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Wie wir vom Alterthum die klassischen Ueberreste unsterblicher Gedichte, Geschichtswerke, Bauten und Bildsäulen haben, aber aus den Schriften eines Plutarch, eines »mittagsbrodweisen« Athenäus, aus unbedeutenden Votivtafeln und staatsökonomischen Ausgaben, die man auf Inschriften verzeichnet findet, das innere Getriebe des Alterthums noch besser kennen lernt, wie aus jenen; so wird auch dieses Werk seine Bestimmung, die Zukunft über die Gegenwart aufzuklären, nicht verfehlen. Selbst die Irrthümer dieses Werkes, wenn sie eine irgend-wie nur zeitgemäße Entschuldigung zulassen, sprechen vielleicht deutlicher für den Charakter der Epoche, welcher es gewidmet ist, als die Wahrheiten, die sich zu allen Jahrhunderten gleichbleiben. Und um diesen Eindruck des unmittelbar vom Tage Gegebenen unserm Werke noch unmittelbarer zu sichern, damit der Moment den später prüfenden Zeiten noch lebensfrischer und bunter in die Augen springe, folge hier eine Betrachtung, die der Anbruch des Jahres, in welchem diese Blätter vollendet wurden, in ihrem Verfasser anregte.
Das siebente Jahr der Julirevolution! Wie die linke Seite fürchtet, das erste der magern, wie die rechte hofft, das lezte der fetten Jahre. Im Allgemeinen ist es ein merkwürdiger Gegenstand, der die Feder des Publicisten beschäftigen darf, dieses allmälige Ausklingen der Julirevolution, diese Ausgleichung des Außerordentlichen und Neuen mit dem Gewohnten und Alten, diese Legitimisirung, wie die Einen, diese Reaktionen, wie die Andern sagen werden, mit unparteiischer Resignation zu verfolgen. Mit dem Jahre 1830 wurde die politische Existenz Europas in eine chaotische Gährung geworfen, durch Stoffe, welche aus dem Conflikt der Umstände, wie elektrischer Niederschlag geboren waren, durch hundert Elemente der Persönlichkeit, durch getäuschte Hoffnungen, stille und mächtige Wünsche, kurz durch jene allgemeine Centrifugalität der Geister und Gemüther, welche man fühlt, wenn man an eine neue Periode, an ein neues Saatfeld gereifter Prämissen Saturn seine herbstliche Sichel sezt. Doch jedes Jahr, das auf jene Epoche folgte, versuchte die Aufregung der Gemüther und die Verwirrung der Thatsachen allmälig immer mehr in die Fugen der alten Gewöhnung zurückzudrängen und die Resultate der neuen Erfahrung beim Kapitalstock der Vergangenheit anzulegen. Im ersten Jahr der Julirevolution fällt Polen, im zweiten beruhigt sich die Gährung Deutschlands, im dritten werden die republikanischen Institutionen aus der Umgebung der französischen Monarchie wieder weggenommen, im vierten fällt sogar das Ministerium der Reform, im fünften siegt die unumschränkte Monarchie durch Noten im Osten und sogar durch die Waffengewalt im Südwesten, im sechsten Jahre treiben sich die gescheiterten Trümmer der Revolution auf dem Meere einer nicht bloß mißgünstigen Stimmung der Umstände, sondern gar schon der öffentlichen Meinung rettungslos und ohne Asyl umher; was wird das siebente Jahr der Revolution bringen?
Daß alle Begebenheiten seit jenem Augenblicke, wo die Julirevolution mit dem status quo sich zu versöhnen suchte, also seit dem 7. August, dem Geburtstag der Orleanischen Dynastie, den einen unabänderlichen Zug verrathen, gleichsam wie eine in die Luft geschnellte Last wieder die Sicherheit der heimathlichen und mütterlichen Erde zu finden, dies ist über allen Zweifel gesezt. Allein man sollte darin weniger eine politische, als eine moralische, ja nicht einmal so sehr moralische, wie natürliche Entdeckung zu machen glauben. Auch ohne rückwirkende und entgegenstemmende Kräfte würde das einfache natürliche Gesetz der Gravitation den Aufschwung wieder dahin zurückgebracht haben, von wo er sich erhob. Der Publicist, verpflichtet, den Zwiespalt der Menschen und Dinge nicht zu mehren, sondern wo er nur kann, Hände zur Versöhnung in einander zu legen, der Publicist hat die Aufgabe, an den Erscheinungen, welche die Geschichte der sechs lezten Jahre darbietet, den Verlauf der Natürlichkeit nachzuweisen, das menschliche Gemüth gegen die exaltirte Schroffheit zur That auffordernder Umstände geltend zu machen, die Halbheit der in den Begebenheiten liegenden Keime nachzuweisen, und überhaupt, obschon ein Mann der politischen Debatte, doch die Debatte als das zu zeichnen, was sie ist, als einen oft nur trüglichen Thermometer der Hitze und der Kälte, welche sich in den Empfindungen der Zeitgenossen findet. Für diese ruhige Betrachtung dessen, was wir seit sechs Jahren mit einander verlebt haben, wird jezt der Augenblick erst günstig, jezt, wo man sich allmälig daran gewöhnt, die Mäßigung der Unparteilichkeit nicht mit dem Indifferentismus der Parteilosigkeit zu verwechseln. Jezt, wo zum Beispiel ein so entschiedenes Nivellement der politischen Urtheilskraft eingetreten ist, daß man jedem Worte Dank sagen muß, welches noch mit Milde, Klugheit und feiner Berechnung zwischen das tritt, was wir rings um uns sehen, Triumph, Besorgniß, Apathie, Mißlaune, Stillschweigen. Man lasse doch den Geist des Mechanismus auch in diesem Bereiche nicht über sich kommen, daß man immer nur glauben wolle an rück- und vorwärtswirkende Kräfte, an Maulkörbe, Bajonette; man gewöhne sich daran, daß das, was geschieht, wenn auch nicht immer, doch selten anders geschehen konnte, und daß wenigstens im Urtheil eines freimüthigen Publicisten nicht das Resultat des Kampfes, sondern die sich gegenüberstehenden Kräfte, nicht der Sieg der Einen und die Niederlage der Andern entscheidet, sondern der Inbegriff von Kräften, der zum Kampfe auftreten, hier angreifen und dort Widerstand leisten konnte. Es ist Zeit, den Gesichtspunkt aller politischen Betrachtungen nachgerade nur innerhalb der Historie zu nehmen, weniger von Parteien und Systemen zu sprechen, als von Völkern, Nationalinteressen und jenen allgemeinen Individualitätsbezügen, welche noch jedem Jahrhundert seinen eigenthümlichen Charakter gegeben haben. Nicht Discussionen dieser oder jener symbolischen Formel, nicht die Erbitterung der zu verschiedenen Glaubensfahnen schwörenden Völker und Parteien, wo sich immer Nationales oder sonstige Antipathien in den Haß mischten, entscheiden zum Beispiel über das Wesen des sechzehnten Jahrhunderts, sondern jenes allgemeine Interesse eines endlich zur Entscheidung kommenden Kampfes zwischen Licht und Finsterniß, so daß man bei der Reformation, um nur von dieser zu sprechen, weit weniger auf den sehen muß, welcher sie machte, als auf die, welche sie vorbereiteten, und wieder auf die, welche ihre Fortschritte begünstigten, ohne sich für das Schiboleth des Tages auszusprechen. In einer ähnlichen allgemeinen Betrachtung unserer Zeit, in einem Gesichtspunkt, der historisch ergriffen ist, liegt gegenwärtig nur noch die Möglichkeit, die Zeitgenossen über Vergangenheit und Zukunft aufzuklären, sie das Vorübergehende von dem Ewigen in ihren Interessen unterscheiden zu lehren, und ihnen ein Daseyn erquicklich zu machen, welches, wenn es nur momentane Blüthen und Freuden treiben sollte, ihnen leicht ohne allen Duft und alle Freude erscheinen würde.
Dennoch wollen wir nicht vom Jahrhundert sprechen, sondern nur von einem hundertsten Theile desselben. Wir wollen hier nicht philosophiren, sondern uns den Moment vergegenwärtigen, klar, lebendig, thatsächlich. Man soll über die Politik des Jahrhunderts immer so schreiben können, daß man eine Anknüpfung seiner Behauptungen dem Leser an seine tägliche Zeitungslektüre nicht allzusehr erschwert. Aus dem Wirrwarr der konfusen Tagsgeschichte entstehen die Irrthümer, Unbehaglichkeiten und Indigestionen des Zeitgeistes. Man muß die Brücke vom Ewigen zu seiner zeitlichen Erscheinung nicht allzu riesenartig bauen. Versuchen wir es demnach, unsere Auffassung der Zeit anzuknüpfen zuerst an die Politik Louis Philipps, zweitens an die Ausbildung der englischen Reform, drittens an die Verwirrung der pyrenäischen Halbinsel, und endlich viertens an den beweglichen hin und her irrenden Schwerpunkt der Politik des Orients.
Man behauptet nicht zu viel, wenn man in Louis Philipp den Wendepunkt aller Ereignisse sieht, welche das allmälige Schicksal der Julirevolution entschieden haben. Und dies nicht allein durch die Masse von Ehrgeiz, Dienstanerbietung, Intrigue, Leidenschaft, die sich um ihn herum gruppirt, und seine Entschließungen gefangen nehmen will, sondern noch weit mehr durch ihn selbst, durch die Unveränderlichkeit seiner eigenen Ideen und die Zähigkeit, mit der er billigt und doch verwirft, an sich zieht und doch zurückstößt, freundlich grüßt und damit bedeutungsvoll drohen will, wenig verspricht, ohne abzuweisen, nichts hält, ohne streng genommen für wortbrüchig erklärt werden zu können. Wer ist Louis Philipp? Jezt ein König, ehemals ein Lehrer in der Schweiz, der Unterricht in der Mathematik gab. Er muß die Fähigkeit im höchsten Grade besitzen, sich in fremde Zustände zu versetzen, fremde Resignation nach seinem eigenen Besitzthum zu ermessen, diese große Eigenschaft, welche allen im Glück Gebornen abgeht, und sie entweder gegen den Entbehrenden abstumpft, oder seinen Verlust auf sentimentale Weise viel zu hoch anschlagen läßt. Wer den Geschmack des Besitzes nicht fein und nachhaltig durchkosten kann, versteht auch nie, die Distanzen und Intervallen abzumessen von Mehr zu Minder, von Allem zu Etwas und von Etwas zu Nichts. Louis Philipp ist kein geborner Herrscher. Er ist nur der Repräsentant einer gewissen rationellen Nothwendigkeit der Monarchie, die gerade er vorzustellen glücklicherweise eine Berechtigung des Blutes hatte. Er ist der Sohn eines Republikaners. Als Louis Philipp Egalité hat er lernen müssen, von dem, was ihm angeboren, nichts zu erwarten, und im Gegentheil alles nur von dem, was er sich selbst zu erwerben im Stande war. Der angebornen Würde beraubt, blieb ihm nichts übrig, als sich durch Studium und Entsagung dazu die moralische Berechtigung zu geben. Was ihm die späteren Wendungen der Geschichte wieder verschafften, Reichthum, Namen, politische Stellung, einen Königsscepter, das alles mußte er weit entfernt seyn, mit dem Gefühle anzutreten, als wäre es sein unmittelbares Eigenthum. Durch diese fortwährende Reflexion eines in sich zwiegespalteten Bewußtseyns überkam ihn jenes Oekonomisiren, jenes Geizen mit dem Augenblicke und mit sich selbst, welches man ihm mit nicht besonderem Takte, als kaufmännische Eigenschaft ausgelegt hat, da es doch nur der Zwiespalt seines, durch Schicksal und Bestimmung nach zwei entgegengesezten Seiten hingezogenen Gemüthes ist.
Man kann eine Bedeutung darin finden, daß gerade nach der Julirevolution ein solcher Mann an die Spitze der Ereignisse (ich sage nicht, als aktiver Moment, sondern nur als Wendepunkt) gestellt ist, welcher die beiden Extreme der Zeit in sich selbst zu vereinigen scheint. Ein Republikaner von unten herauf bis zum Träger einer Krone, das ist weniger außerordentlich, als die Mittelglieder, die zwischen beiden Extremen inne liegen, und alle dem Prinzipe huldigen: der Mensch ist, was er ist, nur durch sich selbst, man muß ringen, klettern; man muß hungern, viel lernen, viel wissen, man kann keine Würde haben, ohne sie sich zu verdienen, man ist alles das, was man durch sich selber seyn will. Die Organe der Torypartei verspotten den Napoleon of peace; allein es liegt eine merkwürdige Parallele im Leben Napoleons und Louis Philipps. Die Größe Napoleons ist ganz antik und plastisch. Er wurde, was er ist, durch die Unerschrockenheit seines eisernen Trittes, und durch die zermalmende Kraft seines ehrgeizigen Armes. Aber Louis Philipp hat ganz denselben Weg gemacht, wenn gleich nicht in den Stürmen der Schlacht, sondern durch ein romantisch-labyrinthisches Gewinde von Abenteuern und Zurücksetzungen allmälig bis zur Höhe jenes grünen Zweiges der Friedenspalme, zu deren Segnungen und Consequenzen sicher noch die kommen wird, daß er gefeit vor republikanischen Pistolenschüssen im Arm der Seinigen entschlummern wird. Die ganze Lebensbahn Louis Philipps ist auf diese schon stereotyp werdenden Ideen der Jeztwelt gegründet, auf Bürgerlichkeit, auf eine gewisse Nüchternheit sentimentaler und populärer Philosophie, auf individuelle Tüchtigkeit und Ausdehnung im einmal erworbenen Berufe, auf einen gewissen stillen Ehrgeiz, der sich niemals so weit vordringen würde, daß er compromittirt werden könnte, kurz auf Eigenheiten und Prinzipien, die allerdings unsrer Zeit ein etwas kaufmännisches und comptoiristisches Ansehen geben.
Ein so durchgeführter Lebenslauf kann auch nur mit der Politik endigen, für welche sich Louis Philipp entschieden hat. All sein Vermögen und seine Kraft ist ein Erwerb. Nachtwachen und Entbehrungen kleben daran. Die Sicherung dieses Erwerbes ist der einzige beseligende Gedanke, mit welchem er aus der Mitte seines jetzigen Glückes einmal durch den Tod heraustreten würde. Er will nicht bloß etwas erworben haben, sondern auch eine Erbschaft hinterlassen. Er findet sein Glück darin, dasjenige, was er nach und nach sich angeeignet hat, seinen Erben im Ganzen und Großen zu hinterlassen. Befestigung, Erhaltung, Sicherstellung sind die leitenden Prinzipien der Politik Louis Philipps und machen ihn zum natürlichen Oberhaupt aller derjenigen, welche nicht nur haben, sondern auch lieb haben, was sie besitzen. Was besizt nun aber Louis Philipp? Die Herrschaft über eine Nation (gegen die Herrschaft über das Land haben die Franzosen protestirt), welche durch eigenes Auflehnen gegen die überlieferte Gewohnheit, durch die Leichtigkeit, mit der sie ihre Herrscher veränderte, durch den Ehrgeiz, kein willenloses Conglomerat von Abhängigkeiten vorzustellen, eine ganz eigene Behandlung erfordert. Louis Philipp will sich zunächst durch die Franzosen erhalten, und ist weltweise genug, dahin zu arbeiten, daß die Franzosen nur wünschen sollen, sich ihn zu erhalten. Vielleicht ist es auch Ueberzeugung, wenn Louis Philipp noch nach jedem Attentate auf sein Leben jenen von der Opposition vielfach bekrittelten Satz aufgestellt hat: »Ich sehe, daß mein eigenes Leben das Unterpfand für Frankreichs Ruhe und Glück ist.« Louis Philipp kennt die Geschichte genug, um alle Interessen der Jeztwelt nebeneinander zu stellen, das Gleichartige aus ihnen auszuziehen und auf das, was der Majorität förderlich ist, einen Schluß zu machen, der zufällig mit seinem eigenen Interesse übereinstimmt. Ich glaube, daß Louis Philipp abdanken würde, wenn er die Majorität der Nation gegen sich hätte. Da er sie aber für sich hat, so nimmt er diese Erfahrung zwar zunächst als eine Pflicht, zulezt aber immer als eine Gunst des Glückes auf, die einmal erlangt, man sich auch dauernd zu sichern verpflichtet und berechtigt sey.
Nimmt man für die Rathschläge, welche den König der Franzosen bedienen wollen, drei Nüancen, Guizot, Dupin und Odillon Barrot an, so steht es fest, daß, wenn auch für den Augenblick der König irgend einer dieser drei Parteien den Handschuh einer augenblicklichen Gunst in den Schooß wirft, doch hinter dem Visiere des von ihnen entlehnten Systems immer sein eigenes specielles Hausinteresse durchschimmert. Casimir Perier war der einzige Rathgeber des Königs, bei welchem es zweifelhaft blieb, ob seine Politik das ganz-identische Interesse Louis Philipps deckte, oder ob der König auch bei ihm eine Annäherung vermißte, welcher zu Liebe Guizot schon einigemal und Thiers vielleicht auf immer gefallen ist. Vielleicht betrachtete Louis Philipp seine Stellung in den ersten Jahren nach der Julirevolution noch immer als interimistisch; vielleicht suchte er damals noch den Schwerpunkt der Interessen Frankreichs irgendwo zu finden, bis er ihn, wie er oft genug gesagt hat, in seinem eigenen Leben fand. Diese unverdeckte Ueberzeugung ist die merkwürdige Kluft, die ihn selbst von seinen Freunden trennt, die ihm mit der Zeit sogar diejenigen abwendig gemacht hat, welche doch alles dazu beigetragen hatten, ihn in dieser siegreichen Ueberzeugung zu stärken, die ihm behilflich waren, erst die englische Allianz zu schließen, dann sie mit der russischen zu vertauschen, die als Brautwerber für seine Söhne und Töchter auftraten und ihn in jeder Weise an die europäischen Dynastien assimilirten. Und doch ist dies das Abweichende, welches sich in den Systemen selbst der entschiedensten Hingebung gegen Louis Philipp zeigt, daß die Doktrin, der Tiersparti, die dynastische Opposition, Jeder in seiner Art, vom Glücke Frankreichs eine Meinung hat, die auf Thatsachen, Erfahrungssätze und historische Prinzipien gegründet ist. Diese Positivität abstrakter Systeme, dies Verwerfen aller Persönlichkeit hat Guizot mit Odillon Barrot so gut gemein, wie mit Dupin; nur Thiers machte vielleicht eine Ausnahme und war, wie die unbedeutenden Herren von Montalivet und Sebastiani, allen königlichen Spezialitäten aufs Entschiedenste hingegeben, nur die einzige spanische Frage vielleicht ausgenommen, wo sich bei Thiers noch einmal der Journalist, der entschiedene Feind alles Carlismus regte. Die Pistolenschüsse einerseits und die Ministerialkrisen andrerseits machen jedoch, daß Louis Philipp in seinen Hausinteressen allmälig immer mehr die von verschiedenen Parteien über Frankreichs Wohl aufgestellten Grundsätze absorbirt und zulezt von den Staatsmännern kein andres System mehr verlangen wird, als das einer persönlichen Hingebung. Er sieht das Wohl Frankreichs in der neuen Dynastie und sucht eines durch das andere zu befestigen.
Machen wir nun von dieser hier in Kürze skizzirten politischen Sachlage Frankreichs eine Anwendung auf die Interessen Europas im Ganzen und Großen, so kann man nicht läugnen, daß die Interessen Louis Philipps, ob zufällig oder nothwendig, allmälig der Einschlag des ganzen europäischen Staatsgewebes geworden sind. Die alliirten Monarchen haben Frankreich besiegt. Preußen besizt zum Beispiel vor allen kriegführenden Nationen voraus eine imposante Kriegsmacht, und was von allen übrigen kriegführenden Nationen gefürchtet wird, mehrere höchst wichtige Geheimnisse der Belagerungskunst. Dennoch gelang es Frankreich selbst unter der matten Herrschaft der Bourbonen, noch den kaum versöhnten Feind als Beobachtungsgarnison im Lande habend, die meisten europäischen Fragen in seine eigne Discussion zu verwickeln, so daß es geblieben ist der Puls und der Sitz der Symptome für die gesunden und krankhaften Zustände unseres Welttheils. So sind auch nach der Julirevolution alle erfreulich an- oder bedenklich aufregenden Impulse von Frankreich ausgegangen, siegten oder wurden auswärts besiegt, und kehrten entweder beutebeladen, triumphirend oder gedemüthigt, erfroren oder verwundet auf den Herd ihres Ursprungs wieder zurück. So möchte, wenn man einmal annehmen muß, daß sich durch die Julirevolution eine neue Frage zur Entscheidung drängte, die letzliche Bestimmung über das Schicksal derselben jezt in Deutschland, ja sogar in der Schweiz und in England schwierig, vielleicht unmöglich seyn. Die Politik Louis Philipps dagegen ist der Barometer aller Abstufungen, welche nach und nach die von der Julirevolution geweckten Fragen erleiden mußten, der Abstufungen sowohl von der Leidenschaft herab zur Besonnenheit und bessern Einsicht, wie von begeisterten Träumen und hörbaren Wünschen hinunter zur getäuschten Hoffnung. Alles, was wir zuerst aus der Julirevolution als unerheblichen Ballast werfen sahen und die Schiffstrümmer, die sich jezt, wo sie allmälig scheitert, eines nach dem andern an die Ufer des Bestehenden werfen, vergegenwärtigt uns die Politik der Tuilerien.
Im Allgemeinen wird man eingestehen müssen, daß die Revolution sich allmälig um das Recht ihrer Entscheidung, ja sogar um das Recht der Initiative gebracht hat. Alles an ihr Formelle hat sich compromittirt, alles Reelle hat wenigstens dadurch, daß es selbst von denen, die ihr widerstrebten, angenommen werden mußte, sich dem Vorurtheile nicht entziehen können, daß es auch ohne gewaltsam angewandte Mittel würde erreicht worden seyn. Eine solche Ueberzeugung kann aber nicht durchdringen, wenn sich nicht auch auf der andern Seite das Gegentheil der Revolution mit den Berufungen, Appellationen, mit den scheinbaren Rechtsbegründungen derselben abzufinden sucht. Es ist durch den Ursprung und den Fortgang der Macht Louis Philipps klar genug bewiesen, daß die bloß einseitige Bekämpfung der Revolution zwar einen momentanen Sieg erzwingen kann, aber dabei doch ohne Resultate ist, weil mit dem Siege auf der andern Seite keine vollständige Niederlage verbunden war. Man vernichtet die Revolution nur dadurch, daß man sich bemüht, ihr nichts zum Vorwande dienen zu lassen. Es dürfen die strengsten Gesetze nur gegen den Mißbrauch der Freiheit gerichtet seyn. Die Freiheit selbst muß dagegen Ziel, Mittel und Weg jeder Maßregel werden, welche für die Politik einige Dauer verspricht. Die Grundlage der Discussion, die ganze politische, ja sogar wissenschaftliche und literarische Dialektik muß in sofern auf die Thatsachen der Revolution gerichtet seyn, daß sie ihnen nicht mit blödem Auge aus dem Wege geht, daß sie den Feind sogar aufsucht und jede ihrer Behauptungen mit der offen zugestandenen Frage der Revolution in eine mehr als bloß ausweichende und verächtliche Berührung führt. Welches ist der große Vorsprung, den Frankreich in seiner innern Politik vor andern Staaten voraus hat? Es kennt die Revolution, es fürchtet sie, aber es verachtet sie nicht, es läßt sich mit den exaltirtesten Träumen in Unterhandlungen ein, die wenigstens das Gute haben, daß das Ueberfliegende methodisch beschämt wird. Bei dieser Verfahrungsweise wird man auch immer darauf herauskommen, daß es gewisse Hauptgrundlagen der modernen Existenz als Mensch und Bürger gibt, die einmal unbedingt als absolute Nothwendigkeit gelten müssen, wenn man sie auch relativ einschränkt, z. B. durch Septembergesetze, welche nicht das Prinzip der freien Presse, sondern nur einen unmäßigen Gebrauch derselben einschränken.
Wenn die Revolution sich auf den reinen Ursprung zurückführen ließe, daß sie ohne Leidenschaft und egoistische Absicht der Menschheit nur ihr Angestammtes und Natürliches zu erhalten sucht, so drückt England vielleicht noch vollständiger und freier das Ewige und Unverjährliche gewisser menschenrechtlicher Prinzipien aus. England kann noch weit mehr wie Frankreich als Muster dienen für diejenigen politischen Fragen, welche bei der Aufklärung und den Fortschritten unseres Jahrhunderts kaum noch in Discussion kommen sollten. England steht nur deßhalb hinter Frankreich zurück, weil es eine Specialität ohne recht passende Anknüpfung für andere Staaten ist. Eben die Discussion macht Frankreich trotz seines viel schwächer ausgebildeten Sinnes für Bürgerthum und Menschenwürde doch mehr zum Symptom jener Resultate, welcher sich der Zeitgeist in der Schwebe des Augenblicks rühmen darf. Das meiste an den politischen Parteikämpfen Englands ist dagegen auf historische Grundlagen gebaut, die nur eine ungefähre Vergleichung mit dem übrigen Europa zulassen. Die Zufälligkeit, wie die englischen Staatsmänner die Herren ihrer Meinungen werden, wie Torysmus und Whigismus oft nur eine Folge des ererbten Blutes und Vorurtheils, ja noch öfter die Folge einer capriciösen Laune, wie es unfehlbar bei Palmerston, Lyndhurst, Peel der Fall ist, weicht zu auffallend von der Art ab, wie man auf dem Continente auf dem Schlachtfelde der Meinungen zu Bundesgenossen und Gegnern kommt.
Demokratie und Aristokratie sind Früchte eines ganz verschiedenen Stammes, während Whigismus und Torysmus doch immer zulezt die Zwillinge einer und derselben aristokratischen Mutter sind. Der Liberalismus der whigistischen Partei ist rein eine Prinzipiensache und dagegen die Basis ihrer bürgerlichen Existenz so vollkommen aristokratisch, wie das Vorurtheil des Adels nur immer seyn kann. Die whigistische Aristokratie ist sogar weit reicher, als die torystische und als große Güterbesitzer den Vorwürfen des Egoismus weit mehr ausgesezt, als jene. Endlich die Radikalpartei leidet vollends keine rechte Beziehung zu dem, was sie im Ganzen und Großen für Europa beweisen könnte. Ihre Theorie ist entweder durchaus französisch oder verbindet einen gewissen Amerikanismus der Prinzipien mit utopistischen Träumen, wie sie Bentham und besonders Owen angewendet haben. Leztlich hat sich sogar noch in England eine Art liberaler Doktrinärs gebildet, die seit einiger Zeit im Parlamente der Fahne des Herrn Grote folgen. Dieser kleine Phalanx verwirft die historischen Anknüpfungen des bisherigen englischen Parteiwesens und sucht seinerseits gegen Whigs und Torys und auch gegen Radikale, die immer historische Vorbilder, wenn nicht Frankreich, doch Rom und Griechenland vor Augen haben, ihrerseits aprioristische Thatsachen geltend zu machen. Er ist kenntlich durch das Schiboleth der Wahlreform und der geheimen Abstimmung.
Hätten die Engländer von jeher diese Mittheilungslust besessen, die sie jetzt zu beselen scheint, hätten sie schon früher ihren Egoismus durch wißbegierige Betrachtungen fremder Verhältnisse, wie dies jezt der Fall ist, zu widerlegen gesucht, so würde Europa vielleicht einen ganz andern Entwicklungsgang genommen, vielleicht die ganze französische Revolution, Napoleon und alle jene Folgen derselben, welche die Existenz und die Ideen gleich sehr verwirrten, vermieden haben. Man muß den Engländern dies stolze Bewußtseyn lassen, daß sie die Gefahren, die Europa gegenwärtig läuft, die Europa namentlich zur Zeit der französischen Revolution lief, schon vor hundert Jahren überstanden haben. England war eine Republik, nicht bloß durch Zufall, wie Holland, oder aus Armuth, wie die Schweiz, sondern aus Prinzip, aus lauter Prämissen, die erst hundert Jahre später in Frankreich beinah zu einer Schicksalsnothwendigkeit reiften. England hatte seine Clubbs, seine Jakobiner, es hatte seinen Militärdespotismus, seine Restauration, es hatte längst jene Erfahrungen, welche, da sie von Frankreich gemacht wurden, eine so außerordentliche Wirksamkeit auf das ganze übrige Europa hatten. England besaß aber nie die Fähigkeit, sich mitzutheilen; es verschloß seine Geschichte, wie seinen Charakter, es verzehrte sich an seinem eigenen Ruhme und hat dafür auch die Demüthigung erfahren müssen, daß die französische Revolution, ein Plagiat der englischen, nicht nur zu Ende des vorigen Jahrhunderts, sondern auch noch im Jahre 1830 in ihren lezten Gewitterschlägen jenseits des Kanals eine größere Wirkung hervorbrachte, als der das Ausländische verachtende Engländer dem Charakter der Nation und der Dauerhaftigkeit ihrer Einrichtungen zugetraut hätte.
Wir können, indem wir von Englands Einfluß auf Europa sprechen, hier nicht umhin, einen Ideengang zu entwickeln, welcher sich mit glänzender Wahrscheinlichkeit uns aufdrängt. Man kann im Allgemeinen als gewiß annehmen, daß die meisten Erfahrungen und Abstraktionen, welche im vorigen Jahrhundert auf die Literatur paßten, im neunzehnten Jahrhundert auf die Verhältnisse der Politik zutreffen. Es läßt sich zwischen beiden Zeiträumen und beiden sie bewegenden Ideenkreisen eine Parallele ziehen, die in allen Beziehungen schlagend ist. Was heutigen Tags die Literatur ist, das war im vorigen Jahrhundert die Politik, eine Tradition mit viel Routine, viel Feinheit und spitzfindiger Gewandtheit, die aber durchaus aller frischen, lebendigen Kraft ermangelte, zwar das Alte sehr gut zu beurtheilen, aber durchaus nichts Neues zu schaffen wußte. Was die Friedensschlüsse, Allianztraktate und diplomatischen Noten in der Politik sind, das ist in der Literatur die Kritik, die Konversation, die Rhetorik. Wir haben gegenwärtig sehr feine und gespizte Federn. Wir hatten im Anfang des vorigen Jahrhunderts sehr schlaue und umsichtige Staatsmänner. Wir haben jezt viel Witz; wir hatten früher viel Intrigue (Intrigue ist der objektive Witz der Verhältnisse). Wir haben jezt manche Einzelstehende, wirklich poetische Erscheinungen; wir hatten im vorigen Jahrhundert hier und da treffliche Persönlichkeiten in Schweden, Schottland, Ungarn und in Corsika. Der ganze behagliche Eklektizismus, der jezt in der Literatur herrscht, herrschte im vorigen Jahrhundert in der Politik. Trifft diese Parallele von der einen Seite zu, so ist sie noch schlagender von der andern. Die Literatur des vorigen Jahrhunderts ging zu Anfang von den Franzosen aus, wurde dann von den Engländern erobert und von den Deutschen auf eine Höhe gebracht, die Frankreich und England nur noch immer ahnen, und freilich an uns, die wir von jener Höhe längst herabgestiegen sind, nicht begreifen können. Racine, Boileau, Voltaire hatten über alle Literaturen des beginnenden und mittleren vorigen Jahrhunderts das Prinzipat errungen. England sogar hatte Shakespeare vergessen und zog die Poesie Johnsohns und seiner Schule, die drei Einheiten der bunten Mannigfaltigkeit ihrer ältern Heroen vor. Allmälig aber gewann in England der bessere Geschmack die Oberhand. Wenn man auch den Werth der Natur in der Poesie noch nicht zu schätzen wußte, so machte doch das sentimentale Genre, welchem man sich hingab, ohnehin, daß sich allmälig die Individualität, das unmittelbare Gefühl als das einzig Natürliche und Schöne auch prinzipienmäßig feststellte. Man hatte noch nicht Sinn genug, die Schönheit Shakespeares wieder zu verstehen, kam aber von selbst dazu, indem man die Naivetät der Empfindungen und unmittelbar von der Natur gegebener Charaktere zu einem konsequenten Genre in der Literatur ausbildete. Diese Umwandelung der dem Anfang und der Mitte des vorigen Jahrhunderts eigenthümlich gewesenen ästhetischen Begriffe theilte sich schnell von England aus dem Festlande mit, gab besonders der deutschen Poesie einen belebenden Impuls, und reagirte auch in sofern gegen den französischen Parnaß, als dieser es vorzog, statt fremde Regeln anzunehmen, lieber zu verstummen und die Fortbildung der Literatur der überaus gewandten und glänzenden prosaischen Schreibart zu überlassen.
Könnte man, wenn man einmal annehmen muß, daß an die Stelle der Literatur jezt die Politik getreten ist, nicht diesen ganzen Verlauf auch auf unsere Zeit anwenden? Wir befinden uns gegenwärtig noch wie im vorigen Jahrhundert in der unmittelbaren Abhängigkeit von französischen Vorstellungen. Unsere politische Aristokratie, unser Conservatismus fast auf dem ganzen Continente hat noch ganz, nach dem ästhetischen Maßstabe beurtheilt, den Zuschnitt jener schwerfälligen Muse, welche von den Dichtern zu jener Zeit angerufen wurde, als man den westphälischen Frieden schloß. Unser Liberalismus ist der Modezuschnitt der Reifrockstragödie, ein Schematismus von Fischbein, der, wenn er sich überlebt haben wird, uns gemahnen dürfte, wie wir jezt eine Tragödie von Racine lesen, prächtige und wallende Conceptionen, bauschiger Redeprunk, die feinsten, praktischen, großblumigen Bemerkungen, schmeichelnd einen neuen Louis quatorze, der Volkssouveränität, fertig und abgerundet in Form, Haltung und System. Es gibt Heroen, es gibt Kleinmeister des Liberalismus. Der gottbegeisterte Schmelz einer Athalie sinkt herab zur Verknöcherung eines Gottsched'schen Dramas. Wir erleben überall mit dem Liberalismus dasselbe. Wir finden, daß er begeistert, daß er die Religion von Millionen ist; wir finden aber auch zugleich, daß er nicht von Seiten der Conservative, sondern gerade sogar von der dem Neuen mit ganzer Seele hingegebenen Partei des Fortschrittes schon als nüchtern, vertrocknet und das Gemüth auf keine Weise mit frischem Thau befeuchtend zurückgewiesen wird. Wir stehen in der Politik gerade da, wo wir im vorigen Jahrhundert mit der Literatur standen. Wir schreiben unsere Bremer Beiträge, wir bekämpfen die einseitige Erstarrung der Theorien, wir verwerfen jede feudalistische Reaktion, jede Lotterei im Gebiete des Schönen und Wahren, wir bekämpfen aber auch das, was sich als das Neueste vom Jahre ausgibt, den schematisirenden, papiernen Constitutionalismus unserer Zeit, eine Manier des Fortschrittes, die sich schon längst wieder innerhalb der Schranken der einseitigsten Pedanterei bewegt. Das Neue wollen und Gottsched bekämpfen! Die Revolution der Schönheitsbegriffe lehren und die Theorie Batteux verwerfen! Dies war der Widerspruch, welchen man jenen Geistern vorhielt, welche die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts zur klassischen Periode stempelten, die sich aber bald rechtfertigen konnten durch die Hinweisung auf das englische Vorbild. Trifft unsere Parallele zu, so werden noch zehn Jahre etwa der Abhängigkeit unserer politischen Begriffe von den französischen Theorien hingehen, und sich dann neue Begründungen über Politik und praktische Staatsrechtslehre von der Lage des öffentlichen Geistes her in England entwickeln.
Was dürfte dies nun seyn, was Europa von der Wendung der englischen Politik zu erwarten hätte? Schwerlich eine neue Theorie, aber dafür ein desto schlagenderes Beispiel. Man kann von der englischen Literatur und Geschichte sehr gut Maximen abziehen, wenn auch weniger Systematik, worin die Franzosen stärker sind. Ja sogar das Persönliche, die Entwickelung eines einzelnen Charakters, der mit dem geschickt angelegten Hebel seiner Talente die schwierigsten Situationen in der Schwebe seines Willens zu halten weiß, wird um so mehr auf die Urtheilsbildung Europas wirken, als die Theorien in Frankreich bis dahin vielleicht gänzlich verstummt und beigetreten sind. Die Politik Louis Philipps wird ihr Ziel nicht verfehlen. Sie wird durch eine fast leidenschaftliche Beförderung der materiellen Interessen den einen Theil Frankreichs sich verpflichten, und den andern in die Apathie werfen. Diese Politik wird damit enden, daß Frankreich in jene unbedeutende Stellung tritt, welche es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts einnahm. Die kleine Debatte, die man dem Franzosen immer wird erlauben müssen, wird sie glauben machen, sie trügen das Schicksal der Welt auf der Schwungkraft ihrer Zunge: allein Frankreich wird sich in seinen Impulsen auf den Fortschritt politischer Aufklärung erschöpft haben. Ihre Position wird nur Theorien haben, die schon widerlegt sind, und die Regierung wird nur eine einfache Thatsache ohne große Meinungscircumflexe seyn wollen. Was muß dann eintreten? England mit seinen lebensfrischen, von Geschichte und Erfahrung strotzenden Interessen tritt in den Vordergrund, entwickelt und löst die schwierigen Knoten, die sich in seiner Politik gegenwärtig zusammenknüpfen, und wird für Europa nicht bloß ein Schauspiel des Auges, sondern noch weit mehr eine Bildungsschule der besseren Einsicht. Niemals wird Europa dasjenige geradezu nachahmen, was England ihm vormacht, weil England überhaupt nichts machen kann, das nicht mit dem Maße seiner gegebenen Zustände auf das Engste zusammenhängt; allein es wird eine moralische Wirksamkeit seyn, welche von der Lösung aller jener Fragen, die jezt in England mit so viel Schroffheit auf die Spitze gestellt werden, auf den Continent übergeht. Die Monotonie der englischen Politik, welche gegenwärtig die Theilnahme an derselben ermüdet, dies jährliche Wiederkehren derselben Resultate, und die wunderliche Zähigkeit eines Volkes, welches unermüdlich zu derselben drohenden Stellung Jahr aus, Jahr ein sich zusammengruppirt, ohne, was der Franzose längst gethan hätte, zuzuschlagen; dies ist die sicherste Garantie, daß sich in England das entschiedene Colorit der entgegengesezten Wünsche und Parteibestrebungen nicht verwischen wird, wie dies gerade bei dem sanguinischen Franzosen der Fall ist, der die Schanze, welche er nicht bei dem ersten, allerdings heldenmüthigen Anlaufe nimmt, lieber preisgibt. Durch diese für den Berichterstatter sich freilich bis zur Ermüdung wiederholenden politischen Versammlungen, Meetings, Reform- und Conservativdiners werden die schwebenden Fragen der englischen Politik im Lande so volksthümlich und gemeinfaßlich, daß das Schlachtfeld künftiger Entscheidung nicht mehr bloß das Parlament, sondern ganz Großbritannien wird. Die politischen Begriffe, so häufig wiederholt, müssen zur Klarheit und zur Reife, selbst in dem Kopfe des gemeinen Mannes gedeihen. Die Zehntenfrage, die Appropriation, die Municipalreform, diese Fragen sind jezt schon im Stande, von den ersten besten aus dem Volke erläutert zu werden; es kann nicht mehr zehn Jahre währen, daß sich zu diesen Consequenzen der Reform noch gesellen werden die Krongesetze, die Emancipation der Dissenters, die Reform des Oberhauses, die Reform der Universitäten, ja sogar die Abschaffung einer privilegirten Haus-, Hof- und Staatskirche. Das ganze Gebäude des englischen Staatslebens steht auf dem Spiele, und nur die Gewöhnung an den brausenden Crater des Vulkans läßt uns mit der ruhigen Unruhe eines neugierigen Zeitungslesers an demselben vorübergehen, und wohl gar glauben, dieses Hin- und Herüber der politischen Debatten in England könne leicht etwas Stereotypes und nur der Formalität zu Liebe nicht geschlichtetes Kämpfen seyn. Keineswegs! In zehn Jahren wird das englische Volk des ewigen Einerleis von Druck und Gegendruck müde geworden seyn; es wird entscheidende Gerechtigkeit für Irland, gänzliche Abschaffung der Zehnten, und einer sie ersetzenden unrichtig vertheilten Grundrente verlangen. Irland wird eine Gemeindeverfassung haben müssen, die ihm erlaubt, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen, permanente Agitationscollegien zu errichten. Sogar die Nüancen von Whigismus und Torysmus werden verschwinden und sich immer mehr die politischen Erscheinungen nach dem demokratischen und aristokratischen Prinzipe richten. Die englische Melancholie wird von dem Spleen zurückkommen, modernes Comfort und mittelalterlichen Feudalismus aus poetischem Interesse zu verbinden, hier eine Dampfmühle zu bauen und dort noch einen gothischen Thurm zu lassen, in welchem z. B. die Universitätseulen von Oxford und Cambridge noch immer Gelegenheit nehmen werden, sich einzunisten. Die englische Aristokratie wird ihre Pfründen, ihre Privilegien, diese Waffen, mit welchen sie das Volksinteresse bekämpfen, selbst, wenn sie zu den Whigs gehören, strecken müssen. Die Engländer werden einsehen, daß sie ihre vormittägigen Sonntagsbetstunden, ihre goldgepreßten Gebetbücher und ihre prüden gesellschaftlichen Vorurtheile, wenn sie einmal darauf etwas geben, auch dann noch beibehalten können, wenn sie sich der Last einer Priesterschaft, die vom Krämersohn bis zum Erzbischof von Canterbury hinaufsteigt, und alle Intoleranz und Tyrannei der homines novi besizt, entledigt. Man kann nicht annehmen, daß im Hintergrunde der englischen Debatten jezt noch friedliche Beruhigungen, durchgesezte Bills und bloß die Majoritäten liegen, sondern es muß ein Kampf um Seyn und Nichtseyn werden, der vielleicht das Gute hat, daß er nicht blutig wird, daß er nicht im Interesse der Proletärs geführt wird, und daß er überhaupt in Europa nicht zur Erweckung der Leidenschaften, sondern zur Aufklärung der Meinungen und zur Berichtigung grassirender Irrthümer dienen wird.
Eine Bürgschaft, daß die englische Politik weit eher als die französische im Stande ist, auf die Entschließung der Bevorrechteten des Continents zu wirken, liegt in manchen homogenen Umständen. Wir wollen hier die Vergleichung mit der Literatur, welche wir vorhin anstellten, nicht mehr als Beweis dienen lassen; weil der Sinn für das Schöne, welchem sich freilich im vorigen Jahrhunderte die Prälaten und Fürsten am wenigsten entfremden wollten, nicht so viele Aufopferung verlangt, wie der Sinn für Wahrheit und Recht. Allein wir finden ihn doch schon hier und da bei Hochgestellten im Organismus unserer Gesellschaft, da sie in sich eine Vorliebe für die Thaten und Ergebnisse der englischen Geschichte und Sitten mit vielem Nachdruck hegen und pflegen. Wenn auch dieser englische Dilettantismus weit mehr der Aristokratie, als der Ueberzeugung vom Richtigen und Tüchtigen zu Gute kommt, so ist es doch eigenthümlich, daß man in mehreren von ihren Privilegien umnebelten Köpfen oft den Gedanken antreffen kann, daß sie die Anknüpfung z. B. eines deutschen Verfassungswerkes an die englische Constitution nicht anders als billigen würden. Es ist nicht die bloße Bevorzugung der Aristokratie und des Pärswesens, welches hier so blendend wirkt, sondern eine unwillkürliche Nachgiebigkeit gegen die theoretische Richtigkeit, welche sich aus der Construktion des englischen Staates von selbst aufdrängt. Diese Geneigtheit für England sollte man an den Machthabern, überhaupt bei denen, welche bei der Gleichstellung politischer Rechte immer etwas würden herauszugeben haben, zu nähren suchen. Wie radikal auch die Tendenzen seyn mögen, welche in zehn bis zwanzig Jahren der englischen Staatslage einen außerordentlichen Umschwung werden gegeben haben, so liegen doch in den Mitteln, die zu diesem Ziele führten, wiederum so viel Tugenden der Mäßigung, des Temporisirens und jener edlen Leidenschaften, welche dem Gesammtwohle zu Liebe die Liebe des Gesammtwohles doch nicht überstürzen, daß selbst solche Besorgnisse, die von den Fortschritten der Demokratie die Auflösung aller Bande der Ordnung erwarten, an die Umgestaltung des so beliebten englischen Musterstaates sich gewöhnen dürften. Mit einem Wort, es ist immer die Monarchie, die erhalten werden soll, es ist die Freiheit, die nur herrschen soll als Gesetz; es ist immer Aristokratie erforderlich, um das Gesetz in der Glorie seiner Souveränität erscheinen zu machen; der Staat soll nicht untergraben, sondern nur auf die rechten Grundlagen gebaut werden. Diese ächte Verschmelzung von Freiheit und Gesetz, von Menschenurrecht und politischem Vorrecht soll, wie sie sich in England findet, den Lauf um die Welt machen. König und Volk, beide sollen unverletzbar und heilig in ihrem Bereiche seyn. Alle Publicisten würden recht daran thun, der unabwendlichen Richtung, welche der Zeitgeist noch im Laufe dieses Jahrhunderts nach der Politik Englands ebenso hinnehmen wird, wie er sie nach der Industrie dieses Landes schon genommen hat, nach Geisteskräften vorzuarbeiten. Der öffentliche Wissenstrieb wird von Frankreichs schlaff gewordenen Brüsten loslassen und sich einer Nahrungsquelle zuwenden, welche gesunder Kraftmittheilung die reichste Fülle hat. Geben wir auf England Acht! Es läßt von seinen Eroberungen im Bereiche politischer Aufklärung nichts mehr fahren, im Jahre 1837 nicht, und auch später nicht.
Wir steigen jezt, nachdem wir von Frankreich und England zu sprechen aufgehört haben, zu Fragen hinunter, die weniger dem Jahrhundert als dem mehr oder weniger bedrängten Augenblicke angehören. Leider sehen wir und haben zu allen Zeiten in der Geschichte gesehen, daß da, wo das Unwichtigste entschieden wurde, die meisten Anstrengungen gemacht wurden. Die Reformation machte sich durch Disputationen, der dreißigjährige Krieg, der sie besiegeln sollte, schadete ihr mehr, als er ihr nuzte. Da, wo das meiste Blut floß, stand selten ein für die Geschichte wichtiges Leben auf dem Spiele. So war es zur Zeit Roms, zur Zeit der Völkerwanderung; so war es unter Napoleon, der dem Ewigen in der Geschichte und in der Menschenbrust durch seine Schlachtfelder gar nichts genüzt hat; so ist es noch jezt. Der Krieg auf der pyrenäischen Halbinsel kann kaum noch als ein Krieg der Grundsätze betrachtet werden, und wenn dies vielleicht auch mehr oder weniger, so doch niemals, als eine Entscheidung derselben. Der spanische Krieg handelt sich um eine Erbschaft. Don Carlos muß einsehen, daß er die Majorität des von ihm angesprochenen Landes entschieden gegen sich hat; selbst, wenn ihn ein Zufall siegen ließe, wofür keine Wahrscheinlichkeit vorhanden, muß er wohl fühlen, daß er nicht an die Pforten seiner Lustschlösser La granja, San Ildephonso und Escurial schreiben dürfte: Yo, El rey absoluto! Er würde sich zu politischen Unterpfändern verstehen müssen. Der Grundsatz einer gewissen politischen Freiheit ist auf der Halbinsel so entschieden, daß selbst Ferdinand ihm nicht mehr widerstehen konnte, und Don Carlos nicht anders, als durch ihn seinen sehr fraglichen Sieg befestigen zu können glauben dürfte. Der spanische Kampf ist fast nur von Persönlichkeiten durchwebt und würde selbst, wenn er für Don Carlos sich entschiede, doch niemals das Prinzip des Liberalismus streitig machen. Die reine, lautere Quelle der Wahrheit ist ohnedies bei jenen, welche in Spanien die Freiheit wollen, so getrübt, daß man diesen Kampf nicht anders als ein Zufälliges, und nur der politischen Neugier zu Paß kommendes Intermezzo betrachten sollte.
Der Carlismus hat im verflossenen Jahre in ganz Spanien eine Rundschau angestellt. Gomez hat Europa bewiesen, daß im mittlern und südlichen Spanien gerade nicht viel Thatkraft, aber auch nicht die geringste Vorliebe für das absolute Regierungssystem und die Inquisition herrscht. Gomez, der Unerreichbare genannt, zog wie ein Komet mit feurigem Schweife durch die Mancha, Estremadura, Granada und Andalusien, sengend und plündernd. Er kehrte in die baskischen Provinzen zurück, ohne einen Mann mehr zu haben, als er von dort mitgenommen hatte. Der Carlismus hat nirgends seinen Sitz als in diesen Provinzen, und alle Welt weiß, daß dieselben ebenso gut mit Mina gekämpft hätten, wie sie gegen ihn kämpften, je nach den günstigen oder ungünstigen Aussichten, welche sich von Madrid aus für ihre ererbten Fueros gestalteten. Don Carlos ist weit mehr ein Gefangener, als ein Befreier. Er wird in den Bergen zurückgehalten, um die lebendige Bundeslade der altbaskischen und navarrischen Verfassung zu bleiben. Er hat von denen, die nicht zunächst im provinciellen Interesse ihm dienen, nur solche Männer um sich versammelt, welche durch frühere Lebensschicksale der in Madrid jezt herrschenden Ordnung der Dinge zufällig entfremdet sind. Er hat über die Priester zu gebieten, und doch nicht in dem Umfange, daß z. B. in Südspanien unter dem Schutz des siegreichen Gomez ein Geistlicher versucht hätte, seinen Kirchsprengel um die Fahne des Prätendenten zu versammeln. Man muß die gewöhnliche Behauptung verwerfen, daß alles, was in Spanien das untere Volk berührt, was noch in den Boden der Natur und Gewohnheit eingewurzelt ist, und sich frei erhalten konnte von den aufklärerischen Tendenzen der neuern Zeit, zu den natürlichen Verbündeten des Carlismus gehören soll. Es sind weit weniger moralische Elemente, auf welche Don Carlos in Land und Stadt rechnen konnte, als die Elemente der Unordnung, die in einem so schlecht policirten Lande wie Spanien, überall dicht gesäet liegen. Die Freibeuter der Landstraßen, die Schmuggler an den Grenzen sind die natürlichen Genossen jeder abenteuerlichen Unternehmung, das Prinzip derselben mag Licht oder Finsterniß seyn. Rechnet man hinzu, daß sich der Prätendent zunächst in den Händen einer Partei befindet, welche die Camarilla des kleinen Hofes von Onnate spielt, und daß von der Verblendung dieser Höflinge wahrscheinlich solche Maßregeln ausgehen, nach welchen z. B. neuerdings Bruno Villareal vom Oberbefehlshaber zum Aide-de-camp degradirt ist, so dürfte sich als sehr wahrscheinlich herausstellen, daß die Vertreter des baskischen und navarresischen Interesses die unter Echevarria, Sagastibelza und andern stehenden Junten, welche das Insurrectionsheer verpflegen, bewaffnen und überhaupt auch für die Operationen desselben den Hofkriegsrath bilden, vielleicht über kurz oder lang die Hand ergreifen, welche das Gouvernement in Madrid weise genug seyn sollte, den einmal unverbesserlichen und eximirt bleiben wollenden Provinzen anzubieten. Wenn der Frühling den Carlisten nicht die Nachtheile wieder einbringt, die der Winter ihnen zuzuziehen pflegt, so zweifeln wir nicht, daß Don Carlos mit derselben Schnelligkeit, mit der er unter dem Schutze einer falschen Perücke und eines falschen Passes Frankreich durchreiste, bald nach London wieder zurückkehren dürfte.
Die entgegengesezte Partei beweist, daß sie sich mit dem allgemeinen Volksinteresse nivellirt, schon dadurch, daß die verschiedenartigsten Charaktere und Gesinnungen bereits Raum finden, aus ihrem Versteck hervorzutreten und sich an eine Regierung anzuschließen, die ihren revolutionären Ursprung verwischen zu wollen scheint, und besonders auf die Herstellung der Ruhe und der Ordnung und des Nationalkredites bedacht ist. Es tauchen auf alte und neue Konstitutionelle, Ajacuchus, unter welchem Namen man diejenigen begreift, welche ehemals gegen die Befreiung Südamerikas im Felde gestanden hatten, Administratoren, bloß energische Persönlichkeiten, kurz eine bunte Reihe von Individuen, denen freilich das große Talent abgeht, welches die exilirten Anilleros und Afranzesados, überhaupt das Justemilieu mit nach Frankreich und England hinübergenommen hat. Wenn die revolutionäre Umwühlung der Gemüther durch Unterdrückung von Zeitschriften, Schließung von Clubbs und Verbannung exaltirter Chefs glücklich eingehalten ist, so möchte vielleicht die größere Gefahr in jenen jungen militärischen Anführern liegen, welche in ihren Fortschritten gegen den Carlismus eine Unterstützung ihrer ehrgeizigen Absichten zu finden wissen. Denn je siegreicher ihre Hand nach vorwärts, desto größer die Ansprüche, nach welchen sie sie rückwärts ausstrecken. Glücklicherweise sind Narvaez und Alaix so große Neulinge, daß ihr Ehrgeiz vielleicht bloß darin besteht, bei ihrer Jugend schon von der Nation anerkannt zu werden. Sie sind vielleicht gutmüthig genug, mit bescheiden niedergeschlagenen Augenwimpern nur nach jenen Kränzen zu verlangen, welche die Cortes auf ihre Stirne drücken werden. Endlich das Ministerium anlangend, so sucht dasselbe Spanien so viel wie möglich gegen die Interessen Europas auszugleichen, und kann dies auch um so leichter, da es selbst nicht nur ein Produkt der Revolution ist, sondern vielleicht auch sein Möglichstes gethan hat, die Revolution, ehe es selbst von ihr in die Höhe gehoben wurde, zu produciren. Das Land selbst haßt die Verpflanzung des Jakobinismus nach Spanien um so mehr, als diejenigen, welche sich dazu bekannten und mit dem Vertrauen beehrt wurden, daß sie etwas Gewalt in die Hand bekamen, sich wirklich auf eine klägliche Weise compromittirten, wie z. B. Escalante. Am klarsten scheint über alle diese Vorgänge Mendizabal zu sehen, der wahrscheinlich in beständigen Geldverwicklungen die Menschen von der Seite hinlänglich kennen gelernt hat, wo sie alle so ziemlich sich gleich sind. Er suchte Interessen anzufachen und ins Feuer zu führen. Er belebte den Ehrgeiz, stellte sich an die Spitze von Nationalsubscriptionen und belohnte die heldenmüthigen Vertheidiger von Bilbao mit den Titeln der Hochwohlgeborenheit und der Excellenz. Zulezt ist Glanz, sey es der Ehre, oder des Goldes, immer die größte Macht der Magie. Spanien ist naiv genug, an die Flitter vergänglicher Ehre zu glauben. Gewisse Deklamationen dagegen auf der Tribüne oder in den Journalen wirken im phantastischen Süden nicht so, wie im reflektiven Norden, und dieser Unterschied geht sogar so weit, daß fast alle Appellation an die Theorie der Menschenrechte, diese ganze Dialektik neuzeitiger, aufgeklärter Begriffe über die Verhältnisse des Staats, die Spanier zum größten Theile kalt lassen, weil diese Bildung immer die Farbe ihres ausländischen Ursprungs nicht verläugnen kann. Die Spanier lieben die Sentenz, die Phrase, den Kothurn, aber Prunk und Pracht muß dabei entfaltet werden. Der Spanier will zu gleicher Zeit seine Phantasie und seinen Verstand beschäftigt wissen; er adoptirt die Menschenrechte und folgt dem Triumphwagen einer leichtsinnigen Königin. Beide Hinneigungen mit einander zu verbinden, zu gleicher Zeit den Ehrgeiz und das Nachdenken in jenem Lande zu sättigen, die Nation wie Kinder und Männer behandeln, -- das ist die Politik, welche die Staatsmänner jenes Landes befolgen müssen. Für Europa ergibt sich daraus nicht viel; die Mischungen der jetzigen spanischen Geschichte sind so heterogen, daß auch nicht ein einziges Gesetz in gehöriger Klarheit für die öffentliche Meinung der Welt sich herausscheiden läßt. Spanien steckt noch immer in der Donquixoterie; es wird alle Zeiten und alle Geschmäcke verbinden; es wird den Cid, die Blume des Ritterthums, mit dem alten Paire Matthieu, dem Catechismuslehrer der französischen Revolution, vereinden. Es würfelt alle Perioden in einander, und ist für die Philosophie eben so unbedeutend, wie es groß und reich ist für die Dichtkunst.
Das Gebiet der Prinzipien verlassen wir vollends, wenn wir uns dem vierten und lezten Gegenstande dieser Erörterungen nähern; der orientalischen Frage. Hier sind wir wieder zurückgekehrt zur Politik der Interessen und der Territorialvergrößerung. Hier wird nicht gefragt: An wen glaubst du? An Haller oder Bentham? Es sey denn, daß Rußland die Completirung der ägyptischen Armee mit Polen fürchtet, oder die griechische Anleihe von Seiten Frankreichs in ihren lezten Serien verweigert werden dürfte, so lange nicht Hellas unter den Schutz einer, die bürgerliche Freiheit garantirenden Verfassung gestellt ist. Alles Uebrige, was sich in den Gewässern des Schwarzen und mittelländischen Meeres durchkreuzt, die Intriguen, die aus einem hölzernen Pallast in Pera in den andern gesponnen werden, kommen auf einen Eigennutz zurück, den man sonderbarer Weise moralischer Unlauterkeit niemals zu beschuldigen pflegt, wenn er auf das Interesse ganzer Gemeinwesen gerichtet ist. Und daß Frankreich im Oriente etwas besizt, ist weder sein Zweck, als daß England oder Rußland nichts allein besitze. Die Ungerechtigkeit der Einen muß hier das Unrecht der Andern entschuldigen. Oder wo steht jenes Recht geschrieben, nach welchem sich seit etwa zwanzig Jahren in der europäischen Politik der fixe Gedanke gebildet hat, das türkische Reich wäre eine natürliche, nächstens vakante und zur allgemeinen Theilung kommende Erbverlassenschaft? -- Die Wahrheit, welche in dem berühmten Ausspruche Montesquieus liegt: die Türken kampiren nur in Europa, hat etwas, das die allmälige Bildung jenes vermeintlichen Erbrechtes zu entschuldigen scheint. Ja, der Türke selbst unterhält durch Sitte und Vorurtheil diese zweideutige Vorstellung von dem Rechte, welches er durch seine Eroberung sich nur faktisch geschaffen hat. Er säet, und erntet nicht, er treibt sein bürgerliches Gewerbe nur wie zum Zeitvertreib. Er überläßt die Sorge für seine Existenz, Sklaven und Tributpflichtigen. Er baut kein Haus von Stein. Er lebt in Hütten und unter Zelten. Die europäische Türkei und Vorderasien waren von jeher Würfel des Zufalles, welche bald die heilige Drei Europas, bald die heilige Sieben des Orients zeigten. Genug, die Vorstellung, daß Frankreich, England, Rußland und Oesterreich sich für die Erben der Türkei halten, mag entstanden seyn, wie sie will, sie ist da, sie blickt mit gierigen und abmessenden Augen schon nach dem ersten Ereignisse, das im Orient eintreffen möchte; sie steht gerüstet in Algier, in Malta, an der Militärgrenze, in den Häfen des schwarzen Meeres. -- Der erste Grundsatz eines Erben muß der seyn, daß er bei Lebzeiten des Erblassers alle Mittel anwendet, jede Zersplitterung der Verlassenschaft zu hintertreiben. Aus diesem Grundsatze erklärt sich die consequente Politik, welche wir die großen Mächte gegen den Vicekönig von Aegypten beobachten sehen. Dieser Emporkömmling besizt dieselbe Tendenz, die noch jeder der Pforte unterworfene Satrap befolgt hat, sich mit seiner Provinz unabhängig zu machen. Schwerlich aber würde der Vicekönig in diesem Bestreben so glänzende Fortschritte gemacht haben, wenn er nicht geglaubt hätte, sich bei jeder feindlichen Bewegung, die er gegen die Pforte versuchte, des Beifalls der sogenannten alliirten, aber bei Navarino nur einmal alliirt gewesenen Mächte zu versehen. Und so zweideutig sind die Absichten Europas mit der Türkei, daß sie in der That nicht zu wissen scheinen, sollen sie Aegypten von der Pforte trennen oder nicht. Der Widerspruch Aegyptens gegen die Pforte ist den Mächten erwünscht, weil er die Pforte selbst schwächt, und sie zwingt, Schutz und Hilfe zu suchen. Er ist ihnen auf der einen Seite erwünscht, weil er die Tradition von der Ohnmacht der Pforte unterhält und immer einmal Gelegenheit darbieten kann zur Einmischung. Auf der andern Seite hüten sich aber die Mächte wohl, den Bruch zwischen dem Großherrn und dem Satrapen zur Reife kommen zu lassen, aus keinem andern Grunde, als weil die Selbstständigkeit Aegyptens, von Europa garantirt, Europa um einen Theil der Erbschaft bringen würde. England hat noch das besondere Interesse, den Vicekönig nicht allzusehr erstarken zu lassen, weil derselbe nicht übel Lust haben könnte, einmal gegen den Norden gesichert, von Syrien und Arabien aus, die Ufer des rothen Meeres entlang, am Euphrat und Tigris hin, seine Herrschaft bis nach Indien auszubreiten. Auch Frankreich hat ein Interesse dabei, den Verband Aegyptens mit der Pforte entschieden zu unterhalten, weil bei seinen Fortschritten auf der afrikanischen Küste Aegypten zulezt der Gegner und der den Sieg derselben krönende Schlußpunkt seyn würde. Das allmälige Einverständniß darüber, daß das erste Erforderniß der orientalischen Politik die Aufrechthaltung der Integrität der Erbschaft seyn müsse, hat die drei Kabinette der Tuilerien, von Saint James und Petersburg (das Wiener Kabinet beobachtet eine großartige Neutralität) seit einiger Zeit wieder näher zusammengeführt. Wenigstens rüstet man in den englischen Häfen keine kriegerischen Expeditionen mehr, die Journale enthalten keine Deklamationen, durch welche man verleitet wird, zu glauben, eine Kriegserklärung müsse so excentrischen Angriffen unmittelbar auf dem Fuße folgen. Durch Frankreichs Herabstimmungen seiner freundschaftlichen Beziehungen zu England und eine Hinneigung zur russischen Allianz, von der man nicht weiß, ob sie ihren Grund in Ueberzeugung oder Bestechung gehabt hat, wurde allmälig der orientalische Horizont dem mißtrauischen Auge der englischen Politik entrückt. Denn England, so stark es sich glaubt, mag ohne französische, wenn auch nur moralische Unterstützung gegen Rußland nichts unternehmen. Rußland war auch, wenn es nicht vollends die Flamme des Krieges hätte wollen ausbrechen lassen, genöthigt, seine etwas vorschnell auf die Riegel der Pforte gelegte Hand wieder zurückzuziehen. Rußland hat noch keinen Krieg gegen England geführt, und weiß recht gut, daß ihm diese Nation selbst die Mittel zu einem ausdauernden Verfahren hätte vorschießen müssen, was nicht geschehen wäre; Rußland hatte außerdem einige Versprechungen zu erfüllen, denen es ohne Eklat sich nicht entziehen konnte. Es räumte Silistria; es begnügte sich, einen Theil seines Einflusses auf die Pforte nur noch in den Fürstenthümern oberhalb der Donau geltend zu machen, ja sogar der andere noch zurückbleibende Theil wurde durch eine zur Schlichtung der Churchillschen Affaire erfolgte Absetzung eines russisch gesinnten Seraskiers sehr beschränkt. Rechnet man noch hinzu, eine andere große europäische Macht, wie wenigstens die Berichte der allgemeinen Zeitung versichert haben, durch ihre friedfertige und alles Eigennutzes entkleidete Stellung in Konstantinopel die den Sultan umspiegelnden Intriguen paralisirt hat, so muß man gestehen, daß Rußland in der Türkei seither ein so großes Stück Terrain verloren hat, als man nach dem Vertrage von Unkiar Iskelessi nicht hätte glauben sollen. Inzwischen lauten die Berichte aus dem Orient dahin, daß Rußland, unbekümmert um die diplomatische Polemik von Konstantinopel, sich bereits faktisch im türkischen Reiche zu arrondiren anfängt. Was es ohne Lärmen und Schwertstreich nehmen kann, nimmt es; die Ohnmacht des türkischen Reiches und das Vertrauen in die russische Bundesgenossenschaft hat die Grenzen der türkischen Besitzungen von aller Gegenwehr entblöst, und es möglich gemacht, daß nicht unglaubwürdige Berichte aus dem Orient behaupten konnten, Rußland hätte seit dem Jahre 1814 theils im Krieg, theils im Frieden, sich um 300 deutsche Meilen, bis in das Innere der europäischen Türkei hinein, bereits zu vergrößern gewußt. Wie soll England diese stillschweigende Verrückung der Geographie hintertreiben? Sie geschieht ohne alle Controlle, ohne alle pomphafte Besitzergreifung. England weiß, was vorgeht, und wird sich entschließen müssen, den Sitz seiner orientalischen Diplomatie von Konstantinopel nach Teheran zu verlegen. Nur durch eine, mit allen Mitteln der Civilisation und des Geldes herbeigeführte Erstarkung des persischen Reiches durch die Anlegung einer Verbindung zwischen Persien und Indien, welche nicht nur Handels-, sondern auch Kriegsstraße werden müßte, lassen sich die faktischen Arrondissements der russischen Vergrößerungssucht hintertreiben.
Es ist zu allen Zeiten so gewesen, daß man im Schooße des Friedens von einer nahen kriegerischen Zukunft träumt. Je kleiner die gegenwärtigen Ereignisse sind, desto mehr findet die Phrase Beifall, daß wir am Vorabend großer Ereignisse stehen. Es wird auch gegenwärtig diese Wendung oft theils als Hoffnung gebraucht, theils als Befürchtung. Ich glaube allerdings, daß wir einer Krisis entgegen gehen; allein die Vorstellung, welche viele davon haben, wird auf alle Fälle viel zu groß seyn. Wer eine allgemeine Umgestaltung der Dinge erwartet, wer schon im Geiste von einem Napoleon träumt und ihn mit den Dynastien schalten und walten sieht, dürfte sich leicht getäuscht haben. Die Revolution als eine radikale und allgemeine ist in ihrem Prinzipe auf immer besiegt. Sie kann als Hebel, um hier oder da eine schwerfällige Materie in Gang zu bringen, uns immer wieder begegnen; allein die großen Ereignisse, von denen ihre Freunde träumen, bestätigen sich nicht. Dennoch glaube ich nochmals, daß wir einer Krisis entgegengehen, und bin davon so fest überzeugt, daß ich an eine ungestörte Dauer jenes Laufes, welchen die Dinge gegenwärtig z. B. in Frankreich genommen haben, nicht glaube. Ich bin überzeugt, daß die Julirevolution eine Bestimmung hatte und daß sie dieselbe zum Theil verfehlte. Sie mußte diese Bestimmung in ihrem ersten Stadium verfehlen, weil sie kein Sieg der Propaganda seyn sollte, weil in ihr ein abgeschlossenes Resultat, nicht bloß eine vage Aufreizung ins Unendliche lag. Ordnung, Gesetz und unter ihrem Schutze die Entwicklung moralischer und materieller Wohlfahrt; das sind die Grundzüge, auf welchen unser Jahrhundert sein Gebäude aufführen will. Mit diesen Gütern soll aber auch die politische Freiheit aufs innigste verbunden seyn. Die Saat des aufgeklärten achtzehnten Jahrhunderts fiel auf den Weg. Unsre Zeit soll davon die Ernte in ihre Scheunen tragen, und das, was im vorigen Jahrhundert draußen auf dem Felde stand, unbeschüzt, dem Hagel und Gewitter ausgesezt, soll das neunzehnte Jahrhundert in wahrhaftes und gesundes Brod des Lebens verwandeln. Ja diesen Satz hat die Julirevolution gegen die Restauration vertheidigen wollen. Der Satz wurde anerkannt, er wurde die Grundlage einer neuen Dynastie; er wurde die Grundlage einer Menge von neuen Verfassungen oder das Regulativ, wodurch man ältere dem Bedürfnisse der Zeit angemessener machte. Daß man hiergegen vergebens streitet, daß man die Julirevolution für eine Episode ausgeben will, daß die gegenwärtige französische Politik ihren Ursprung verwischen und die übrige europäische Politik sie nur unter dieser Bedingung anerkennen will, das ist die Veranlassung, die wahrscheinlich noch einmal genommen wird, um die Julirevolution zu berichtigen. Wer mehr erwartet, wird sich getäuscht finden; die Fürsten werden auf ihren Thronen bleiben; die Völker werden keinem der monarchischen Ordnung gewidmeten Gesetze den Gehorsam aufkündigen. Aber eine Berichtigung der Julirevolution läge nicht im Bereich der Unmöglichkeit; sie würde ihre Folgen haben, sie würde in ganz Europa das Gleichgewicht der materiellen und moralischen Interessen herstellen; sie würde das erzeugen, woran es noch an allen Orten gebricht, nämlich ein unbedingtes Vertrauen zwischen den Regierten und Regierenden; sie würde die Furcht vor der Revolution ausrotten, sie würde das schiefe Wesen, was in die Begegnung der wichtigsten Faktoren öffentlicher Zustände, z. B. des Staates und der Literatur gekommen ist, in gerade Richtung bringen. Sie würde machen, daß sich unsre öffentlichen Debatten von der geisttödtenden Einseitigkeit losrissen, mit welcher sie gegenwärtig geführt werden; sie würde das Parteienwesen untergraben, welches alle Verständigungen im Gebiete der Moral, Religion und Wissenschaft verhindert, und die Völker ermuthigen, sich noch durch andere und höhere Dinge einen behaglichen Frieden zu stiften, als durch die Beförderung materieller Interessen, bei welchen gar leicht Herz und Gemüt vertrocknen. Das alles wird die Pforte eines Ereignisses seyn, welches den Völkern beweist, daß die Fürsten nimmermehr eine Reaktion ins Unendliche wagen dürfen, und den Fürsten, daß die Völker unter politischer Freiheit nur jene malerische, sonnige Beleuchtung verstehen, bei welcher sie ihre irdischen Güter, Friede und Glückseligkeit ernten wollen.
Ich bin fest überzeugt, daß unsre Zukunft nicht mehr mit so viel Historienlärm betäubt seyn wird, als es der Wendepunkt des vorigen und des laufenden Jahrhunderts war; der vorhin von mir bezeichnete Moment geht vielleicht ohne alles Waffengeräusch vorüber. Versteht z. B. der Herzog von Orleans seine Mission, so gibt er selbst seine Hand her, um eine Geburt, die die Zeit in zehn oder zwanzig Jahren noch dürfte zu bestehen haben, in aller Kürze mit entsagender und hochherziger Gesinnung zu erleichtern. Versteht er sie nicht, so haben die Interessen, an welche sich die Menschen der Jeztwelt einmal bis aufs äußerste anklammern, eine so starke Mauer gegen die anschwellende Fluth einer Volksbewegung gezogen, daß eine allgemeine Ueberschwemmung der schönen Resultate, die wir durch eine langjährige Erfahrung gewonnen haben, nicht mehr zu befürchten steht. Nein, wir wollen unsrer Zeit tiefer auf den Grund gehen; wir wollen uns darüber Geständnisse machen, was wir verloren haben, was wir besitzen und was wir uns noch zu erwerben haben.
Gerade in dem, wonach wir unsere Arme jezt so jählings ausgestreckt haben, gerade in der Feststellung unserer Begriffe über Staat und politische Freiheit liegen schon lange unsre Reichthümer; denn die politischen Theorien, die Einheit und Trennung der Gewalten, das Verfassungs-, Verwaltungs- und Polizeiwesen, ja in diesen Kenntnissen haben wir Fortschritte gemacht, daß man glauben möchte, zwischen dem Jahre 1788 und 1837 lägen Jahrhunderte zwischen. Die politische Frage ist längst gelöst und wird ohne Zweifel mit noch einigen wenigen leichten Catastrophen, die in der Geschichte der Völker und ganzer Erdtheile nicht ausbleiben, vielleicht für das Stadium, welches unsre Zeit zu erklimmen bestimmt ist, auf immer beigelegt seyn. Allein unendlich ärmer und hilfsbedürftiger sind wir in moralischer und geistiger Rücksicht geworden. Da gibt es Lücken, die schon wie Abgründe aussehen, zu erfüllen, da sind ganze Wege verschüttet, ganze Hügel vom Winde der Zeit abgetragen worden, da hat sich Moos über den Marmor der Schönheit gezogen, wucherndes, giftiges Unkraut zwischen die Anpflanzungen der großen, erhabenen Literaturgeschichte der Vergangenheit; da spiegelt sich der stille sinnige Mond nicht mehr in dem Antlitz eines Sees, der über und über mit einer grünen Sumpfdecke bezogen ist. In der Religion und Moral sind die Völker ärmer geworden; das achtzehnte Jahrhundert las weniger als unsre Zeit, doch las es Gediegeneres, die Theilnahme an der Erörterung moralischer Fragen von tieferer und himmlischerer Bedeutung war weit allgemeiner, als sie es jezt ist. Jezt läßt der Indifferentismus das Meiste, was jedem über das Ewige zu wissen ziemt, unberührt und unerörtert. Soll dieser Zustand fortdauern? sollen die Gemüther verflachen und die Herzen, diese starren Eisblöcke, nicht wieder aufthauen? Sollen moralische und spirituelle Interessen nicht jene Geister wieder versöhnen können, die sich über die politischen Discussionen so schroff gegenüber stellten? Es ist wahrlich eines Jeden, der durch Rede und Schrift auf das Volk einwirken kann, würdig, Gedankenreihen von solcher Verbindung vor allen übrigen Vorschub zu leisten. Man soll als Schriftsteller seine Aufgabe darin erblicken, die Menschen abzulenken von dem jähen Zuge, mit welchem sich in der Verfolgung der vom Augenblick auf die Tagesordnung gebrachten Fragen überstürzen. Es hat Perioden in der Geschichte gegeben, wo die Appellation von dem, was man um sich her erlebte, an die höhern Regionen der Kunst, Wissenschaft, der Erziehung und Religion ein Trost war; jezt sollten wir aus dieser Appellation eine Belehrung machen. Um in unsern Begriffen nicht auf die äußerste einseitige Spitze getrieben zu werden, ist es dringend nöthig, daß wir das Terrain derselben ausdehnen und verallgemeinern.
Um nur von einem Bereich höherer menschlicher Thätigkeit nachzuweisen, wie sehr seine gegenwärtige Lage welk ist gegen frühere Blüthenperioden, so wollen wir auf die Literatur kommen. Sehen wir zuvörderst, was die Stellung derselben mit allem übrigen gemein hat, was das höhere und geistige Leben der Menschheit gegenwärtig umfaßt. Die Literatur ist in dieselbe Ohnmacht versunken, welche sich unsers ganzen geistigen Lebens, die Politik ausgenommen, bemächtigt hat. Wenn man von unsrer Zeit behaupten kann, daß sich in ihr Alles auf das Neue hinwendet und die leichtere Abmachung des Alten, welche leztere die fortwährenden Veränderungen der Unterrichtsmethoden hervorruft, so kann man wohl zunächst nicht läugnen, daß auch unsre gegenwärtige Literatur darnach strebt, Neues zu schaffen; allein im Allgemeinen hat sie sich eben dadurch geschadet, daß auch sie sich der leichtern Abmachung des Alten hingab. Indem man die Literaturen der Vergangenheit nivellirte und aus ihnen bloß die Quintessenz des literarischen Charakters, das Antike und Romantische zog, so überredete man sich, daß in der Literatur die Tendenzen und allgemeinen Merkmale wichtiger wären, als die Individuen, das Genre wichtiger als die Gattung in der Poesie, das Endziel wichtiger als der Anfang. Man wollte sich in der Literatur einen neuen Begriff schaffen, das Moderne, ohne daß man sich darüber klar werden konnte, wie viel in dem Modernen neue Erfindung und Anerkennung des Alten liegen sollte. Wie unter ähnlichen Umständen bei den klar vor Augen liegenden Ungewißheiten unsrer politischen Zustände, bei dem religiösen Indifferentismus und bei den einreißenden, nur interimistischen Zugeständnissen, die man der Zeit nur noch gestatten konnte und wollte, die Zweifelsucht ein herrschender Grundzug der Gemüther wurde, so zerfiel auch die Literatur fast überall in bloße Kritik. Sie löste mehr auf, als sie zusammensezte, sie wollte keine vollendeten Kunstwerke mehr schaffen, ehe sie nicht den Geschmack, der sie beurtheilen dürfte, regenerirt hätte; ja selbst wirkliche positive Fähigkeiten, wie Lord Byron, wie Victor Hugo und viele höchst achtbare neuere französische und englische Dichter bauten ihre Frühlinge nur über die Lavatrümmer der Kritik. Sie wollten nicht bloß Kunstwerke schaffen, sondern sie zu gleicher Zeit zu Beispielen einer neuen literarischen Theorie dienen lassen. Oder wenn Lord Byron vielleicht am unabhängigsten von der Kritik sich erhalten hat, ist es nicht überall der zweifelnde und ironische Verstand, der seine Phantasiegebilde durchkreuzt und jenen unserm Zeitalter so eigenthümlichen Humor produzirte? So hat sich die neuere Literatur, während sie sich das Ansehen gab, nur Tendenzen zu begünstigen, zulezt in nichts anders verwandeln können, als in Personen, die mit dilettantischem Vergnügen so viel Wissens- oder Schönheitsstoff verarbeiten, als die Zeitgenossen neben ihren übrigen Beschäftigungen und Absichten ertragen können. Die Literatur zog sonst um alle geistigen Bestrebungen der Völker ihre vermittelnden, belehrenden und aufklärenden Grenzen; jezt ist sie nur noch eine beigeordnete Ergänzung zu denselben. Wenn die neuere französische Literatur, die vielleicht am meisten in neuerer Zeit getrieben und gegohren hat, auch noch am meisten von einem innerlichen, theoretischen Selbstzwecke beselt schien, so finden wir seit einigen Jahren gerade wieder einen auffallenden Stillstand in den Bestrebungen dieser Literatur eingetreten. Diese kühnen, formlosen Neuerer scheinen seit einiger Zeit alle wieder verstummt. Was ist davon anders der Grund, als daß dieser kurze Flor nicht etwa aus einem Zusammenhange der Literatur mit dem ganzen Leben des Volkes hervorging, sondern aus der vorzüglichen Begabung einzelner Persönlichkeiten, die die Gattungen der Poesie beliebig zur Behauptung ihrer Originalität benuzten und einer organischen Einheit ihrer Bestrebungen sich am allerwenigsten bewußt waren. Ja die Literatur ist tief in den Hintergrund unsrer neuern Geschichte gestellt; was wir von der Zukunft erwarten, was wir auf dem Gebiete der Politik, der Religion und der Sitte gern sich Bahn brechen sehen möchten, das erwarten wir bereits am allerwenigsten durch die Literatur, durch ein Hilfsmittel, welches doch bis jezt noch alle Zeiten über ihr Wohl und Wehe, über ihre Besitzthümer und Entbehrungen aufgeklärt hat. So wie die Post die Vermittlung der Entfernung ist, so braucht man das Schriftwesen jezt nur noch als eine sichtbare Verkörperung der ihnen zur Verbreitung anvertrauten Gedanken. Die Gedanken selbst will man von den Individuen abziehen, man will objektive Wünsche, Gefühle und ganz verkörperte Ideen aus den Massen herausgreifen, oder den Massen zuführen. Die Literatur ist dabei entweder ein ganz gleichgültiger und uneingeweihter Dollmetscher geworden, oder sie muß, um ihre Worte in Thaten zu verwandeln, mit den frechsten und leidenschaftlichsten Farben auftragen.
Es wird mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbunden seyn, die Literatur unserer Zeit aus ihrem erniedrigten Zustande zu befreien. Es ist ein großes Unglück, daß sich so viel schöne Hebel und Kräfte der Literatur, so viel ausgezeichnete, schriftstellerische Talente dazu hergegeben haben, in dem Streite der Interessen Partei zu nehmen, und als Advokaten so mancher Privilegien, namentlich gegen die Ideen aufzutreten, welche das Volk mit politischer und religiöser Freiheit verbinden wollte. Es hat sich hierdurch der Masse eine große Abneigung gegen die Literatur überhaupt bemächtigt. Die Wirkung des Gedruckten ist beinah jezt keine andere, als eine Zweifel erregende; der gemeine Mann liest und erwägt darauf, wie viel er davon wohl glauben dürfe. Im Allgemeinen hat die Literatur in unsern Tagen eine sehr zweideutige Stellung, man vertraut ihr nicht, und fürchtet sie doch. Die stark aufgetragenen Farben, die ihre innere Erschöpfung mit sich bringt, haben sie in eine Menge von Verlegenheiten verwickelt, aus denen sie sich zuweilen mit Preisgebung der Consequenz und der Ehre wieder herauszufinden suchte. Es ist wahrhaft traurig; das Publikum ist so kühl gegen die Autoren, und dankt ihnen kaum, wenn sie für die Ideen ins Feuer gehen, und gefangen werden, und suchen sie sich wieder in Freiheit zu setzen, so klagt das vorhin so kalte und gleichgültige Publikum wieder den Mangel an Consequenz an, den sich der Unglückliche, der gern wirksam seyn möchte, zu Schulden kommen läßt. Ja die politischen Leidenschaften haben in der Literatur große Verwirrung angerichtet, ihr Phalanx ist auseinandergesprengt; sie ist weder eine Macht, die löset, noch eine, die fesselt. Die Gährungen in ihr bleiben unverstanden von der Menge, die Resultate wissen nicht, an welche bestehende Verhältnisse sie sich anknüpfen sollen. Der Materialismus unserer Zeit bedarf vollends weder der Lehre vom Schönen, noch vom Wahren, er verlangt sehr viel mechanische Kenntnisse, Sprachen und reelle Wissenschaften, und die Zeit und Anstrengung, welche die Erlernung derselben kostet, wird der Theilnahme an der Literatur in Abrechnung gebracht. Der Mensch hat nur über wenig Jahre zu gebieten, er hat bei der immer mehr steigenden Concurrenz in der ersten Zeit seines Lebens alle Hände voll zu thun, um sie in der zweiten ein wenig ausruhen zu lassen; da ist nirgends Muße, die es jungen Männern erlaubte, sich den Bewegungen in der Literatur mit nachdenkender und ernster Behaglichkeit anzuschließen. Ja, sie wollen lesen, aber nur auf dem Fluge, sie wollen in der Eile mit ein paar Zügen den scharfgewürzten Becher einer Dichtung leeren. Daher hat sich aller Literaturen, von denen in Europa jezt die Rede seyn kann, ein Haschen nach Effekt, eine kurze, aphoristische Frivolität bemächtigt, die im Nu aufhören würde, wenn es möglich wäre, die öffentlichen Thatsachen unserer politischen und gesellschaftlichen Existenz der Literatur ein wenig günstiger zu stimmen.
Ich komme darauf zurück, daß ich durch diese Bemerkungen nur beweisen wollte, wie viel Unvollendetes, nach Abschließung Ringendes, im geistigen Gebiete vorhanden ist, das man, wenn eine Beruhigung unserer politischen Zustände einträte, zur Sprache bringen dürfte. Wir irren uns sehr, wenn wir glauben, daß durch eine endliche Beilegung der politischen Frage jener Kreis von geistigen Besitzthümern geschlossen wäre, auf welche sich die Menschheit, wie auf das Kissen eines ruhigen Gewissens lehnen muß. Der Geist der Geschichte ist in ewiger Thätigkeit, er bewegt sich in kreisartiger Wendung, allein nie kehrt sein Ende in den Anfang zurück, sondern er steigt ins Unendliche spiralförmig empor. Die Lösung einer Frage macht schon wieder eine andere zweifelhaft; wenn wir im Vollgenusse jenes politischen Friedens seyn werden, nach welchem sich alle unserer gegenwärtigen Monotonie überdrüssigen Gemüther sehnen, so brauchen wir uns nur umzublicken, um neue Schaaren gerüsteter Probleme zu erblicken, die auf schnaubenden Rossen in die Schlacht der Discussion geführt seyn wollen. Da werden moralische und religiöse Fragen aus den Nebeln hervorleuchten und auch Minerva mit den Musen wird hervortreten, um Ansprüche zu machen auf Wiedereinsetzung in ihre alten Tempel. Wenn es in irgend einem Bereiche Widersprüche zu lösen, Feindschaften zu versöhnen und keimende Saaten gegen Frost und Ungewitter zu schützen gibt, so ist es in der Literatur; sie schmachtet nach Selbständigkeit, nach Emanzipation von dem Dienstverhältnisse, in welches sie sich durch die Unbill der Zeit begeben mußte; sie will die Traditionen jener goldenen Zeitalter der Antike und der Romantik fortsetzen, die Kunst von einer falschen Zweckbestimmung befreien, und den Gedanken von keinen andern Gesetzen beherrschen lassen, als denen seiner eigenen organischen Entwickelung. Die Literatur unserer Zeit offenbart überall, wo man hinblickt, eine Ahnung des Neuen, aber noch kennt sie die Grundlagen nicht, auf welche sie ihre erträumten Schöpfungen bauen dürfte. So wahr aber Alles, was an die Geschichte jemals eine Frage gerichtet hat, von ihr auch darauf eine Antwort erhält, so wahr wird die Zeit kommen, wo sich der Formalismus auch unserer sonstigen Zustände, und vor allen Dingen die politischen Einförmigkeiten, als allerdings wichtige, aber darum noch nicht ewige Crisen werden überstanden, und die Wolken von einem Himmel genommen seyn, an welchem uns die Sonne und die ewigen Sterne wieder grüßen werden.
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