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Die Sphäre der gemüthlichen Beziehungen, die Sphäre der Seelenstimmungen liegt nun hinter uns. Wir steigen jezt in die des Geistes, der Reflexion und des abstrakten Gedankens. Von der Materie gingen wir aus, bahnten uns durch gute und böse Leidenschaften den Weg und gelangen jezt zu den Regionen der Kunst, Wissenschaft und Philosophie, welche in formeller Hinsicht das gemeinschaftliche Band der Literatur umschließt. Aussichten in die Zukunft werden die Grundanlage des Werkes schließen, wie wir wohl durch dunkle und verworrene Gemächer oft geführt werden, selten aber einen alten Bau antreffen, wo der Kastellan nicht am Schluß die Fensterläden irgend eines Zimmers öffnet und uns einen malerischen Blick in die Ferne gibt.
Der Uebergang aus der Religion in die Kunst ist sanft und organisch. Der Glaube an die Götter ging zu allen Zeiten mit den verschiedenen Kunstepochen Hand in Hand; erst in unsrer Zeit ist die Kunst frivol genug geworden, dem ursprünglichen Zusammenhange zu entsagen. Jezt schließt sie sich eher dem Luxus, als dem Cultus, eher unserm Bedürfniß des Essens und Trinkens, als der heiligen Spende und Opferung an. Wir bewundern die Kunst in unsern Kaffeetassen, unsern Theebrettern und Pfeifenköpfen. Auch haben die Dichter sogar größern Erfolg zu erwarten, wenn sie sich gegen den Himmel auflehnen, als wenn sie ihn auf die Erde hinabziehen wollen. Höchstens, daß die Parallele der jetzigen Kunst mit der Religion darin besteht, daß jene eine eigene neben dieser zu stiften suchte, und daß es Menschen genug gibt, welche, indem sie den Geist des Schönen anbeten, auch den Geist des Guten damit zu erfassen glauben. Man kann nichts dagegen einwenden; denn es ist noch immer etwas, wenn man nur wenigstens das Unsichtbare anbetet, mag es nun die Schönheit einer natürlichen oder einer gemalten Landschaft, die Schönheit der untergehenden Sonne oder die eines dichterischen Schwanengesanges seyn.
Kunst und Religion -- es ist dieselbe Bestrebung, nur in verschiedener Aeußerung. Diese betet die Schöpfung an, jene sucht sie zu ergänzen und nachzubilden. In der Kunst verschmelzen die Gefühle der Andacht mit ihrem Gegenstande. Der Kultus nähert sich nicht mehr in bescheidner Entfernung dem Allerheiligsten, er hat sich mitten in das Allerheiligste hinein versezt und bildet sich aus ihm wieder heraus zu schöpferischen Gestaltungen. So versenkte sich die Antike mit ihrer großen Virtuosität in die Vorstellung des göttlichen Lebens selbst, und schuf jene Götterstatuen, über welche hinaus den Gläubigen keine Religion mehr lag. Ist die Religion selbst erst bis zu dieser Virtuosität gediehen, daß sie sich im Kultus schon der unmittelbarsten Nähe des göttlichen Gegenstandes bewußt ist, so tritt allerdings die größte Gefahr für die Religion ein, in der sie leicht ihren geistigen Gehalt verlieren kann; allein die Kunst wird dann immer zu einer Höhe gelangt seyn, welche man klassisch nennt, wie sie es als Bildnerei in der Culmination des Griechenthums, als Malerei in der Culmination des Katholizismus war. Für unsere moderne Zeit liegt die Weihe der Kunst und Religion im Worte. Die modernen Dichter sind größer als alle vorangegangenen. (Nur Pedanten werden dies eine Paradoxie nennen). Wir können die Religion nur im Jenseitigen, im Gedanken erblicken; darum ist die Dichtkunst in unsern Zeiten die allein klassische; denn sie kann nur einzig dessen gewiß seyn, für das Uebersinnliche und den Gedanken, der es umzirkelt, die angemessensten Ausdrucksformen zu finden. Die Musik ist zu unbestimmt. Wollte man, wie die alten Griechen die Religion nur noch in ihren Statuen sahen, die Italiäner nur noch in ihren Gemälden; so auch bei uns die Religion in etwas Faßlicheres verwandeln, so würden wir sie nur mit der Poesie vertauschen können.
Von der Philosophie unterscheidet sich die Kunst dadurch, daß in ihr der Gedanke auch sogleich die Form, und die Form der Gedanke seyn muß. In der Kunst ist gerade dies das organische Leben, daß sie nichts denkt, als das Schöne, und so die Wahrheit in ihr immer sogleich auch die Schönheit an sich hat. Wie ein so geheimnißvoller Prozeß möglich ist, darüber können selbst die, welche den Genius dafür haben, schwerlich Auskunft geben. Auch erreicht hierin kein Künstler den Dichter. Denn dieser allein hat den leichtesten Apparat für seine Thätigkeit. Jeder Moment der Begeisterung ist sogleich gestaltet. Noch glühend kann man den Gedanken zur Schau stellen. Der Dichter beweist uns vollkommen, worin der Selbstzweck der Kunst liegt. Er liegt darin, daß bei der Kunst der Begriff der Schönheit auch sogleich die Form der Schönheit seyn muß. In der tiefsten künstlerischen Durchdringung beider Momente halten sich Form und Begriff das Gleichgewicht und neigen weder in allzugroße Förmlichkeit und Kunsteinseitigkeit, wie bei Göthe, noch in zu tiefe und bodenlose Spekulation, wie bei Shelley, hinüber. Der ächte Künstler weiß das Ebenmaß von Form und Begriff mit feinem Taktgefühle abzumessen. Er findet für jeden Gedanken die Form, die seinem Wesen entspringt; jeder Gedanke bringt im künstlerischen Genius sogleich die Form, welche für ihn paßt, mit zur Welt. Begeht ein Künstler Irrthümer vor dem spekulativen Forum, so werden es doch ebensoviel poetische Wahrheiten seyn, wenn ihnen nur die subjektive Rechtfertigung, das Gemüth, nicht fehlt. Die objektive Rechtfertigung wäre die Schönheit; aber die Schönheit allein kann den irrthümlichen Inhalt nicht entschuldigen, wenn gleich mildern. Wie viel muß also nicht zusammenkommen, um jene Harmonien zu schaffen, welche in den Werken eines Phidias, eines Sophokles, eines Dante und Göthe walten!
Doch verlassen wir das Gebiet der Theorie und treten in jene Kunstverhältnisse ein, wie sie uns die Wirklichkeit darbietet. Wie entwickelt sich bei uns der künstlerische Genius, was bieten ihm die Umstände dar; wo fördern, wo verhindern sie ihn?
Der Künstler wird jezt unter den ungünstigsten Verhältnissen geboren. Sein Talent muß sich erst durch seine Erziehung hindurch Bahn brechen, denn diese kömmt den Gelehrten wohl, aber Künstlern nicht entgegen. In alten Zeiten war, wenn nicht die Kunst, doch Manches, was mit ihr eng verschwistert ist, der erste Eindruck, den der sich Bildende mit größerer Lebhaftigkeit empfing. Die Religion war die Pforte, durch welche im Alterthum der Bildner und Dichter, im Mittelalter der Maler und Architekt in die Hallen der Kunst eintreten konnten. Jezt aber läuft die Vorbereitung zur Kunst höchstens der übrigen Bildung, welche man genießt, parallel, so daß vielleicht schon im achten Jahre kleine Kinder ihre Finger auf dem Klavier ausspannen müssen, daß sie die Akademie besuchen, um zeichnen zu lernen, oder zuweilen in das Theater, als eine Schule der Phantasie, mitgenommen werden. Allein dieser Unterricht ist eben nur Ausnahme und meistentheils auf Neben- und Freistunden beschränkt.
Und da weder in der Erziehung, noch in den Sitten bei uns eine unmittelbare Aufforderung zur Uebung und Ausbildung der künstlerischen Talente liegt, so wär es wünschenswerth, daß wenigstens die Offenbarung der Natur zum erwachenden Künstlersinn anregend und erweckend spräche. Allein dasjenige, was uns gerade am entferntesten gerückt wurde, ist die Natur. Sie kann in ihrer grünen Frische, in ihrer, vom Gesang der Vögel belebten Herrlichkeit, in ihrer Sprache von Alpen und Thälern zu einem Tyroler sprechen, der so hübsch aus Holz schnitzelt, daß man ihn von seiner Heerde weg in die Akademie rufen sollte, sie kann Dichter entzünden, Maler wecken, allein ist es hier nicht immer der Zufall, der ihr die Gewalt leiht, ist sie sich wohl überall gleich und wirkt überall die gleichen Wunder? Wo findet man auch Natur in einer Zeit, wo sie unter der Herrschaft der Maschine seufzt, eingegangen ist, um Hebel der Industrie zu werden, wo ist Natur in eurer Umgebung, in euren Sitten, ja in euren Gärten und Promenaden? Wenn sich irgend eine Fähigkeit findet, die die künstlerische Bestimmung an sich zu tragen scheint, so wird sie überall Natur antreffen, aber launenhaft zugestuzt, heckenartig beschnitten, durch die Geschmacklosigkeit unschön geformt. Die Natur, welche uns umgibt, wenigstens die, welche wir sehen, ohne Reisen zu machen, spricht nur matt und verwelkt uns an; ihre Frische ist unter dem warmen Wasser, welches aus den Fabriken fließt, verblüht, der Bach muß seine Taglöhnerdienste thun, der Berg trägt ungeheure Wunden von Sprengungen, und wo die Kunst gerufen wurde, um dem Reichthum eine Erholung zu schaffen, da hinterläßt sie noch überall die Spuren früherer Geschmacklosigkeit; es ist nicht die reine göttliche Kunst, die zu uns spricht, sondern die Kunst des Luxus. Wie können diese Gemälde bezaubern, da sie nicht vor allem Volk in einer Kirche hängen, sondern über dem Ruhesopha im Kabinet eines Millionärs! Da ist ein Meisterstück von Canova! Es steht in keinem Tempel, keiner Gallerie, sondern in einer Nische beim Privatmann auf dem Ofen, auf dem Kamin. Da wird eine Fülle künstlerischer Sinnigkeit verschwendet an Gegenstände, die eine unschöne Bestimmung haben; wie zart und schön sind diese Kaffeebehälter geformt, wie künstlich der Ofen! Wie herrlich sind hier am Kamin Arabesken aus Metall gegossen, wie schön jene Vase aus Porzellan, in welcher gemachte Blumen stecken, die Sommer und Winter blühen! Wie herrlich die Fußdecken, die Tapeten, die Kronenleuchter, wie zart die Malerei auf dieser Schnupftabaksdose! Wahrlich, Kunst ist genug zerstreut um uns her; wir gleichen umgekehrt jenem Egyptier, welcher aus goldnen Nachttöpfen sich Götterstatuen bilden ließ; wir schmelzen die Götterstatuen in ästhetisch geformte Nachttöpfe um. Kann nun dieser Eklektizismus, diese frivole Vergeudung der schönen Kunstform irgend für den künstlerischen Genius, der nach der reinen Schöne trachtet und sie wie Phidias, Dante, Raphael und Erwin von Steinbach verkörpern möchte, eine Befruchtung seyn? Können ihn eure schönen Lampen und Krystallgläser zu einem Gemälde begeistern, welches die Transfiguration darstellen soll? In dieser Ueberfüllung unsres Lebens mit Kunst liegt eben so viel Hinderniß für die künstlerische Erziehung, wie in der zurückgesezten, weit von unsern Thoren verbannten wahren und ächten Natur.
Zu diesen Hindernissen in den Sachen kommen die Hindernisse der Personen. Die Gemüther der Masse sind dem Schönen nicht zugewandt. Die Verbindungsfäden, welche die Kunst mit den Ideen, die auf die Masse wirken, zusammenhalten, sind zerschnitten oder gar nicht anwendbar. Die Religion hat sich von sinnlichen Einflüssen zu befreien gesucht, die Gemälde wurden vom theologischen Purismus aus den Kirchen verbannt, die Kunst wurde als eine Feindin der Wahrheit dargestellt; der Sinn für Poesie erstreckt sich bei der großen Masse nicht weiter, als auf das Gesangbuch und einige Gassenhauer: der Dichter kann nur auf die Theilnahme der Gebildeten rechnen, so wie nur auf die Ueberbildeten, welche für alles Künstlerische schon die Illusion verloren haben, und mit Bildung weit weniger deßhalb ausgestattet zu seyn scheinen, um loben, als um tadeln zu können. Die Begeisterung für die Kunst will jezt motivirt seyn; sie ist Begleiterin des Studiums und die, welche sie nicht studirt haben, scheuen sich, ein natürliches Urtheil über sie zu fällen. Wo aber kein Muth zum Urtheil ist, da wird das Schönste nicht verstanden und nicht selten jenen arroganten Advokaten der Kunstkritik überlassen, die in ihrem Geschmack so viel Nüanzen haben, daß sie das Häßliche für pikanter als das Schöne halten. Und in der That, haben wir nicht gerade die Karrikatur mit in die Kunst eingeführt, die Satyre und den Witz in die Dichtkunst, die Malerei und die Frivolität in die Musik, den Kupferstich und die Lithographie mit ihren leichtsinningen Produktionen in die zeichnenden Künste? Ist nicht das kritische Urtheil unsrer Zeitgenossen in sich gebrochen und oft geneigt, die Wirkungen zum Lachen, denen zu Thränen bei Weitem vorzuziehen? Dieser Mangel an Geschmack bestimmt jene Reichen, in deren Hände das Gedeihen der Kunst zu allen Zeiten gelegt war, die künstlerische Verschönerung ihres Daseyns weit mehr in den goldnen Rahmen der Gemälde zu sehen, als in diesen selbst. Wenn ein Rothschild sich eine Villa anlegt, so wird er auf die Vergoldung der Thüren und Wandleisten so viel verwenden, als er brauchte, um einige Säle der Villa mit Freskobildern zu schmücken. Und nun vollends die Dichtkunst! Sie fiel so sehr im Preise, daß alle Welt sich mit ihr versucht. Die Dichtkunst, gerade die schwerste von Allen, wurde als die leichteste verstanden; die ganze Technik bestünde ja in nichts, als im Führen des Federkiels und im Sylbenabzählen an den Fingern! Die Dichtkunst, statt gesucht zu seyn, wird gefürchtet. Wenn irgend eine menschliche höhere Thätigkeit aus ihren Fugen gedrängt ist, so ist sie es, seitdem die politischen Fragen alle übrigen überragten und die Gemüther nur von Haß und Parteiwesen beherrscht wurden. Endlich die Industrie, die Runkelrübe, der Dampf, das Erstaunen über die Konstruktion der Maschinen -- sind das für die Kunst willkommne Geschwister? Zahllose läugnen es durch die That; sie fallen eher vor einem Dampfkessel nieder mit Stempeln und Sicherheitsventilen, als vor einem Gemälde von Raphael. Der Zeitgeist läßt sich nicht wie eine Uhr rück- oder vorwärts stellen. Der herrschende Materialismus, wird er nicht aus dem Sinne für das Nützlichste, sondern leider schon für das Nothwendige herzuleiten seyn? Wir haben die Schwierigkeiten der Existenz schon geschildert und wollen nicht ungerecht seyn gegen die, welche mit ihnen kämpfen müssen. Wenn unsere politisch-socialen Verhältnisse Schuld an jenen Schwierigkeiten sind, wenn die Fürsten der Gesammtausdruck jenes lastenden Status quo sind, welcher die Menschheit zwingt, sich mit Gewalt an die Materie zu klammern, dann sollten diese auch bedenken, daß sie zuerst berufen sind, gegen die Kunst eine Schuld gut zu machen. Doch gibt es nur ihrer wenige, welche vom Gewissen gedrängt werden und thun, was ihre Pflicht ist.
Hieraus ergibt sich, daß die Kunst in unsrer Zeit nichts Unmittelbares, sondern nur noch ein Vermitteltes ist. Nichts kommt ihr entgegen; was sie braucht, muß sie suchen; Luft und Leben, so wie es der Tag ihr bietet, muß sie erst von der Ansteckung des Momentes reinigen und so raffinirt an sich heranbringen, wie das Oel geläutert ist, welches der Maler zu seinen Farben braucht. Wer ein ächter Kunstjünger in unsrer Zeit seyn will, muß aus dem Geräusch der Welt entfliehen, die Einsamkeit suchen und sich lieber mit den Thieren des Waldes befreunden, als mit den Menschen. So wie der Tag uns die Situationen der Menschen bietet, können wir sie als Künstler nicht brauchen, sondern da sind Prosa und Langeweile in ganzen Massen auszuscheiden, bis wir das Wenige finden, was uns die Zeit als Stoff darbietet; oder das exzentrische Verfahren, welches aller modernen Kunst schon eigenthümlich geworden ist, nimmt so sehr überhand, daß wir wohl gar die ganze Prosa des gegenwärtigen Daseyns ergreifen und sie mit jenen grellen Schlaglichtern wiedergeben, welche der Charakter der neuern französischen Romantik wurden. Ja, man kann als Künstler zu den Zeitgenossen wieder zurückkehren, man kann selbst in den gedrückten und beängsteten Zuständen, von welchen sie gefoltert werden, hier und da ein wenig Erde abschaufeln, um Poesie zu entdecken, aber ausgehen kann man von dieser Zeit nicht. Man muß in der Einsamkeit gelebt haben, man mußte seine Umgebung einmal wenigstens geflohen seyn. Wer den Wald, die Nacht nicht kennt, wird nie ein Dichter werden; wer sich in den Geist des medizeischen Zeitalters nicht vertiefte und sich mit den Blüthen der ehemaligen Malerklassizität einschloß, wer nicht einen alten, aus der Erde gegrabenen Rumpf studirte und sich einen Unteroffizier kommen läßt, um nicht seine Uniform, seine Exerzitien, sondern seinen kräftigen Muskelbau zu studiren, der wird kein Maler und Bildner werden. Und selbst jene ganz mittelpunktlos gewordne Kunst, die Architektur, längst bestimmt, nur noch Schornsteine und möglichst rauchlose Kamine zu bauen, wir werden hören, daß sie seufzt und griechische und gothische Tempel nur in Rissen auf dem Papiere zaubert.
Daß die Kunst etwas Vermitteltes ist, ergibt sich namentlich aus ihrem Verhältniß zu Irrthum und Wahrheit; man kann wohl sagen, daß in unsrer Zeit die besten Künstler durch Irrthümer erzogen sind. Das Genie, will es sich bewähren, muß es sich von der Welt lossagen; es steht im Widerspruch mit der herrschenden Ordnung. Es verweigert den herrschenden Thatsachen, den allgemein gültigen Ueberzeugungen den Gehorsam und stellt allem, was da ist, aus eigner Schöpferkraft ein Gegenbild gegenüber.
So verloren sich die Künstler in entfernte Zeiten, in entfernte Gedankenreihen. Das Wunderbare und das Wunderliche reizen sie mehr als das Natürliche und das Natur gemäße. Wir haben, da ohne Zweifel seit fünfzig Jahren die bildende und die Redekunst einen großartigen Aufschwung erfuhren, die sonderbarsten Theorien den herrlichsten Bestrebungen beigemischt gefunden. Damit der Zuckerstoff der Phantasie sich läuterte, mußte Ochsenblut und Potasche von hie und da aufgerafften Irrthümern hinzugethan werden. Die schönsten religiösen Gemälde ließen eine vertrocknete Blüthenkapsel von Pietismus zurück. Die Dichtungen eines Byron waren der bunte Schaum über Gährungen, auf deren Boden wilde und rohe Leidenschaften lagen. Seitdem man an das Ideal nicht mehr unmittelbar sich hingeben kann, wie es alte Zeiten konnten, wurde das Schöne durch das Häßliche, die Wahrheit durch die Lüge vermittelt. Daher kömmt es, daß all unsre moderne Kunst einen speziellen Accent hat und daß Bildung dazu gehört, um in ihrer Isolirung ihre Tiefe und ihr Wesen zu erkennen.
Es ist zunächst das Studium, welches durch die Schöpfungen der neuen Kunst lebhafter hindurchblickt, als bei den Alten. Der Geist der Verneinung begleitet die phantastischen Eingebungen der Künstler, der kritische Verstand steht hinter der Leinwand und horcht oder drückt sich bei einem Gedichte wenigstens in der Titelüberschrift schon aus. Die lange Geschichte der Kunst mit ihren außerordentlichen Denkmälern tritt der Bescheidenheit des modernen Künstlers mit majestätischem Uebergewicht gegenüber. Man kennt die Tempel Griechenlands und ihre Götterbilder, die Gemälde Raphaels und jene lange Reihe von dichterischen Erzeugnissen, die im Ruf der Klassizität stehen. Hier nun etwas Neues zu schaffen, das Alte zu übertreffen oder wenigstens zu erreichen, dem Marmor ein neues Lächeln, dem Tone Thränen und dem Worte die Mischung beider abzugewinnen, das ist ein hochgespanntes Seil, welches die in der Rennbahn Kämpfenden gleich beim ersten Anlauf überspringen müssen. Sie müssen, um Vertrauen zu sich selbst zu fassen, sich klar werden, zunächst über die Erleichterungen, welche den alten Künstlern von der Sitte der Zeit geboten wurden, über die Rückwände von Ideen und Anschauungen, an welche sie sich lehnen durften, über den Geist der Zeiten, der in ihnen oft überwiegend der geheimnißvolle Werkmeister war. Ja, um die Größe der Alten zu fassen, müssen die Neuern noch weiter gehen. Sie müssen die alten Kunstwerke mit Linien und Zirkeln bemalen. Sie müssen an ihnen Längen und Kürzen messen. Sie müssen sich zu ihrer Beruhigung eingestehen, daß hie und da etwas verfehlt ist, daß wir in diesem oder jenem, was die Anatomie oder die Technik anlangt, bessere Fortschritte gemacht haben. So hört die große Vergangenheit auf, nur noch ein Gegenstand der Bewunderung zu seyn; sie wird ein breites, übersichtliches Feld, das wir in die Länge und Breite, Höhe und Tiefe ausmessen und wo wir von den einzelnen Beeten und Pflanzen Samen erzielen, zu unserer eigenen Befruchtung. Diese Stellung des heutigen Künstlers muß natürlich eine weit größere Reflexion voraussetzen, als sie vielleicht die Alten hatten. Dem unmittelbaren Momente werden die Neuern noch immer mißtrauen müssen, sie werden, noch ehe das Kunstwerk geschaffen, schon seine Wirkung prüfen, sie werden endlich den Thon, aus welchem sie bilden wollen, mit zahllosen Rücksichten befeuchten und somit nur Vermitteltes schaffen müssen. Diese kritische Richtung ergreift die Kunst zu Zeiten mehr oder weniger, auch ergreift sie die verschiedenen Künste nicht zu gleicher Zeit, sondern sie wechselt mit einer und der andern ab. Im vorigen Jahrhundert war es besonders die Musik, der man ansah, daß in ihr die Theorie eine Menge Bedenklichkeiten schuf, wie sie, selbst bei genialen Meistern, die anfluthenden Tonmassen bewältigen sollen. Dann verloren sich die bildenden Künste in die Unnatur der Reifrocksperiode und scheiterten an der sprichwörtlich gewordenen Geschmacklosigkeit des damaligen gesellschaftlichen Lebens, an dem Pedantismus formeller Theorien. Mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts feierten die schönen Künste eine Auferstehung. Es war das Studium der Antike, welches zunächst wieder den Sinn für die Natur weckte. Von den wenigen Mustern wurden die ewigen Regeln abgezogen, alle überlieferten Handgriffe der zunächst entschlafnen Periode wurden als unbrauchbar verworfen. Eine neue Welt ging den Malern, Bildhauern und Architekten auf. Seither haben sich nun in diesem Gebiete die Manieren überjagt, je nachdem verschiedene Stufen der alten Kunstgeschichte wieder erklommen wurden. Jezt scheint sich der Geschmack wohl wieder nach bestimmten Regeln festgesezt zu haben, aber ohne Studium, ohne kritische Prüfung werden wir eben so wenig heute noch etwas Tüchtiges entstehen sehen, als es gewissen neuen heiligen Malern nicht gelingen wollte, durch Gebet jene Madonnen zu zaubern, welche Raphael mit dem Pinsel malte. Die Dichtkunst endlich, so eng verschwistert mit dem uns wohlbekannten zerrissnen Charakter des Zeitgeistes, mußte alle Leiden und Verbrechen desselben theilen, mußte so mittelpunktlos seyn, wie dieser, mußte so träumen, so irren, sich so verflachen, wie er. Von fast allen neuern Literaturen müssen wir eingestehen, daß sie aus der Verneinung entsprangen und ihre Befriedigung gerade in der unbefriedigten Sehnsucht suchten.
Von der abgesonderten Stellung der Kunst sprachen wir schon. Wir verstanden darunter zwar zunächst nur ihre bürgerliche Stellung. Allein ihr Inhalt selbst hat etwas Fremdartiges und sticht mit Lebhaftigkeit gegen die Tagesordnung ab. Die Baukunst schafft uns Tempel und Paläste, die wir so wenig verstehen, daß wir Thoren uns sogar beklagen, wie die Architektur nicht im Stande wäre, aus unserm bürgerlichen Charakter einen neuen großartigen Baugeschmack zu erfinden! Die Dichter und Maler entzünden sich an Ideen, welche den Begriffen der Masse nicht gegenwärtig sind, und die deßhalb, weil sie schon von der Voraussetzung ausgehen, daß sie ja isolirt seyn müßten, oft auf die wunderlichsten und entlegensten Gedankenverbindungen verfallen. Der Zeitgeist hat sich namentlich dieser Besonderheit des Kunsttreibens widersezt und an Dichter, Maler, ja sogar Musiker die Anforderung gemacht, daß sie sich mit den Bestrebungen der Zeit verbinden möchten und ihren Schöpfungen Tendenzen unterlegten. Gerade diese, von einer leidenschaftlichen Kritik gestellte, von der Masse bereitwillig zugegebene und von einigen Künstlern hie und da erfüllte Bedingung gibt der heutigen Kunst gegen frühere Epochen ein ganz verändertes Ansehn. Dasjenige, was wir andern mit dem Schwerte oder der geschwätzigen Zunge ausfechten, sollen die Musiker mit dem Tone, die Dichter mit dem Worte, die Maler mit der Farbe mit ausfechten. Die Kunst soll Partei nehmen, wie die Ueberzeugung. Sie soll keinen beliebigen Charakter haben, sondern einen, den ihr die Zeitumstände aufdrängen. Wenn wir in der That einen eigenthümlichen Charakter an unserer neuern Kunst unterscheiden wollen, so wird er auch zum großen Theile in dieser leidenschaftlichen Antheilnahme an den Debatten des Tages bestehen. Glücklich der entschlossene Künstler, der in seinem Eifer keinen Fehlgriff thut und in diesem Falle aus der Tagsdebatte immer die Jahrhundertsfrage herausfühlt! Es sollen diejenigen gar nicht getadelt werden, welche vom Künstler verlangen, daß er aus der Zeit und für die Zeit schaffe. Nur haben wir leider oft genug das Extrem erfahren müssen, daß sich diese Prinzipien verflachten, daß sie sich dem Unvermögen anbequemten und das Talentlose entschuldigten, wenn es sich nur mit der Verherrlichung irgend eines Schibolets der Parteien beschäftigte. Wie es denn genug schlechte Sänger gibt, die nur deßhalb von den Gallerien beklatscht werden, weil sie sich zuweilen in die Wirthshäuser begeben, dort singen und sich für die gemeinen Leute gemein machen.
Vielleicht ist es nach diesen Vorausbemerkungen möglich, jezt einige Charaktere aus der heutigen Kunstwelt aufzustellen. Da sehe ich einen jungen Mann in einem schwarzen Sammtrock und weißem Kragen darüber mit langen Haaren und altdeutschem Barett. Es ist ein Maler. Du lieber Gott, hör ich rings herum flüstern, will der junge Mann Hungers sterben? Was kann aus einem so kindischen Kopf geboren werden, das Anspruch auf unsre Theilnahme hätte? Welche Kunstoffenbarungen können in dem Hirn eines jungen Mannes aufgehen, der das Idealische zunächst in einem schwarzen Sammtrock sieht! Allein, was wollen wir thun? Wir werden bei allen Malern, wenigstens in ihrer ersten Jugend, eine solche Mischung von Abschließung und Selbstauszeichnung finden. Sie bilden unter einander ein eigenes Volk, das seinen eignen Jargon hat; sie haben ihre eigenen Zusammenkünfte, sie versammeln sich um Meister, welche eigene Schulen stiften, sie leben mehr in Italien, als in England und Deutschland. Die Maler sind, seitdem auf den Universitäten ein patenter Ton eingeführt ist, die artistischen Studenten geworden. Es gibt deren nicht wenige, welche ihre Kunst weit mehr besingen, als sie üben; sie trinken auf das Wohlergehen derselben, ohne daß es mit ihren Arbeiten besser ginge. Um hievon eine vollständige Idee zu haben, muß man sich die Malerkreise in Rom vergegenwärtigen, in Deutschland die Kunstschulen in München und Düsseldorf, in Paris jene artistischen Häuser, wo im untersten Geschoß ein Kunsthändler wohnt, und der im übrigen Hause seine Maler, Kupferstecher, Lithographen, seine Karrikaturen- und Chargenzeichner vertheilt hat. Das Leben aller dieser Leute hat viel poetischen Reiz. Die der Kunst durchaus nicht entschieden abgewandte Stimmung unsrer Zeit gibt ihnen die Mittel, sich in bester Laune zu erhalten, sie fühlen sich so heiter, frei und einig, daß sie für ihre Zusammenkünfte sogar eigene Liederbücher haben. Diese Maler können von Niemand so sehr beneidet werden, wie von den Dichtern: denn denkt euch nur, ihr jungen Poeten, wenn ihr so glücklich wäret, und könntet in zwanglosen Akademien zusammenleben, könntet zwanzig, dreißig Mann stark in einem Nachen auf dem Rhein fahren oder Arm in Arm durch das bayrische Tyrol wandern, wie glücklich wäret ihr, wenn ihr nicht etwa auf eure eigene Hand (denn da könnt ihr es wohl), sondern als Glied einer großen, zu einem Ziele gefugten Kette über Berge und Thäler streiftet, in jeder schönen Landschaft euer Portefeuille ergriffet und endlich gewiß wäret, in jeder Stadt, die auf eurem Wege liegt, nicht blos ein einzelnes Kämmerchen im schlechtesten Gasthofe der Vorstadt anzutreffen, sondern einen geschlossnen Bund von Freunden, eine Herberge des Handwerks! Den Malern ist es in der That gelungen, sich mitten in unsrer, den Eisenbahnen und dem Dampf gewidmeten Zeit, mitten im Geschacher des Börsenspiels und der Metaphysik der Runkelrübe einen eigenen griechischen Himmel zu erhalten, die bunten Konturen eines medizeischen Zeitalters und eine poetische Anomalie, die ihnen noch dazu als billig und gerecht von der Prosa eingeräumt wird. Die Bildhauer theilen nur zur Hälfte diese glückliche Stellung. Denn wenn die Verdienste der Menschen abnehmen, kann ihr Verdienst nicht zunehmen. Die großen Männer unserer Zeit, die großen Banquiers und Fabrikanten, die Louis Philipps und Kasimir Perriers sind für die Plastik nicht geschaffen. Hier und da bettelt man ein Denkmal für einen großen Dichter zusammen, für den Erfinder der Buchdruckerkunst, für Andreas Hofer; sonst sind sie angewiesen, nur Todtenmasken abzudrücken, Genien mit umgestürzter Fackel für Grabmäler zu meißeln, Grabesaufsätze, wo die Parzen spinnen. Das ist ein betrübtes Gewerb. Noch weiter ab vom Glück der Maler stehen die Architekten, denn diese sind weit weniger mit Pantheen und Amphitheatern beschäftigt, als mit Kanal- und Chausseebauten. Unsere Architekten sind glücklich, irgendwo als Landbauwegemeister angestellt zu werden.
Musiker werden geboren und erzogen. Jene begleiten ihren Vater, der ein guter Dorffiedler ist, in die Schenke und machen so große Fortschritte, daß man ihnen den Weg zur höchsten Ausbildung frei geben muß; diese zeigten früh ein hübsches Talent zum Fingersetzen beim Klaviere und steigen von den Instrumenten allmälig zum Contrapunkt. Musik ist vielleicht diejenige Kunst, welche der wenigsten Vorarbeiten bedarf. Trifft man hier nicht die höchste Fertigkeit bei Ungebildeten an? Selbst Komponisten gibt es, die die schönsten Notensätze, aber keinen richtigen Satz in einem Briefe schreiben. Keine Kunst isolirt sich so sehr, als die Musik. Die Musiker haben die Wirkung ihres Talentes immer gleich in der Nähe und sind an unbedingten Tadel nicht gewöhnt, da ein Theil von Beifall doch immer gespendet wird, wenn auch nur dem Instrument, das so schön klingt, und den Noten, die doch immer einen harmonischen Zusammenhang haben. Unter den Weibern sind vielleicht die Sängerinnen theilweise die ungeschlachtesten. Sie reiten und fahren, sie trinken Bier und reißen Zoten. Ihre Stimme ist himmlisch, ihre Bildung höllisch. Jedenfalls liegt diese Rohheit der Musiker in der außerordentlichen Anstrengung, welche zu tüchtigen musikalischen Leistungen heute erfordert wird. Keine Kunst nimmt die unermüdliche Hingebung ihres Schülers so sehr in Anspruch. Man muß von Kindheit auf für sein Instrument ausschließlich erzogen seyn; da bleibt keine andere Erholung übrig, als die einer allgemeinen Abspannung der geistigen Kräfte. Wer an der einseitigen Ausbildung für ein Instrument verzweifelt, flüchtet sich zulezt zur Komposition. Die Komponisten bewegen sich entweder im reinen Gebiete des Tons, indem sie Quartette oder Concerte schreiben, aber sie müssen sich an die Dichtung anlehnen, wo ihre Sorge nur darin besteht, gute Texte zu haben. Gut nennen sie aber keineswegs das, was klassisch ist, sondern jene vaguen und flachen Worte, die gewöhnlich und gemein genug sind, um die Notensäcke auf ihren Taglöhnerschultern zu tragen. Ich würde ein großer Komponist seyn, pflegt mancher Musiker zu sagen; hätt' ich nur einen guten Operntext! Wollte Shakespeare oder Göthe ihm einen schreiben, das würde seinen Wunsch kaum befriedigen. Die Dichtung muß gerade so lose und halb seyn, daß der Komponist ihr die Einheit und Abrundung geben kann. Die Sucht nach dramatisch-wirksamen Stoffen greift so um sich, daß man angefangen hat, möglichst jeden von der Dichtkunst schon benuzten Stoff in die Oper zu bringen. Aus dem heisern Othello des Shakespeare ist ein zärtlich-milder Tenorist bei Rossini geworden. Wilhelm Tell, von Schiller, singt keine Alpenjodler mehr, sondern Cavatinen und Recitative. Alle Revolutionen der Geschichte werden in der Oper abgesungen. Julius Cäsar, Catilina, Masaniello, Kosciusco wiegeln die Völker mit Trillern und Cadenzen auf. Möchte nur die Kunst dabei so gute Fortschritte machen, als, bei Kindern und Frauen wenigstens, hiedurch gewissermaßen die Kenntniß der Geschichte.
Kommen wir jezt auf die Dichter, so möge hier der Grundriß einer episch-dramatischen Dichtung stehen, wie ich mir den individuellen Gehalt der modernen Poesie entwickeln zu können vorstelle. Es ist nicht nöthig, daß man zuerst Naturdichter sey, um später so zerrissen zu dichten, wie Byron; nur möcht ich, um in fünf verschiedenen Akten fünf verschiedene Stufen der neuern Poesie zu bezeichnen, mir allerdings den Widerspruch erlauben, als wenn ein Mann, der wie Byron endete, wie Hans Sachs hätte anfangen können. Genug, suchen wir den Helden dieses didaktischen Stücks zuerst auf dem Dreibein einer Schusterwerkstatt. Die großen, mit Wasser gefüllten Glaskugeln müssen von einem einzigen Lichte für den Meister, drei Gesellen und den Lehrburschen, den Schimmer auffangen; Martin, der Lehrbursche, sey unser junger grübelnder Held, dessen Verherrlichung ich im Kopf schon manchen Vers gewidmet. Der Meister aber, ein roher Gesell, beginnt das Stück mit folgender Strophe:
»Ein frommer Schuster nie begehrt,
Daß in der Welt sich was verkehrt;
Denn geht die Menschheit auf der Kapp,
So reißt sie keine Stiefeln ab.«
Martin jedoch muß theils ohne, theils mit Grund mißhandelt werden; denn wie sollt ich den Gegensatz seines poetischen Gemüths gegen die Prosa, die ihn noch umgibt, zu Worte kommen lassen? Mit dem Knieriem oder was sonst dem Meister nah liegt, und von den Gesellen mißhandelt, läuft er in seine Dachkammer hinauf und schüttet seinen Schmerz in Thränen aus. Er öffnet das Fenster. Es ist heller Mondschein. Er sieht nichts als Häuser, Dächer, Kirchthürme, Katzen und Marder, die auf ihnen spazieren gehen. Um es recht natürlich zu machen, muß auch ein großer Topf Hauslauf dicht an seinem Fenster wachsen. Jezt entdecken wir, daß Martin in einem Winkel eine Guitarre versteckt hat. Er muß uns einige seiner Lieder vortragen, in welchen Gottvertrauen, Hingebung und die großen Tugenden der Freundschaft und Liebe ganz mit jenen erhabenen Worten gefeiert werden, wie wir vom vorigen Jahrhundert die Dichtkunst überkommen haben. Der Schwung muß odenartig, die Begeisterung dithyrambisch seyn. Sanfter Friede liegt auf diesen Eingebungen, Gott und die Sterne bilden den Vor- und Hintergrund derselben. Da klopft es an seine Thür und Gretchen tritt herein, die Meisterstochter, Drohungen zwar vom Vater noch bringend, sie aber durch Trost und liebevollen Zuspruch mildernd. Martin, von Scham über seine Lage ergriffen, den Unterschied zwischen der Guitarre und ein Paar zugeschnittnen Stiefeln bedenkend, hingerissen von dem Gott, der in ihm wohnt, ruft aus: »Auch ich bin ein Maler,« und rüstet sich zur heimlichen Flucht. Gretchen widerspricht ihm nicht, nimmt aber das Gelübde ewiger Liebe von ihm, hilft ihm weinend und verzweifelnd seine sieben Sachen packen, und zur Stunde, wo alles schläft, schleicht er mit einem Bündel, seiner Guitarre und einigen Büchern aus dem Haus und der Stadt davon.
Im zweiten Gemälde erblicken wir den jungen Flüchtling auf freiem Felde. Lerchen durchwirbeln den schönsten Sonntagsmorgen. Alles eilt aus benachbarten Dörfern und Höfen in die kleine Kirche dort im Thale, nur der Jäger geht seinen eigenen Weg zum Walde hinüber. Martin muß uns das Alles in abgerundeten Naturbildern wiedersagen. Seine Dichtkunst hat das allgemeine Gebiet frommer und dämmernder Träume verlassen. Am unmittelbaren Leben der Natur singt er sich in einen neuen Ton hinein. Doch fehlt ihm Geld, wie soll er's verdienen? Er entschließt sich, als Deklamator aufzutreten, wo es nur sey, im nächsten Wirthshaus, wo er nur ein paar müßige Spieler oder Trinker antreffen wird. Es wird ihm schwer, mit seiner Poesie zu betteln. Es dauert noch bis zum Schluß der Kirche, bis er ins Wirthshaus tritt. Da begegnet ihm rund um einen Tisch herum die leibhafte Prosa; Verwalter und Oekonomen spielen Schafskopf. Martin wäre schon froh, dürfte er nur einmal aus ihren gefüllten Gläsern mittrinken. Zitternd legt er sein Bündel in einen Winkel, nimmt die Guitarre und schleicht sich leise näher zum Tisch der Gäste. Er schlägt sich einige Akkorde an und trägt dann in singender Monotonie das Beste vor, was er kann: »Freude war in Troja's Hallen,« oder etwas Aehnliches. Aber man läßt ihn nicht zu Ende; eine solche Störung bringt die Spieler aus dem Zusammenhang, man weist ihn zur Ruh. Thränen im Aug muß er in irgend einen Winkel sein sorgenschweres Haupt auf die Hand stützen. Seine Meisterschaft auf der Guitarre war noch nicht weit her. Er wußte nicht, woher er Nahrung nehmen sollte. Dies ist der Punkt, bis zu welchem man gekommen seyn muß, wenn man eine neue Lebensrichtung erhalten will. Für einen Zwiespalt mit sich und der Welt sind alle Voraussetzungen gegeben, und deßhalb sehen wir denn auch, daß jener grüne Jägersmann, der lieber in den Wald als in die Kirche ging, zu unserm Dichter herantritt und den Höllenbrand der Zwietracht in ihn hineinwirft. Doch legt er nur ruhig das Pulver auf die Pfanne. Das Losdrücken überläßt er späterer Zeit. Wer Martin war und was ihm fehlte, hatte der wilde Jäger, der zu ihm herantrat, bald erkundschaftet; er gab ihm einen guten Rath, nämlich den, sich an einen reichen Kaufmann anzuschließen, dessen Familie so eben im Wirthshause abgestiegen wäre und von der Stadt in eine Sommerwohnung auf dem Lande zöge. Martin mußte mehr vorstellen, als er war, er mußte ein Kandidat seyn, der eine Pfarre sucht und einstweilen auch mit einer Hauslehrerstelle vorlieb nehme. Die erste Lüge war da, ein Riß von oben bis unten; Martin stieg in die Bresche seines Gewissens ein, gefiel der Dame, die ihn sogleich engagirte, und schauderte, wie sich der Jäger im Davonfahren eines satanischen Blickes nicht enthalten konnte, ja sich fast in ein Dunstgebild, wo durch den Nebel einige graue, grüne und rothe Farben durchschimmerten, auflöste. Wer weiß, ob er nicht dem Satan selbst seine Beförderung verdankt.
Im dritten Akte zeigt sich uns ein kleines Belriguardo, mit viel Liebesintrigue, junger und alter Buhlerei und einer diesen Motiven entsprechenden dritten Stufe der Poesie. Noch wird die Natur gefeiert, aber weniger ihr Frieden, als ihre gährenden Elemente. Von Nelken und Rosen wird mehr gesprochen, wie von Veilchen und Kornblumen. Alles Brennende und Ueppige in der Natur wird dem Einfachen und Bescheidenen vorgezogen. Auch die Empfindungen sind nicht mehr mit dem fächelnden West zu vergleichen, sondern, wenn auch noch nicht der giftige Hauch des Sirokko in ihnen weht, so werden sie doch von einem starken, glühenden Athem geschwellt. Die Langeweile des Sommeraufenthalts schafft eine Menge Intriguen, die nur der Unterhaltung wegen erfunden werden; auch erhalten unseres Martins Gedichte davon wenigstens eine formelle Frivolität, indem sie nicht selten ohne Veranlassung geboren werden, oder wie das Spiel Joujou sich an sich selber aufrollen. Die Dichterkraft geht aus dem Herzen in den Kopf und die Schreibfinger, sie legt sich, wenn nicht mit massiven Midashänden, doch wie Goldschaum an Alles, was sie berührt; jede Situation kann in Verse gebracht, jeder Scherz und Schmerz besungen werden. Martin lebt hier in diesen gefährlichen Uebermuth sich hinein, der uns ergreift, wenn man Muße hat, viel Studien in sich aufzunehmen, seinem Genius zu leben und von materiellen Sorgen verschont bleibt. Besuche geben Feste, die Feste dichterische Ausschmückungen, der Vers wird der Dekorateur und Kostümier der Gelegenheit; ja die Gelegenheit wird zulezt so günstig, daß sie der junge Dichter wahrnimmt und mit Elviren, seiner jüngsten Schülerin, auf und davon geht.
Nun, Martin, der vierte Akt beginnt; jezt bist du im Zuge jener exzentrischen Staffagen, welche die modernen Dichter brauchen, um den Charakter der Zerrissenheit wenigstens mit einiger Wahrheit durchzuführen! Das Gewühl einer Hauptstadt sichert dich vor der Verfolgung; du bist zwar bekannt, gedruckt sogar und von kritischen Blättern als eine interessante Erscheinung des Tages begrüßt; allein es gelingt dir, dich und Elviren unkenntlich zu machen. Leben mußt du zunächst, du mußt von deinem Talente Vortheile ziehen; du suchst Verbindung in der literarischen Welt, findest sie, und treibst nun bald mit Sturm, bald mit Sonnenschein auf dem Meere der Oeffentlichkeit umher. Welch' eine Dichtung kömmt nun zur Reife! Das Zarteste verschwistert sich mit dem Wildesten; die Lilie, die so lange die Unschuld bedeutete, erkennt jezt die üppige Sinnlichkeit der Symbole, welche in ihrem Kelche schlummern; die Gedanken fliegen zwar beschwingt, aber auch spitz und widerhackig, wie Pfeile. Die Prosa wird als satyrischer Contrast der Poesie gegenüber gestellt, und die Poesie ist längst selbst schon ein Surrogat geworden; Gedichte sind nun Epigramme, spitze Pointen werden die Zielpunkte, für welche der Dichter mit Leichtigkeit Mondschein, Sternennächte, Feengrüße und Waldeinsamkeiten koulissenartig zusammenstellen kann. Jezt haben wir die Poesie auf dem Höhepunkt der Zerrissenheit. Die Sonne, die sonst für Gott zeugte, zeugt jezt gegen ihn. Liebe und Freundschaft, die sonst auf den Himmel wiesen, geben jezt der Erde Trotz gegen den Himmel. Die Titanen empören sich aufs Neue, nur daß es Schulden sind und Mißgunst und Verfolgung und der leberfressende Prometheuszweifel, der die Empörung schürt. Martin leidet entsetzlich; Elvire hat ihn verlassen; sie hing sich an Andere, die sie weniger vernachläßigten, als ihr Geliebter. Er zersplittert sich an der Journalistik, er wird ein Opfer literarischer Industrie, gute Erfolge machen ihn übermüthig, schlechte trotzig; seine Werke verwandeln sich in Pasquille. In den Mauern eines Gefängnisses erst wird er zur Besinnung kommen.
Der fünfte Akt zeigt ihn uns auf dem Krankenbette; Eisenstäbe vergittern sein Fenster, Schlösser rasseln, ehe man drei Thüren durchschreitet, durch die man erst zu ihm gelangen kann. Da liegt nun der hohe und kühne Geist, matt und elend ausgestreckt; alle zarten Blumen seiner Empfindungen sind geknickt, und in die Zeder seines Stolzes fuhr der Blitz, den die Welt mit Gewalt in sie schleuderte. Nun lastet wie ein Alp die Erinnerung einer reichen Lebenserfahrung auf ihm. Wie viel Schönes wurde nicht erschaffen und wie viel Häßliches verdrängte es! Da sind Rosen und stinkende Todtenblumen in einander gewunden oder festgehalten von ausgebleichten und leeren Gedanken, gleich Strohhalmen; da hat die Leidenschaft mit dem Genie gerungen und zwar den Totaleffekt eines reichen und innerlichst poetischen Lebens geschaffen, aber mit wie vielen Flecken für die Sonne des Dichterruhms, mit wie vielem Schmerz für den Leidenden selbst, der mit seiner Schwäche, mit dem Tode ringt! Jezt nahen sich freilich die guten Boten seines erzürnten Genius wieder; sie trösten ihn, sprechen ihm Muth zu und sagen die Rückkehr ihres Meisters an. Und der Genius kommt wieder, eingehüllt in Gedanken, die sich vor dem Auge des Sterbenden zu beruhigten Gedichten verklären; eine wiedergeborne neue Poesie zittert auf seiner Zunge; er ahnt, daß eine Zeit des Glaubens und der heiligen Gefühle, eine Zeit der beruhigten klassischen Schönheit wieder anbrechen müsse. Elvire, der Materialismus, die Ironie, der Zweifel des Zeitalters sind vergessen und der Genius einer verklärten Dichtung drückt, in Gestalt der an das Lager geflohenen ersten Jugendliebe, dem Entschlummernden die Augen zu. --
Geben wir nun den allgemeinen Charakter der verschiedenen Künste in unserer Epoche an! Von den Schwierigkeiten, die der Entfaltung einer derselben entgegenstehen, sprachen wir schon oben. Die Architektur hat aufgehört, als eine Kunstentfaltung mit der Culturhöhe der Zeit gleichzustehen. Wenn bei Griechen und Altdeutschen die religiösen Empfindungen sich verbauten, so wohnet uns die Gottheit nicht mehr in Tempeln, von Menschenhänden gemacht. Unser überschweifender Sinn kann an Oertlichkeiten nicht mehr gefesselt werden. Die Schnelligkeit, mit der wir den Raum überwinden, macht uns den durch die Form der Erhabenheit gefesselten Raum gleichgültig. Der neue Baugeschmack ist eklektisch. Nach Außen sehen wir wohl die korinthische Säulenreihe, aber nach Innen sind unsere Prachtgebäude holländisch bequem eingerichtet, mit Luftheizung und rauchlosen Schornsteinen. Großartige Gebäude wurden in neuerer Zeit errichtet, Invalidenhäuser, Lazarethe, Deputirtenkammern. Erhabenheit und Pracht werden hier vermieden. Nur eine gefällige Schönheit wird erzielt und in möglichster Nachahmung des griechischen Baustyls gefunden. Keine Kunst ist jedoch weiter von der Aesthetik abgerückt, als die Architektur. Denn da der Paläste und Kirchen nicht viel gebaut werden, so mußten sich die Baukünstler schon des gewöhnlichen Häuserbaus bemächtigen. In einigen Dingen sind sie hier den Maurermeistern überlegen; sonst aber genöthigt, um leben zu können, mit ihnen sich in eine Kategorie zu stellen.
Obgleich an die Stelle der alten Götter im Katholizismus die Heiligen traten, so gewann dabei doch die Bildhauerkunst Nichts, sondern nur die Malerei. Sie hat sich jedoch mehr in Ehren gehalten, als die Architektur, und blieb trotz ihres Zurückkommens doch immer noch im Zusammenhange mit den wandelbaren Kunsttheorien, wie sie in verschiedenen Epochen aufgestellt wurden. Im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts litt sie an der Geschmacklosigkeit des Zeitalters, an der Unschönheit der Tracht und der konventionellen Gezwungenheit des damaligen Benehmens. Wir begegnen den damals gemeißelten Bildsäulen noch auf den Treppen vieler Paläste, in vielen Grotten fürstlicher Parks, in Windsor und Versailles. Die Schenkel sind zu schmächtig, der Hals und die Arme zu dünn; man glaubt die Menschen der damaligen Zeit zu sehen, die nur zufällig ihre Kleider abgeworfen haben und die sich, um sich zu baden, nackt auszogen. Diese zerbrechliche Götter- und Heroenwelt blieb das ganze Jahrhundert hindurch Typus der plastischen Schönheit, bis das Studium der Antike den Sinn für natürliche und markige Schönheit wieder weckte und mit Canova eine neue Blüthe dieser Kunst anbrach. Wunderlich ist, daß man damals allgemein zu der Ueberzeugung kam, wie in der Bildhauerkunst und in der Malerei auch der vollständige Charakter der Antike und der Romantik ausgedrückt läge und wie man dennoch die damals von den Aesthetikern gezeichneten Linien übersprang und sogar die Plastik zu romantisiren anfing. Denn heilige Apostel oder wohl gar Christus in Marmor wiederzugeben, scheint allen Prinzipien über das Christliche in der Kunst und die Kunst im Christenthum zu widersprechen. Wenigstens ist ein Christus aus Marmor dem Bereiche des Menschlichen näher gerückt, als auf der Leinwand. Man sieht einer solchen Verkörperung nicht mehr an, daß sie geistig verklärt und unsichtbar werden könne. Die Aesthetik sollte eine solche Vermischung des Geschmackes bestreiten, und, wenn es auch nicht im Interesse der Aufklärung wäre, die christliche Mythologie der Musik und Malerei ausschließlich zu erhalten suchen. Allerdings sind die Bildhauer in einer schwierigen Lage, indem man ihnen nur das Verdienst gestattet, daß sie das Verdienst verherrlichen; so bekommen sie für ihre Marmorblöcke Modelle, denen die Kunst nicht viel abgewinnen kann. Friedrich der Große verdient die Verewigung durch Marmor; allein wie die kleine, ausgetrocknete Gestalt so auffassen, daß der Künstler die Karrikatur vermeidet! War Napoleon nicht zu klein? Und wie, wenn man dem kleinen Thiers eine Bildsäule setzen wollte? Mit der schönen Gestalt des Herzogs von Wellington hat man sich insofern geholfen, als man seine erhabene Person ganz umging und statt seiner, wenn auch zu seinen Ehren, einen Achilles hinstellte. Was werden aber die Künstler mit Louis Philipp machen? Hier würde ein Mantelüberwurf auch nicht helfen; denn sein Fehler ist nicht die Magerkeit, sondern die Beleibtheit. Würde sich der starke, gefärbte Backenbart des Königs der Franzosen und die kolossale Birnenperücke in Erz oder Marmor gut ausnehmen? Die Bildhauer sind in einer mißlichen Lage. Einmal nehmen die großen Verdienste der Menschen ab und die Unsterblichkeit überträgt sich mehr auf die Massen, als die Individuen, und dann ist der Stoff, den sie verherrlichen sollen, gewöhnlich so geschmacklos! Für gewöhnlich müssen sie sich also mit dem traurigen Geschäfte begnügen, Kenotaphien zu meißeln und Büsten nach Todtenmasken. Die Werkstätte manches Bildhauers sieht auch wie ein Gewölbe aus, wo man Särge kauft.
Weit höher als die beiden früheren Künste hat sich die Malerei geschwungen. Ihr Gedeihen war so üppig, daß eine Menge von Wucherzweigen aus ihrem Stamm hervorschoß: Kupferstecherkunst, Lithographie, Lithochromie, Xylographie u. s. w. Die Malerei mit den ihr verwandten Zeichnungskünsten wetteifert fast mit der Presse, und es ist auf Theatern üblich geworden, die großen Maler und Dichter zusammen zu stellen und Correggio und Tasso in gleicher Manier zu feiern. Die Künste können zwar alle Gegenstände des Luxus werden, allein die Architektur und Bildhauerei sind den Meisten unerschwinglich; nur die Malerei mit ihren Abarten schloß sich dem mehr oder minder Begüterten an und verlockte ihn zu einem Interesse für die Kunst, das nicht nur ein Heer von Dilettanten schuf, sondern auch von Interessenten und Abnehmern eine mehr als erforderliche Anzahl. Die Malerei hat mit der Musik den Vorsprung voraus, daß ein großer Theil ihres Reizes schon im Stoffe, nämlich in der Farbe liegt, so daß man in Perioden des Verfalls doch immer noch keinen Ueberdruß an der Kunst empfand, sondern sie ruhig gewähren ließ und bevorzugte. Durch die Abarten der Malerei wurde es nicht nur möglich, gute Gemälde wenigstens in ihrer Zeichnung schnell zu verbreiten, sondern es bot sich auch dem Compositionstalente ein Mittel dar, über die der Malerei gezogenen Grenzen hinauszugehen und Alles und Jedes abzuzeichnen. Dadurch wurde die Malerei, fast wie Lesen und Schreiben, ein Erforderniß der Erziehung, kam mit unserer täglichen Erfahrung in die genaueste Berührung, schloß sich an die Poesie und namentlich in neuerer Zeit an die Geschichte so eng an, daß sich der Laie in der Malerei jezt weit mehr ein Urtheil über Gemälde und Zeichnungen anmaßen kann, als der Laie in der Musik über Gesang und Instrumentation. Inzwischen haben auch hier die Künstler eine Wiedergeburt erfahren müssen. Die französisch-steife Manier überlebte sich und wurde durch die italienischen Studien der Künstler vernichtet. Man faßte den Begriff der Malerei höher und würdiger und fiel auch wohl in das Extrem, ihn so spiritualistisch zu fassen, daß Fleisch und Knochen darüber schwanden. Die Leichtigkeit, im Kupferstich und jezt gar in der Lithographie, jeder schnell erfaßten Composition ein künstlerisches Anrecht zu geben, spornte die Malerei selbst an, sich aus den gewöhnlichen Traditionen ihrer Gegenstände zu erheben und Alles, dem sich nur eine Gruppe abgewinnen ließ, mit Farbe zu bekleiden. Die großen historischen Gemälde aus der neueren Geschichte, namentlich Schlacht- und Volksscenen, wie französische und englische Malerei sie gegeben haben, konnten dabei freilich zulezt ein marionettenartiges Ansehen bekommen, wie die Chronik ja auch nicht immer Geschichtschreibung ist. Die historische Schule in Frankreich hat sich auch deßhalb schon von der Manier Vernets, Gerards, Gros und Anderer wieder abgewandt und sich mit Delaroche, Delacroix, Roqueplan, Scheffer und Boulanger auf einzelne poetische Momente der ältern Geschichte geworfen, und namentlich auf jenen der Romantik eigenthümlichen Eklektizismus, der in tüchtiger Weise das Schöne überall da anerkennt, wo er es findet, und von blos äußerlichen Tendenzen sich dabei lossagt. Die französische Schule wird hier mit der deutschen zusammentreffen. Die Deutschen können von den Franzosen Komposition, die Franzosen von den Deutschen Färbung lernen. Die deutsche Malerschule ahnt das Schöne, hat es auch vor Augen und gibt es im Gemälde wieder; allein noch verhüllen viel Flöre ihre Anschauung; es liegt eine gewisse Unbestimmtheit in Allem, was sie noch bis jezt geschaffen haben. Die Malerei der Deutschen ist mehr religiös, die der Franzosen mehr weltlich; vielleicht lernen leztere von den erstern die Welt ein wenig tiefer fassen und diese von jenen das Religiöse und Ideale überall finden und selbst in dem, was oft blos für weltlich gilt.
Die Musik ist so allgemein verbreitet, daß man gar nicht mehr unterscheiden kann, wo sie aufhört als Bildungsmittel, und anfängt, Kunst zu seyn. Ihre Fähigkeit wird in den Schulen gelehrt, selbst die Komposition wird von vielen wie eine Spielerei getrieben. Wahrscheinlich wird die Kunst in der Musik da anfangen sollen, wo sie sich öffentlich gibt, in diesem Sinne kann man wohl sagen, daß das vorige Jahrhundert für die Musik mehr Genialität besaß und das Unsrige mehr Virtuosität. Die Musik des achtzehnten Jahrhunderts hatte mehr Charakter als die Unsrige. In der Musik scheint es fast, als gebührte dem achtzehnten Jahrhundert der Beiname des spekulativen und dem neunzehnten der des encyklopädistischen. Man ist allgemein darüber einverstanden, daß selbst mitten in dem geschmacklosen Einflusse des französischen vor-revolutionären Lebens, wo weder Malerei, noch Poesie zur wahren Kunst anregen konnten, doch in den Schöpfungen Gluks ächte Klassicität lag, wie auch mitten in dem Flor des über England gekommenen Reifrocklebens Händel, eine von aller Manier freie, urkräftige Genialität in seinen Oratorien offenbarte. In Haydn und Mozart kulminirte die Musik des vorigen Jahrhunderts. Wir unterhalten uns vielleicht gut bei neuerer französischer Musik; allein wir müssen doch immer darauf zurückkommen, daß sich die würdige Schönheit der musikalischen Gedanken und die einschmeichelndste Grazie der Melodie nur bei den großen Vorgängern findet. Die neuere Musik ist beständig nur zum Ausdruck von Vorstellungen und Worten gebraucht worden, so daß das melodische Element in ihr durch Deklamation und musikalische Rhetorik verdrängt wurde. Der Einfachheit der alten mythologischen und theilweise romantischen Oper war die melodiöse Unbestimmtheit der sie begleitenden Musik vollkommen angemessen; doch jezt treten die Süjets der Oper so scharf hervor, ihre Charaktere müssen so prägnant seyn, daß hiedurch die Musik auch den Charakter einer überreizten musikalischen Sprache angenommen hat. Allein bei der Musik ist die Wirkung einer solchen Ueberschraubung ganz entgegengesezt, wie bei der Poesie. Hier erzeugt die größere Rücksicht auf das Interesse doch auch einen seltenen Aufwand poetischer Kraft und erfordert sie wenigstens. Je gesteigerter der poetische Zweck ist, desto kunstvoller die Ausführung.
Allein in der Musik kann die Leidenschaft keine Erfinderin neuer Schönheitswendungen seyn. Wir finden bei französischen Komponisten namentlich, daß sie es allerdings verstehen, der Musik einen dramatischen Effekt zu geben, allein der innere Werth der Musik ist dadurch nicht gesteigert; im Gegentheil werden die zarten Verschlingungen der Melodie bei diesen Komponisten gewöhnlich nur noch Rhapsodien einiger scharfausgestoßener Naturlaute. Lust und Schmerz, wilde Begierde und jede Leidenschaft kommen hier so zum Ausbruch, daß der Komponist durch einige den Charakter dieser Leidenschaft tragende Noten allein schon ihren Effekt ausdrückt. So mußte die Oper freilich sehr populär werden, mußte fast alle musikalische Bildung in ihre Strömung ziehen; allein der Werth der Musik verlor darunter. Es ist wahr, die wilden, bei bewundernswürdiger Einfachheit doch so viel wirkenden Naturlaute in den französischen Opern machen einen ganz eigenen Eindruck; aber nicht selten ist der Geist dieser Töne ein gemeiner und von mancher berühmten Melodie Aubers und Herolds liegt in der That der Gassenhauer nicht weit entfernt. Man muß unter diesen Umständen an der italienischen Musik anerkennen, daß sie uns das musikalische Element in der Oper, als die Deklamation überwiegend, erhält, wenn auch einer der nicht geringsten ihrer Fehler der ist, daß sie das Textbuch als Nebensache betrachtet und nicht selten Sterbescenen mit Walzern begleitet. Rossinis geistreiche Kompositionen werden wir erst jezt vermissen, wo die jüngern Italiener in die Opernmusik eine klägliche Kantilene eingeführt haben. Bellini und Donizetti schwelgen in Tonmodulationen, wo nicht nur die Handlung, sondern selbst schon das musikalische Motiv verschwimmen und man nur auf den Tönen sich wie auf einem Kahne schaukelt. Bellini hat viel Melodien geschrieben, aber eine hört sich, wie die andere an. Von neuern deutschen Komponisten ist es nur Weber und Meyerbeer gelungen, eine europäische Berühmtheit zu erhalten. Beide sind gewiß tiefere Musiker, als mancher Franzose; allein sie können nicht aus einem Gusse schaffen. Weber macht alle Augenblick einen Absatz, Meyerbeer alle Augenblick einen neuen Ansatz. Webers Opern haben ein zaghaftes Ansehen, Meyerbeers ein musivisch-zusammengeseztes. Webers Opern wirken kalt, weil gerade in diesem Abbrechen seiner einzelnen Musikstücke und der nur innerlichen Abrundung derselben sogar etwas lyrisch-ängstliches liegt. Diese Lückenhaftigkeit der Weber'schen Komposition veranlaßte Meyerbeer zum entgegengesezten Fehler der Ueberladenheit. Jedes Ritzchen in dem Gebäude seiner Opern wird von ihm mit Noten verstopft; das sorgsamste Studium hat in seinen Opern Akt auf Akt, Scene auf Scene, Nummer auf Nummer nach den Regeln der bürgerlichen Baukunst gefügt. Im Allgemeinen ist die Oper jezt im Verfalle. Die Virtuosität, namentlich der Klavierspieler, hat überdies im Moment eine so ungeheure Höhe erreicht, daß man bald nur noch von einigen wenigen Meistern reden und jene ungeheure Fluth von Dilettanten und Wunderkindern, die auf den Beutel des Publikums spekuliren, vergessen wird. Das Leichtfaßliche, Angenehme und vorzugsweise Erheiternde in der Musik wird in der Gesellschaft als ein Surrogat für die Erziehung zurückbleiben. Im eigentlichen Bereich der Kunst aber dürfte viel Aussterbens eintreten und es dem wahrhaften Genius jezt mehr, als je, leicht werden, die vakante Theilnahme des Publikums an sich zu reißen.
Die neuere Dichtkunst hat in ihrem Schooße fast eben so viele Umwälzungen erlebt, als die neuere Geschichte. Das poetische Vermächtniß des vorigen Jahrhunderts an das Unsrige war reich und herrlich in dem, was von einzelnen Geistern ausging, in den Saatkeimen einer bessern Theorie, die in ihren Werken lagen. Allein wir übernahmen zu gleicher Zeit ein solches Chaos von Regeln und Anforderungen an die Dichtkunst, so viel Schulweisheit und kritische Anmaßung, daß es zu verwundern ist, wie neuere Dichter nach den gefährlichsten Kämpfen mit einer auf Leben und Tod erkennenden Kritik sich doch trotz derselben haben erhalten und mit ihren Tugenden und Fehlern in die Annalen der Geschichte einschreiben können. Einen allgemeinen Durchschnittscharakter der neuesten Poesie zu zeichnen, ist schwer, wenn man die Stellung derselben bei den einzelnen Nationen bedenkt. Deutschland leistet wenig oder nichts, oder doch nur so spezielles, daß davon über die heimischen Grenzen nichts kommen kann, wie doch Schiller und Göthe kamen. Frankreich hat jedenfalls dichterischen Aufschwung erlebt, der, wenn man die innere Kraft, die Neuheit der Bewegung und das Kolorit der französischen Sprache bedenkt, alles hinter sich läßt, was frühere Epochen in Frankreich geleistet haben. England erlebte einige schöne poetische Beispiele; doch haben sich seine Talente auf eine fast holländische Breite verlegt, die von der englischen Poesie zwar beweist, daß sie viel Kombination, aber wenig Feuer in sich hat. Flammengeister lodern in England jezt keine auf. Es ist auch fast unmöglich, daß in England die Genialität sich anders als gegen die Majorität aussprechen kann. Allein die jezt in England herrschende whigistische Majorität entspricht so sehr einfachen, gesunden und bürgerlichen Begriffen, die Majorität ist selbst so in polemischem Zustand begriffen, daß sich ein Geist, in dem das Feuer die Vernunft nicht versengt hat, nicht entschließen kann, gegen diese Majorität aufzutreten. Einige spanische, italienische, schwedische, polnische und sogar russische Dichter, die der neuern Zeit angehören, können es bestätigen, wenn wir Folgendes als die allgemeinen Charakterzüge der neuern europäischen Dichtkunst bezeichnen:
Die Dichtkunst ist Opposition geworden, bei sanfteren Naturen gegen gewisse hergebrachte poetische Theorien, bei stärkern sogar gegen die Verfassung der Gesellschaft. Darin vereinigen sich alle Dichtertalente der neuern Zeit, daß sie sich an die Geschmacksregeln des vorigen Jahrhunderts nicht mehr binden und in Frage nach der Schönheit namentlich versuchen, sie aus dem Individuum selbst herauszubilden und in der Leidenschaft eine Begränzung zu finden, wo es möglich ist, sich an ihrem Farbenspiel ästhetisch zu weiden. Die neuere Poesie ist, der Gegenwart gegenüber, rasch, ungestüm, mißtrauisch und wo nicht mit der Welt, doch gewiß mit sich selber unzufrieden. Schon im vorigen Jahrhundert stiegen die Poeten gern in entfernte Zeiten und Völkerzustände zurück, allein es war Neugier und ein falscher Begriff von der Erhabenheit, der sie dort hintrieb. Jezt sehen wir auch wohl Dichter sich in die Vergangenheit versenken, aber jeder will doch etwas suchen, wo er gleich vornherein eingesteht, daß die Gegenwart es ihm nicht bieten könne und sey es auch nur, wie die breiten historischen Romandichter sagen, ihnen die Gegenwart nicht so viel Staffage für die Erfindung darböte und ihre Kombinationen nicht so wahrscheinlich mache, wie die Vergangenheit. Höher gestellte Dichter, wie der deutsche Uhland finden im Mittelalter einen Sonnenschein, den der bewölkte Horizont der Gegenwart nicht mehr zeigt. Ihr Bedürfniß nach Ruhe und Stillleben ist so vorherrschend, daß sie ihre Dichtung lieber in die eingefriedigten Schranken der Vergangenheit zurückführen, die einmal abgeschlossen und keiner plötzlichen Störung des poetischen Genusses mehr ausgesezt ist. Diesem lyrischen Interesse an der Vergangenheit schließt sich ein episches an. Für die Ballade und Romanze bietet die Gegenwart keinen Stoff. Es sind nicht die Könige, die Meerfrauen, es ist nicht einmal die verhaßte Feudalität, welche jezt ganz freigesinnte Dichter antreiben kann, sich für epische Stoffe in das Mittelalter zu versenken, sondern das Schauerliche und Erhabene, das Schicksalsmäßige will sich aus dem Neuen nicht so poetisch abstrahiren lassen, wie aus einer Zeit, wo die hübschen romantischen Maschinengötter, die Nixen und Elfen noch eine organische Geltung hatten. Man muß diese Vertiefung in das Alterthum wohl von der im vorigen Jahrhundert üblichen, namentlich durch Macphersons Ossian angeregten, unterscheiden; denn damals ergözte man sich an dem vergrößerten Maßstabe, den die alte Sage von dem Menschen hat, ergözte sich an den markigen Tugenden, welche man gern durch didaktische Poesie den Namen wieder eingepflanzt hätte, allein diese Gesichtspunkte fehlen den neuern Dichtern, wenn sie sich in alten Zuständen bewegen, gänzlich. Sie streben ohne allen andern Zweck nur nach der Poesie. Sie vermissen bei uns jene Relationen, die nur im Alterthum in poetische Konflikte gerathen konnten und es findet sich nicht selten, daß Dichter, die mit Herz und Mund der neuesten Zeit angehören, für ihre Dichtungen sich nur an das Mittelalter lehnen können. Endlich beutet die dramatische Poesie (man denke nur an Victor Hugo) auch in ihrem Interesse die Vergangenheit aus, allein entweder will sie dann gerade der Gegenwart einen ironischen Spiegel vorhalten, oder die alte Geschichte ist nur ein Sattel, unter welchem sie das rohe Fleisch der Leidenschaften, die sie gern zu Hebeln eines Drama's gemacht hätte, mürbe reitet. Bei Viktor Hugo sind die Stoffe, die er wählt, ganz unwesentlich, und das Interesse und Zeichen der neuern Poesie liegt gerade in dem, was er aus den alten Stoffen ausbeutet oder in sie hineinträgt, in den gewaltigen Leidenschaften, in deren wechselseitiger Vernichtung er das Wesen der Tragödien sieht. So ist denn mit einem Worte die neuere Poesie trotz ihrer Anknüpfungen an frühere Zustände immer in unmittelbarer Nähe des Momentes; sie bekämpft ihn, sie unterwühlt ihn, sie verachtet ihn, indem sie ihn ignorirt. Es liegt in all den beliebigen Richtungen, welche neuere Dichter genommen haben, doch immer wieder eine Straße, wo sie auf die Gegenwart zurückkommen und namentlich durch die großen historischen Ereignisse verführt, die wir erlebt haben, suchen, gerade dem Augenblick Seiten abzugewinnen, die zwar immer poetisch seyn sollen, aber auch eine Antheilnahme an der sozialen Bewegung unsers Jahrhunderts in sich schließen. Dies gab der modernen Poesie einen doktrinären Charakter.
Von jeher bezeichnet die Poesie eines Volkes auch die Höhe der geistigen Kultur, auf der es sich befand. Sie schloß sich hurtig den Interessen des Publikums an und gab von jeher gern die Eindrücke der Oeffentlichkeit wieder. Die Poesie mußte diese Einwirkung noch um so mehr erfahren, als sie in neurer Zeit mit dem Aufschwung der Wissenschaften und der Bildung des Geschmacks, verwilderten Perioden gegenüber, eng verschwistert war. Die Poesie verwandelte sich aus einer Verherrlichung des Lebens, wie es die Menschen umgab, in eine Erzieherin desselben, und, da es widerstrebte, in eine Gegnerin. Der Idealismus der Dichter wurde um so überschwenglicher, als es ihm wirklich gelang, manche Partien des Lebens und Charakters ihrer Zeitgenossen zu veredeln und zu verschönern. Dennoch gelang es der Poesie nicht, in ihrem Bereiche jene Harmonie herzustellen, welche in frühern Zeiten das politische Leben zusammenhielt. Da die Poesie, wie alle Kunst in neuerer Zeit eine nur eroberte und meist mit wenig Glück behauptete Stellung besizt, so kam ein unruhiges gährendes Element in sie, das nach Beifall strebend nicht wußte, womit es diesen erobern sollte. Die Einzelheiten in der Poesie wurden übertrieben, die Poesie selbst grübelte, statt daß sie frei und harmlos sich erging. Diese Neigung zum Tiefsinn und Widerspruch hat der Stellung der Poesie und Kunst überhaupt in unserer Zeit viel geschadet, hat die Fürsten ihr abwendig gemacht und im Bereiche der ästhetischen Gesetze selbst eine noch nicht gelöste Prinzipienverwirrung hervorgerufen.
Zu allen Zeiten hat es für eine Gattung der Poesie mehr Gunst der Umstände gegeben, als für die andern. Das Epos, das Drama, jedes wechselt in der Literaturgeschichte darin ab, daß bald das eine, bald das andere mehr im Vorgrunde stand. Jezt bestätigt sich diese Erfahrung wieder so lebhaft, daß es einige Gattungen in der Poesie gibt, welche durch die Verwickelung der Umstände ganz brach liegen und erst durch Ereignisse und Umwälzungen der gegenwärtigen Bildungs- und Gefühlsstufe wieder neu belebt werden können. Vom Drama möchte man wohl weniger allgemein zustimmen, daß es sich vergeblich nach einer rechten Anknüpfung umsieht, allein vom Epos ist es entschieden, daß seine Anbauung unter dem Himmelsstrich unsrer gegenwärtigen Epoche nicht gedeihen will. So viel durch diese Abneigung der Umstände und der Gemüthsstimmungen der Dichter an Terrain verliert, so liegt doch auch in diesem negativen Verhältnisse die schöne Anerkennung, daß bei uns die Poesie nicht mehr blos die Frucht der Schule und der Ueberkultur ist, sondern daß sie einen warmen Fleck in der Nähe unserer Herzen einnimmt, daß sie etwas aus unsern Zuständen Gebornes, weil von ihnen Bedingtes ist. Würde ein Epos, das den dreißigjährigen Krieg besänge oder ein noch kunstvolleres, dessen Stoff der alten Mythologie entnommen wäre, bei uns einen bereitwilligen Anklang finden? Nein, ein kleines Gedicht, moderne Gemüthszustände anklingend, ist uns werther, als die größte Epopée.
Im Vordergrunde der neuern Literaturgeschichte steht der Roman. Dieser mußte Epos, Drama und Lyrik in sich vereinigen; etwas wirklich oder doch wahrscheinlich Geschehenes mußte ihm zum Grunde liegen; nicht so viel, daß man das täglich uns Umgebende wieder gesehen hätte, wohl aber, daß man daran erinnert wird und Aehnliches mit Aehnlichem vergleichen kann. Im Roman hauptsächlich sprechen sich alle Anforderungen aus, welche die Menschen heut an die Poesie machen. Es muß sich zunächst um ein Reelles handeln, das keine bloße Luftspiegelung ist oder doch keine sogleich zu seyn scheint. Die Liebe muß das lyrische Element bilden, Ehrgeiz, Schicksal oder sonst eine gewaltige Leidenschaft das dramatische. Um das Ganze herum sieht man gern die Arabesken einer zeitgemäßen Beziehung hereinranken; man verlangt reflektive Basreliefs, ja wohl eine tendentiöse Idee als Postament des Ganzen. Wie in alten Zeiten das Drama alle Gattungen der Poesie in sich vereinigte, so soll jezt der Roman von dem Wesen aller derselben einen Anklang geben, so daß die Poesie des Reimes jezt weit weniger kultivirt und beliebt ist, als die in prosaischer Form auftretende, wo das dichterische in dem schönen Ineinanderspiel von Kunst und Leben liegen muß. Die meisten poetischen Talente absorbirt der Roman und die allgemein zugestandene Erfahrung, daß zu einem guten Gedichte weit weniger Talent gehört, als zu einem guten Romane, hat auch gemacht, daß man den Leztern mehr als das Erstere für den Prüfstein des Genies hält. Daß ein Romanendichter kein gutes lyrisches Gedicht machen kann, wird ihm weit weniger nachgetragen, als wenn ein Lyriker gestände, daß er es nicht über sich vermöchte, einen wohlgefügten Roman zu schreiben. Leider ist nur der Roman sehr der Verfälschung ausgesezt. Wie oft ist seine Erfindung spannend und hält doch nicht die poetische Nagelprobe aus? Und wie mancher durch und durch poetische Roman verfehlt es in der Fabel und den spannenden Situationen.
Man muß dreierlei Gattungen der gegenwärtigen Romanendichtung unterscheiden. Der historische Roman hing innerlichst mit einer Zeit zusammen, wo eben erst ein großes Kriegstheater eingepackt und eine große historische Katastrophe zur Abrundung reif war. Die Geschichte war das Weltgericht, im Doppelsinne das tägliche Brod, welches auf den Tisch der Literatur kam. Wie es Köche gibt, die Alles mit einem Kraute würzen, so mußte auch bei Allem, was die Poesie aufsezte, Historie zugemischt seyn. Die großen Ereignisse mußten mit kleinen Landstraßenvorfällen Hand in Hand gehen. Von den Helden der Jahrhunderte mußten selbst die ihnen zugehörigen Stallknechte auftreten. Die Geschichte wurde bei jedem verliebten Paare zum Zeugen der Hochzeit, bei jeder Kindtaufe zu Gevatter geladen. Frauen, Hexen, Juden und eine Anzahl von Nebenpersonen mußten zwischen Richard Löwenherz und sein Glück treten. Die Schicksale des unbedeutendsten Menschen interessirten uns, wenn er nur Stallmeister beim schwarzen Prinzen oder Falkonier bei Karl dem Kühnen war. Die Neigung für diese Gattung des Romanes hörte glücklicher Weise da auf, als man fürchten mußte, die Romantiker würden nun, da das Mittelalter und die neue Zeit bald erschöpft waren, sich in die Geschichte Babyloniens und Assyriens vertiefen und uns die Geschichte eines Edelfräuleins der Semiramis oder eines Adjutanten in der Armee des Sesostris in mehreren Bänden vor Augen führen. -- Die zweite Gattung des Romanes, das Charakterbild, entwickelte sich wohl zunächst nicht aus dem psychologisch-komischen Roman des vorigen Jahrhunderts, sondern war nur eine Ausbildung der plötzlich einreißenden Sucht für das poetische Genrebild. Von dem historischen Roman, der in der Vergangenheit lebte, stürzte man plötzlich auf die nächste Gegenwart und zeichnete nach der Art englischer Ladies Alles ab, was man nur im Fluge von der Gegenwart mitnehmen konnte. Die Genremaler zeichneten uns die höhere Gesellschaft und die niedere, die Salons und die Straßen, die Spielhäuser und die Winkelkneipen. Der Fashionable, der Dandy, der Kurzathmige, der Schwerwampige, der Dünne, der Dicke; dies waren Charaktere oder vielmehr Karrikaturen, die mit kurzen Strichen an die Wand gemalt wurden. Kutscher und Bedienten, Straßenkehrer und Savoyarden, Grisetten und Blumenmädchen, Schauspielerinnen und Kritiker, ja die Pariserhunde wurden von der Genreliteratur gezeichnet.
Diese Portraitirungen nun unter einander zu verbinden und zu Lithographien auszuspinnen, dahin war leicht der Sprung gethan. Das Leben eines Stutzers gab einen Roman. Nun kamen Memoiren eines Ennuirten, eines Desavouirten und wie dies Zeug weiter durch auffallende Titel angepriesen wurde. Am glücklichsten war in diesem Fache der schon halb wieder vergessene Bulwer. Ihn haben die Matrosen, die auf Halbsold stehenden Hauptleute, die Pensionäre der ostindischen Kompagnie verdrängt. Das schreibt und beutet jezt Sonnenschein und Ungewitter aus, Sturm und Regen, Berg und Thal, und tritt mit unläugbarem Talente allmälig die höchsten Berge platt. Seitdem die englischen Manufakturen weniger zu thun haben, seitdem wollene und baumwollene Waaren sich in den Magazinen aufstapeln, arbeiten die literarischen Maschinen Englands vom Kohlendampf getrieben und überschwemmen mit den mittelmäßigen Produkten den Kontinent. -- Endlich ist hier der spekulative Roman zu nennen. Dieser ist ein Produkt Frankreichs und Deutschlands und faßt in sich alle charakteristischen Stadien der Sonne der heutigen Poesie zusammen. Wenn man die unterscheidenden Merkmale der modernen Poesie finden will, so muß man sie hier suchen. Auf diesem Bereich wird nicht nur das Schicksal der modernen Poesie ausgefochten, die Tendenz, wohin sie sich zulezt neigen wird, sondern auch manche entscheidende Frage des Zeitalters selbst in Anregung gebracht, insofern der Roman ein Hilfsmittel ist, die Ideen an die Masse zu bringen. Gerade dieser leztere Umstand, verbunden mit unläugbaren Uebertreibungen in dem neuern spekulativen Romane hat Besorgliche, die es mit der Menschheit aufrichtig meinen, gegen diesen Roman in Harnisch gebracht. Allein, so gefährlich es seyn mag, in einem mit blendenden und anlockenden Farben entworfenen Gemälde der Masse jene Anarchie der Begriffe und jene Kühnheit des Skeptizismus, der sich über das Einfachste in der Tradition Rechenschaft geben will, zu offenbaren, so sollte man doch bedenken, daß zugleich in diesem selben Romane ein Mittel enthalten ist, die unleugbar in der Irre gehende gesellschaftliche Religion, wie man wohl die Sphäre bezeichnen möchte, in welcher sich jener Roman in seiner jetzigen Gestaltung so unheimlich fühlt, mit der Zeit zu befestigen und eben so schnell den wieder gewonnenen Glauben zu verkünden, wie bis jezt noch bloß der Zweifel mit ihm verkündet worden ist. Man bestreitet doch nicht dem Roman das Recht, so ernste Fragen, wie Staat, Religion und Sitte in sein Bereich zu ziehen? Denn allerdings abgesehen davon, daß für den Moment noch in diesem Rechte eine unselige Wirkung liegen könnte, so würde derjenige doch unsre Zeit schlecht verstehen, der glaubte, der Bodensatz jener Gährung wäre nur die Negation und nicht vielmehr die Sehnsucht nach einer Wahrheit, die dem ernstlich Suchenden sich nicht verhüllen wird. Der Schaden, den der spekulative Roman in seiner Gährung anrichtete, wird durch die edelsten Reichthümer ersezt, wenn sich die Gährung erst beruhigt und den Zweifel überwunden haben wird. Daß ein solches Resultat, wenn auch in ganz anderer Gestalt, als man gegenwärtig ahnen kann, vor den Thoren steht, wer möchte es bestreiten und wer möchte dann nicht wünschen, daß derselbe Bote, der früher die Hiobspost einer Verzweiflung an der Theodicee brachte, dann auch wieder die frohe Botschaft, das Evangelium des Friedens und einer versöhnten Hingebung bringe? Also bestreite man doch die Form nicht!
Aus dem skeptischen Geiste des vorigen Jahrhunderts, vielleicht auch aus dem Gefühl, daß eine Wiedererweckung vieler zu Anfang unsres Jahrhunderts beliebt werdender antikromantischer Studien in der Poesie nur einen dilettantischen Beigeschmack habe und ohne wesentliche Realität für das Genie sey, entsprang jene eigenthümliche Ironie, welche wir auf Kunstwerken der vergangenen Epoche oft mit reizender Zartheit haben hingehaucht gesehen. Diese Ironie milderte den Ernst und ließ auch dem Scherze eine Hinterthür zum Ernste wieder offen. Sie war in Gestalt des Humors eine köstliche Neuerung, die dem modernen Zeitalter angehörte. Später, wo ihr nicht mehr bloß das menschliche Gemüth, überhaupt die psychologische Erfahrung zum Grunde lag und sich, wie wir schon sagten, der Geschmack befestigte, bekam die Ironie einen antiken Charakter und wurde nicht bloß in den Reden des Sokrates, sondern auch auf den antiken Bildwerken, wo ich freilich gestehe, sie nicht finden zu können, wiedergefunden. Diese moderne Ironie war die behagliche Folge einer üppig genießenden Kunstanschauung. Sie wirkte bei Göthe großartig: sie konnte aber auch bei kleineren Geistern die größte Feindin des Schönen werden, sie konnte der Mittelmäßigkeit einen Anstrich von exclusiver Abrundung geben. Sie entwöhnte das Publikum von dem Ernste. Sie machte die wichtigsten Fragen zum Spielzeuge eines Witzes, der nur der Form nach regierte und nicht eher von seinem Spiele aufstand, bis nicht Alles wieder gehörig an seinen alten Ort gebracht war. Wenn diese Ironie allmälig die Poesie zu verlassen scheint und auch der Ernst wieder mit strenger und unerbittlicher Miene im Reich des Dichters walten soll, so konnte es nicht fehlen, daß die Wirkung dieses unleugbaren Fortschrittes zunächst bedenklicher schien und weit frivoler, als die frühere Frivolität; allein, wie wir oben schon die Hoffnung aussprachen, zuverläßig wird auch in der Poesie eine Beruhigung des Gemüthes, die nicht aus Indifferentismus, sondern aus Ueberzeugung geboren ist, eintreten; die Leidenschaften werden aus dem Dienste der Wahrheit nur noch in den der Lüge treten können, so daß sich jene in mildes, sanftes Licht verklärt, diese als dunkel glühende Schlacke zurückfällt und in sich verkohlt. Eine solche feindliche Wendung der Stimmungen wird den Glauben über den Zweifel setzen und die Menschen überzeugen, daß wenigstens in der Kunst jener edlere und vollendetere Gestalten zaubern kann, als dieser. Alle Künste müßten von diesem Geist der Versöhnung ergriffen werden; sie würden wieder in eine innige Vertrautheit mit den Gemüthern treten; sie würden, wie jezt, nicht bloß dazu da seyn, zu erschrecken oder zu zerstreuen; sondern sie würden wieder die stolzen Säulen werden, welche den Tempel eines neuen Lebens tragen. Es ist ein Traum, von dem ich rede; alle Thatsachen des hellen lichten Tages widersprechen ihm, und dennoch wird ihn Niemand aufgeben, der Augen scharf genug hat, um auch durch den dunkelsten Wald die Sonne noch im Hintergrunde blitzen zu sehen.