davon! Ich kann Ihnen schwören, mein gnädiges Fräulein, mein Herz ist immer freigeblieben, bis ...«
Er hielt etwas betroffen inne und strich seinen Henryquatre.
»Bis ...?« drängte Ginevra, ohne ihre Miene zu verändern.
»Bis auf weiteres!« ergänzte der Generalkonsul, obwohl es richtiger geheißen hätte: Bis gestern.
»Sie geben also das Rennen noch nicht auf?« forschte Ginevra weiter und hatte wieder diesen Anflug eines fernen und fremden Lächelns. Ihre Augen verloren sich in der Unendlichkeit des opalisierenden Meeres, das in kleinen, klatschenden Wellen atmete. »Aber warum sollten Sie auch?« fuhr sie fort. »Sie sind ein Mann in den besten Jahren. Warum sollte es nicht eine Menge Frauen geben, die Ihre Gefühle erwidern würden? Ich denke zum Beispiel an Mama ...«
Der kleine Mann war ganz rot geworden.
»Ihre Frau Mama?« stammelte er. »Ich würde mir niemals einbilden, daß Ihre Frau Mama ...«
»Ich glaube es ja eigentlich auch nicht ...« bestätigte Ginevra, ernsthaft nickend. »Aber ich hatte ja etwas anderes von Ihnen wissen wollen!«
Der Generalkonsul sah sie fragend und ziemlich verwirrt an. Spielte dieses junge Geschöpf mit ihm, machte es sich über ihn lustig oder was wollte es?
»Ich hatte Sie gefragt, wenn Sie so auf Ihr Leben zurückblicken,« fuhr Ginevra fort, »und sich prüfen, Hand aufs Herz, haben Sie eigentlich viel davon gehabt?«
Stenzel blieb stehen und atmete tief auf. Er fühlte einen Schmerz wie von einem Messerstich dicht am Herzen.
»Arbeit habe ich gehabt!« entgegnete er. »Arbeit und wieder Arbeit! Das war mein Leben! Sonst nichts!«
»Es bliebe also noch viel zu entdecken?« sagte Ginevra, wieder mit ihrem flüchtigen Lächeln, aber für den Generalkonsul war eine Welt von Glück darin. Und dieses Glück war zugleich ebenso großes Leid, und beides war ein und dasselbe.
»Zu entdecken?« wiederholte er. »Wenn noch Zeit ist, vielleicht!«
»Zeit genug!« rief Ginevra und hatte jetzt einen fröhlich kameradschaftlichen Ton. »Ich bin nämlich auch sehr lebenshungrig und habe in meinen Jahren natürlich noch sehr viel mehr zu entdecken.«
»Wir können es ja zusammen entdecken!« entfuhr es dem Generalkonsul.
»Meinen Sie?« sagte Ginevra, indem sie nun wirklich ganz betörend lächelte. »Halten Sie das für möglich?«
»Unbedingt!«
»Aber auf rein kameradschaftliche Weise! ... Sie sind es ja auch gewöhnt!«
Der Generalkonsul fuhr verblüfft auf.
»Warum und in welcher Beziehung?«
»Von Ihren Künstlerinnen und Theaterdamen her, denen Sie doch ganz platonisch geholfen haben!«
»Ach so ...?«
»Mir brauchen Sie ja nicht zu helfen! Um so platonischer kann es also zwischen uns sein! Mehr kann ich Ihnen nicht versprechen!«
Wenigstens nicht fürs erste! ergänzte Stenzel im stillen und drückte feurig ihre Hand, die sie ihm gereicht hatte. Dieses geistvolle und von tiefem Ernst beseelte Mädchen hatte die ihm auferlegte Probe nach allen Regeln bestanden.
Der Sonnenball – eine breite goldgelbe Melone – hing bereits tief über den Waldhöhen im Westen. Das Schloß des Großfürsten auf der Cäcilienhöhe brannte in Purpur und Orange. Als Stenzel und Ginevra auf ihrem Rückweg sich wieder dem Seesteg von Willomin näherten, sahen sie eine kleine Gruppe von der andern Seite her auf den Steg zukommen.
»Ist das nicht der Großfürst?« sagte Stenzel, indem er sein Monokel einklemmte.
»Ja, es ist der Großfürst! Und Ihr Neffe! Und meine Freundin Adele!«
»Die haben sich also schon gefunden!« bemerkte der Generalkonsul mit unverkennbarem Wohlgefallen. »Aber sollen wir den Großfürsten und Ihre Freundin nicht begrüßen?«
Er wollte mit Eifer sich in Bewegung setzen. Doch Ginevra hielt ihn zurück.
»Ich denke, wir bleiben für uns, Herr Generalkonsul! So eine neue Freundschaft soll man nicht gleich profanieren!«
Das Glück des kleinen quecksilbrigen Mannes war in diesem Augenblick ohne Grenzen.