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Sitte und Sitten.

Außer den vielen Vorwürfen, welche man der Schlußerzählung des vorigen Bandes machen kann, wäre auch dieser nicht unbegründet, daß dem Autor die Absicht, ein Bild von den Sitten unserer Zeit zu geben, in der Hauptsache mißlungen sey. Denn in der That hat es zu allen Zeiten zwei solche Gegensätze der Bildung gegeben, wie die beiden Schwestern Rebekka und Bab sie vorstellen; ja die Koketterie, die Lust nach Abenteuern, die Modesucht, die Medisance in der Gesellschaft, die phantastische Art der Erziehung ist so wenig etwas unserer Zeit ausschließlich Eigenthümliches, daß vielmehr das vorige Jahrhundert, wenn auch in andern Formen und Gewändern, das Unsrige darin weit übertroffen hat. Rebekka's Epistel schildert nur im Allgemeinen den Gegensatz der Sitten. Es laufen dabei einige Thorheiten, die gerade in unsren Tagen mit auftauchten, mit unter, und wir haben noch die große und schwierige Aufgabe im Ganzen ungelöst vor uns, über die Gewohnheiten unsrer heutigen Gesellschaft und das Moralprinzip, welches ihnen zum Grunde liegt, einen gründlicheren Aufschluß zu geben.

Schon in dem Kapitel über das Moderne suchte der Autor nach jener allgemeinen Formel, mit welcher sich vielleicht das Räthsel unsrer heutigen Eigenthümlichkeiten lösen ließe. Allein wurde er dabei nicht wie auf einem dunklen, gefahrvollen Meere ohne Steuerruder und Segel hin- und hergeworfen! Mußte er sich nicht begnügen, aus dem, was das Moderne nicht ist, auf seine Beschaffenheit zu schließen, aus den Verstößen gegen die Mode die Mode selbst zu erklären? Der Autor gab die Möglichkeit preis, jene Mittelstraße zu entdecken, wo das Moderne lächerlich zu seyn aufhört und bedeutend zu werden anfängt, und konnte damit schließen, daß vielleicht diese Ungewißheit selbst, über die Formen unsres gegenwärtigen bürgerlichen und geselligen Lebens, über die Fragen der Kunst und Wissenschaft ins Reine zu kommen, den eigenthümlichen Charakter des Modernen ausdrücken möge.

Sitte und Sitten schließen sich einer ähnlichen Betrachtung an. Auch hier wird man an der Auffindung eines allgemeinen Prinzips verzweifeln müssen und sich nur über die vereinzelten Pulsschläge eines neuen Lebens aufklären können, welches sich scheint in den Zeitgenossen Durchbruch schaffen zu wollen. Wie viel Begriffe haben sich nicht seit den lezten fünfzig Jahren verändert, und wie viel Gewohnheiten sind nicht darnach umgemodelt worden! Die Gesetze des Anstandes, so wie sie früher gegeben wurden, werden jezt als altfränkische Pedantismen verlacht; die Bewegung ist in dem Maße freier geworden, wie es das Urtheil wurde. Der Kreis von Bezeichnungen, welcher für diesen oder jenen Begriff in frühern Zeiten durch die Schranken des Zuläßigen und Geduldeten nur sehr eng gezogen war, hat sich erweitert. So weit jeder die Kraft hat, seine Meinung durchzuführen, kann er sie selbst in den Berührungen der Gesellschaft aussprechen. So wie die Erziehung eine Ausdehnung genommen hat, deren Grenze bald nur noch das Unmögliche seyn wird, so ist es sogar den Frauen gestattet, über Fragen, denen gar kein Ziel gesteckt ist, ihre Meinung abzugeben. Bedingungen sind dabei freilich vorhanden, allein sie kommen fast alle nur auf Beobachtung gewisser Formen zurück. So scheint es fast, als möchte der feste Charakter unserer gegenwärtigen Sitten seyn, daß wir die Erlaubniß haben, Alles durch Rede und Schrift in Erörterung zu ziehen, wenn wir uns dabei nur vorsehen, die Ergebnisse unserer Grübeleien nicht sogleich auf die positiven Zustände zu übertragen.

Um uns noch mit größerer Klarheit die ganze Fernsicht unsres Gegenstandes zu eröffnen, wollen wir zunächst einige Gegensätze aus alten und ältesten Zeiten gegen die unsrige hervorheben. Wir sind natürlich mit unsren Gewohnheiten so vertraut, daß wir die relativen Eigenheiten derselben uns gar nicht mehr klar gegenüber halten können. Auch haben wir vielleicht im Grund unsres Herzens weit weniger Sitte, als das Alterthum; allein unser ganzes Bemühen ist wenigstens auf den Schein derselben eingerichtet, so daß wir all' unsere Sitten allmälig ins Graue verflacht und sie in den Spülicht unsrer Moralität hinein verwaschen haben. Wir sind sogar durch die Steigerung unsres künstlichen Wesens dahin gekommen, daß wir der Natur nicht selten näher stehen, als viele Völker, welche in ihren Sitten ganz von der Natur beherrscht werden. Der Araber trägt seinen Degen auf der rechten Seite; er ist ein Sohn der Natur, und doch handeln wir naturgemäßer, die wir ihn auf der linken tragen. So hat die Sitte, worunter man hier nicht blos die Regung des Herzens, sondern ebenso den klügelnden, mathematisch nachrechnenden Verstand begreifen soll, bei uns allmälig die Sitten verdrängt. Wir fangen nur in dem Fall an, an unsren eigenen Gewohnheiten selbst irr zu werden, wenn wir bei andern Völkern gerade das Gegentheil davon bemerken und uns denken, wie wir diesen wohl von unsrer Seite erscheinen mögen.

Das Sittenprinzip der Alten muß man mit dem ihrer Philosophen nicht verwechseln. Die Alten fanden nicht, wie wir, das Sittliche darin, daß man in seiner Lebensweise sich von einzelnen, grell aufgetragenen Gewohnheiten in eine allgemein menschliche und vernünftige Form verflache, sondern das in ihnen noch wohnende, kräftige Sittenprinzip trieb sie immer an, stark aufzutragen und nach auffallenden Symbolen jener moralischen Ueberzeugungen, die sich in ihnen bildeten, zu trachten. Da nun die Religion der vorzüglichste Mittelpunkt des antiken Nachdenkens war, so bildeten sich nach und nach bei den Alten Gebräuche aus, die wir ihrer Auffallenheit und Uebertreibung wegen Aberglauben nennen dürfen. Mögen hier, um uns den Abstand unsrer Zeiten von den Alten recht klar zu machen, einige merkwürdige Züge aus den Sitten des Alterthums aufgenommen werden. Wir werden immer gleich bei der Hand seyn müssen, an jeder dieser Gewohnheiten eine abergläubische Färbung zu entdecken.

Es gab nur ein Volk im Alterthum, welches uns recht deutlich machen kann, wie die Sitten zugleich mit der Reflexion, der Glaube mit dem Verstande verbunden seyn kann. Das waren die Römer. Bei den Römern mußte die Braut Feuer und Wasser berühren. Man hatte dabei gewiß die Vorstellung, daß durch die Begattung die Menschen in eine elementarische Thätigkeit versezt werden. Man brannte bei den Hochzeiten, wahrscheinlich aus einem ähnlichen Grunde, nur fünf Kerzen. Vielleicht dachte man daran, daß fünf die erste Zahl ist, welche sich nicht in zwei gleiche Theile zerlegen läßt, so daß auf diese Weise eine schon in der Natur angedeutete ewige Botmäßigkeit des Weibes unter dem Manne, der Zahl zwei unter der Zahl drei sinnbildlich ausgedrückt werden sollte. Eine Braut wurde nicht mit freiem Fuße über die Schwelle des Bräutigams gelassen, sondern hinübergehoben. Es wundert mich nicht, daß Plutarch, indem er diesen Gebrauch erwähnt, dabei die Erinnerung an den Raub der Sabinerinnen zum Grunde legt. Gesezt, es hieß von jemanden, er wäre in der Fremde gestorben, so durfte er nicht, wenn das Gerücht falsch gewesen war und er zurückkam, durch die Thüre das Haus seiner Familie betreten, sondern mußte vom Dache hineinsteigen. Dies geschah wahrscheinlich, weil es für unpassend gehalten wurde, durch dieselbe Thüre, durch welche das Todtenopfer für den Abwesenden getragen worden war, ihn nach seiner Rückkehr nun selbst hindurchschreiten zu lassen. Sehr bekannt ist, daß die römischen Frauen ihre nächsten Verwandten nicht nur küssen durften, sondern sogar küssen mußten, weil sich die Männer und die Gevatterinnen nur auf diese Weise am Geruch überzeugen konnten, ob sich die Frauen dem Weingenuß ergaben. So demüthigend diese Sitte für die Frauen war, so ehrenvoll war für sie eine andere. Kein Gatte durfte, wenn er vom Land oder von einer Reise zurückkam, ohne gegen den Anstand zu verstoßen, seine Frau plötzlich überraschen, sondern er mußte zum Beweise, daß er von der guten Aufführung seiner Gattin überzeugt war, sich erst vorher bei ihr anmelden lassen. Wenn die Römer auf der Straße einem vornehmen Manne begegneten, den sie grüßen wollten und gerade ihr Antlitz im Mantel verhüllt hatten, so mußten sie das Gesicht frei aufdecken; beteten sie aber zu den Göttern, so mußten sie ihr Haupt verhüllen, welches alles Sitten sind, zu deren Aufklärung mythologische Anspielungen nichts nützen, sondern welche allein ihren Grund in dem bei den Alten so fein ausgebildeten Sinne für das Schickliche haben. Nur dem Gotte der Zeit, des Ruhms und der Ehre zeigten sie ihr Haupt unverhüllt. Auch über diese Ausnahmen nützen die Spitzfindigkeiten der Erklärer nichts, sondern sie liegen tief in Gefühlen begründet, die man kaum aussprechen kann. Die Römer hatten von Numa eine Gesetzgebung erhalten, welche nicht darauf abzweckte, sie zu Eroberern des Erdkreises zu machen. Numa gebot ihnen, allen Göttern zu opfern, nur dem Gott der Grenzen nicht. Er wollte nicht, daß die Frage der Grenzen je mit Mord oder Blut befleckt würde. Bekannt ist, daß die Römer vielen Tagen keinen Glauben schenkten und fortwährend von Warnungen und Wahrzeichen geängstigt wurden. Trauerten sie, so thaten sie es in weißer Farbe. Die Mauern einer Stadt waren ihnen heilig, die Thore aber nicht. Gänzlich entgegengesezt unsrer heutigen Sitte ist, daß die Römer in der ältern Zeit niemals außer dem Hause ohne ihre Söhne speisten, so lange diese in dem Alter der Kindheit standen. Wenn die Römer etwas erbeuteten und es den Göttern weihten, so hatten sie die Sitte, es mit der Länge der Zeit immer wieder auszubessern und nicht verderben zu lassen; nur die erbeuteten Waffen ließ man verwittern. Ein schöner Zug, weil in ihm die Versöhnung lag. Bei uns würde gerade das Gegentheil geschehen; die Flinten und Kanonen, die wir von unsern Feinden erbeutet haben, werden in den Arsenälen fortwährend blank wieder aufgepuzt; ja man würde selbst die zerschossenen Fahnen der Feinde wieder zusammennähen lassen, wenn man sich nicht lächerlich machte. Alle Priester durften schwören, nur der Priester Jupiters nicht; denn ist nicht jeder Eid ein Fluch? Wird nicht wenigstens Eines mit ihm verwünscht, nämlich der Meineid? Den Tempel der Ermunterung ließen die Römer beständig offen. Und um von dem Priester Jupiters noch einmal zu reden; wenn er Wittwer geworden war, so mußte er sein Amt niederlegen, ganz entgegengesezt der katholischen Lehre, wo man sein Amt niederlegen muß, wenn man sich verheirathet. Daß man auch sonst die Frauen sehr in Ehren hielt, ersieht man daraus, daß man unbestimmt ließ, ob der oberste Schutzgott Roms männlichen oder weiblichen Geschlechts war. Oder schämten sich vielleicht die Römer doch, daß man den obersten Gott der Römer mit der Erde verwechseln und ihn dem weiblichen Geschlechte zurechnen würde? Aus den Speisezimmern durfte bei den Römern kein Tisch leer weggetragen werden, sondern durchaus mußte noch etwas darauf seyn, weil es für ein Zeichen der Völlerei angesehen wurde, bei einer Mahlzeit reinen Tisch zu machen. Auch pflegten die Römer kein Licht auszulöschen, sondern es von selbst ausgehen zu lassen, und hatten für diesen Gebrauch viel sinnige und zarte Erklärungen. Entweder glaubten sie, daß man nichts Lebendes, wenn es nicht schädlich ist, vertilgen dürfe, oder sie dachten, man dürfe Dinge, wovon uns die Natur im Ueberflusse gegeben, gerade am allerwenigsten verderben. Auffallend ist es, daß die Römer bei barbarischen Völkern Menschenopfer verboten und sich doch selbst nicht selten erlaubten, Fremdlinge lebendig zu begraben. Es mußte also irgend eine traditionelle Vorschrift vorhanden seyn, die ihnen eine unbedingte Unterwerfung gegen die Götter zur Pflicht machte, selbst wenn sie mit schwerem Herzen etwas thun mußten, was sie für unrecht hielten. Der Raub der Sabinerinnen spricht sich noch in vielen Gewohnheiten der alten Römer aus. Die Frauen hatten in früheren Zeiten nicht nöthig, bei Küchenarbeiten selbst Hand anzulegen; es war dies ein Recht, welches ihnen ihre sabinischen Brüder und Väter erwirkt hatten. Auch wurde den Bräuten das Haar mit der Spitze eines Spießes auseinandergelegt. Wenn endlich Priester eines Verbrechens überführt waren, so konnten sie abgesezt werden; ein Augur hingegen, der den Flug der Vögel beobachtete, blieb in seinem Amte, selbst wenn er sich der ärgsten Verbrechen schuldig gemacht hatte. Die Römer litten nicht, daß Jungfrauen an öffentlichen Festen Hochzeit machten, nur die Wittwen durften es. Denn, sagten sie, an öffentlichen Tagen soll Freude herrschen; aber nur Wittwen verheirathen sich mit Vergnügen, Jungfrauen gewöhnlich mit Verdruß und Widerwillen.

Alle diese Gewohnheiten muß man sich organisch verbunden denken, sie waren den Römern selbst keine Ausnahme, sondern sie begleiteten so gut, wie unsre Komplimenten-, Anstands- und Toilettenvorschriften ihr Stehen und Gehen, ihr tägliches Thun und Lassen. Wir haben keine antiken Genrebilder, etwa wie die Franzosen in ihrem Buch der Hundert und Eins jede kleinste Nüance ihres Pariser Lebens beschrieben haben. Die alten Beschreibungen von Gastmählern führen uns vielleicht das Bild eines organischen Zusammenlebens vor, wie es im Alterthum geherrscht hat. Lesen wir diese sogenannten Trinkgelage, diese Tischreden der Alten, sowohl in ihrer philosophischen Einfachheit, wie bei Plato und Xenophon, als in der antiquarischen Gourmandise, wie bei Plutarch und Athenäus oder in den ausschweifenden und vielfräßigen Schilderungen römischer Gastmähler, z. B. der Schilderung des Gastmahles des Trimalchio, so werden wir uns bald überzeugen, wie nüchtern, ausgeglättet und farblos unsere jetzige Lebensweise gegen die der Alten absticht. Wir finden die Bildung jezt nur noch in dem vollkommnen Nivellement alles Menschlichen, in der Beherrschung der Leidenschaft, in einem Benehmen, das nichts Auffallendes haben darf.

Wir werden, um die große Sittenveränderung zu verstehen, welche sich im Laufe der Jahrhunderte hat entwickeln können, einen Schritt weiter kommen, wenn wir dem Zusammenhang der Sitte mit dem Gesetze nachspüren. Folgen die Gesetze den Sitten? Ja. Folgen die Sitten den Gesetzen? Nein.

Wenn ein Volk viel Sitten hat, so braucht es nur wenig Gesetze. Fast alle alten Gesetzgebungen, die man an die Namen Minos, Solon und Lykurg knüpft, drücken zunächst nichts anders aus, als das Festwerden der losen Gewohnheiten und die zum Gesetz erhobene Sitte. Lykurg wollte den Spartanern weder Gesetze noch Sitten geben. Er wollte nichts Neues aus ihnen schaffen, sondern den Stoff, der in ihnen lag, nur ausbilden. Lykurg wollte die Sitten nur erhalten. Seine Gesetze dienten zur Befestigung der Gewohnheiten, sie erhoben die Gewohnheiten selbst zum Gesetz. Alle Staaten, wo ein solches Verfahren möglich ist, werden eine kräftige Dauer verheißen und sich mit Energie in die Annalen der Geschichte schreiben. So ging auch bei den Römern Gesetz und Sitte Hand in Hand und erst in spätern Jahren des Verfalls, wo die Sitten erschlafft waren, wo die naturgemäße oder ererbte Gewohnheit ihre Heiligkeit verloren hatte, tauchten Gesetzgebungen auf, welche nur um ihrer selbst willen da zu seyn schienen und die mit der Geschichte des Volkes zunächst in gar keinem lebendigen und organischen Zusammenhang mehr standen. So steht auch die römische Gesetzgebung da als Muster einer abstrakten Verstandestheorie, ohne daß es ihr je hätte gelingen können, in thatsächliche Völkerzustände eingreifende und belebende Wurzeln zu schlagen. In China bedarf es wenig Gesetze, weil in diesem Lande nichts als Sitte herrscht. Die Tradition hat hier im Laufe der Geschichte sich eine so schnurgerade und mathematische Grenze erhalten können, daß in China die Menschen und die Dinge, die Personen und die Zeiten alle nur ein und denselben Pfad wandeln. Bei uns ist jezt an die Stelle der Sitten eine allgemeine Moral getreten. Die Vorschriften des Christenthums haben zwar in ihrer dogmatischen Begründung den Glauben der Völker nicht ewig fesseln können, allein die christliche Moral ist die natürliche Mitgift jedes neugebornen Kindes geworden. Wir haben nur noch wenig Sitten, aber dafür ein sehr kräftiges Sittengesetz, und dies macht es, daß man in unsern Zeiten weit weniger nach öffentlichen Vorschriften, als nach einer dilettantischen Willkür lebt, die sich ihre Schranken selbst gezogen hat. Die Gesetze haben jezt in dem Sinne keine beherrschende Kraft mehr, daß sie unser ganzes Daseyn zügeln und regeln sollten, sondern sie sind weit mehr untergeordnet, nicht etwa unsern Sitten, sondern unserm Moralprinzipe, dem durch Christenthum und Bildung allmälig in unsere Brust gesenkten, gemeinsamen kategorischen Imperativ. Daß man die Sitten durch Gesetze nicht ändern kann, ist eine geschichtliche Erfahrung, welche die Fürsten an dem Baldachine ihres Thrones aufschreiben sollten. Despoten haben versucht, das Unmögliche möglich zu machen. Sie haben auf irgend eine Gewohnheit eine Strafe gelegt und damit doch nichts anders bewirken können, als daß sie die Strafen fortwährend in Anwendung bringen mußten und eben den despotischen Charakter ihrer Regierung deutlich genug zur Schau trugen. Starben sie, so traten die alten Gewohnheiten, die sich nur versteckt hatten, wieder an das Tageslicht. Die Sitten kann man nur durch Einführung anderer Sitten ausrotten, das heißt, indem man den Motiven, die der Festhaltung irgend einer Gewohnheit zum Grunde liegen, die innere Haltung nimmt und sie entweder am Ehrgeiz, am Nachahmungstriebe, oder sonst einer Leidenschaft scheitern läßt. Peter der Große konnte die Sitten seines Volkes weit mehr dadurch ändern, daß er ihnen andere gegenüberstellte als dadurch, daß er sie durch Gesetze verbot. Peter der Große konnte weder den Bart, noch den Kleiderschnitt der Russen abändern, denn beide haben trotz seiner tyrannischen Vorschriften noch bis auf den heutigen Tag sich erhalten. Allein er konnte z. B. die Frauen aus ihrem zurückgesezten Zustande, in welchem sie sich immer in despotischen Staaten befinden, befreien, als er die französischen und deutschen Moden duldete, ihnen sogar die Kleiderstoffe zuschickte und die Frauen selbst an seinem Hofe erscheinen ließ. Peter der Große ist vielleicht der Befestiger der russischen Monarchie geworden, allein die Sittenrevolution, die er hervorrief, ist auch die Erweckung eines fortwährenden Widerspruchs gegen die despotische Regierungsform dieser Monarchie. Wie unnatürlich Rußlands gegenwärtige Verfassung schon ist und wie unnatürlich es seyn würde, wenn sie auf die Länge so bliebe, das beweist der große Umschwung der Sitten, welcher seit hundert Jahren in diesem Lande geduldet worden ist. Montesquieu hat in dem Geist der Gesetze bewiesen, daß despotische Staaten keinen bessern Anlehnungspunkt haben können, als die unveränderte heilige alte Sitte. So wie erst in den Gewohnheiten eines despotischen Staates etwas geändert wird, so hat er sich um seine Fortdauer gebracht. Montesquieu fügt hinzu, daß die beste Garantie für die Erhaltung alter Sitten in der Abgeschlossenheit der Weiber läge. Werden diese emanzipirt, dürfen sie ihren Harem verlassen, dürfen sie mit unverschleiertem Gesicht über die Straße gehen und die Gesellschaft anderer Männer als ihrer eigenen und der Verschnittnen derselben annehmen, so wird es nicht mehr lange währen, daß eine große umfassende Revolution in den Sitten ausbricht. Die Sitten ziehen aber die Gesetze nach sich. Wäre es dem Sultan ernst, die Türken zu civilisiren, so müßte er nicht mit den Steigbügeln seiner Kavallerie, den Kopfbedeckungen und Beinkleidern seiner Infanterie anfangen, sondern nur mit einer allmäligen Freilassung des Weibes aus seinem im Orient üblichen sklavischen Zustand. Die Frauen mildern die Gesellschaft und lösen ihre erstarrten Formen auf.

Daß die Gesetze den Sitten folgen, beweisen alle Beispiele der Geschichte. Ueberall, wo die Gesetzgebung aus dem Schooße des Volkes selbst hervorgeht, wird das Uebliche und Gewöhnliche, wird die Tradition die Richtschnur derselben seyn. Wir haben an der Geschichte des römischen Rechts ein so schönes Beispiel vor uns, wie juristische und politische Verhältnisse sich im Lauf der Zeiten gestalten und entwickeln können. Wenn wir z. B. Gesetze über die Ehe, über die Gewalt der Väter über die Kinder, über die Antretung von Erbschaften in ihrer allmäligen geschichtlichen Entwicklung bei ihnen vergleichen, so werden wir finden, daß selten ein Gesetz in starrer Anomalie gegenüber der Gewohnheit, die sich inzwischen gebildet hatte, gestanden wäre, sondern das Gesetz legte nie mehr auf, als die Schultern der Sitte tragen konnten. Montesquieu hat auch über diesen Gegenstand einige Beispiele gegeben und sie namentlich von den Vorschriften hergenommen, welche die in der ältern römischen Gesetzgebung noch häufig vorkommenden Prügelvorfälle zwischen Ehegatten betreffen. Spuren dieser Art verloren sich, wie aus den Sitten, allmälig auch aus den Gesetzen.

Wir haben schon oben gesagt, daß in unsrer Zeit das Gesetz durchaus keine allmächtige Superiorität mehr hat. Allen unsern Gesetzen mangelt das oberste Prinzip, mangelt die Einheit des Geistes, in welchem sie gegeben seyn sollten. Wir haben uns von den alten Sitten befreit und haben uns nicht gänzlich von den alten Gesetzen befreien können, und wo dies möglich war, wo eine Gesetzgebung wie aus einer neuen noch nicht abgenuzten Offenbarung geflossen ist, da hat sie sich des ganzen geistigen und sittlichen Lebens der Nation doch nicht mehr bemächtigen, sondern nur jenem allgemeinen Sittengesetze unterordnen können, welches viel gewaltiger ist, als der Geist, der in irgend einer Gesetzgebung herrschen konnte. Wir fühlen es bei unsrer Existenz, daß wir mit einem Wall von Gesetzen umgeben sind, die uns bei verbotenen Wegen sogleich entgegentreten. Allein es ist so leicht, diese Gesetze zu vermeiden, sie stehen in so großer Entfernung von der Lebensweise, die wir einmal verfolgen, sie sind für uns nur als Ausnahme von der Regel vorhanden. In den alten Gesetzgebungen lag etwas Ermunterndes, in den neuen liegt etwas Abschreckendes; jene waren positiv, diese sind negativ. Unsre neuen Gesetze sind ein Konglomerat von alter juristischer Dialektik und neuen Polizeivorschriften. Der kategorische Imperativ, der in ihnen herrscht, trägt einen langen gelben Säbel, einen Dreimaster und einen rothen Kragen am Rock und ist zu sehen, wenn ein Vagabunde auf dem Schub transportirt wird oder wenn an Markttagen die Bauern in die Stadt kommen und sich über ihre Verkaufsgegenstände nicht vertragen können.

Ja, die Sitte, obschon so sehr abgeschwächt, ist noch jezt immer mächtiger, als das Gesetz. Ein Kardinal im römischen Konklave trug darauf an, daß entschiedene Maßregeln ergriffen werden sollten, um den gemeinen Römern die eingerissene Gewohnheit abzugewöhnen, falsch zu schwören. Ein Beisitzer des Staatsraths erwiederte ihm: »Was, Sie wollen dem Volke seine Sitten verbieten?« Wer weiß, ob ein Gesetz über den Meineid, und wenn es noch so streng gehandhabt worden wäre, die Lazzaronis Roms von ihrer schlechten Gewohnheit hätte abbringen können. Hier werden immer nur Bildung und Unterricht und die von der Geistlichkeit gedrohten Höllenstrafen wirken können. Wie wenig Gesetze gegen Sitten wirken können, sieht man an einem deutschen Staate, wo der noch nicht lange verstorbene Souverain desselben nach dem wiedererwachten Studium der Antike, nach den Werken eines Raphael, Mengs und Canova, nach dem großen Zeitalter der napoleonischen Revolution und der Völkerschlachten wieder die Sitte des Zopfes in seinem Lande einzuführen wagte. Das Militär mußte sich der aristokratischen Willkür fügen, auch diejenigen Krämer und Beamte in der Residenz, welche vom Hofe lebten. Allein bei seinem Ableben hatte das Gesetz die Sitte nicht überwunden gehabt, sondern alle Welt war froh, sein Haar jezt wieder wachsen zu lassen, wie die Natur es wollte oder wenigstens das pariser Modejournal.

Wenn ich bisher von der Moral gesprochen habe, so muß man, wenn man sie für die Beherrscherin der gegenwärtigen Sitte halten soll, sie nicht aus jenen abstrakten Lehrgebäuden schöpfen, welche uns das vorige Jahrhundert über die Rechte und Pflichten des Menschen gebracht hat. Die moralischen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts haben, indem sie den abstrakten Menschen schilderten, eine große Wirksamkeit auf die Meinungen der Menschen ausgeübt. Durch die Schriften Fergusons wurden die Sophismen untergraben, welche bisher das Recht zur Sklaverei beschüzt hatten. Die allgemein menschlichen Vorschriften waren in jener Zeit etwas so neues, daß man über den Inhalt derselben ihre unerträglich weitläufige Form und eine gewisse Trivialität, die sich in alle ihre Sätze mischte, ganz übersah. Wer kann jezt noch die Schriften Rutherforts, Payley's, ja selbst die Schrift Smiths über die moralischen Empfindungen ohne das Gefühl einer kolossalen Langweiligkeit lesen! Dennoch haben diese Schriften für unsre Zeit bewirkt, daß sie in allen Gemüthern das Bewußtseyn des kategorischen Imperativs lebendig erweckt haben. Jene Schriftsteller strebten nach Prinzipien; sie mühten sich mit dem schon von Aristoteles auf das Tapet gebrachten höchsten Sittengesetze ab. Der eine sagte: »Halte immer die Mitte,« der andere: »Thue, was deiner Würde gemäß ist;« der dritte hielt das etwas egoistische christliche Sittengesetz: »Was du nicht willst, das dir die Leute thun sollen, das thue ihnen auch nicht!« für diejenige Maxime, nach welcher die menschlichen Schritte einzurichten wären. Auf unsern Universitätskathedern streiten sich die Professoren noch über das höchste Sittengesetz. Allein nur diejenige Ansicht hat in der Masse Raum gewonnen, welche das Gute, Edle und Richtige für etwas dem natürlichen Gefühle Angebornes hält. Dieser kategorische Imperativ ist allmälig an die Stelle der Sitten und Gesetze getreten. Kein Mensch will noch etwas befolgen, was er von seinen Aeltern ererbt hat, sondern jeder strebt darnach, sich seine eigenen Grundsätze zu bilden. Sogar die bunte Mannigfaltigkeit der Individuen und Charaktere, wie ohnehin schon längst die der Sitten, geht dabei verloren, weil nämlich Alles nach Normalität strebt und im Grunde Einer vor dem Andern sich nur durch Talent, nicht durch Manieren auszeichnen will. Die Sitte ist dadurch sehr versteckt und ein Kapitel über sie sehr schwierig geworden.

Wer möchte läugnen, daß sich unser Jahrhundert in einer moralischen Krisis befindet? Die Gesetze gelten nichts, weil sie nur für die Verbrecher da sind; die Moral hält die äußere Ordnung unsres Zusammenlebens aufrecht, allein auch sie wird bekämpft. Es ist auffallend, das Gefühl, wie an der Moral gerüttelt wird, ist gewiß allgemein in unsern gegenwärtigen Zuständen verbreitet; woher aber der Widerspuch kömmt, welches die Farbe und das Ziel der oppositiven Meinung ist, das weiß man nicht, und wenn man es ahnt, so wagt man nicht, sich darüber Geständnisse zu machen. Man stellt die überlieferte Moral, die Umgangssitte, die Sitten der Liebe, der Ehe, der Familie, man stellt sogar die Theorie der Verbrechen in Frage und wagt doch niemals eine Schlußfolge zu ziehen. Es ist eine Unbehaglichkeit mit dem Alten vorhanden, die sich der Gemüther beschlichen hat; eine bloß polemische Stimmung, die bis jezt noch ohne alle andere Resultate, als einige literarische, gewesen ist, beherrscht sie. Wie soll man sich diese Erscheinung erklären? Ist sie das Vorzeichen einer großen Katastrophe, deren Ende wir noch nicht absehen können? Oder sollte sich nur die politische und materielle Unbehaglichkeit und daraus entspringende Neuerung nur so haben äußern können, daß zu gleicher Zeit konsensuell auch alle übrigen moralischen Lebensfunktionen von einer krankhaften Reizbarkeit und beinahe organischen Verstimmung ergriffen werden mußten?

Wenn ich zum größten Theile mich für die leztere Meinung erklären möchte, so will ich nicht verschweigen, daß hiebei noch ein anderer Umstand obwalten dürfte. Nur die friedlichen Zeiten des vorigen Jahrhunderts waren im Stande, den Menschen allmälig aus den Fugen der Geschichte zu lösen und ihn einer Humanität in die Arme zu legen, welche, keiner Zeit angehörend, vielmehr die Blüthe und das Resultat aller Zeiten seyn sollte. Gegen diese arkadienhafte Weltanschauung haben die gewaltigsten Ereignisse, die seit lange in der Geschichte geschehen sind, reagirt. All' unser Thun und Lassen, unser Denken und Fühlen ist jezt wieder recht lebhaft in den Markt des Lebens geschleudert; überall strebt man wieder nach positiven Verhältnissen, die Geschichte wird in ihre Rechte gesezt, die Verstandesabstraktionen werden durch Gefühlsleben und manche historische Ueberlieferung verdrängt; und vor allen Dingen sind durch die französische Revolution und die darauf folgenden Ereignisse die menschlichen Leidenschaften so entfesselt worden, daß man sie noch immer nicht wieder hat beschwichtigen können, sondern sogar zugeben mußte, daß sie in vielen Zweigen höherer menschlicher Thätigkeit, z. B. in der Kunst und Literatur, als Hebel einer freien und kräftigen Genialität fortwirken. Kann man nicht z. B. auf dem Theater finden, daß Edelmuth, also eine Tugend der Beschränkung und Entsagung, nur das vorige Jahrhundert rühren konnte, während man jezt die Schönheit nur anerkennt, wenn sie uns erschüttert, und sie nur noch in Form der das Auge rollenden und die Locken des Hauptes schüttelnden Leidenschaft allein wiedererkennen will. All' dies gewaltthätige und heftige Wesen mußte auch die Grundvesten der Sitte wankend machen. Wenn man erst so weit gekommen ist, daß man die Aufopferung nicht mehr in leidender Entsagung, sondern im handelnden Enthusiasmus erblicken will, wenn man von der Tugend keine Zurückgezogenheit, sondern eine muthige Schaustellung ihrer kühnen Motive verlangt, dann dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn wir Sitte und Sitten in solche Schwankungen treten sehen, wie sie jezt vor unsern Augen auf und nieder wogen.

Beginnen wir jedoch beim Einfachsten, zuerst bei der Tracht. Hier scheinen wir in Formeln festgerannt zu seyn, die keine weitern Beschränkungen zulassen. Alles Weite, Wallende haben wir verbannt; die Civilisation der Völker wird damit eingeleitet, daß sich die Frauen an die Schnürbrust und die Männer an den knapp anliegenden Frack gewöhnen. Die Mode gibt dann und wann Veränderungen an, allein in der Hauptsache bleibt jener enge Zuschnitt, von dem man fürchten muß, daß er bei den Männern noch enger und kürzer wird, so daß diesen sogar noch hinten die Schöße des Fracks abgeschnitten werden und sie dastehen, wie die Kellner in den Gasthäusern. Nationaltrachten werden, wenn nicht abgeschafft, doch an die pariser und englische Mode angepaßt. Wenn nicht in Schottland, Spanien, Ungarn die Nationalbewaffnung, also das soldatische Kostüm, der Volkstracht noch einen Anknüpfungspunkt darböte, so würden auch hier die Plaids, die nackten Knie oder die braunen Mäntel und die Haarnetze oder die bunten Stiefel mit den schnurreichen Dollmans bald verloren seyn. Je mehr sich nach unten die Bildung verbreitet, desto mehr suchen die Menschen ihre Auszeichnung in geistigen Dingen. Der Reichthum, falls es wahr wäre, daß er sich auch nach unten hin verbreitet (was ich aber von der jetzigen Zeit läugne, da im Gegentheil der Reichthum bei den vielen bedenklichen Krisen, in welchen wir leben, stationär geworden ist und in den Händen derer bleibt, die ihn einmal haben), ich sage, daß wenn der Reichthum sich nach unten hin verbreitete, so würde die französische und englische Tracht, man kann wohl sagen, diese Tracht der Verstandesabstraktion, sich von selbst überall Bahn brechen. Wo Armuth herrscht, kann aber auch die Volkstracht nicht sinnig gepflegt werden, weil einmal die Armen mit den Lumpen der Reichen sich bedecken und sodann die Volkstracht theuer ist, und man doch jenen großen Mantel, welchen die Lazzaroni um ihren nackten Körper schlagen, nicht gerade Volkstracht nennen kann. Ueber alle Verhältnisse ist die Ueberschwemmung des Nivellements getreten. Das Charakteristische und Auffallende, die grellen Farben und Töne verlieren sich aus der Musik der Sitten, und der größte Theil jener Trachten, welche wir bei den Kunsthändlern ausgehängt finden und die wir für national in Italien, Polen, der Schweiz und Deutschland halten, gehören einer frühern Tradition oder kommen wohl gar aus der Garderobe des Theaters.

Dieselbe Unbefangenheit, welche in unsrer Tracht herrscht, herrscht auch in unserm Benehmen. Das vorige Jahrhundert war darin weit bedächtiger und erfand, da die Sitten abgeschafft waren, einen Ersatz dafür im Ceremoniell und der Etikette. Was damals freie Bewegung hieß, feiner Ton und Unabhängigkeit von der Landessitte, das war in China gerade allgemeine Volkssitte. Jenes Ceremoniell konnte nur noch vor der Revolution gelten, als der dritte Stand noch nicht seine berühmte Nacht im Ballhause gefeiert hatte. Der Unterschied der Stände liegt größtentheils jener Etikette zum Grunde, die sich auf unsre Zeit noch unter dem Namen Höflichkeit und feines Benehmen vererbt hat. Gestürzt wurde dieser gesellschaftliche Pedantismus mit dem wiederbelebten Sinn für die Natur, die Einfachheit ihrer Gesetze und eine veredelte und geläuterte Kunsttheorie. Für unsre Zeit kann man überzeugt seyn, wenig beliebte Tanzmeister mehr zu finden, die nicht alle die Vorschriften, welche sie über Gehen und Stehen, über Rückgratsbiegungen und Schenkelerhebungen machen, noch von dem unterwürfigen Respekt gegen andere, sondern von der Grazie der freien Bewegung ausgehen ließen, von der Hogarthischen Wellenlinie, die um ihrer selbst willen da ist und sich nicht schlängelt aus Servilismus, sondern aus Aesthetik. Ob man den Hut von der rechten oder linken Seite abnehmen soll, wie viel Schritte vorher man zu grüßen hat, je nachdem uns ein Lord oder nur ein einfacher Edelmann begegnet, diese Rücksicht hat die heutige Höflichkeit mehr auf das Gefühl ihrer Beflissenen zu gründen gesucht, weil sie davon überzeugt ist, daß nichts einen schönern Eindruck macht, als sich aufmerksam beweisen bei dem muthig behaupteten Gefühl seiner Unabhängigkeit. Die Grazie darf nie ohne die Würde seyn. Die Etikette hatte aber nur Sinn für die Würde im objektiven Sinne, nämlich vor Mächtigeren das Rückgrat so krumm wie möglich zu biegen. Diese Art von Unterwürfigkeit fängt jezt schon an zu beleidigen, sie ist niemand willkommen, dem mit ihr gehuldigt werden soll. Die Achtung freier Männer erquickt mehr, als die Achtung der Sklaven; jene hat den Schein der Ueberzeugung, diese nur den des blinden Gehorsams. Natürlich ist dasjenige, was man heutiges Tages feines Benehmen, Ton und Anstand nennt, weit schwieriger, als die Etikette des vorigen Jahrhunderts. Die leztere war etwas Mechanisches; jenes muß aus einer sichern Abwägung seines innern Gleichgewichtes herkommen, muß eine innige Zusammenschmelzung von formellen und moralischen Bestandtheilen seyn. Was liebt man mehr in der Gesellschaft, was reizt mehr die Aufmerksamkeit der Frauen, als sogar eine gewisse Anomalie von den hergebrachten Anstandsvorschriften, wenn sie nämlich nur mit Gewandtheit durchgeführt und mit Energie behauptet wird und vor Allem Niemanden verlezt! Die Natur hat immer eine hinreißende Kraft; diese feine geläuterte Natur des Benehmens, welche sich aber der Kunst als Unterlage bedient, ist dasjenige, was wir an den Matadoren der Gesellschaft gern als ihren modernen Anstrich bezeichnen. Es kann über diese Virtuosität natürlich keine Vorschrift gegeben werden, weil dabei das Handwerk in einigen angelernten Formalitäten besteht, die allerdings mechanischer Art sind und vom Tanzmeister, Schwimmlehrer und Stallmeister gelehrt werden. Das Uebrige aber, was diesem Mechanismus erst die schöne Seele gibt, das ist persönliches Talent. Für den schönsten Anstand hält man jezt vollkommene Verwischung alles Formellen und alleinige Beherrschung desselben durch eine aus dem innersten Born der Ueberzeugung und des Charakters quillende Natürlichkeit.

Freilich ist dies nur ein Ideal. Allein es wird von Jedermann anerkannt, es wird gepriesen, wenn es bei einigen gebildeten jungen Leuten sich findet. Der eckigen, schlaffen, geckenhaften Ausnahmen gibt es genug. Der eine springt, der andere schlorrt. Das Temperament ist dadurch in seine Rechte gesezt, daß man gesagt hat, Natur und immer wieder Natur! Die Menge von Sorgen, welche auf der gegenwärtigen Generation lasten, hat gleichfalls die freie und harmlose Ausbildung des Benehmens verhindert; viele recht artige und gewandte Manieren wurden plötzlich in ihrem Laufe gehemmt, so daß wir zwar alle Komplimente wissen, sie aber mit einem gewissen originellen Tik verbinden, daß man glauben möchte, wir wären manchmal wahnsinnig. Wo findet man dies mehr, als in England, und auf dem Kontinente wo mehr, als bei den Kaufleuten? Da hat Einer ein fortwährendes krampfhaftes Zucken mit dem Halse, er handelt in Staatspapieren. Einem Andern, ob er gleich noch jung und kräftig ist, zittern wie gelähmt die Hände: er hat einmal falliren müssen. Ein Dritter ist stumm und verschlossen, er hat fortwährend Schiffe auf der See, deren Assekuranzprämie weit geringer, als ihre Ladung ist. Auch die Politik treibt die Menschen aus einander; sie sind nur höflich gegen diejenigen, welche mit ihnen einerlei Meinung haben; gefühlvolle Herzen werden unempfindlich, wenn sie von nachtheiligen Zufällen derjenigen Partei hören, deren Ansichten sie nicht theilen; der sanftesten Gemüther bemächtigt sich ein unerbittlicher Rigorismus, ach und im Grunde des Herzens, unverdorbene Naturen scheuen sich nicht, ihre Finger zu einem Meineide und wohl gar ihre ganze Hand zu einem Meuchelmorde aufzuheben! Unser gesellschaftliches Benehmen kann sich schon deßhalb nicht konsequent entwickeln, weil wir gar nicht mehr die Behaglichkeit des Zusammenlebens haben, welche frühere Zeiten hatten. Durch alle unsere Verhältnisse zieht sich der gewaltige sociale Riß, diese klaffende Wunde des Jahrhunderts; wie kann sich da eine harmlose und heitere Beweglichkeit in Sitte und Haltung erzeugen? Wir haben so außerordentlich viel zu thun, so ausgedehnte Strecken zurückzulegen, daß wir selten zum fröhlichen Genuß des Momentes gelangen.

Doch gut -- wir besuchen uns, wir treffen hier und da zusammen, wir essen und trinken mit einander, wir suchen uns sogar durch Spiele von unseren Geschäften aufzuheitern. Wir streben manchmal recht eifrig, es unsern behaglichen Eltern nachzuthun und Alles wieder so zu machen, wie sie es machten. Junge Frauen und junge Männer halten sich nicht eher für vollkommen, ehe sie sich nicht einen solchen Sessel angeschafft hatten, wie ihn der Vater hatte, einen solchen Ton mit Untergebenen, wie die Mutter. Das kömmt nicht selten vor. Allein eben so oft auch, daß die Kinder von den Eltern gar nichts entlehnen durften, daß sie eine große Kluft überspringen mußten von Sitte, Meinung und Zeit, um aus anerzogenen Vorurtheilen in die Existenz zu kommen, die ihnen wünschenswerth ist. Doch systematisch verfährt man heutigen Tags in den gesellschaftlichen Beziehungen nicht mehr; die Familie und das Haus sind keine Institution mehr von so abgeschlossener und auf sich selbst beruhender Bedeutung, wie etwa der Staat in frühern Zeiten, wo diejenigen, welche ihn nicht brauchten, froh waren, ihn zu umgehen. Wenn man sieht, wie das Haus und die Familie in das gesellschaftliche Zusammenleben jezt nur noch eine Ergänzung unsrer übrigen noch weit wichtigern Verhältnisse und Bedürfnisse zu seyn scheinen, möchte man nicht glauben, daß wir dem Ideale unsrer heutigen Weltbesserer entgegen gehen, einer öffentlichen Erziehung? Ein rechter Beweis, wie das Leben am eigenen Kamin und Heerde untergraben ist, liegt gerade in der Hartnäckigkeit, mit welcher dem Weltlaufe zum Trotz sich viele Naturen an den Heerd und Kamin anklammern und sich gerade aus dem Familienleben ein zufriedenstellendes und in sich gerundetes Lebensresultat schaffen wollen. Das Streben unsrer Zeit nach behaglicher Einrichtung, nach Komfort drückt diese Erscheinung vollkommen aus. Denn das Komfort soll gleichsam als ein Palliativ gegen die fortwährende Einwirkung des äußern Lebens, die mit ihren unbefriedigten Endzwecken fast unerträglich wird, dienen. Man scheint sagen zu wollen, daß man wenigstens diesen lezten Anker der Ruhe und eines einigermaßen genossenen Frohsinns am Leben sich von dem stürmischen Meere nicht wolle fortreißen lassen.

Die Menschen kommen zusammen und erheitern sich; junge Leute lesen sich ein Schauspiel vor, wo jeder einzelne eine Rolle übernimmt und man Noth hat, alle die nöthigen Exemplare im Städtchen aufzutreiben. Frauen haben ihre eigenen Zusammenkünfte, Männer die ihrigen, zuweilen vermischen sie sich. Der Weltlauf begleitet sie in die Gesellschaft; wohl dem, der in heiterm Gespräch ihn vergessen kann! Das Gespräch ist vibrirend, keineswegs gründlich erschöpfend; ein Redner, der die Unterhaltung an sich reißen will, wird gern gehört; denn löst er nicht Alle, die nur sprechen, um zu sprechen, von ihrer Mühsal ab? Die Stoffe, über welche man sich ohne Leidenschaft unterhalten kann, sind so karg zugemessen. Die Kunst und Literatur münden sich, wenn man ihnen ein wenig tiefer auf den Grund gehen will, in Fragen aus, wo das Blut heißer wird, als zu einem unbefangnen Gespräche nöthig ist. Weil es an Stoffen fehlt, oder die, welche man behandeln könnte, dem Ort und der Stunde nicht angemessen sind, so ergeht man sich in Formalitäten, man liebt den Witz, sogar den Wortwitz; man überredet sich, sogenannte Geistesspiele für angenehm zu halten. Die Salons sind etwas unsrer Zeit ganz Eigenthümliches; es ist das Haus, die Familie, aber mit geöffneten Flügelthüren. Die Salons sind Nischen, Arkaden, sind Absteigquartiere, in welchen die das Drama unsrer Zeit abhandelnden Schauspieler eine Zeit lang hineintreten, um sich den Schweiß von der Stirne zu kühlen, oder nur in der Eile ein Glas Zuckerwasser zu trinken. Jeder ist geladen, der kommen will, denn in dem Prinzipe der Salons liegt nicht das Bleiben, sondern das baldige Wiederweggehen. Alles, was verhandelt wird, ist von flüchtiger Dauer; man hat den Degen seiner Ansichten an die Lenden geschnallt, obschon nicht blank, sondern in der Scheide. Man plänkelt nur gegen einander, es ist ein kurzer Waffenstillstand in dem großen Kampfe, dem noch so viel Schlachten, so viel Menschenherzen geliefert werden sollen. Wo aber die Frauen das Uebergewicht haben, oder die Harmlosigkeit sich ein wenig fester eingebürgert hat, nun, da sind es drei Dinge, die das stockende Gespräch ersetzen: die Musik, das Spiel und sogar der Tanz.

Die Musik ist beinahe keine bloße Kunstfertigkeit mehr, sondern fast eine konversationelle Tugend. Wer sie nicht übt, muß sie wenigstens zu schätzen wissen. Wer nicht die zweite Stimme übernimmt, muß sich wenigstens an das Pianoforte stellen und das Notenblatt umschlagen. Die Musik ist dazu benuzt worden, eine Lücke in unsrer heutigen Bildung auszufüllen und gleichsam eine angenehme Politur auch denen zu geben, welche nicht im Entferntesten eine Verwandtschaft mit dem hohen Geiste haben, in welchem die Werke eines Mozart und Beethoven empfangen und geschaffen sind. Was vermißt man bei dem größten Theil unsrer Frauen? Esprit. Der Grund dieses Mangels liegt auf der Hand. Esprit ist eine gefährliche Geistesgabe; Mit gift in einem Zeitalter, wo man die Beschränktheit Gemüth und die Frivolität Geist nennt. Soll man den Frauen jene witzige Dialektik gestatten und sie in ihrem empfänglichen Geiste auszubilden suchen, welche sie auf die Höhe der jetzigen Männerwelt stellt? Die Aufgabe ist schwierig und gefährlich. Die Erzieher und Eltern haben sie von sich gewiesen und für die feine Geistesbildung nach einem Surrogat gesucht. Sie fanden es in der Musik. Die Musik verbreitet namentlich über die Bildung der Frauen einen gewissen spirituellen Schimmer. Sie ist das Bindeglied der vereinzelten Wissensstoffe, die ihr Gedächtniß in sich aufgenommen hat; sie ist auch der elektrische Leiter, durch welchen man den einzelnen zerstreuten Geistesfunken derselben beikommen kann. Vielleicht ist aber auch diese Erscheinung schon wieder in einem neuen Stadium begriffen. Je schwieriger bei der außerordentlichen Konkurrenz es wird, in der Musik Etwas zu leisten, desto mehr verliert sich vielleicht die große Selbstgenügsamkeit, welche bei einer sonst ganz mangelhaften Bildung durch ein wenig Gesang und Klavierspiel bei den Frauenzimmern erzeugt wurde. Es scheint, als müßten die Erzieher sich schon nach einem andern Surrogat umsehen, um dem weiblichen Geschlecht in einer Zeit der Debatte doch die Tonangabe in der Gesellschaft zu lassen. Schrecklich wär' es, wenn die Weiber, von den großen Klavierspielern und Sängern unserer Epoche übertroffen, sich auf den zweiten Hebel der Gesellschaft, von welchem wir sprachen, werfen sollten, nämlich auf das Spiel. Das bereits allgemein verbreitete Schauspiel, junge Mädchen mit Karten in den Händen zu erblicken, wäre das Anzeichen einer einreißenden Gedankenlosigkeit, die uns, wie in der Mitte des vorigen Jahrhunderts für die Unmündigen ein Rousseau erstand, jezt bald einen Rousseau für die Erwachsenen bringen müßte.

Das Spiel ist das Grab der Sorgen und die Wiege derselben, je nachdem es getrieben wird. Der Eine erstickt im Whist seine Leiden oder tödtet wenigstens das unendliche Wehe, das ihn peinigt, die Langeweile; der Andere verspielt nicht seine Unruhe, sondern seine Ruhe, oder wie Lord de Roos seine Ehre. Das Glück soll erobert werden, beim Einen durch die Sturmleitern der Leidenschaft, beim Andern durch einen solchen Handgriff, den sich im Spiele Menschen erlauben, welche sonst keine Ruhe über einen Schilling haben, der ihnen zu viel von einem Kaufmann gegeben worden ist. Das Spiel ist eine Erholung, weil es die Zeit ausfüllt und die kleinen Leidenschaften des Menschen nicht ermüden läßt. Klammert man sich aber an das Kleine an und sezt Großes daran, was man Großes nennt, nämlich bedeutende Summen Geldes, so richtet es in Mienen und Farbe der Haare, im Blick der Augen und Haltung des Körpers eine frühe Verwüstung an. Das Hazardspiel ist auf dem Weg, ausgerottet zu werden. Auch die Lotterien sind in Gefahr, nicht mehr gezogen zu werden. Die Humanität mancher Gesetzgeber stemmt sich gegen sie, wie gegen die Beibehaltung der Todesstrafe. Allein der Taumel, das Glück für sich zu beschwören, scheint tief in die Gemüther der Zeitgenossen eingedrungen zu seyn. Die Sucht nach Reichthümern kann von der eifrigsten Hingebung an die Arbeit und den Erwerb nicht mehr befriedigt werden. Die Kapitalien sind so fest geworden, daß an vielen Orten nur noch die Lotterie im Stande ist, neue zu schaffen. Die Menschen wissen nur zu gut, daß die jetzigen Handels- und Gewerbsconjunkturen nicht mehr die früheren Erfolge haben, und werden sich daher immer noch eifriger drängen, auf den Zufall zu bauen. Die Sucht an der Lotterie ist auf dem Continente eher im Zu- als Abnehmen begriffen. Die Verzweiflung ist bei Vielen so groß, daß sie ihr ganzes Vermögen aufs Spiel setzen, um sich zu bereichern. Die zahmsten jedoch unter den Spielern sind die Schachklubbisten, die Philosophen unter den Spielern. Berühmte Matadore dieser Kunst werden aber seltner. Man zieht es vor, in Masse zu spielen, wenigstens wird, trotz der Quadrupelallianz, ein fortwährender Krieg zwischen England und Frankreich, jedoch nur mit Schacharmeen, geführt. Das vorige Jahrhundert war tiefsinniger in der Metaphysik. Wir haben jezt im Schachspiel nur eingeschossene Empiriker, keine Newton und Leibnitz mehr. Kein einziger neuer Zug ist mehr entdeckt worden; dennoch gibt es noch Viele, die sich begnügen, das Schachspiel nur erlernt zu haben. Es sind gewöhnlich die Freunde derselben Männer, welche sich von den Wirren des Parteigeistes zu befreien suchen und wenigstens darnach trachten, wie Aristoteles befohlen, mit sich selbst zufrieden zu seyn. Ein gewandter Schachspieler ist immer davon überzeugt, daß in ihm ein Napoleon steckt, der Alles zur Räson bringen würde, wenn man ihm nur die Macht ließe, so zu handeln, wie er denkt, nämlich denkt in der indischen Weisheit des Schachspiels. Schachspieler sind sehr für sich eingenommen, und will ich auch gar nicht bestreiten, daß sie wenigstens in der Mathematik das leisten könnten, was sie glauben in allen Wissenschaften leisten zu können. Weibliche Schachspieler finden sich nicht minder, wie es sogar Damen gibt, die die Violine spielen. Das sind immer kühne Naturen und würden nicht nur für die Emanzipation der Weiber kämpfen, sondern auch gar kein Bedenken tragen, ihr Jahrhundert, wenn sich die Gelegenheit fände, in die Schranken zu rufen.

Den Tanz hielten die Alten für eine Huldigung Gottes, heutige Zeloten für eine Huldigung des Satans. Obschon die Alten von dem Tanz eine so hohe Meinung hatten, so überließen sie es doch nur den Sklaven und Jahrmarktsgauklern, zu tanzen, wie jezt die Türken ihren Sklavinnen, während ihre Herren dabei die Pfeife rauchen. Für den Tanz kann man jezt nur noch junge Leute ermuntern. Die Aelteren ermuntern sie gern, weil sie annehmen, daß Ecossaisen, Anglaisen und Franzaisen an die Stelle der gymnastischen Uebungen getreten sind, an welchen die jungen Leute in Griechenland ihren Körper stärkten. Auch in die Tänze ist jedoch ein neuer Geist gefahren, und zwar von einer Seite her, wo man es am wenigsten hätte erwarten sollen. Die Deutschen haben nämlich ihre Reformation nicht so schnell verbreiten können, nachdem sie die Völker einmal gekostet hatten, als jene monotonen, aber wilden Kreise im Kreise, welche man Walzer nennt. Oestreich, sonst so wenig eingenommen für den Fortschritt, hat es vollends bis zu einer an Mänadismus gränzenden Leidenschaft darin gebracht. Die Engländer halten es doch sonst auch mit der Pferdezucht, allein bei menschlichem Tanze die pferdemäßige Gallopade einzuführen, das blieb den Böhmen überlassen, die den neuen Walzer im Zweitritt erfunden haben sollen. In England werden diese Tänze nie einheimisch werden, weil unser Volk zu schwerfällig ist und die Berauschung in Bier und Aquavit eher in die erste beste Ecke wirft, als zu bacchantischem Taumel beflügelt. Allein in Frankreich ist diese neue wilde Tanzlust an die Stelle der verschollenen romantischen Schule getreten, ja die lezten Trümmer derselben scheinen sich in Paris mit dem Tanze verschwistert zu haben, wenn man den Wundern glauben darf, die von Müsards und Jülliens allgemeinen Entreebällen erzählt werden. Im wilden Taumel schießen die Paare hinter einander her; die Musik, um den Tanzenden wahre Tarantelstiche zu versetzen, unterstüzt sich mit Kanonenschlägen, mit Schwärmern, mit Posaunen, mit Glocken, ja sogar mit Orgelklängen. Die wollüstigen Scenen aus Robert dem Teufel liegen all diesen Arrangements zu Grunde. Man verbindet mit der Sinnlichkeit den Spiritualismus des Gefühls. Man drückt im Rausche des Tanzes jene verworrene Philosophie aus, welche in Paris die Königsmörder und die Kohlendampfs-Erstickungen erzeugt. Es ist fast wieder so weit gekommen, wie es bei den Alten war, daß nämlich der Tanz ein Symptom der Religion wird. Wenn die Religion den Schmerz tödtet, so macht ihn der Tanz, wie er jezt getrieben wird, wenigstens vergessen. Es harmonirt auffallend mit der gegenwärtigen Lage Europas, daß der Tanz neben der allgemeinen Bedächtigkeit, versteckten Leidenschaftlichkeit und dem Mißtrauen der Menschen seinerseits diesen wilden und bis zur Prostitution sich hingebenden Charakter angenommen hat.

Wir beobachteten bis jezt die Sitten der Zeitgenossen nur in ihren formellen Aeußerungen. Allein ihre Hände sind nicht blos da, um zu grüßen, ihre Füße um zu tanzen, sondern zwischen alle diese Formalismen zieht sich der Roman der Herzen und Gefühle hindurch. Die Sympathie der Liebe ist keine solche Zauberkraft oder verstärkt sich nicht mehr aus einer allgemeinen gefühlvollen Grundlage des Lebens, wie im vorigen Jahrhundert. Richardson hatten im vorigen Jahrhundert alle gelesen; für die Zärtlichkeit waren alle Herzen geebnet. Jezt scheint es, als erzeugte (wenigstens die Literatur) nur ein Verhärten der Herzen und ein Abstoßen der sich einschmeichelnden Neigungen. Dem Leben, wie es sich jezt äußert, kommt die Erregung der bloßen Verstandesreflexion und des nüchternen Witzes auf halbem Weg entgegen; denn wir sind weit entfernt, durch diese so vorherrschend gewordenen Springfedern unseres öffentlichen Lebens für den Kultus angenehmer und den kleinen Roman des Herzens zur Weltgeschichte ausdehnender Situationen empfänglich zu werden. Die Liebe fehlt den Herzen nicht, allein sie hat an Ausdauer, Kraft und Stolz verloren; sie schmiegt sich in unzählig öfteren Fällen den Rücksichten an, als früher, sie duldet vielleicht mehr, als ehemals, allein auch an Muth hat sie verloren. Diese Erscheinung war vorauszusehen. Seitdem das Familienleben nur in einen engen Winkel des Hauses zurückgedrängt ist, und die großen Fragen der Geschichte und Tendenzen die edelsten Stoffe in den Gemüthern der Männer absorbirt haben, verloren die Frauen das Vertrauen auf ihre Empfindungen und wagten wenigstens nicht mehr, wie in frühern Zeiten, sich für den Mittelpunkt der Gesellschaft zu halten. Ein großer Theil unsrer heutigen Ehen wird gedankenlos geschlossen: ein größerer kömmt durch Meinungen zusammen, die sich mit der zufälligen Wahl bald zufrieden geben. Einen noch gleichsam in der Luft liegenden Hang zu romantischen Spezialitäten kann man nicht mehr voraussetzen, wenn auch zuweilen von der Liebe ganz ernste Dramen ausnahmsweise aufgeführt werden. Der finanzielle Kalkül zerstört oft den der Liebe, und manches Frauenherz, das verkauft wird, verblutet in Schmerz und Verzweiflung. Ist einmal erst die Tragödie oder wenigstens das ernste Drama in der Liebe eingefädelt, so kann man gewiß seyn, daß es sich gewaltsamer endigt, als in frühern Zeiten; denn in einer Zeit, wo so viel sich fügen muß und wo der Kleinste in so große Begebenheiten sich verflochten fühlte, da werden Eltern von dem Eigensinn ihrer Kinder nicht mehr viel Wesen machen. Es entspricht dem Charakter unsrer Zeit, daß vieles, was in Sachen der Liebe vorgeht, krampfhafter und verzerrter Natur ist. Der Prozeß des La Roncière kann eine Perspektive eröffnen auf die Leidenschaft unsrer jungen Leute, wenn sie einmal angefangen, aus dem gewöhnlichen Gleise herauszutreten.

Natürlich mußte gegen die im Allgemeinen herrschende Oberflächlichkeit in Liebesverhältnissen eine Reaktion kommen, und, bedenklich genug für die Sitten des Zeitalters, es findet diese erst im Verlauf der Ehe statt. Man würde heutiges Tags nicht so viel über die Ehe grübeln, die Dichter würden sich nicht darin gefallen, so zahlreiche Verletzungen derselben zu schildern, wenn über dies Institut nicht eine unbehagliche Stimmung vorhanden wäre. Plump und verbrecherisch scheinen mir die Angriffe auf die Ehe selbst; während alles, was an ihr mißfällt, nur Symptom von Uebeln ist, die anderwärts versteckt liegen und die nur zufällig in der Ehe wahrgenommen werden. Wenn wir auf mangelhafte Verhältnisse in der Ehe stoßen, so sind diese nur die Folge eines Versehens, was in dem schon vorhergegangenen Stande der Liebe begangen. Die heutigen Schriftsteller sollten weit mehr über diese nachdenken und die begleitenden Umstände der Außenwelt erwägen, als daß sie sich in metaphysische Spitzfindigkeiten über die Ehe einlassen und wohl gar darauf hinauskommen, die Formen des Barbarismus für nothwendige Potenzen unsrer heutigen Bildung zu halten. Es ist schwer, daß gegenwärtig noch Dichter über die Ehe nachdenken und nicht den Anomalien derselben ihre poetische Darstellung und Entschuldigung widmen sollten. Ich glaube nicht, daß dies Frivolität oder bei so viel verbrauchten Stoffen eine Impotenz ist, sondern den Dichter trägt allerdings die Welle des Tages und der Geist der Zeit bläst in die Segel seines Fahrzeuges hinein; der Dichter fühlt ein Uebel und sucht es abzuwenden, indem er es schildert oder ihm einen Kontrast des Gegentheils als Spiegel gegenüberhält. Dennoch sollte mit der Phantasie nicht auch zugleich der besonnene Verstand sich fortreißen lassen. Der Dichter, als nüchterner Philosoph, sollte sich gestehen, daß wir durch diese krassen Gemälde häuslicher Zerrüttung, welche in den meisten heutigen Romanen aufgestellt werden, die Verwirrung nur noch vermehren und einer Springfeder der Sittlichkeit durch unser Rütteln und Schütteln ihre Elastizität nehmen. Die Ehe bleibt und ist ein Hebel der Kultur und kann weder von dem freien Weibe St. Simon's, noch von Lelia's spitzfindig sinnlichen Grübeleien untergraben werden. Die Thatsache derselben ist so einfach, ihr logischer Grund so natürlich, daß eine Erschütterung unmöglich ist. Warum wendet man also die Spitze der Satyre und Ironie statt einwärts, auf den kleinen, aber ewigen Grundsatz der Ehe, nicht auswärts hinaus auf die Umstände, welche das eheliche Leben erschlafft haben, auf diejenigen, welche ihm eine künstliche, statt der natürlichen Nothwendigkeit gaben, auf diejenigen, welche der Liebe und der vorher zu knüpfenden Freundschaft den idealischen Schmelz nahmen, auf diejenigen endlich, welche in das eheliche Leben mit zerstörender Hand eingreifen? Man sieht in einer Verbesserung der zwischen Mann und Weib Statt findenden Verhältnisse beinahe nur immer Fortschritte, die man von den Weibern erwartet; allein die untergrabene, leichtsinnige und gedankenlose Ehe rührt weit mehr von den Männern her, die die Frauen nur als Mittel ihrer physischen und ökonomischen Ordnung betrachten und sich allen Dingen eher zuwenden, als dem heiligen Feuer, das auf dem heimischen Heerde unablässig lodern soll. Die meiste Schuld liegt auf jenem Felde, das unten an den Zinnen Troja's liegt, wo die Griechen und Trojaner sich bekämpfen, während sich oben die Frauen mit der Gesellschaft verliebter aber alter Graubärte begnügen müssen.

Bereits oben ist bei Gelegenheit der Uebervölkerung von Rechten die Rede gewesen, welche man dem ehelosen Stande der Ehe gegenüber einräumen soll. Ich dringe auch hier darauf, die unehliche Geburt nicht mit polizeilichen Schwierigkeiten zu belasten, weil jeder Einsichtsvolle nur in dieser Schwierigkeit die Gefahren einer Uebervölkerung und mit ihr verbundenen Nahrungslosigkeit sehen kann. Allein der Einsichtsvolle sollte auch weit davon entfernt seyn, diese Emanzipation der Unehe darin zu finden, daß man die Ehe selbst untergräbt. Das Hagestolziat ist, wie wir an Lord Bubbleton sahen, eine natürliche Folge der auf der Existenz lastenden Hindernisse und Schwierigkeiten; allein den Junggesellen sollte es gelingen, uns den ehelichen Stand zu verleiden? Sie sollten Macht gewinnen, einen Pantheismus der Geschlechtsneigung zu predigen, der zu Auflösung aller Sitte und Ordnung führen würde? Ich verdenke ihnen nicht, daß sie sich rächen, daß sie darnach streben, ihre Kryptogamie in bessere Achtung einzusetzen; allein daß sie deßhalb in der Ehe logische und metaphysische Widersprüche zu entdecken glauben, ist eine Verblendung, wo es mir leid thut, sie eine so geistvolle Schriftstellerin, wie die Verfasserin der Lelia ist, theilen zu sehen.

Alle Gebrechen, die man in der Ehe finden kann, liegen theils nur in den Personen, die sie schlossen, theils nur in den äußern, sie umgebenden Umständen. Es ist einseitig von der Ehe und beweist genug für den Formalismus, der so oft ihrer Schließung zu Grunde liegt, daß sie sich den Verbesserungen des ehelosen Standes widersezt, daß sie keine Findelhäuser dulden, keine gefallenen Wesen mit Nachsicht aufrichten will. Kann denn ein Triumph größer seyn für ehelich verbundene, als daß sie sich bei der gestatteten Freiheit, es nicht zu thun, doch einer ewigen Einigung ihrer Lebensschicksale unterworfen haben? Die Gesetzgeber sollten darauf bedacht seyn, alle Umstände zu erleichtern, unter welchen die Ehe Statt finden kann. So lange aber diese Umstände mit Hilfsmitteln gar nicht erreichbar sind, so lange sie von einer Umgestaltung unsrer gegenwärtigen Verhältnisse abhängig sind, sollte die Orthodoxie unsrer Ehe auch nicht so intolerant seyn, daß sie überall Ketzerei und Aergerniß sieht. So scheint es, als wären weder die, welche die Ehe vertheidigen, noch die, welche sie angreifen, auf dem rechten Wege begriffen.

Es möchte hier wohl am Orte seyn, den geheimnißvollen Vorhang von einem Gemälde wegzuziehen, welches zunächst vielleicht nur den Eindruck der erregten Sinnlichkeit macht, aber im Hintergrund doch eine unsägliche Fülle von Elend und Verzweiflung birgt. Es gibt für den Schriftsteller Aufgaben, denen er nur mit Widerwillen gehorcht. Alexander mußte die Pythia mit Gewalt ergreifen und sie auf den Dreifuß setzen, um sich die Herrschaft der Welt und einen frühen Tod prophezeihen zu lassen. So kann ich das unbehagliche Gefühl jener Aerzte verstehen, welche sich mit ihrem keuschen und reinen Bewußtseyn entschließen müssen, in dem Pfuhl, welchen die menschliche Sinnlichkeit zurückläßt, entweder eigenhändig aufzuräumen oder sogar die Feder zu ergreifen, um darüber zu schreiben.

Was verbirgt sich nicht alles hinter unsern Wänden? Was geht in den Häusern vor, an welchen wir vorübergehen und wo die Thüren und Fenster uns so leer und gleichgültig anstarren? Wie wir uns grüßen und begegnen, wie wir Feinde sind auf offener Arena, oder Freunde in stiller Einsamkeit; wie wir draußen auf der Rednerbühne sprechen, oder daheim im traulichen Umgange -- wir haben alle ein Geheimniß, wir haben noch immer Etwas, das wir Niemanden sagen, immer Etwas, worüber wir uns nur selbst Rechenschaft geben. Wie es im Geistigen ist, so ist es auch in der Sitte. Es werden an dem Gemälde unsrer Zeit immer noch Pinselstriche fehlen; wer kann sich in alle Nebengassen und versteckten Winkel unsres gesellschaftlichen Daseyns verlieren? Aber es ist gut, daß jeder aus sich selbst im Stande ist, das Gemälde zu vervollständigen. Wären die Römer und Griechen über ihre Sitten weniger aufrichtig gewesen, wie vieles davon würden wir doch aus den unsrigen ergänzen können! So soll auch hier bei einer verfänglichen Frage nur das Allgemeinste angedeutet und das Besondere jedem überlassen werden, der dann, wie bei päbstlichen Bullen, aus den Anfangsworten schon auf den Inhalt des Ganzen schließen muß.

Man hat in Paris und London jene unglücklichen Geschöpfe, welche aus der Liebe ein Handwerk machen, in runden Zahlen angeben wollen. Allein diejenigen, welche die Schamlosigkeit bis zu einer offiziellen Unterhandlung mit der Polizei treiben und für ihr Gewerbe eine Steuer zahlen, sind weit geringer, als jene versteckte Preisgebung, welche die äußerliche Handthierung zahlloser weiblicher Handarbeiter begleitet. Bricht die Nacht herein, so öffnen jugendliche Pflanzen und Stinkblumen ihre schlaffen Kelche. Wer will die Tausende zählen, welche nicht ihres Raubes froh sind, sondern die verzweifeln, daß sie keinen finden? Man pflegt für London 40,000 solcher Geschöpfe anzunehmen; manche, die von dem weiblichen Geschlechte keine gute Meinung hegen, setzen sie wohl noch gar auf das Doppelte an. Paris steht etwas zurück, weil es kein Hafen ist, während man gewiß seyn kann, in Paris mehr Raffinement zu finden, als in London.

Das Werk des Parent-Düchatelet über diesen Gegenstand hat ein außerordentliches Aufsehen gemacht. Man las es um so lieber, als der Ton desselben von allem Priapismus frei war und man auf jeder Seite einen für das Wohl der Menschheit begeisterten Gelehrten wahrnahm. Die Lüsternheit hatte bei der Lektüre dieses Werkes einen guten Vorwand. Der Verfasser verfolgt das Sittenverderbniß der beiden Geschlechter (denn warum die Männer ausnehmen!) bis in die schmutzigsten Winkel, bis in die Kloaken der Moral, in die Kranken- und die Zuchthäuser. Die Farben, welche auf diesem Gemälde besonders grell hervorstechen, sind immer jene schmutziggelben Tinten, mit welchen unsre Coloristen in neuerer Zeit den Schmutz der italiänischen Winkelhäuser und ganzer italiänischer Städte so meisterhaft getroffen haben. Wo man in dem Buche hinblickt, gewahrt man das Laster, bald im Kampfe mit der Polizei, bald im Kampfe mit der eigenen weiblichen Natur, mitunter wohl auch mit einem bessern Gefühle, das bei Geschöpfen dieser Art nicht ganz zu Grunde geht. Allein, enthält es wohl mehr, als kaum die Hälfte des Lasters, trotz aller darin gelieferten statistischen Notizen! Es zeigt uns weit mehr die bloße Versumpfung der untersten Regionen dieses Gegenstandes, das ausgesprochene und eingeschriebene Handwerk; und läßt noch ein großes Feld der Betrachtungen zurück über den Dilettantismus in der Prostitution und namentlich über die höhern Regionen derselben, die der Verfasser schonen zu wollen scheint.

Allein es ist in Wahrheit unmöglich, einen allgemeinen Durchschnittscharakter zu zeichnen, da die besondern hier vorkommenden Nüancen so zahlreich wie die Lebensschicksale sind. Denn diesen mag ein großer Theil der Geschöpfe unterliegen. Sie mögen von treulosen Liebhabern betrogen seyn, sie mögen nicht wissen, woher sie Nahrung nehmen sollen. Fürchterlicher sind jene Fälle, wo das Laster schon durch die Erziehung eingeimpft ist und schon die Kinder angelernt werden, als Werkzeuge einer überreizten Sinnlichkeit zu dienen. Sieht man nicht alte triefäugige Weiber mit phantastisch gepuzten Kindern gehen, gleichsam als führten sie die schon im Mutterleib (denn die Mütter haben nicht selten dabei ihre Hand im Spiele!) verdorbenen Wesen in die Schule, während ihre Waare den spürenden Kennern schon verständlich ist! Bei den Meisten ist die Schuld des Fehltritts jedenfalls nur die Sinnlichkeit selbst, wenigstens begleitet sie alle übrigen Ursachen und gibt ihnen den Weg an, sich auf diese ehrlose Weise zu helfen. Mangel an moralischer Elastizität in den untern und zuweilen noch mehr in den mittlern Volksklassen erleichtert den gefährlichen Schritt; oft ist es auch die bloße Gedankenlosigkeit und Verstandesschwäche, die vielleicht nicht grade den ersten Schritt hervorruft, aber von den folgenden doch nicht zurückhält. Gedankenschwäche wird zulezt wenigstens etwas Stationäres bei diesen Geschöpfen. Sie erhalten einen Zug, der an Verrücktheit streift und jedenfalls nur von der fortwährenden Erregung herzuleiten ist, von der Zerstreuungssucht und sogar nicht selten dem Streben, die bessere Stimme in sich zu unterdrücken. Ein anderer Grund für diese manchmal krampfhaften Verstandeszuckungen mag darin liegen, daß diese Wesen weit über ihre Bildung hinaus in Verhältnisse und Umgang gerathen, für welche ihnen die Grundlage und Vorbereitung mangelt. Sie sprechen den ganzen Tag ohne einen Inhalt zu haben. Sie lassen sich auf Theaterangelegenheiten, auf Lektüre ein, ohne einen Begriff von den einfachsten Vorkenntnissen eines gesunden Urtheils. Dazu kömmt dann das ewige Streben über sich und namentlich über die Vergangenheit hinaus, die Unterdrückung der Erinnerung und die bis zur Ruchlosigkeit sich steigernde Keckheit, wenn erst mehrere mit einander umgehen und eine gegen die andre mit ihren Fortschritten in der Reuelosigkeit trozt. Man hat von einem nicht seltenen Gefühle dieser Geschöpfe gesprochen, von ihrem Mitleiden. Allein entweder ist dies die Schuld, die sie noch immer der weiblichen Natur abtragen müssen, oder die Sympathie findet sich nur bei einer eigenen Klasse dieser Art, nämlich gerade bei denen, die ihre Ausschweifung gerade als ein geduldetes Handwerk behandeln, und, in dem Gefühl polizeilicher Sicherheit, in jedem Auflaufe still stehen, über jeden Bettler, dem sie begegnen, muthig auf den Staat und die Gemeinde schimpfen und sich's also in ihrer Art und Weise ganz bürgerlich und bequem machen. Die Nachtschleicher, die Vagabundinnen, die immer auf dem Sprung stehen und ihre Wächter ausgestellt haben, um beim Fange sicher zu seyn, daß sie selbst nicht gefangen werden, die kommen zu gar keiner Besinnung und sind diejenigen, welche in sich von der Moral den lezten Sprossen mit Stumpf und Stiel ausgerottet haben.

Es ist viel über die Profanation des Geschlechtstriebes geschrieben worden, doch alle Welt kommt darin überein, daß man sie nicht unterdrücken kann. Der heilige Augustinus klagt schon darüber, daß selbst er, der Gott so gefällig zu seyn strebe, sich diesem Resultate anschließen müsse. Man ist darauf hinaus gekommen, daß es sich immer nur darum handeln könne, die Profanation des Geschlechtstriebes zu reguliren und dadurch, daß man ihr eine gewisse Freiheit einräumte, sie in desto größere Botmäßigkeit zu bringen. Dieser jedenfalls wichtige Grundsatz hat die Polizei zu Conzessionen vermocht, an denen nur Leute Anstoß nehmen können, welche glauben, die guten Sitten ließen sich mit Feuer und Schwert in die Menschen hineintreiben. Diese Menschen bedenken nicht, daß, wenn das Laster keinen Abzugskanal hätte, es übertreten und die ganze Gesellschaft verderben würde. Die Unlauterkeit der Gelüste würde sich auf die Kreise der Sitte zurückwerfen und, wie die Pest, Niemanden mehr verschonen. Nur darüber kann noch die Frage seyn: wie verhindert man den Zudrang der Weiber zu diesem ehrlosen Stande? wie gleicht man das Bedürfniß mit dem Ueberflusse aus, welcher allerdings in den weiblichen Verlockungen herrscht?

Schon die Alten mögen hierüber nachgedacht haben. Wenigstens findet man, daß sie gefallenen Geschöpfen, die keine Reue zeigen, ihr bürgerliches Recht entziehen. Dies mag für das Alterthum Sinn gehabt haben; doch klingt es lächerlich, wenn der Verfasser des obigen Buches räth, bei uns dieselbe Verfahrungsweise einzuführen. Er sagt, die Römer hätten Geschöpfe der besprochenen Art mit der Entziehung des Rechtes, ein Testament zu machen, bestraft, und fügt hinzu, dergleichen Folgen müßte auch bei uns das sittliche Verbrechen an sich selbst haben. Sie sollen kein Testament machen? Großer Gott, die Strafe ist gelind. Sie kommen gar nicht in die Lage, eines machen zu können, da sie wenig mehr, als Schulden hinterlassen. Oder wenn sie auch in späteren Jahren zurückkehrten zur sittlichen, wenigstens anständigen Gesellschaft, und eine Entziehung bürgerlicher Rechte dann hinlänglich fühlen dürften; werden sie in ihren jungen Tagen darüber nachdenken, was ihnen in alten, ja, was das Testament betrifft, was ihnen im Tode begegnen dürfte? Palliative dieser Art wirken nicht. Man hat das äußere Zeichen einer bestimmten Tracht vorgeschlagen, wie in alten Zeiten dies Sitte war. Man hoffte, durch eine Kenntlichkeit das Schamgefühl rege zu machen; allein dies Mittel hat die bedenklichsten Seiten. Einmal würden sich nur diejenigen so tragen sollen, welche von der Polizei geduldet sind. Welches Weibsbild würde sich dann aber noch einschreiben lassen? Sie würden alle das Privatisiren, und wenn noch so harter Kerker darauf stände, vorziehen. Und wenn es doch solche gäbe, die der polizeilichen Verfolgung müde würden und die vorgeschriebene Tracht annähmen, würden wir dann nicht gerade ein Aergerniß für die öffentliche Sittlichkeit wahrnehmen, das weit größer wäre, als früher? Denn einmal ist es fürchterlich, das Laster in einer eigenen Livrée an uns vorüberschlüpfen zu sehen, sodann aber würde sich täglich und überall die Scene wiederholen, die man jezt schon zuweilen wahrnimmt. Wird ein solches Weib von der Polizei eskortirt, so macht es Geberden, die alle unsre Gefühle in Empörung bringen. Es trumpft auf seine Verwerflichkeit, singt und lacht und gibt ein Aergerniß, das die Polizei auch bereits gezwungen hat, für solche Transporte Kutschen einzuführen. Natürlich will das Gewissen auf irgend eine Art übertäubt, die Scham, die an der Pforte steht, zurückgewiesen seyn. Das Erste, was man sogar bei vornehmen Maitressen wahrnehmen kann, ist die Furcht, von guten und edlen Gefühlen überrascht zu werden. Sie schämen sich, erröthen zu müssen und werfen sich mit Gewalt in einen Strudel von Zerstreuung und Sinnlichkeit, um nur niemals mit sich allein zu seyn oder durch irgend etwas an die Unbesonnenheit ihres Schrittes erinnert zu werden.

Restif de la Bretonne hat in seiner kolossalen, witzigen und nicht selten sentimentalen Unsittlichkeit den Vorschlag gemacht, große Kasernen für die Preisgebung einzurichten, Tempel, wie der der Hierodulen in Korinth, in jeder Stadt ein Parthenon, statt der Minerva, der Venus gewidmet. Vorn sollte man sich abonniren und hinten bekehren können. Vorn war der Tarif der Sünde angeschlagen und hinten lag eine Kirche, in die jeder, der Buße thun wollte, einkehrte. Pariser und Londoner Projektenmacher haben noch andre einfachere Mittel versucht; allein das einzig wirksame wird nur darin bestehen, daß man die polizeilichen Vorschriften, welche gegeben werden, mit Nachdruck durchführt, daß sich die Schergen derselben nicht bestechen, daß die jungen Aerzte und Polizeichefs sich selber nicht verführen lassen, sondern daß sich dem Fanatismus des Lasters ein Fanatismus der Tugend gegenüberstellt. In dieser Rücksicht wird das Meiste verfehlt. Die Unsittlichkeit hat nicht selten die Genugthuung, daß der strenge Richter, der in Gegenwart vieler Zeugen unerbittlich war, unter vier Augen plötzlich seinen Ton verändert. Man wähle für das Sittenbureau der Polizei nur erprobte und charakterfeste Beamte; denn Alles, was in dieser Rücksicht geschehen und gewirkt werden kann, ist subjektiv. Ob die Moral bessern kann, die Religion? Ob Magdalenenstifte für Büßende ihren Zweck erreichen? Dies leztere Heilmittel ist ein Tropfen im Meere; für jenes erstere, das gewiß herrlich ist, fehlt es wie manchem neuentdeckten Naturgesetze nur an der äußern mechanischen Handhebe. Der Geistliche im Talar, ein Gebetbuch, ein Zwangsbesuch der Kirche; das sind keine passenden Handheben. Man muß tiefer wirken; namentlich aber auf die Unmöglichkeit, daß sich die materiellen Uebel der Gesellschaft in Unsittlichkeit verwandeln. Sieht man nicht, daß bei Stockungen der Maschinen in Lyon, in Manchester, das erste Hilfsmittel, welches die brodlosen Arbeiterinnen ergreifen, in der Preisgebung besteht? Geschieht in dieser Rücksicht nicht eine durchgreifende Reform unsrer gesellschaftlichen Verhältnisse, so wird sich auch jenes andre Schreckbild nicht sobald in beruhigende Uebel auflösen, nämlich die vergiftenden Einflüsse des Lasters auf das physische Wohl der Generation. Ich wollte ein treues Bild der Jeztwelt liefern; aber nun noch weiter über die Gränze einer nur flüchtigen Andeutung hinauszugehen, das wolle man dem Autor erlassen, der seine Arbeit aus keiner andern Quelle schöpfen möchte, als der einer gemüthlichen Behaglichkeit.

Wir sind in das Gebiet der gesellschaftlichen Abnormitäten gerathen. Wir haben die Sittenlosigkeit ohne Verbrechen geschildert. Sprechen wir jezt von den Verbrechen, von Recht und Gerechtigkeit, von Strafe und ihrem Maße.

Das Unrecht ist älter als das Recht. Gewalt ging selbst in den blühendsten Zeiten des Alterthums noch vor Recht; oder man wußte nicht, worein das Recht gesezt werden sollte. Die antiken Civil- und Kriminalgesetzgebungen ließen sich auf allgemeine humane Grundsätze und auf eine Gleichstellung Aller dem Gesetz gegenüber nicht ein. Ein Sklave wurde für dieselbe Freiheit, die er sich herausnahm, getödtet, für welche ein freier Mann straflos blieb oder höchstens verbannt wurde. Wenn Räuber und Mörder aus niederm Stande hingerichtet wurden, so war Mord, ging er von einem freien und wohl gar angesehenen Manne aus, nur ein Zeugniß gegen sein Herz, ein Beweis seiner Leidenschaft, eine Kränkung der öffentlichen Moral und ein Aergerniß für sie; allein an die absolute Entmenschung, wie jezt, an die Schlechtigkeit der innern Grundverfassung eines solchen vorsätzlichen Mörders glaubte man nicht, am wenigsten daran, daß er für die Gesellschaft unschädlich gemacht werden müsse. Die Rache wurde den Verwandten, nicht dem Staate überlassen. Die Alten wußten, daß wenn Orestes den Aegisth und seine Mutter für den an seinem Vater begangenen Mord strafte, die Furien nicht ausbleiben würden. In allen ihren Dichtungen von tieferer Bedeutung schildern sie die Verkettungen der Göttin Ate, wie eine Schuld, die andere nach sich ziehe, und drückten wenigstens negativ jene Lehre aus, die das Christenthum predigte: Die Rache sey nicht der Menschen, sondern Gottes.

Das auf die alte Welt folgende germanische Leben brachte das barbarische Recht der Wiedervergeltung, und gestehen müssen wir, diese Barbarei ist von unsern modernen Gesetzgebungen nur übertüncht worden und steht noch in bestem Ansehen. Aug um Auge, Zahn um Zahn, wenigstens soviel Kühe, als ein Auge kostet, soviel Schafe, als man für den Verlust eines Zahnes nehmen würde. Dies Vergeltungsrecht, welches durch das Christenthum gar noch das Ansehen der vikarirenden göttlichen Gerechtigkeit gewann, ist die Grundlage aller unserer Kriminalgesetzgebungen. Man hat neue Begriffe von dem groben alten Stamme abschälen und seine zarten Streifriemen zur Peitsche der Kriminalistik verknüpfen wollen; allein die Rinde ist von jenem alten Stamme der Barbarei, Aug' um Auge, Zahn um Zahn. Die Einen strafen, um abzuschrecken; die Andern, um auszugleichen. Dies Alles ist derselbe grausame Reiz, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, der alte Rachedurst der germanischen Wälder, die Wiedervergeltung.

Eine Betrachtung der heutigen Civilgesetzgebungen, die das Mein und Dein betreffen, würde dieses der Sitte und den Sitten gewidmete Kapitel weniger belehrend ergänzen. Die Prozesse über Besitz und Eigenthum, über Ehrenkränkung, Schulden u. s. w. sind so zahlreich wie ehemals. Der Unterschied liegt nur gegen frühere Zeiten öfters in den Gegenständen, welche bestritten werden. Prozesse wegen Staatspapieren gab es früher nicht. Diese häufigen Vorkommnisse, daß das Börsenspiel mit Unterschleif getrieben und die faktische Ehrlichkeit, über welche die Spieler sich vorher vereinigt haben, später bei Medio oder Ultimo doch eben so faktisch vergessen wird, sind neue Controversen der Jurisprudenz und liegen noch sehr im Argen. Wo die Juristen kein justinianëisches Beispiel citiren können, da tappen sie immer in Ungewißheiten. Am juristischen Verstande, dieser gewaltigen Grundlage der römischen Gesetzgebung, mangelt es unsrer Zeit. Die reine Logik und Mathematik der gesellschaftlichen Berührungen waltet in unsern Köpfen nicht mehr mit jener bei den Römern so ungetrübten Klarheit. Uns stört die christliche Versöhnungstheorie und das Gebot der Bruderliebe, uns stört die Philanthropie, der Liberalismus mit seinen Consequenzen über historisches und Vernunftrecht, uns stören zahllose Rücksichten, die das Alterthum nicht zu nehmen brauchte und die es nicht einmal kannte. So haben wir zwar viele Rechtstheorien, die für unsern Scharfsinn ein vollgültiger Beleg sind, aber wenig praktische Gesetzgebungen, die, von Kennern entworfen, eine lange Dauer hätten ansprechen dürfen. Manche Gesetzbücher neuern Ursprungs, die öffentliche Geltung erhielten, z. B. in einigen deutschen Staaten, liegen brach da; sie reichen für die vorkommenden Fälle nicht aus und wissen das Maß von Milde und Strenge, wenn sie kriminelle Vorschriften machen, nicht auszugleichen. Sie ähneln dann jenen Schlössern, welche Fürsten in einem Anfall von Laune aufbauen ließen und die ihnen, da sie fertig waren, mißfielen. So liegen sie jezt unbewohnt da und dienen höchstens als Absteigequartier für eine Reise oder als Exil für eine Maitresse, deren der Fürst mit der Zeit überdrüssig geworden ist.

Diese Zerstreutheit und Unzulänglichkeit des neuern juridischen Verstandes rief das andre Extrem hervor, die Vergötterung der Vergangenheit. Man benuzte das Historische zunächst als Aushilfe, man wollte der Tradition das entnehmen, worauf die Gegenwart keine bestimmte Antwort zu geben wußte. Allein, bald kehrte sich das Verhältniß um. Das allgemeine Landesgesetz wurde Supplement und das Provinzialstatut die Regel. So geschah es auch in fast allen jenen Beziehungen, wo die Menschen zugeben mußten, daß sie organisch mit der Geschichte verwachsen sind und keine Kultur sich so aneignen konnten, wie man wohl Gemälde aus freier Hand auf eine frischgetünchte Mauer wirft. Die Begriffe von Recht und Gerechtigkeit mußten unter dieser Ueberzeugung das Meiste leiden, da, wo sie sich ganz in das Alte zurückwarfen, kann man über Barbarei klagen; da, wo sie zwischen dem Alten und Neuen, zwischen Himmel und Erde in der Mitte schwebten, ist es der Mangel an Consequenz, der die Achtung vor dem Gesetz und dem Leben im Staate noch mehr untergräbt, als jener nicht selten mystische Christinismus, über welchen die Einsichtsvollen lächeln müssen.

Das Prinzip der juristischen Neuerer in der Straftheorie ist: die Sicherheit. Der Verbrecher soll unschädlich gemacht werden. Dies Prinzip werde ich niemals billigen; weil es einmal voll innerer Widersprüche und zweitens inhuman ist. Der Widerspruch ist dieser: Soll ein Verbrecher unschädlich gemacht werden, so gibt es zwischen dem Todtschläger und dem Leichtsinnigen, der das Mausen nicht lassen kann, keinen Unterschied. Ihr wollt beide unschädlich machen und müßtet sie auf ewige Zeiten in das Gefängniß einschließen. Wäre die Milde gegen den Todtschläger weise, so wäre sie gegen den unverbesserlichen Hühner- und Gänsedieb ungerecht. Was ist das Unumgängliche? Der Begriff von Strafe. Dies Gefühl der Gesellschaft, welches ganz dem moralischen Gefühl des Einzelnen entspricht, abgesehen von Abschreckung, Rache und dergleichen Einmischungen anderweitiger Zwecke scheint doch in der Menschenbrust eine tiefe Geltung zu haben. Strafe müsse seyn; das läßt sich in dem bei uns nachhallenden Echo jedes fremden Verbrechens nicht ausrotten. Und nur darin liegt die große Controverse unsrer heutigen Debatten über Strafe und Strafmaß, daß man dies Gefühl der Strafnothwendigkeit soviel wie möglich von Barbarismus, von mechanischer Zweckbestimmung und ähnlichen Zuthaten lauter erhält, daß man den rein juristischen Gesichtspunkt der Strafe von dem moralischen überwinden ließe. Der moralische Gesichtspunkt der Strafe ist aber die Besserung, und aus diesem ergab sich, daß man aufhörte, über das Maß der Strafe zu sprechen und sich weit mehr mit den sie begleitenden Nebenumständen beschäftigte, namentlich mit den Gefängnissen.

Die neuere Philosophie (wo man aber nicht so sehr an Bentham, als im Gegentheil an Berkeley denken muß) hat den Grundsatz der Wiedervergeltung in einen sanfteren und tiefer begründet scheinenden ausgeglättet, in den der Ausgleichung. Ich weiß diese Lehre, welche heutzutage für die geistreiche gilt, nicht anders zu bezeichnen, als durch Bilder. Man denke sich die Fülle des moralischen Lebens einer Nation im Bilde des Meeres. Jede aufschlagende Welle, die ein Verbrechen bedeutet, wird eben so tief stürzen, als sie sich erhoben hat. Für jeden Wellenberg eines Verbrechens soll es auch ein Wellenthal der Strafe geben. Oder wenn man sich die Vorstellung zurückruft, welche die katholische Kirche von der Fülle der guten Werke hat, so soll gleichsam auch in dem moralischen Volksleben ein gewisses Quantum Tugend produzirt werden, wo nun jede Störung dieser Produktion, also jedes Verbrechen, seine mathematische Strafbestimmung schon in sich selber trüge, wo jedes Verbrechen mit der zu liefernden Tugendmasse in Abrechnung gebracht werden müßte. Versteht man das Rauschen dieses neuern Erkenntnißbaumes nicht, so erkennt man ihn an seinen Früchten! Sie sind bitter, streng und herbe. Sie bestehen in außerordentlichen Strafen und besonders in beibehaltenen Todesstrafen. Man will hier gleichsam der Tugend einen um so größern Lohn geben, je mehr man das Laster bestraft. Man fürchtet sich, auf der Liebe zu den Sündern ertappt zu werden. Man will einen gewissen Heroismus des Herzens zeigen und die Naturnothwendigkeit, die allerdings sehr herb ist, wenn man seine moralische Freiheit nicht zu benützen versteht, im Menschlichen ebenso wiedergeben. Diese strenge Philosophie ist von außerordentlichen Geistesgaben unterstüzt worden; allein Gemüth, Empfindung, ächte Humanität hat sie nicht. Laßt euch von ihrem Witze und Scharfsinn nicht einschüchtern, sondern gesteht offen, daß ihr zittert, wenn ihr wißt, daß um diese und diese Stunde ein Mörder hingerichtet wird; schämt euch der Sanftmuth Eures Herzens nicht und folgt selbst in dem Drange, eine Meinung fassen zu müssen, lieber der Eingebung eures Gemüths als der Vorspiegelung einer philosophischen Theorie, in welcher die Caraiben auch nicht bloße Menschenfresser sind, sondern durch gewisse idealische Hokus Pokus in der Wahl ihrer Speisen ordentlich entschuldigt werden.

Weit klarer noch wird diese neue, so geistreiche und so gefühllose Dialektik werden, wenn wir hier einige Stellen aus einem Angriffe gegen die neuen Besserungsanstalten für Verbrecher, gegen diese herrlichen Blüthen der Philanthropie, hersetzen. Sie rühren von einem Franzosen her, der noch dazu das Christenthum beschwört, um seine grausame Theorie als religiös hinzustellen. Wer sollte dies von einem Franzosen erwarten! Aber die Dinge und die Menschen haben seit dreißig Jahren in Europa einen gewaltigen Umschwung bekommen. Die frommen Deutschen werden frivol und die frivolen Franzosen andächtig.

»Die Sträflinge, schreibt Granier von Cassagnac, ein französischer Autor von heute, welche im Allgemeinen ein Gegenstand der Furcht und des Schreckens für alle Völker waren, sehen sich auf einmal von Mitleiden und Großmuth umgeben. Statt der hergebrachten, alten und allgemein verbreiteten Ansicht, welche sie als Verdammte behandelte und sie in Schande und Elend sterben ließ, hat sich eine andere neue, erbarmungsreiche, philanthropische gebildet, welche sie beinahe wie Leute betrachtet, die bloß an Kopf und Herz leiden, deren Krankheit aber nicht unheilbar ist und die sie vermittelst eines Systems moralischer Heilkunde wieder herzustellen gedenkt. Aus dieser Pathologie der Empfindungen und Ideen der Sträflinge bestehen die jetzigen Strafsysteme. Schon an sich selber erscheint uns diese philanthropische Bewegung, dieser religiöse Glaube, die Strafbaren zu bessern, dieser Gedanke, für die Gesellschaft auch diejenigen brauchbar zu machen, die sich durch ihre eigene Schuld ihr entfremdet haben, als ein reeller Fortschritt, als ein Sieg der Ordnung über die Unordnung, als ein Triumph der höchsten Bildung über das blinde Chaos und das brutale Durcheinander der Geschichte. Wer aber wundert sich nicht, wenn er die Theologen, die Philanthropen und Philosophen sieht, welche die Urheber aller Versuche für die Verbesserung der Strafanstalten sind, wie sie in ihren Vereinen und in ihren Werken sich vorbereiten, die Prinzipien des Christenthums in Ausübung zu bringen, sie, die ihm so oft Fußtritte gegeben und es in das abgeschlossene Allerheiligste verwiesen, als eine für die Interessen dieser Welt fremde Lehre, die eine spekulative Untersuchung nicht aushalten und der praktischen Vernunft nichts nützen könne. So hat diese den Dingen dieser Welt fremde Doktrine, das Christenthum, doch also die bürgerliche Gesetzgebung organisirt.«

»Wir wollen hiemit keineswegs den atheistischen Philanthropen unseres Jahrhunderts es zum Vorwurf machen, daß sie die Institutionen des Christenthums kopirten, worüber ihre Vorgänger im vorigen Jahrhundert, ohne das erste Wort ihrer Geschichte zu verstehen, so übel zu sprechen waren; wir möchten vielmehr, wenn es logisch wäre, es ihnen zum Vorwurf machen, daß sie dieselben so spät kopirten; sondern wir wollen auf zwei Umstände aufmerksam machen, welche die Begründer der Moral nach dem Naturgesetze gern sich verhehlen, sich zum Besten ihrer Systeme verhehlen möchten: der erste ist, daß an allen den schönen philanthropischen Entdeckungen, welche unsere Akademien mit einer großen Tugendprahlerei krönen, wenig Neues ist. Der selige Herr von Tracy hat sein ganzes Leben, ein sehr langes und vielfach beschäftigtes, als Ideolog und Moralist zugebracht, um die Abschaffung der Todesstrafe, als von der Natur gefordert, zu beweisen. O wenn doch nur Herr von Tracy, der mehr an Condillac, als an Jesus Christus geglaubt hat, sich die Mühe gegeben hätte, das kanonische Recht aufzuschlagen, so würde er den alten Rechtsgrundsatz des christlichen Kriminalverfahrens: Ecclesia abhorret a sanguine, gefunden und eingesehen haben, daß die Kirche beständig die Entdeckung ausgeübt habe, der er größtentheils seinen politischen Ruf zu verdanken hatte.«

»Die zweite Bemerkung, welche man den Systemen unsrer Philanthropen machen kann, deren gute Absicht keineswegs in Zweifel gezogen werden soll, besteht darin, daß sie immer die eine Hälfte der christlichen Institutionen zur Verbesserung der Sträflinge kopiren, während doch die andere, welche sie vernachläßigen, sicher ohne es zu wissen, bedeutend wichtiger als jene ist. Es ist löblich, einem Manne die Ehre wieder zu geben, der sie verloren hat; aber es würde noch weit schöner seyn, wenn man ihn überhaupt verhinderte, sie zu verlieren. Die Gesundheit ist auch dem tüchtigsten Arzte von der Welt vorzuziehen, und haben ist -- wie das Sprichwort sagt -- besser als hoffen. Das Christenthum empfand Mitleiden und ganz besonders mit den Tugendhaften: es suchte das Verbrechen zu heben und zu beseitigen, aber es gab sich noch mehr Mühe, es abzuhalten.«

Nun läßt der Gegner der Philanthropie allerdings einige gute Bemerkungen fallen über die Arbeit, als Gegengift und Preventive der Verbrechen. Allein welche Sophistik! Sind die Verbrechen nicht da? Sollen sie aufhören, unsere Theilnahme zu verdienen, weil wir früher versäumt haben, ihnen durch Verhütung der Armuth und des moralischen Elends zuvorzukommen? Die Apologie des Christenthums ist recht schön; aber, was soll sie hier? Wenn die Philanthropie nicht aus dem Christenthum zunächst hervorging, hat sie darum weniger lautre, gefühlvolle und edle Quellen? Unser verkappter Jesuit behauptete dies. Er sagt: »Es war eine große und göttliche Weise des Christenthums, die Menschen gehen zu lehren und nach dem Falle wieder aufzurichten. Wie viele wären nicht gefallen, wenn man sie aufrecht gehalten hätte! Wenigstens hatte das Christenthum, wenn es sich an einen Schuldigen wandte, die Fassung desjenigen, der ein Recht hat, sich zu beklagen, und der um so großmüthiger ist, wenn er Verzeihung gewährt. Es gab dem Schuldigen, den Hunger des Leibes und der Seele zu stillen; es nahm ihn in Schutz gegen seine Feinde; es sicherte ihn vor Hitze und Kälte; es gab ihm Alles, was man in seiner Lage bedarf, um zufrieden zu leben und beruhigt zu sterben und forderte als Ersatz für alle diese Sorgfalt nur Arbeit, Arbeit, die Lebensbedingung aller Wesen, die Gott nicht nur den Menschen, sondern auch den Sachen auferlegt hat, und die keine Kreatur mit Ausnahme des Menschen von der Ameise, welche auf dem Rücken eines Halmes geht, bis zum Planeten, der seine Bahn durchwandelt, jemals Gott verweigert hat. Das Christenthum konnte so den Schuldigen offen ins Auge blicken und ihnen befehlen, sich auf die Brust zu schlagen; was aber haben wir, die philosophische und philanthropische Societät, zur Verbesserung derjenigen gethan, die uns ihre Verbrechen zum Vorwurf machen?«

»Es gibt wenige Strafbare unter denen, welche wir verurtheilen, die uns nicht ihrerseits auch verurtheilen, ja nach unsern eigenen Grundsätzen verdammen könnten. Eure Gesellschaft ist, so könnten sie uns einwenden, oft ungerecht und barbarisch gegen uns. Sie beklagt sich über unsre bösen Vergnügungen, thut aber nichts, um uns bessere zu geben. Sie hat für uns weder Schulen, noch Bauplätze, weder Schulen zur Bereicherung unseres Herzens, noch Bauplätze zur Beschäftigung unsrer Hände. Sie läßt uns wie Thiere zusammenjagen, wenn wir nicht arbeiten und veranstaltet kein dauerndes Unternehmen, wo wir Arbeit fordern könnten. Sie schreibt uns unerreichbare Tugenden vor, da sie uns ohne die Mittel läßt, zu ihnen zu gelangen. Wenn zuweilen der Winter gar zu streng ist, wenn der Arme weder Brod noch Kleid hat, verschafft uns die Regierung Arbeit; aber die Arbeit hört mit dem Winter auf; der Hunger aber überdauert alle Jahreszeiten. Zuweilen erhalten wir auch Geschenke, aber alles dieses ist zufällig und nicht hinreichend. Unsere Bedürfnisse bleiben, unsre Hilfe ist vorübergehend; wir fallen großentheils durch unsere Schuld; aber ihr tragt auch einen Theil davon. Strafet uns, aber helft uns früher; je mehr ihr uns beistehen werdet, um so weniger werdet ihr uns strafen müssen. Die jetzige Gesellschaft hat auf diese Weise den Sträflingen gegenüber nicht die moralische Position des Christenthums. Sie thut weniger für sie, und sonderbar genug, mehr gegen sie; sie ist ihnen zu gleicher Zeit ein weit nachläßigerer Vater und weit strengerer Richter; sie erleichtert ihnen nicht ihre guten Handlungen und straft sie weit härter für ihre schlechten; sie legt ihnen mehr Pflichten auf und bewilligt ihnen weniger Rechte. -- Demnach hätten die Philanthropen alle christlichen Institutionen, nicht nur einen Theil derselben, kopiren sollen. Beide, das Christenthum und die Philanthropen wollten einen Fluß austrocknen; die Philanthropen versuchten es mit Eimern, das Christenthum aber suchte die Mündung zu verstopfen. Das Christenthum erfreute sich eines Erfolges; werden die Philanthropen dasselbe von sich sagen können?«

Ich weiß es nicht; aber sagen sollte ihnen auch dieser versteckte Jesuit, wo denn das Christenthum die schöne Arbeit, von der er immer spricht, hergenommen hat? Das Christenthum schuf doch die Bauplätze nicht, sondern ermunterte nur, hinzugehen und Hand anzulegen und sein Brod im Schweiß des Angesichts zu essen. Bestärkt etwa die Philanthropie den Müßiggang? Sie wäre gewiß froh, wenn die Nationalökonomen ihr das Geschäft, Räuber und Mörder zu bessern, erleichterten und durch die Gelegenheit, gute Verdienste zu haben, Räuber und Mörder, wie unser Jesuit für möglich hält, gar nicht entstehen ließen. Wenn es nicht soviel hochweise Neuerungen gäbe, die da glauben, die Philanthropie und den Liberalismus lächerlich machen zu können, weil sie mehr Geist, als diese, die manchmal nur Gefühl haben, besitzen; so mögen die Entwickelungen des französischen Doktrinärs hier weiter fortfahren. Man höre folgende Sophismen: »Sonderbar und auffallend an dieser Manie unsrer Zeit bleibt es, daß ernste Männer, wie die Herren de Beaumont und de Tocqueville, welche zu diesem Behufe sich nach den vereinigten Staaten begaben und ein Buch darüber schrieben, denen es also nicht an der Zeit fehlte, um nachzudenken, Euch, um euer Mitleiden zu erwecken, mit einer rührenden Naivität sagen können, daß man mit sehr geringen Kosten, mit fast gar keinen, mit 593 Fr. z. B. eine Zelle zur Beherbergung und Verbesserung eines Diebes bauen könnte. Warum hat keiner diesen Herrn geantwortet, daß man mit einem Kapital von 593 Fr., wenn man's gut anwendet, leicht vier Menschen von der Nothwendigkeit, Diebe zu werden, abhalten könnte; daß wenn man nur die halbe Mühe und das halbe Geld, was man auf die Organisation der Gefängnisse verwendet, auf die Beschäftigung ehrlicher Handwerker verwenden würde, nur wenigstens fünfzehn Strafbare auf zwanzig fallen würden, daß wenn man die Suppe von fünfzehn Millionen armer Bauern, die keine haben, untersuchen ließ, weit weniger Muthlosigkeit, weniger Elend, weniger Kandidaten des Assisenhofes sich vorfinden würden, daß wenn man statt einer Gesellschaft, um den Gefangenen Recht zu verschaffen, eine zur Unterstützung der Mütter errichten würde, die ihre Töchter verkaufen, zur Beihilfe der Väter, welche mit zugedrückten Augen den ersten Diebstahl ihrer Söhne empfangen, die Hälfte der Gefängnisse und die Hälfte der Freudenhäuser in zehn Jahren zu vermiethen seyn würden; daß wenn man, anstatt aus schönen Steinen Thürme zu bauen, um Schuldige königlich zu behausen, anstatt über alle Maßen dafür zu sorgen, daß sie im Winter nicht frieren, im Sommer nicht schwitzen, daß sie sich immer behaglich fühlen; daß wenn man anstatt des lächerlichen Luxus von Inspektoren, die doch nichts inspiciren, die ungeheuren Summen, welche die jährlichen Ausgaben erfordern, zur unentgeldlichen und regelmäßigen Erziehung der Kinder der ärmeren Klassen verbrauchte, um sie früh zur Arbeit anzuhalten, um die industriellen Beschäftigungen in Corporationen auf gemeinschaftlichen Gewinn, mit gemeinschaftlicher Kasse, Verfassung, Polizei und Zukunft, auf diese Weise die Arbeit zu ordnen, eine gute Verwaltung über die Löhnung zu begründen, um Sparkassen mit mäßigen Beiträgen einzurichten, um jedem Arbeiter eine verhältnißmäßige Ersparniß zu erhalten, die Strafreform weit besser und weit nachhaltiger verhandelt werden würde, weil sie gar nicht vorkommen würde.«

»In der That, man muß sehr kurzsichtig seyn, wenn man nicht einsieht, daß die Verbesserung der Strafanstalten eine beinah unfruchtbare Arbeit ist, von der man sich keine erfreulichen Resultate versprechen darf; denn wir werden keine guten Strafsysteme erhalten, wenn man nur die bereits strafbaren Individuen verbessern will. Die neuen Strafsysteme beschäftigen sich mit den Gefängnissen, wo die Verbrechen gebüßt werden, anstatt mit der Gesellschaft, wo sie begangen werden; die neuen Strafsysteme wollen nur die Wirkungen des Verbrechens aufheben, statt ihre Ursachen zu vernichten.«

»Ihr glaubt, der Gesellschaft, da ihr sie nicht von neuen Verbrechern, die tagtäglich wieder kommen, befreien könnt, wenigstens dadurch einen großen Dienst zu erweisen, daß ihr es verhindert, daß die alten Verbrecher mit ihren frühern Leidenschaften zu ihr zurückkehren. Das würde ohne allen Zweifel ein großes Verdienst seyn, wenn auch nicht so groß als ihr es glaubt, wenn es nur in eurer Macht stände, dieses Wunder zu erwirken. Werden eure Verbrecher, nachdem sie, gereinigt vom Schmutze, voll abstrakter Lehren in den vier Kerkerwänden, auch, wenn sie dieselben verlassen und wieder in die Gesellschaft eintreten, nicht wieder zurückfallen, werden sie sich nicht von den frühern Ursachen bestimmen lassen? Sie sind heut, wendet ihr ein, besser als früher; ohne Zweifel; aber sie waren weit besser, bevor sie zu Verbrechern wurden, und ihr glaubet, daß eine wiederhergestellte Tugend länger als eine angeborne vorhalten wird? Die Sträflinge, welche man in den Gefängnissen verbessert, sind wie Kranke, die ihr aus einer ungesunden Stadt schafft, aber nach hergestellter Gesundheit wieder dahin zurückbringt. Hebet, wie gesagt, die Ursachen auf, welche die Verbrechen herbeiführen; so lange jene bestehen, werden neue Strafverbesserungen fruchtlos bleiben.«

»Die Liebe, man kann sagen, die Leidenschaft für Kerker nimmt über alle Vorstellung zu, und um die Sache nur von materiellem Gesichtspunkte aus zu betrachten, von wo aus der ungebildete Haufe sie ansieht, gewährt es in diesem Augenblick unter gewissen Verhältnissen mehr Vortheile, ein Dieb, als ein ehrlicher Mann zu seyn. Mehr als zehn Millionen Landleute und Kranke in Frankreich wünschten so logirt, gekleidet und gepflegt wie Mörder und Falschmünzer zu seyn. Schon sehen wir arme ehrliche Leute Verbrechen begehen, um in den Kerker gebracht zu werden. Das Verbrechen entehrt, aber nährt sie. Unter der Restauration hatten wir schon eigene philosophische und philanthropische Gesellschaften, welche von Kerker zu Kerker die Beschwerden sammelten; jezt haben wir schon weit mehr, wir haben Inspektoren, die das Land bereisen, um die Suppen der Gefangenen zu kosten und zu sehen, ob ihre Kleider in gutem Stande und ob ihre Wohnung bequem sey.«

»Wahrlich, unsere Philanthropen erfassen unsere gesellschaftlichen Fragen an der verkehrten Seite. Die Unordnung hat für sie mehr Interesse, als die Ordnung und das Gefängniß steht ihnen höher, als das Atelier. Es sind Männer, die mit philosophischer Miene es ansehen, wenn eure Glieder zerschmettert werden, um des Vergnügens willen, sie wieder in Ordnung zu bringen. Sie werden anstehen, wenn sie sechs Franks zu einem industriellen Unternehmen, das euch beschäftigen und ernähren kann, beitragen sollen; aber sich auf der Stelle bereit finden, 593 Fr. für einen Bau zu zahlen, worin euch das Verbrechen vom Hunger befreit. Das sind die Philanthropen!«

»Bei alle dem haben sie die öffentliche Meinung für sich, die Akademien bekrönen sie. Thoren, die wir sind, die wir immer einen Zeitvertreib, ein Spiel haben müssen! Während der Restauration waren es die Griechen; die Subscription für dieselben würde mehr als tausend Dörfer Frankreichs, die vor Hunger schmachteten, beschäftigt haben. Seit der Revolution von 1830 waren es die Polen, wir nahmen den innigsten Antheil an Litthauen und kümmerten uns nicht um Bretagne, Auvergne, Landes, die weit mehr zu beklagen sind und uns weit mehr angehen. Nach den Polen waren es die Sklaven; jezt sind es die Diebe. Wann endlich kommen die Handwerker und Armen an die Reihe! Sicher, es ist an der Zeit.«

Bis hieher der Sophist. Mit solchen Trugschlüssen will man die edelsten Bestrebungen einschüchtern. Die indifferente Menge lacht über die dialektischen Fußangeln, in welchen sich die Humanität verfängt, über den Witz und Geist, welchen man dieser um so mehr sich ausdehnenden Schule nicht absprechen kann, als wir die Philanthropie und den Liberalismus nicht immer von den ausgezeichnetsten Geistesgaben unterstüzt sehen. Selten, daß der Herzensgüte und der adeligen Gesinnung auch zugleich ein feiner und scharfsinniger Geist zugesellt ist. Die Tugend steht ohne Schutz da und wird vor der Frivolität des lasterhaften Esprit sich mit keinen Waffen vertheidigen können. Diese Konsequenzen und Winkelzüge, wie wir hier eben ein Beispiel geliefert haben, sind die rechte Frivolität unsres Jahrhunderts, so verschieden von der des vergangenen. Jene altfränkische Frivolität riß ein und zerstörte nur durch ihren Witz. Die moderne aber gibt sich den Schein, aufzubauen, den Schein des Dogmas ohne den Glauben daran, den Schein der historischen Begründung, des Kampfes gegen die nüchterne Aufklärung ohne Rath, Willen, Meinung, ohne eine den positiven Verhältnissen, in welchen wir leben, irgend wie zugebrachte faktische Hilfe. In der Doktrine liegt die Frivolität; denn frivol ist Alles, was zu nichtigen Zwecken und zu Täuschungen einen Aufwand geistiger Kräfte verbraucht; frivol ist der Mysticismus, wenn er auf eine bloße gemüthliche Behaglichkeit und eine halsstarrige Opposition gegen die Fortschritte des Jahrhunderts begründet ist; frivol ist das Mittelalter, welches ohne Fug und Grund wieder eingesezt werden soll; frivol ist der politische Absolutismus, der sich auf die Theorie der Legitimität und göttlichen Einsetzung beruft; frivol ist alle unüberlegte Geistesentwickelung, wenn sie nicht durch die Gesinnung unserer Zeit und durch das Streben nach wahrhafter Humanität gemildert und näher bestimmt wird.

Wer möchte in Abrede stellen, daß es besser wäre, die Verbrecher entstünden gar nicht, als daß wir uns nachher die Mühe gäben, sie zu verbessern, zur Reue zu führen, ihre Lage zu erleichtern, und der Gesellschaft wiederzugeben? Wer möchte nicht mit unserm Sophisten wünschen, daß sich das Arbeitskapital vermehre und bessre Zinsen trüge in Betreff der Sitten? Allein wir werden den Trugschluß bald durchschauen, wenn wir uns die Lage der Menschheit, wie sie einmal gegeben ist, vergegenwärtigen. Das Streben, die Gesellschaft durch die Hebel der Sitte und Tugend, durch die Hebel der Religion zu steigern, ist da. Die Schwierigkeit liegt nur in der Art und Weise, wie man dem Hebel die ganze Kraft und Wirkung, die in ihm liegt, geben soll. Wo soll man ihn ansetzen? Wir sehen ein wildes wüstes Meer von Leben und Geschichte vor uns auf- und abwogen; wir sehen die Tugenden und die Laster, den Geschmack und die Mode, die Kämpfe der Wahrheit und der Lüge; wir haben eine volle und gesättigte Anschauung des Ganzen; allein rathen, helfen, bessern, das ist schwer. Ihr doktrinären Spötter (denn was ist eure Rede anders als Spott!), ihr sagt: Gebt dem Christenthume Geltung! Kommt den Verbrechen durch Belebung und Nationalwohlfahrt zuvor; sezt die Ehrfurcht vor dem Alter der Menschen und der Institutionen wieder ein! Die Vorschriften sind leicht gegeben. Man führt auch das Christenthum so ein, man belebt so die Nationalwohlfahrt, man gibt so dem Alter die Ehrfurcht wieder! Dies Organisiren der Gesellschaft, dies Beschwören der Natur und der sich selbst entwickelnden Potenzen der Geschichte -- da stelle man nur Windfahnen hin; der Wind wird sich auch gleich darnach richten und so wehen, wie es die Fahne haben will. Wahrlich, es ist nichts leichter, als das vergebliche Mühen äußerer und unorganischer Hilfsmittel, um auf diesen oder jenen moralischen Zustand einzuwirken, lächerlich machen; allein das ganze Weltmeer anbieten, wo nur ein Kanal nöthig ist, um verfaultem Gewässer Luft zu machen; die Sterne und die Sonne vom Firmament nehmen, um den von der guten Philanthropie mit einer Laterne gemachten Versuch irgend einer Aufklärung lächerlich zu finden; das nimmt sich zwar im Munde guter Stylisten vortrefflich aus; hat aber gar keinen Werth und führt die Menschen nur dahin, daß sie nichts thun und alles auf die breiten Schultern der Zeit werfen. So ist auch leicht gesagt: Wollt ihr die Verbrecher bessern, so nehmt die Ursachen, die sie dazu machten, weg! Die Hauptsache ist nur die: Wie kommen wir dem ungeheuern gesellschaftlichen Körper bei? Dürfen wir in die Masse hineingreifen und sagen: hier wird etwas umschlagen, da wird etwas zum Verbrechen werden! Ich frage: Wie sollen wir die Reformation aus dem Ganzen und Großen beginnen und ganzen Richtungen des Zeitgeistes einen neuen Charakter geben? Dies ist unmöglich. Dies ist ewig eine Aufgabe, für welche Menschen keine Lösung haben. Was können wir thun? Wir können diejenigen Erscheinungen nur hervorgreifen, welche ihre bestimmte fertige Gesichtsbildung haben. Wir ahnen eine Verirrung der Begriffe und der Leidenschaften in der Gesellschaft, die kein gutes Ende nehmen kann; allein, helfen, rathen dürfen wir erst in dem Augenblicke, wo der Bruch mit der moralischen Ordnung offen zu Tage liegt. Eine ungeheure Revolution würde diese Zustände, die aus Lüge, Irrthum und Thorheit zusammengesezt sind, von Grund aus verbessern; allein liegt sie in der Macht, liegt sie in dem Wunsch des fühlenden Menschenfreundes? Ach, sie ist ein Schreckbild für Alle, sie ist verabscheut, selbst wenn wir wüßten, daß sie das einzige Heilmittel der unheilbaren Krankheit wäre. So bleibt uns nichts übrig, als von der Gesellschaft das zu nehmen, was sich absondern läßt und sich selbst absondert und es nach Grundsätzen der Humanität zu behandeln. Die Jugend läßt sich trennen von der Gesellschaft, sie läßt sich für das Edle und Schöne bilden. Das Weib läßt sich trennen; seine Bildung wird die Sitten mildern und die Rechte des Gemüthes aufrecht erhalten. Das religiöse Bedürfniß läßt sich trennen; denn gerade dies strebt nach Isolirung; die Geistlichkeit möge versuchen, es zu befriedigen. Die Kranken, die am Körper Leidenden können wir absondern, ihre Schmerzen lindern, ihre Herzen mildern; endlich können wir aber nur noch den Bodensatz der Gesellschaft von ihren eigenen trüben Gährungen sondern, das offenbare, eingestandene, überführte und der Strafe überlieferte Verbrechen. Wir wissen, daß unsre philanthropischen Bemühungen zur Verbesserung der Gefängnisse und ihrer Bewohner, zur Rettung ihrer Angehörigen und wenigstens zum Schutze der Verbrecher vor gänzlicher Verwilderung, nur die Heilungsanwendung auf ein Symptom der Krankheiten des gesellschaftlichen Körpers ist; allein, sagt uns den Sitz des Uebels; nennt uns, wenn ihr ihn zeigen könnt, die Mittel, ihm beizukommen; nennt uns die Mittel, um in mechanischen Zeiten organische Versuche mit den Menschen anzustellen! Utopien liegt bei denen, welche darüber lachen, daß wir kaum ein Viertel der Erfolge erringen, nach denen wir uns sehnen; lachen, daß wir einen Sumpf durch frisches Wasser, das wir hineintragen, wenigstens etwas zu reinigen vermögen wollen. Traurig genug, daß die Gesellschaft erst dann den Reformen zugänglich ist, wenn ihre Mitglieder bereits den Gesetzen verfallen sind.

Man muß es England nachsagen, daß es unfähig ist, aus seinem Schooße Sophismen, wie die hier widerlegten, zu gebären. Nur Länder, die nie eine wahre Freiheit genossen haben, Frankreich und Deutschland, scheinen bestimmt zu seyn, solche Grillen, die nur aus stickiger Luft entstehen oder aus einem unverantwortlichen Hange zum Servilismus, zu fangen. In der Nacht den Mond zu haben und ihn anzubellen, daß es nicht die Sonne ist; sein Besitzthum gering zu schätzen gegen das, was man erwerben könnte; die Pforte der Wahrheit offen zu sehen, sie zuzuwerfen und über die Mauer zu steigen; dessen können nur Nationen fähig seyn, die sich nicht im Vollgenuß ihrer Kraft befinden, die ihre Mittel nicht an die rechte Stelle zu legen wissen, sie aufsparen und dann leichtsinnig vergeuden; Nationen, die sich ihren Mangel an Muth und Aufrichtigkeit als eine Tugend auslegen. Da wo die Freiheit der Discussion in unnatürliche Fesseln gelegt ist (ist Frankreich frei? frei von sich selbst? frei von seinen Phrasen und seiner Zwecklosigkeit?); überall, wo es keinen gesunden Abzug für den Dampf der Köpfe gibt, reine Schornsteine unbestrittener Institutionen möchte man fast sagen, da werden sich die thatlosen Kräfte im Uebermaß sammeln, mit sich selbst in Widerspruch gerathen und einen Kampf beginnen, wo von den Begriffen Vater, Mutter und Söhne sich wechselseitig zerfleischen. Hat eine solche Nation noch Phantasie, wie in Deutschland, oder Esprit, wie in Frankreich, so wird man die Sophismen in den verlockendsten Gewändern auftreten sehen; sie werden sich den Schein eines Systems geben, während sie doch nur aus dem Chaos der Gesinnungslosigkeit geboren wurden. In England beschäftigt die Sorge für die Gefangenen zahlreiche Menschenfreunde, auf welche Howards Geist sich vererbte. Neild wirkte durch die That, Buxton durch Rede und Schrift für die Frage, ob Gefängnisse ein Ort der Verhärtung und der gänzlichen Verwilderung der Verbrecher oder einer möglichen Besserung werden sollten. Ihr Beispiel fand Nachahmung auf dem Continente, ob man sich gleich noch nicht für ein bestimmtes Bausystem der Gefängnißhäuser hat vereinigen können und noch immer zwischen den zwei nordamerikanischen Systemen, der Einigung und der Absonderung der Verbrecher, ungewiß geblieben ist. Die Aufhebung der Galeerenkette in Frankreich ist eine Wegnahme öffentlichen Aergernisses. Der Galeerensklave, welcher die Blicke der Welt aushalten will, muß frech seyn. Sezt man ihn diesen nicht mehr aus; wie viel leichter wird ihm werden, in sein Inneres einzukehren! Ein so gebesserter Galeerensklave jedoch, wie Trenmor in dem neuen französischen Romane, ist freilich eine Fiktion, eine Preisaufgabe, die die Philanthropie schwerlich gewinnen wird.

Das Gift, welches Europa absezte, hat man nach Australien verpflanzt. Nach Amerika die Verbrecher zu verpflanzen, war fürchterlich; denn in Gemeinwesen, wo sich selbst schon Wunden offenbarten, den Eiter Europas zu tröpfeln, mußte die Wunde gefährlicher und die Verbrecher unverbesserlich machen. Der gesunden Haut der Südseeinseln schadete die Ansteckung nichts. Der Gedanke ist schreckhaft genug, wie in den Verbrecherkolonien der Wechselverfälscher dem Mörder, der Falschmünzer dem Diebe begegnet; wie Verbrechen das Band sind, welches diese Gesellschaft umschließt und jeder auf des Andern Stirn das Kainszeichen der Schande erblickt. Die Kinder kennen die Schuld ihrer Väter, die Mütter sind so schuldig, wie die Gatten. Und dennoch liegt in der sichtlichen Blüthe dieser Colonien, in ihrem gewerblichen und sogar sittlichen Aufschwunge ein schöner Trost für die Menschheit. Die Narben der Brandmarkung bleichen aus; die blassen Wangen und die hohlen Augen fangen wieder ein edleres Feuer; die Gemüther erwärmen und rücken an einander, die Vergangenheit ist vergeben und vergessen. Das Gewissen ist durch den redlichen Willen, sich zu bessern und harte Arbeit, die überstanden werden mußte, gesühnt. Rom war eine Verbrecherkolonie von Albalonga; könnte man alle moralische Verworfenheit Europas in einen neuen Erdtheil bannen; würd' er uns nicht vielleicht bald überragen? Der Gedanke ist schauerlich; allein es liegt in seinem tiefsten Hintergrunde eine schöne Fernsicht in die menschliche Natur und die Ewigkeit des ihr von Gott eingeprägten Adels. Die Sittlichkeit würde immer wieder größer werden und mächtiger, als die Lust am Verbrechen. Wollte man zwölf Dieben, die auf eine entlegene Insel versezt würden, die Freiheit überlassen, sich ein Gesetzbuch und einen Staat zu machen; würden sie wohl zum Hauptprinzipe desselben den Diebstahl machen? Gewiß nicht. Diese Thatsache sollte uns allein schon ermuntern, alle Sorgfalt auf jene Unglücklichen zu verwenden, welche sich durch Verbrechen um ihre Ehre und Freiheit brachten. Das Gefühl der Verachtung, welches der Ehrliche beim Anblick eines Elenden empfindet, wird er nie unterdrücken können; aber die Vernunft schon, wenn nicht das Gefühl, soll ihn bestimmen, diese Verachtung nicht bis zur Grausamkeit zu steigern. Man soll den Muth, einen schlechten Keim, der aus dem Stamm der Gesellschaft sproßte, zu ersticken, selbst dann nicht verlieren, wenn man die Bosheit aufs tiefste eingewurzelt findet und wie ein Irrenarzt für seinen Eifer, zu helfen, nur gerade den wüthenden Angriff der Wahnsinnigen ernten sollte.

Es gibt nun freilich eine andere Gedankenreihe, wo England Ursache hat, in den Hintergrund zu treten. Dies ist theils die drakonische Strenge unsrer Kriminalgesetzgebung, theils der Buchstabengeist, der in ihr herrscht. Bei uns hat man die Gesetze theils furchtbar machen wollen, theils sie durch den Buchstabengeist derselben von menschlichen Erklärungen und Ausdeutungen befreien. Sie sollten sich den individuellen Ansichten der Richter nicht anschmiegen, sie sollten, frei von aller Elastizität, eine starre, unbeugsame Nothwendigkeit vorstellen. Was hier auf der einen Seite gewonnen ward, ging auf der andern verloren. Unsre Justizpflege, wenn sie über manche Verbrechen kein Urtheil fällen zu können vorgibt, weil für sie kein Gesetz vorhanden ist, artet in Unsinn und eine gefährliche Spielerei aus. Auf der einen Seite der fast barocke Buchstabengeist dieser Vorschriften, und auf der andern ihre unerbittliche Strenge, ihr außerordentlich gesteigertes Strafmaß -- wer möchte da noch glauben, daß die Ausgleichung der Strafe und der Verbrechen etwas Naturgemäßes ist, eine Nachbildung der göttlichen Gerechtigkeit, eine organische Nothwendigkeit? Wer möchte diese Gesetze nicht für eine eigensinnige Tyrannei halten, für die Laune eines Despoten, der statt durch Humanität die Menschen zu mildern, sie gerade durch seine strengen und grausamen Capricen, wenn nicht verwildert, doch verwirrt und aus dem Zusammenhang ihrer Handlungen mit den Institutionen die Gerechtigkeit herausscheucht? Glücklicherweise ist die Jury, soviel Mängel sie hat, ein Ausgleichungsmittel der Natur mit der Unnatur, der Freiheit mit der Nothwendigkeit. Sie stellt, da sie aus dem freien und unbestochenen Volksgeiste hervorgeht, das Gleichgewicht zwischen dem schöpferischen Geist der Thatsachen und dem starren Buchstaben der Gesetze wieder her. Sie schüzt uns vor der konsequenten Anwendung einer Gesetzgebung, die ein Conglomerat der Ueberreste aller vergangenen Jahrhunderte ist, die von keinem durchgreifenden einigen Prinzipe belebt wird, und eben darin die größte Unerträglichkeit enthält, daß sie in ihren Launen nicht einmal konsequent ist, sondern grausam durch Zufall, grausam ohne Prinzip.

Ich habe oft gedacht, ob es nicht eine weise Einrichtung jenes Geistes ist, der in unsern Schicksalen waltet, und Völkern und Ländern das Maß ihrer Besitzthümer und Entbehrungen zumißt, daß gerade England, das einzige Land, wo in Europa wahre politische Freiheit herrscht, eine Gesetzgebung besitzen muß, die weit hinter den Fortschritten, die seit Jahrhunderten der menschliche Geist gemacht hat, zurück ist. Sollen Wohlthaten und Mängel sich die Wage halten? Soll England in dem Einen zeigen, was Europa zu erstreben und in dem Andern, was es zu vermeiden hat? Indessen würde diese göttliche Veranstaltung sich auf historischem Wege bald erklären lassen. Dieselben Umstände, welche bei uns der Entwickelung der bürgerlichen Freiheit so günstig waren, hinderten die Ausbildung und Einführung allgemein menschlicher Prinzipien in die Civil- und Kriminalgesetzgebung. Die Freiheit Englands ist eine faktische, eine historische. Volk, König, Parlament (ist ein bekannter Ausspruch) haben alle ihre Rechte und Privilegien und Uebergewichte, ohne daß es dafür Grenzen gäbe. Die Freiheit Englands rang sich aus den Widerwärtigkeiten und Schicksalsstürmen der englischen Geschichte hervor. Sie war zum großen Theil Recht des Stärkern, sie war die schleunige Benutzung der günstigen Umstände, namentlich des Dynastienwechsels, sie war weit mehr die Folge des Handels und der Religionsverbesserung (Kirchenverbesserung kann man leider nicht sagen), als der Sieg allgemein rechtlicher Prinzipien und humaner Uebereinkünfte. Ja es ist fast, als wenn die Gewaltthätigkeit, die im englischen Charakter liegt, einen Abfluß finden mußte. Verlor sie sich aus den politischen Beziehungen, so mußte sie sich da erhalten und häufen sogar, wo die Freiheit verscherzt war, nämlich verscherzt durch Verbrechen. Nicht, daß mit Absicht die Strenge unserer Kriminalgesetze erhöht wurde, daß sich die Todtenrichter in weißen Mänteln hinsezten und an jedes Verbrechen ein Blutzeichen malten, sondern die alte Barbarei erhielt sich nur. Die alten Mißbräuche wurden in einem Gebiete, wo nur die Elenden darunter zu leiden hatten, unverbessert gelassen. Wer sich um sein Recht als Bürger bringt, dachten die Alten, haben wir da eine Pflicht, wenigstens das Menschliche noch zu bedenken? So blieb mitten in den Fortschritten unsres geistigen, gesellschaftlichen und politischen Lebens eine barbarische Gesetzgebung in England zurück, die alle gewaltthätigen Spuren der früheren englischen Geschichte trägt, die der treueste Ausdruck des dem englischen Charakter eingepflanzten rohen und wilden Geistes ist und gleichsam eine dauernde Rache zu seyn scheint für die viele blutige Unbill, welche die Edlen und Guten von dem Uebermuth der Aristokratie und der Grausamkeit der frühern erblichen Monarchie in England zu dulden hatten.

Den englischen Rechtsgelehrten liegen die Mängel der Prozeßordnung, die Rechtlosigkeiten im Rechte, die Verstöße gegen die Humanität in der Kriminalgesetzgebung offen vor Augen. Allein die Geneigtheit zu Verbesserungen wird gelähmt, einmal durch den Umstand, daß sie das Recht nicht als Wissenschaft, sondern als Handwerk erlernten. Gäb' es in England nicht bloß Advokatenschulen, sondern an den Universitäten auch Katheder, wo unabhängig von der Praxis die wissenschaftlichen Folgerungen einer reinen Rechtstheorie entwickelt würden, so würde der Corporationsgeist bald gesprengt seyn und in den Köpfen der Rechtsgelehrten eine größere Neigung zur Reform vorherrschen, als sie bisher anzutreffen war. Wir haben in unserer juristischen Erziehung keinen Mittelzustand zwischen dem Naturrecht und der Usance; für Rechtsgeschichte fehlt die Anleitung: für fremde Rechtserkenntniß die Selbstverläugnung und sogar die gelehrten Vorstudien. Das zweite Hinderniß ist der Egoismus, der Vortheil. Unsre verworrene Gesetzgebung ist den ewigen Prozessen ungemein günstig. Der Scharfsinn eines Advokaten kann die Entscheidung einer Eigenthumsfrage so lange aufhalten, bis sie verjährt ist. Lord Brougham hat in seiner berühmten Fünf-Stunden-Rede diesen Knäul rechtloser Gerechtigkeitspflege in Civilsachen zu entwirren gesucht; er hat dem Parlament eine Ansicht der verjährten Mißbräuche gegeben, daß er sich entschloß, ein Comité (freilich nicht viel) zur Untersuchung derselben niederzusetzen. Als Brougham später an die Spitze der Lordkanzlei kam, bewährte er seinen Eifer für die Gesetzreform durch großartige Entsagungen, die er auf Kosten seines Beutels machte. Allein was kann gebessert werden? Hie und da eine Prozedur, hie und da eine veraltete Verfügung! Es steht zu hoffen, daß England, wenn es sich von dem Parteienkampf erholt, wenn es diejenigen Hindernisse, die die freie Entwickelung seines Totallebens aufhalten, beseitigt haben wird, Ruhe und Besonnenheit genug erlangt hat, um sich einen Civil- und Kriminalrechtszustand aus einem Stück zu schaffen. Alles, was Romilly, Macintosh, Peel, Brougham und neuerdings Lord John Russel geleistet haben, ist als dankenswerth anzuerkennen; doch sind es nur schwache Verstopfungen einer drohenden Sündfluth, der bei Zeiten ein neues, geräumiges und vollkommnes Bett wird gegraben werden müssen.

Wären in England nicht gerade die Mißbräuche die begleitenden Nebenumstände glücklicher Verhältnisse, wären nicht die Fesseln der Barbarei beinahe eine Schadloshaltung für die politische und natürliche Freiheit, deren wir genießen; so möchte man das übrige Europa glücklich preisen seiner konsequenten und größtentheils vernunftgemäßen Gesetzgebungen wegen. Es ist leicht sagen, daß der Code Napoleon eine moderne Erfindung ist und gegen die alten Coutümes der Prinzen absticht, wie ein Frack gegen einen Ritterharnisch; allein einestheils sind wir nicht mehr bestimmt, in Harnischen aufzutreten; anderntheils ist gerade die französische eine Nation, welche mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit Abstraktionen in ihr inneres organisches Leben aufnehmen kann. So wie der Franzose von der Form der Gedanken eher verblendet wird, wie von den Gedanken selbst, wie er im Stande ist, um einer schönen Phrase willen in den Tod zu gehen, so lebt er auch mit der größten Leichtigkeit sich in geschriebene Vorschriften hinein und faßt in dem Neuesten, wenn es seiner Phantasie zusagt, organische Wurzeln. Wenn wir auch in Frankreich noch nicht alle juristischen Verhältnisse konsolidirt sehen, so liegt dies größtentheils an den Einmischungen der Tagesdebatten in das Gerichtsverfahren, an dem Despotismus der am Ruder befindlichen Parteien und namentlich an der Furcht, die Gerechtigkeitspflege möchte dem Volk eine gesetzliche Auflehnung gegen die Interessen der sich zu befestigen strebenden Dynastien Bourbon und jezt Orleans möglich machen. Die Jury soll ihre Fehler haben. Rechtsgelehrte behaupten dies und zwar ohne Gehässigkeit gegen das Institut an sich und ohne Interesse für die Partei des Widerstandes. Allein die Mehrzahl der in Betreff derselben gemachten Vorschläge kommt auf die Furcht vor dem in dieser Institution liegenden demokratischen Geiste zurück. Die doktrinäre Partei wühlt nach allen Seiten hin Minen, um die juristische Freiheit des französischen Volkes wenigstens theilweise in die Luft zu sprengen. Wir haben in diesen Tagen ihre Angriffe auf das Institut der Geschwornen verfolgen können. Dupin aber mit seiner Erklärung: Alle Staaten eilten ihrem Sturze entgegen, wenn sie an der Gerechtigkeit zu rücken und zu mäkeln anfingen, sezte den König in Schrecken und hielt vielleicht die Angriffe auf das französische Recht für lange Zeiten auf. Dupin, so klein er in der Politik ist, so groß ist er als Advokat vor den Schranken. Er ist der französische Brougham.

Der größte Theil des übrigen Europa hat den Gewinn deutlicher, logischer und allgemein zugänglicher Gesetzbücher durch den Verlust der Jury erkaufen müssen. Das öffentliche Verfahren, die Seele aller juristischen Körper (corpora Juris) mußte zugleich mit dem Prinzip der ständischen Vertretung weichen. Die Völker, von denen wir freilich zugeben wollen, daß sie im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert hie und dort kindisch geworden waren, mußten aufhören sich selbst zu regieren und wurden regiert. Die großen, durchgreifenden Wohlthaten der unbeschränkten Monarchie wird Niemand aus dem Auge verlieren, der da weiß, daß sich in der Geschichte keine Erscheinung ohne Zweck und Gewinn dauernd befestigen kann. Beklagenswerth ist nur, daß sich die unbeschränkte Monarchie und in ihrem Gefolge die Kabinetsjustiz, der geschriebene Prozeßgang und das Verfahren bei geschlossenen Thüren auf ewige Zeiten erhalten sollen. Die kindisch gewordenen Massen haben sich verjüngt. Die Völker können sich wohl die Kraft zutrauen, sich selbst zu lenken und Recht zu sprechen. Sie wollen das Königthum in seinen Lasten erleichtern. Warum ihnen die Oeffentlichkeit und die Geschwornen nicht lassen, die doch mehr als fünfzig Millionen Menschen in Europa und Amerika als das Bollwerk ihrer Freiheit, als das Unterpfand ihrer Fortschritte ansehen? Wohin die Uebung der Gerechtigkeit nur durch Juristen, wohin das Nivellement der Kabinetsregierungen führt, soll ein Beispiel erläutern.

Es war ein Vorrecht in der germanischen Feudalverfassung, daß der Gutsherr auf seinem Territorium für Recht und Gerechtigkeit sorgen durfte. Die sogenannte Patrimonialgerichtsbarkeit, in ihrem Prinzipe, hat nur Sinn, wenn sie mit dem Geschworneninstitute verbunden ist. Der Standesherr ordne und schütze das gerichtliche Verfahren, er leite es ein, er berufe die Richter, er gebe den Parteien rechtskundige Vertheidiger, er führe später den Spruch der Jury in Vollzug! Dies ist die Grundidee der Patrimonialgerichtsbarkeit, als einer Feudaleinrichtung. Mit der Ueberhandnahme des römischen Rechtes verlor sich jedoch im Volke das Rechtsbewußtseyn. Es konnte, da die Advokaten eine andre Bildung hatten, als eine der seinigen angemessene, nicht mehr zu Gericht sitzen; die Justiz wurde in allen Beziehungen Standesvorrecht: die Beisitzer und Schöffen aus dem Volke blieben aus. So nur kann man auf logische Weise die spätere Gestaltung der Patrimonialgerichtsbarkeit darstellen. Sie war ein feudaler Ueberrest mit moderner Färbung. Später jedoch, als Ludwig XIV. sagte: der Staat bin ich! und ihm alle Souveräne nachsagten: der Staat sind wir! reagirte die Kabinetspolitik hauptsächlich auch gegen das Vorrecht des Adels, auf seinem Grundgebiete Gerechtigkeit zu üben. Die Souveränität stüzte sich auf die Beamten-Hierarchie. Die Administration sollte von einem einzigen Centrum ausgehen. Der Staat, dessen Prinzip früher nur die Ausgleichung der verschiedenen Eigenthumsinteressen war, sollte hinfort ein theoretisches Prinzip in sich aufnehmen; der Staat sollte die Gerechtigkeit vorstellen und nebenbei die Macht des Adels brechen. So hob man die Patrimonialgerichtsbarkeit auf.

Es ist damit viel Gutes, aber auch ebensoviel Nachtheiliges bewirkt. Das Gute lag in der Aufhebung der Willkür, in der größern Geltendmachung des Rechtes. Der Prozeßgang wurde weitläufiger, aber die Richter wurden gerechter. Es trat eine Gewalt zwischen den Bauer und den Gutsherrn; lezterer hörte auf, in seiner eigenen Sache zu richten. Allein, was das Recht gewonnen hat, das hat die Moral verloren. Die Patrimonialgerichtsbarkeit, freilich mit Milde und Weisheit ausgeübt, war eine Vermittelung zwischen der bloßen Leidenschaft und zwischen der Bosheit der Menschen; sie hinderte, daß die Vergehen gleich als Verbrechen angesehen wurden, und daß die meisten auf dem Lande üblichen Frevel gleich mit dem Zuchthause, das den fernern Sitten der Gefangenen so gefährlich ist, bestraft wurden. Forstfrevel ist z. B. kein absolutes Verbrechen; denn fremdes Wild zu schießen, stößt zwar gegen die Gesetze, aber nicht gegen die Natur. Die Römer, die immer auf das Naturrecht zurückkamen, gaben die Thiere des Waldes und der Luft Jedem frei, der sie erreichen konnte. So sollte auch der Wilddieb, weil keine absolute moralische Verworfenheit zu seinem Verbrechen nöthig ist, nicht mit an die Gefangenenkette geschmiedet werden, die durch das Land ins Zuchthaus wandelt. Das Patrimonialgericht würde ihn empfindlich genug strafen, weil er den Vortheil des Gutsherren ohnehin beeinträchtigt hat; allein die sittliche Zukunft und Besserung des Mannes bliebe vielleicht gesichert, wenn er nur in dem herrschaftlichen Gefängnisse seine Strafzeit überstehen müßte und nicht gleich in die kriminalstatistischen Tabellen des ganzen Staates hineingezogen würde. Der Uebergang von der Unkultur zum Verbrechen ist so leicht, daß man nicht so hurtig seyn sollte, den Gefallenen den Prozeß zu machen. Das ist namentlich die Barbarei der englischen Gesetzgebung, daß sie das geringste Verbrechen mit dem größten fast auf gleiche Stufe stellt. Ein Sacktuch stehlen und eine Uhr stehlen, einen Truthahn stehlen und ein Pferd und eine Summe Geldes; das ist, wenn man in der menschlichen Natur, die das Verbrechen beging, nachforscht, ein außerordentlicher Unterschied. Der Gesellschaft freilich, so ist der Schluß der Gesetzgeber, kann dies einerlei seyn, sie sieht nur das, was sie empfindet; sie straft Alles, was ihr gefährlich und nachtheilig ist. Allein dieser Terrorismus des Staatslebens, und der bloßen politischen und Munizipalexistenz der Menschheit ist gerade das Widerspiel der Humanität und wird von ihren hochherzigen Bestrebungen bestritten. Die Strafe soll die Heilung nicht ausschließen, der Büttel nicht den Arzt verdrängen. Es soll wohl untersucht werden, aus welchen intellektuellen und moralischen Störungen das Verbrechen hervorging. Es soll bedacht werden: Hast du, Unglücklicher, den man auf der That ertappte, Plato gelesen? Hast du dich in den Grenzen des Guten und Schlechten mit klarem Bewußtseyn selbst zurechtfinden können? Wußtest du, wo das Eine aufhört und das Andre anfängt? Und wie bald wird man sich überzeugen können, daß die Mehrzahl der Verbrecher nicht aus positivem Laster, sondern nur aus negativer Tugend, nicht aus einem Ueberfluß an Bosheit, sondern aus einem Mangel an moralischer Kraft entstand! Was stählt allein die moralische Kraft? Was hindert uns, die wir im Parlamente sitzen, reden und schreiben, was hindert uns, daß wir stehlen und morden? Die Intelligenz in allen Fällen und die moralische Kraft? Vielleicht auch sie; aber wer vermag sie in sich, wenn er sich darüber Geständnisse machen sollte, zu trennen von der Bildung, die er genoß, von seinen Kenntnissen, seiner Lektüre? Und diese Gegenmittel fehlen den Verbrechern. Sie dämmern zwischen dem Guten und Bösen ohne Bewußtseyn und schwanken zu ihrem Verderben von Einem auf's Andre. Ihre Existenz ist physisch, thierisch, roh; sie sind aber nur deßhalb schlecht, weil -- sie nicht gut sind. Soll bei diesen Umständen immer nur administrirt, registrirt und incarcerirt werden, so schüzt man vielleicht die Gesellschaft, verdirbt aber den Keim der Menschheit. Das Edle, was selbst in leidenschaftlichen und von moralischen Bollwerken nicht vor dem Verbrechen gesicherten Menschen verborgen liegt, geht im Strudel der Kriminalrichtung, die man einem solchen Menschen gibt, mit dem polizeilichen Mühlsteine, den man ihm an den Hals hängt, mit in den Abgrund. Der Verbrecher ist für die Gesellschaft verloren. Eine Strafe, die seinem Fehltritt folgte, kann er nicht anders ertragen, als wenn er seine verbrecherische Handlung mit der Strafe nivellirt und jezt erst das wird, wofür er gehalten wurde. Man sollte ein Verbrechen bestrafen können, ohne den, der es beging, sogleich auch zum Verbrecher zu machen. Das hört sich wie ein Widerspruch an; allein die Humanität sinnt mitleidig darüber nach, wie er auszugleichen wäre. Patrimonialgerichte und Jury wären ein Hilfsmittel. So lange aber dieses nicht angewandt und kein noch kräftigeres ihm beigesellt wird; so erlaubt uns wenigstens, die Gefängnisse zu besuchen und den zu retten, der zu retten ist. Die Geistlichen, welche von ihren Pfründen leben, sollten sich diesem Geschäfte widmen. Sie sollten nicht nur die verstockten, sondern gerade die offenen Sünder zu bekehren suchen. In der Kirche gleichen die Menschen alle jenem Pharisäer: im Zuchthause würden sie sich alle, wie der Zöllner, an die Brust schlagen müssen. Die Predigt alle Sonntage verbessert die Moral unseres Jahrhunderts nicht. Die sogenannte Kinderlehre dient nur dazu, den Uebermuth der aufwachsenden Jugend kaum zu dämpfen. Was haben eigentlich die Geistlichen zu thun? Sie bedenken am Samstag, was sie am Sonntag predigen wollen. Am Montag und am Donnerstag unterrichten sie eine Stunde lang die Knaben, am Dienstag und Freitag die Mädchen ihres Sprengels. Sie haben eine Taufe, eine Trauung zu verrichten, sie beten zuweilen am Grabe eines Verstorbenen. Für etwa acht Stunden geistlicher Verrichtungen also dienen acht Tage Vorbereitung? Einem Laien könnte das gestattet seyn, etwa einem Quäker, der über die Reden, die er halten will, sein Handwerk vernachläßigt; allein dem Geistlichen sollte sein Amt immer gegenwärtig, sein Gedächtniß immer vorbereitet seyn. Die Geistlichen könnten also wohl ihre Muße anwenden, die Gefängnisse zu besuchen und die Segnungen des Christenthums gerade da anzubieten, wo sie bisher verachtet wurden. Der Zudrang zu dem geistlichen Stande würde freilich bei so ernsten Beschäftigungen aufhören; wie ich denn gewiß bin, daß das lange Vikariren der Candidaten bald enden sollte, wenn die Geistlichen verpflichtet wären, vormittäglich einige Stunden in den Gefängnissen zu weilen, Nachmittags einige in den Krankenhäusern, und jährlich, wenn auch nur einmal, einen Delinquenten auf den Rabenstein zu begleiten. Das sind ernstere, heiligere, der Menschheit nützlichere Geschäfte, als bei schönen Seelen geistliche Theevisiten zu machen und in Freimaurerclubbs Schach oder Whist zu spielen.

Indessen, was die Delinquenten betrifft, so mag den Geistlichen ihre Begleitung deßhalb erlassen seyn, weil ich mich nicht scheuen würde, jeden Strick abzuschneiden, woran ein Verurtheilter und selbst ein Greenacre hängt. Abschaffung der Todesstrafe -- das ist ein Symbol, von demselben Werthe, als wenn man sagte: Gebt die Sklaven, die Juden, die Irländer frei! Nehmet der Geistlichkeit den politischen Einfluß! Entfesselt die Presse! Huldiget allen großen Aufgaben, welche das Jahrhundert gleichsam an die Spitze großer Mastbäume befestigt hat, welche die Zeitgenossen erklettern müssen, selbst wenn die sophistische Seife der Unrechtslehrer machen sollte, daß sie zehnmal daran herunterglitten! wie z. B. unsere Kirchensteuer-Bill erklettert werden muß, selbst wenn die Minister, um die Tories von ihren Sitzen zu jagen, sich nicht anders zu helfen wüßten, als, im Augenblick der Abstimmung im Unterhaus, das Oberhaus in Brand zu stecken.

Die Advokaten des Rades, des Schwertes, Beiles, der Schlinge und der Guillotine sind theils aufrichtige Freunde der Henker, theils verborgene. Jene sind ungefähr das, was man Menschenfreunde nennen könnte, diese treiben ein Spiel mit doktrinären Illusionen. Jene haben juristische und polizeiliche Gründe für ihre Grausamkeit und leiden selbst empfindlich unter der Nothwendigkeit; diese köpfen und hängen mit kaltem Blute und sehen auf den Rabensteinen die poetische Gerechtigkeit thronen. Diese Lezteren, die Doktrinäre unserer Zeit, die Geistreichen, die Philosophen, sind dieselben, welche wir oben die Verbesserung der Gefängnisse haben so sophistisch bestreiten sehen, es sind die, welche das achtzehnte Jahrhundert in den Sack gesteckt haben und die Philanthropie für eine Frauenzimmerkrankheit ausgeben. Sie wollen Alles entweder auf die Natur oder auf's Mittelalter zurückführen. Sie begründen alle ihre Ansichten entweder auf die Geschichte oder auf das Christenthum. Sie lehren, daß Christus gesagt hätte, »er brächte das Schwert.« Der Geist der Liebe zog in ihre Herzen nicht ein. Sie kämpfen nur für den Schimmer der Ideen, nicht für ihren Inhalt. Sie lassen die Gedanken nicht die Nagelprobe des Herzens, sondern die der Originalität bestehen; und kämpfen unter anderem deßhalb auch für die Todesstrafe. Sie beginnen mit dem Witze und hören mit der Mystik auf. Sie machen die Toleranz des Zeitalters gegen Diebe und Mörder lächerlich. Sie werden immer so anfangen: »O ihr armen Ravaillac, ihr armen Schächer, die ihr neben Christo hinget, warum habt ihr nicht mit euern großen Handlungen gewartet, bis euch die Humanität des neunzehnten Jahrhunderts bloß, statt auf das Schaffot, lebenslänglich auf die Galeere geschickt hätte! Und du Heiland selbst, warum unterließest du dein Evangelium zu predigen nicht bis dahin, wo es ohnehin gleich von der Aufklärung verbessert werden konnte, und zogst dein Lebenlang Schiffe am todten Meere, statt am Kreuze zu sterben?« Nachdem die Spötter sich dann in ihrem Witze erschöpft haben, kommen sie auf ihre Ausgleichungstheorien zurück, verurtheilen den weichlichen Sinn der Zeitgenossen und leiten das Uebrige, was ihnen noch fehlt, um im Terrorismus vollständig zu seyn, aus ihren Ansichten vom Staate her. Diese ganze Fraktion besteht aus Dilettanten, Pseudo-Originalen und Aesthetikern, welche mit der Abschaffung der Todesstrafe auch den Untergang der Tragödie befürchten. Läßt sich die Leidenschaft und die Phantasie widerlegen?

Besonnene Rechtslehrer haben die Frage über die Todesstrafe in die Nothwendigkeit und Zuläßigkeit derselben eingetheilt. Die Nothwendigkeit lag ihnen in der abschreckenden Kraft dieser Strafe, die, wenn man sie mildern würde, ihnen die Neigung zu jenen Verbrechen, auf welchen sonst der Tod stand, erleichtern zu müssen schien. Man fürchtet, daß Umwandlung der Todesstrafe in lebenslängliches Gefängniß, in Ketten-, Karren- und Galeerenarbeit eine Ueberhandnahme der todeswürdigen Verbrecher erzeugen würde. Allein die geringe Erfahrung, welche man von der Abschaffung der Todesstrafe hat, beweist, daß diese Besorgniß ungegründet ist. Die wenigen italienischen Staaten, wo früher einige philanthropische Fürsten die Todesstrafe aus den Gesetzbüchern verbannt hatten, verwilderten nicht mehr, als früher, und auch in Belgien, wo der Henker um seine Privilegien gebracht ist, kann man nicht sagen, daß die Abschaffung der Todesstrafe die der äußersten Strafe würdigen Verbrechen vermehrt hätte. Wenn wir namentlich von dem Grundsatze ausgehen, daß kein anderes Verbrechen, als der Mord, mit dem Tode bestraft werden dürfe, so sind Menschen, die ihn vorsätzlich begehen, auch immer weit entfernt, sich nicht die Mittel zuzutrauen, die Entdeckung ihrer That unmöglich zu machen. Ist einmal das menschliche Gemüth so sehr untergraben, daß nur die Bosheit und Gewaltthätigkeit in dem Innern eines solchen Verbrechers thätig sind, so wird man jenen Schritt nicht mehr bestimmen können, wo er aus Furcht vor dem Schaffot einen Mord unterläßt; sondern das schlechte Herz wird sich mit der List verbinden, und die Todesstrafe wie die Galeere, eines so gut wie das andere, zu vermeiden suchen.

Was die Zuläßigkeit der Todesstrafe betrifft, so wird sie aus dem allgemeinen Strafrechte der gebildeten Gesellschaft hergeleitet. Philosophen, welche die Todesstrafe vertheidigen, leiten sie nicht, wie die Rechtslehrer, bloß aus den Staatsprinzipien her, sondern behaupten nicht ohne Grund, daß dem Menschen die Wiedervergeltung für seine Handlungen von Natur eingepflanzt wäre; sie sagen, daß der Mensch alles dessen sich selbst für würdig halte, was er Andern anthut, und daß durch Nichtschonung eines fremden Lebens nichts Anderes verwirkt seyn könne, als das eigene.

Niemand jedoch, der die Abschaffung der Todesstrafe wünscht, wird diese Meinung in Abrede stellen. Darum aber, daß jeder Mörder eingesteht, daß man mit Recht sein eigenes Leben von ihm fordern könne, und daß noch Niemand, der einen Anderen tödtete, erklärte, seine eigene Hinrichtung wäre eine Ungerechtigkeit; daraus ist unmöglich zu folgern, daß nun auch die Gesellschaft das Recht hätte, dem Menschen das zu nehmen, was länger zu besitzen er sich selber für unwürdig erklärt. Alle Zeiten, alle Völker haben geschwankt, ob ihnen ein solches Recht gestattet wäre; wenn sie einen Mörder am Leben straften, so mußte er alle Anzeigen tragen, daß der von ihm begangene Mord, ließe man ihn frei, nicht der Schlußstein seiner Verbrechen seyn würde; man mußte wissen, daß jener Räuber, welcher die Landenge von Korinth unsicher machte, diese Sklaven, welche in Italien raubten und mordeten, schlechthin gefährlich waren und durch Milde in ihrem ruchlosen Lebenswandel nicht würden aufgehalten worden seyn. Man strafte sie am Leben, weil man kein anderes Mittel hatte, ihrer los zu seyn. Allein die neue Zeit, welche doch die zweideutige Beglückung der Gefängnisse erfunden, ein Institut, welches das Alterthum in unserem kriminalistischen Sinn nicht kannte; das Zeitalter der Burgverließe, Einmauerungen und eisernen Masken hätte doch am ersten bereit seyn sollen, beim Morde zu unterscheiden zwischen einem Morde, einem einfachen Faktum, welches vielleicht ohne ähnlichen Vorgang war und ohne Nachfolge geblieben wäre im Leben des Verbrechers, und einer durch und durch schlechten und gewaltthätigen Gesinnung. Diese Lezte hat das Alterthum immer mit dem Tod bestraft, weil Räuber und Mörder ein Ungeziefer sind, von welchem man sich auf die leichteste und schnellste Weise befreien darf. Allein bei jenen aus Leidenschaft, Verkettung der Umstände und persönlichen Motiven entstandenen Morden kam es immer in Verlegenheit und überließ die Rache am liebsten Jenem, der sie verlangte. Ja, wenn einmal gesagt werden soll, ein Mord verlange als Strafe gleichfalls einen Schlußakt, und Blut könne nur durch Blut gesühnt werden; warum ergreift man nicht jenes Mittel, welches in China noch üblich ist, daß sich die überwiesenen Mörder selbst umbringen müssen! Man pflegt zu sagen, daß mancher Verbrecher, der zwischen dem Tod und ewiger Karrenstrafe zu wählen hätte, lieber den erstern wählen würde. Könnte man in diesem Falle die Entscheidung seiner eigenen Freiheit ihm nicht gänzlich selbst überlassen, ihn drei Tage und Nächte mit Mitteln, seine Wahl schnell und sicher auszuführen, verschließen, und nach Ablauf der drei Tage, wo es an Speise und Trank nicht fehlen dürfte, nachsehen, ob man den Elenden zu begraben oder auf die Galeere zu führen habe? So pflegt noch heute der Sultan den Staatsverbrechern stillschweigend nur die seidene Schnur zu schicken, und Nero sogar wußte bei seiner Grausamkeit, wo es ihm an Henkern doch nicht fehlte, doch noch die persönliche Freiheit so zu schätzen, daß er den vermeintlichen Staatsverbrechern andeutete, in so und so viel Tagen müßten sie von der Erde verschwunden seyn. Seneka öffnete sich selbst die Adern, und auch in Athen trank Sokrates, ein vermeintlicher Hochverräther an der Religion und dem Staate, im Genuß seiner persönlichen Freiheit und nur bestimmt, nicht mehr zu seyn, den Schierlingsbecher.

Zu allen Zeiten und bei allen Völkern war man über die Henker in Verlegenheit. Man mußte Sklaven dazu zwingen, und selbst in den christlichen Zeiten konnte man sich die Henker nur wie gesellschaftliche Paria's erziehen oder konnte nur Verbrecher, die sich loszukaufen suchten, für das schreckliche Amt gewinnen, mußte auch wohl gar Mordlustige, die in einer Maske auf dem Schaffot erschienen, dazu auffordern. Wir sprechen sehr leicht über Nothwendigkeit und Zuläßigkeit der Todesstrafe und vergessen, daß wir im Grund gar kein natürliches Instrument haben, um sie anzuwenden. Griechenland z. B. weiß gegenwärtig nicht, wo es für seine schöne, neue Civilisation die Henker herbekommen soll, und muß dazu die bairischen Soldaten oder wohl gar die todwürdigen Verbrecher selbst wählen. Das stehende Amt eines Henkers ist eine durch und durch barbarische Consequenz unseres modernen, soll man sagen, germanischen Lebens! Die Liktoren bei den Römern waren doch wenigstens, wie in Athen die Elf, eine Schaar, vielleicht militärisch oder kollegialisch organisirt. Sie repräsentirten in Masse die dunkle, blutige Gerechtigkeit; es war kein einzelnes Individuum, das mit zitterndem, klopfendem Herzen oder im anderen Falle mit entmenschter Brutalität den Mörder hinrichtete. Wer will den formellen Begriff des Staates, diese leere Abstraktion von Gesetz und Gerechtigkeit, so ausdehnen, daß er von der Todesstrafe den Makel entfernen kann, der Henker werde, indem er straft, selbst zu einem Verbrecher erzogen? Er kann den tödtlichen Streich allerdings mit dem Gedanken führen, daß ihn der Delinquent verdient hat; allein sich für ein auserkohrnes Werkzeug der Gerechtigkeit zu halten, eine Strafe, die nicht mehr innerhalb der bürgerlichen Grenzen liegt, sondern eine allgemein menschliche ist, auszuführen, dazu hat der Einzelne unmöglich die göttliche Conzession erhalten. Man führe sich das Henkeramt doch nur auf den natürlichen Stand der Dinge zurück und setze den Fall, ein außerordentliches Verbrechen solle an einem Elenden durch den Tod gesühnt werden. Die Regierung ruft in die versammelte Volksmenge hinunter, wer das Strafamt übernehmen wolle; ja, sie werden Alle den Verbrecher verfluchen, aber Niemand wird begreifen können, wie er ihn, in Uebereinstimmung mit seinen Gefühlen, um das verwirkte Leben bringen soll; und man kann gewiß seyn, tritt ein Mann hervor und sagt: »ich will es thun«; so wird er gewiß einen hohen Preis darauf setzen und in seinem Herzen schon längst ein Todtschläger geworden seyn, und Nichts bewähren, als schon seine eigene Verwandtschaft mit dem Rabenstein. Oder gibt es heroische Naturen, die mit Enthusiasmus als die göttliche Gerechtigkeit auftreten wollen, wie das bei den mannigfaltigen Arten des menschlichen Wahnsinns wohl möglich ist, so kann man gewiß seyn, daß sein Anerbieten Nichts ist, als ein Weg, der ihn von dem Irrenhause, wohin er gehört, mit Schicklichkeit abführen soll. Warum spricht man bei der Todesstrafe nur immer von dem Zweck und nicht von dem Mittel, wo sich doch der ganze Gesichtspunkt der Frage verändert?

Ein Philosoph hat, um die Schicklichkeit der Todesstrafe zu beweisen, die Ehre in die Frage mit hineingezogen. Er hat gefragt: Man stelle doch einem Hochverräther einmal die Wahl zwischen dem Tod und der Karre frei! Hat der Verbrecher Ehre, was wird er vorziehen? Ja sogar bei gemeinen Mördern und Räubern ist manchmal das Ehrgefühl so wenig erstickt, daß sie nicht aus Arbeitsscheu, sondern wirklich aus einer Art Heroismus vorziehen würden, lieber hingerichtet, als an die Kette geschmiedet zu werden. Allein so richtig es ist, so ist Das, was man daraus folgern will, am allerwenigsten darin enthalten; nicht die Schicklichkeit der Todesstrafe folgt daraus, sondern noch weit mehr der verfängliche Satz, daß Selbstmord, wenn er einen guten Grund hat, keine Schande ist. Die Gesellschaft sollte gerade in die Grundsätze dieses Philosophen eingehen und es dem Delinquenten überlassen, ob er sterben, d. h. durch sich selbst sterben wolle oder, mit ewiger Schande bedeckt, ein mühevolles Leben dahin schleppen.

Denn gestehen wir es uns nur, daß die Gesellschaft gar kein anderes Recht auf den Verbrecher hat, als ihn von sich auszustoßen und ihn, je nach der Größe seines Vergehens mit mehr oder weniger Schmach zu bedecken. Selbst aufgeklärte Rechtslehrer rufen dringend: »Nur keine entehrenden Strafen!« Diese Hochachtung vor der Menschenwürde bei Individuen, die sie verwirkt haben, gestehe ich, nicht begreifen zu können. Es gibt Verbrechen, die mit Entehrung, mit Peitschenhieben zu strafen, unverantwortlich ist, z. B. die militärischen Disziplinarvergehen. Verbrechen gegen den gesellschaftlichen Mechanismus, gegen die Disziplin und die polizeiliche Ordnung, die ja eben so selten die Natur- wie die Vernunftordnung ist, diese mit Entehrung zu strafen, ist eine Grausamkeit, gegen die man sich um so mehr erklären muß, als sie nur mit einer despotischen Willkür verbunden seyn kann. Allein alle die Verbrechen, wo die Moral verlezt ist, was soll da die Strafe sagen? Die Strafe kann immer nur in einem Quantum von Schande liegen, wie ja der nächste Antrieb zu aller öffentlichen Sitte und zu unseren Privathandlungen der Ruf ist, den wir uns dadurch zuziehen. Dies Verhältniß klärt uns auch über die Strafbefugniß des Staates im Allgemeinen auf und beweist uns, daß das größte Quantum von Strafe, welches der Staat verhängen kann, nur in dem größten Maße von Schande und Infamie liegen darf, mit welchem man einen Kapitalverbrecher bedeckt. Wenn nun auch der Tod durch Henkershand das Aeußerste einer solchen Infamie ist, so erträgt und trägt sie doch der Schuldige nicht dauernd, im Gegentheil er stirbt wie ein Held und imponirt der Menge, die in dem Augenblicke, wo er stirbt, nur die Schwierigkeit seiner Lage sieht. Das Alles sind so natürliche und einfache Sätze, daß man nicht begreift, wie die Wissenschaft noch eine Strafe vertheidigen kann, über welche das Gefühl längst schon den Stab gebrochen hat.

Wenn man das Strafrecht aus dem Contract social herleitet, so kann der Verbrecher von der Allgemeinheit doch immer nur unter dem Gesichtspunkte des Bürgers und nicht des Menschen betrachtet werden. Die Alten, welche das Staatsleben wahrlich in ihre innersten Nerven aufgenommen hatten, stellten die Verbannung so hoch, wie den Tod, und sagten, jene wäre so gut wie dieser capitis diminutio. Da wir nun eine allgemeine Völkermoral haben und das sittliche Leben anderer Nationen durch unsere eigenen Krankheiten anzustecken für schlecht halten, so haben wir, statt der Verbannung, Gefängnisse. Allein will man einmal die Strafe aus einem vorhergegangenen Uebereinkommen herleiten und sie als Maßregel der Politik hinstellen, so reichen die Hände des Staates doch nicht weiter, als bis zur Entziehung der politischen Freiheit, nicht über sie hinaus, bis zur Entziehung des menschlichen Daseyns. Wir können immer nur sagen: Wer das höchste Verbrechen begeht, den Mord, der ist keiner der Unsrigen mehr; wir würden ihn also verbannen müssen, wenn wir statt der Verbannung nicht die Gefängnisse eingeführt hätten. Dann möchte man auch wahrlich fragen, wozu soll dieses Auspolstern der Ruhepunkte unserer Gedanken ewig mit dem Staate und immer mit dem Staate dienen? Daß der Verbrecher durch seine That die Ordnung des Staates verlezt, ist Etwas, das ihm gar nicht einfällt. Erkennt er seine That, so sieht er sich weit mehr der göttlichen als der menschlichen Gerechtigkeit gegenübergestellt. Er denkt nicht daran, das Gleichgewicht des Staates zu stören, sondern sein Verbrechen steht isolirt; es ist kein civiles, sondern ein teuflisches. Er weiß es recht gut, daß eine Stunde kommen kann, wo ihn sein Gewissen mehr als die Strafe ängstigt. Es sollten also auch nicht politische, sondern moralische Maßstäbe an seine That gelegt werden. Der Staat soll sein Gesetzbuch nicht höher halten, als den Thron Gottes. Ja, gute und fromme Seelen haben gesagt, daß die Todesstrafe Delinquenten die Gelegenheit nimmt, sich zu bessern, und das hat seinen guten Grund, wenn es sich auch etwas spitalmäßig anhört. Auf die Aussicht hin, nach einem begangenen Morde in ein Kloster gesperrt zu werden und durch Buße und Bet-Uebungen zur Reue über seine That gestimmt zu werden, möchte allerdings mancher Handwerksbursche mehr erschlagen werden. Oder vielleicht haben es die guten Seelen nicht so gemeint, sondern es schwebt ihnen die Lehre Christi vor, nach welcher reuige Sünder für Gott ein besonderes Wohlgefallen sind. Am häufigsten gehen die Delinquenten mit Trotz aus der Welt. Wenn der Versuch, sie mürbe zu bekehren und sie erst dann, wenn sie es geworden sind, hinzurichten, machen würde, daß sie niemals bereuten, so müßte hier freilich die Todesstrafe von selbst wegfallen; es sey denn, daß mancher Verbrecher nicht lieber vorzöge, abgethan zu werden, als das ewige Predigen und Lehren der Geistlichkeit mit anzuhören.

Weit wichtiger sind nun die beiden anderen Beweggründe gegen die Todesstrafe, nämlich die, daß sie nicht nur Nichts bewirkt, sondern im Gegentheil sogar Böses bewirkt. Die zahllosen Abschreckungen und Armensünderspektakel haben noch immer nicht das Schwert des Nachrichters verrosten lassen, und wenn man sagt, daß ein vollkommenes Aufhören der Kapitalverbrechen nicht erreicht werden könne, sondern daß wir es gerade der Todesstrafe zu danken hätten, nur wenige ihr Verfallene zu sehen, so möchte gerade dieser Meinung wieder jener Irrthum zum Grunde liegen, als wenn unsere Gesellschaft einzig und allein durch die Furcht vor dem Gesetz gegen den in ihr schlummernden Cannibalismus verwahrt wäre. Nimmermehr! Was uns zusammenhält, ist die Bildung, die eingepflanzte Moral, die christliche Tradition und vor allen Dingen das Interesse. Die Furcht vor der Strafe bewirkt Nichts, sondern nur die Furcht vor der Schande; aber in der Schande gibt es keine Stufenleiter. Ist sie größer oder geringer, sie hinterläßt immer denselben Makel, so daß also Der, der diesen ungeheuren Schritt, ich will nicht sagen von der Tugend, sondern vom Indifferentismus bis zum Verbrechen gethan hat, daß er stiehlt, auch nun nicht mehr bloß durch das Schaffot von einer Laufbahn abgehalten wird, in die er einmal verfallen ist. Es hat allerdings Räuber gegeben, wie z. B. den berüchtigten Schinderhannes, die sich aus Furcht vor dem Schaffot hüteten, einen Mord zu begehen oder wohl gar einen point d'honneur darin suchten. Allein an diesem feinen Raffinement und gentlemenliken point d'honneur eines Spitzbuben, der bereits dem Halseisen verfallen ist, wird der Gesellschaft wenig gelegen seyn, und ein Schinderhannes mit oder ohne Mord wird ihr gleich strafwürdig vorkommen.

Der andere Punkt ist: das Nachtheilige der Todesstrafe, insofern sie der Moralität und den Sitten ein Aergerniß gibt. Das ganze Schauspiel hat Etwas, was das Gefühl beleidigt. Die ungeheure Zumuthung, die hier dem Auge und den Nerven gemacht wird, sezt einen Grad von Selbstüberwindung und gewaltsamer Beherrschung seiner eigenen Gefühle voraus, welcher das Herz verhärtet. Der Staat ordnet die Ceremonie mit Feierlichkeit an; Niemand, selbst die Richter nicht, können einen Fanatismus für die Strafwürdigkeit des Verbrechens besitzen, der so groß wäre, daß Zuschauer und die Schauspieler des Stücks mit kaltem Blute ihre Aufgabe lösten, sondern Jeder hat in sich Etwas zu überwinden, Jeder fühlt, daß er sich am Andern halten müsse, wenn der tödliche Streich durch die Luft saust. Da sich alle Stimmen so heftig dagegen aussprechen, die Todesstrafe im Geheimen zu vollziehen, ein Verfahren, das allerdings mißbraucht werden könnte, aber vielleicht mehr Wirkung haben dürfte, des Geheimnisses wegen, als das öffentliche Schauspiel; so wird der Zudrang der Menge zu den Exekutionen sich nicht verlieren, sondern Weiber und Kinder werden sich dabei noch zahlreicher einfinden, als die Männer. So groß das Mitleiden, eine gewiß unschädliche Tugend, für den Delinquenten seyn mag, so ist die Neugier, welche die Menge zusammentrieb, doch noch weit größer. Der Verbrecher ist todt und die Leidenschaften der Masse sind befriedigt. Mit einer trostlosen Gefühlsleere kehrt sie an ihr Gewerbe zurück und hat bloß eine Historie mit angesehen, aber keine Lehre empfangen. Man sagt, daß in dem Augenblick, wo der Verbrecher seine Strafe empfange, die Menge zu jubeln und zu klatschen pflege. Ich habe noch keiner Hinrichtung beigewohnt und kann nur glauben, daß dieser Beifallsruf dem Henker gilt, wenn er seine Sache gut gemacht hat, wie auf der anderen Seite ihn wohl Verwünschungen bedrohen, wenn er in seiner grausen Kunst irgend Etwas verfehlte. Wenn also diese thätige Theilnahme des Publikums an den Exekutionen auch nur dem Verfahren selbst und der dabei entwickelten größern Kunstfertigkeit gewidmet ist, so ist doch selbst diese Theilnahme etwas unsern humanen Empfindungen Widersprechendes und liegt so weit außerhalb des Bereiches, wo das menschliche Gemüth beruhigt ist und sich in seinem Elemente weiß, daß die Möglichkeit, für solche Scenen noch Zuschauer zu finden, gerade ein betrübender Beweis für die in den Massen herrschenden gewaltsamen Empfindungen ist, ein Beweis für den Trotz der rohen Natürlichkeit im Menschen, welche hier sogar von der Civilisation und Gerechtigkeit mit einem traurigen Anhaltspunkte beschenkt wird. Und da es eigentlich nur der Bildung möglich ist, das fürchterliche Gefühl des Verbrechers selbst von dem Zusammenhang der ganzen Scene abzusondern und durch die Pein, die jener aussteht, im Nothfall von einem Morde, wenn man dies bei Gebildeten für nöthig halten sollte, sich abschrecken zu lassen, so geht für den gemeinen Mann gerade das Hauptinteresse des ganzen Aktes verloren. Er weiß den Helden von der Staffage, die Personen von den Dekorationen nicht zu trennen, und sieht in dem öffentlichen Schauspiele einer Hinrichtung Nichts, was seine eigenen Nerven erschüttert und ihn selbst zittern macht, sondern ein Epos, das ihm fabelhaft im Ohre braust und eher anfeuernd, als abschreckend auf ihn wirkt. Ja, wenn wir auf Jahrmärkten Weiber und Männer, die selbst mit genauer Noth dem Galgen entlaufen zu seyn scheinen, sehen, wie sie mit singender Stimme die auf einer Tafel dargestellte, blutige Lebensgeschichte eines Mörders erklären, und sogar ein Lied darauf haben und eine Melodie dazu, so ist dies beinahe eine poetische Abrundung der Verbrechen und eine Genugthuung für ihren Urheber, die auf das Volk magisch wirkt und den Delinquenten, gleichsam ausgesühnt, in den Schoos des Volkes zurückführt. Man glaube doch nicht, daß der Anblick des Gräßlichen und die Erzählung davon übermüthige Naturen abhält, es gleichfalls zu risquiren. Die Furcht (und es wäre traurig, wenn es allein so wäre) ist nicht das Hinderniß einer moralischen Verwilderung, wohl aber ist das menschliche Gemüth in den meisten seiner Licht- und Schattenseiten noch ein unergründetes und spukhaftes Geheimniß. Alles Große imponirt dem Menschen und reizt seinen Nachahmungstrieb auf; kaltblütig aber auf dem Schaffot zu sterben -- dazu gehört unter allen Umständen ein großer Aufwand innerer Spannkräfte; das abschreckende Motiv im Volke ist keinesweges die Furcht, und ich bin gewiß, daß es auf jähzornige, gewaltthätige und grausame Menschen heftiger und abschreckender wirkt, die Aussicht zu haben, lebenslänglich Pferdearbeit verrichten zu müssen, als die, hingerichtet zu werden.

Die Unzuläßigkeit der Todesstrafe, eben so wie ihre Nothwendigkeit aus der Theorie des Staates herzuleiten, ist Beides gleich bedenklich. Leider hat auch einer der edelsten Geister, der sich im Kampfe gegen die Barbarei der alten Strafgesetzgebung so verdient gemacht hat, Beccaria, die Ungerechtigkeit der Todesstrafe fast mathematisch zu beweisen gesucht. Wir haben selbst in Obigem Einiges, was in dieser Rücksicht Recht und Gerechtigkeit betrifft, angegeben; allein Beccaria ist in seiner Beweisführung zu weit gegangen. Er sagt, indem er dabei von rousseauischen Prinzipien ausgeht, daß bei Abschluß des ersten Staatsvertrags die Strafbefugniß der Allgemeinheit schwerlich jemals von dem Einzelnen dahin ausgedehnt worden wäre, daß er sein eigenes Daseyn für den Fall irgend eines Verbrechens dem Ganzen überlassen hätte. Beccaria begeht hier keinen andern Irrthum, als den, daß er einen fingirten Vertrag, welches der Contract social doch immer ist, zu einem historischen macht; denn historisch möcht' es allerdings in Zeiten roher Kultur möglich gewesen seyn, daß die Contrahenten sich über Recht und Strafe vereinigten, aber ihr eignes Leben für den Fall von Gewaltthätigkeiten vielleicht gegen einander nicht ausgetauscht haben würden. Genug, diese schwache Beweisführung hat der Sache, der sie dienen sollte, viel geschadet; denn nun haben die Rechts- und Polizeilehrer freies Spiel gehabt, Beccaria's Vorschläge, die sogar der deutsche Philosoph Kant als »eine schwache Empfindsamkeit affectirter Humanität« hinstellt, zurückzuweisen. Es gibt nur einen siegreichen Widerspruch gegen die Todesstrafe, und dieser liegt in dem Geiste des Jahrhunderts, in der einmal angeregten Protestation der Gefühle gegen dieselbe, in der unwiderstehlichen Kraft aller jener Fragen, die sich einmal mit der Hauptsache, um welche sich unsere Zeit bewegt, verbunden haben, und begeisterte, das Gemüth anregende Fürsprache fanden. Und in dieser Rücksicht ist die Todesstrafe schon zur Hälfte abgeschafft; indem ihr die barbarische Erhöhung der beim Tode auszustehenden Qualen genommen wurde, das Rad, das Beil, ja sogar schon das Schwert, indem ihr an vielen Orten schon Nichts mehr blieb, als der Strick, so wird auch dieser bald reißen. Das Viertheilen konnte abschrecken, der Feuertod, das Zerschlagen der Glieder mit Keulen, allein die Guillotine schreckt nicht mehr, weil durch sie im Nu das ängstliche Drama beendigt ist. Die Empörung des Gefühls, die einmal in der Menschheit gegen die Todesstrafe ausgebrochen ist, wird sich durch Nichts mehr beschwichtigen lassen. Selbst gegen den verworfensten Verbrecher wird sich in sanften Gemüthern (und in Culturfragen siegen diese, nicht die schroffen) der Abscheu mildern, wenn man voraussetzen kann, daß der Elende sein Verbrechen durchschaut, es bereut und Monate, ja bei manchem schlechten Justizgang Jahre lang die Seelenangst um den künftigen Tod durch Henkershand aussteht. Diese Seelenangst, dies innere Zittern und Beben, bis Alles vorbei ist, darin sollte eigentlich die wahre Abschreckung liegen; allein wodurch soll man dies der Masse verständlich machen? Die Masse sieht nur den Tod, nicht die fürchterliche Seelenfolter einer Vorbereitung darauf. Die um sich greifende Bildung schlafft unsere Herzen nicht aus; sie bringt es nicht mit sich, daß wir um ihretwillen gegen Tugend und Laster gleichgültig werden. Was Victor Hugo über die lezten Tage eines Verurtheilten und über die Grausamkeit der Todesstrafe gesprochen, das ist wahrlich aus keinem feigen und in ernsten Dingen matten Herzen entstanden, sondern der Fieberfrost des moralischen Entsetzens schüttelte ihn, als er seinen unsterblichen Aufruf an die Gesetzgeber schrieb; es ist die haarsträubende Wirkung einer Strafe, deren gräßliche Nebenumstände die Phantasie des Dichters nicht erfand, sondern vielleicht allein sie vollkommen zu begreifen fähig war. Wenn er uns das Beispiel jenes fürchterlich Verstümmelten anführt, bei dem zweimal selbst die Guillotine fehlte, der mit halb abgehacktem Kopfe aufsprang und vor dem versammelten Publikum, über und über von Blut triefend, Gnade flehend die Hände ausstreckte -- gerechter Gott! was sind dagegen alle eure spitzfindigen Deduktionen und Abschreckungstheorien? Der Henker mußte sich auf den Unglücklichen werfen und ihm mit einem Messer den Kopf herunterschneiden. Ihr aber, die ihr dies angeordnet habt, ihr Richter und Polizeidiener, ihr steht blaß und zitternd umher und fühlt wohl innerlich, daß vor Gott, dem allein die Rache gebührt, ihr im Augenblick größere Verbrecher seyd, als der, den ihr eurer wahnsinnigen Gerechtigkeit zum Opfer schlachtet!

Nach diesen äußersten Verbrechen, welche die Gesellschaft treffen, nach diesen äußersten Strafen, die sie verhängt, wollen wir, obgleich die Region der Zuchthäuser noch nicht verlassend, doch zu milderen Erscheinungen übergehen. Gemordet wird hier und da noch genug. In Spanien wurden im Jahr 1826 zwölfhundert dreiunddreißig Ermordungen angezeigt, siebenhundert dreiundsiebenzig versucht, diejenigen ungerechnet, welche nicht zur Kenntniß der Justiz kamen. Es wäre wohl interessant, über andere Verbrechen und in Rücksicht auf alle Länder Angaben dieser Art zu haben, denn Nichts arbeitet den Bestrebungen um Sittenverbesserung unserer Zeit mehr in die Hand, als die Kriminalstatistik. Freilich müßte man dann, um den moralischen Durchschnittswerth ganzer Völker und Perioden anzugeben, alles Dasjenige abziehen, was nicht geradezu Verbrechen gegen das Gewissen, sondern nur Verbrechen gegen den Staat ist, gegen polizeiliche Ordnung; alle die Verbrechen, wo es sich nicht sogleich um sittliche Verworfenheit handelt, als da sind: Uebertretungen von Forst- und Zollgesetzen, ferner alle die Verbrechen, welche im Rausche begangen werden: (Ein Faktor, der in den Rechnungen der Kriminalstatistik sehr zu beachten ist, da es Länder gibt, welche durch übermäßige Consumtion der gebrannten Wasser ganz aus den Fugen einer besonnenen sittlichen Haltung gekommen sind, wie z. B. in Schweden ein Zehntheil aller Verbrechen in der Trunkenheit begangen wird). Im Allgemeinen muß man eingestehen, daß in den vereinigten Staaten die wenigsten Verbrechen begangen werden, eine Thatsache, die für die dortige Regierungsverfassung ein gutes Zeugniß ablegt, allein auch zum Theil dadurch erklärt wird, daß einmal die Sklaven, die einen großen Theil der Bevölkerung ausmachen, unter einer fortwährenden, beinahe pädagogischen Obhut sich befinden und sodann die Menschen in dem großen Lande zu weit auseinander wohnen, um in viele gewaltthätige Kollisionen zu gerathen. Auch ist die Durchschnittsrechnung Frankreichs günstiger als Englands; ja in einzelnen Departementen übertrifft Frankreich noch die Vereinigten Staaten; denn der Unterschied freilich in Frankreich ist so groß, daß z. B. in Korsica auf 1000 Menschen immer 1 Verbrecher kommt, und im Departement Creuse in Frankreich immer 1 Verbrecher nur auf mehr als 30,000; jedoch sind unter diesen Zahlen in Betreff Frankreichs immer nur Verbrecher gegen Personen und nicht gegen das Eigenthum verstanden. In Neu-Südwales, wo freilich die Verbrecherkolonien sind, rechnet man 1 auf 22; demnächst in Irland 1 auf beinahe 500; in England 1 auf 740; in Schottland auf 1130; in Wales auf 2320. Im Durchschnitt werden jährlich in England einige über 20,000 Personen ins Gefängniß geführt, als überwiesene Verbrecher.

Um das Beispiel eines Volkes zu wählen, wo man die Natur noch in voller Kraft glauben möchte, so wollen wir Schweden nehmen, über dessen Gerichtsgang von den Jahren 1830 und 31 Berichte bekannt worden sind. Von Civilprozessen kamen in diesem Lande, welches ungefähr vier Millionen Menschen bewohnen, durchschnittlich ungefähr 170 Concurs-Prozesse vor, darunter, was für die Volkswohlfahrt ein schlechtes Omen ist, die meisten aus dem Bauernstande. Schuldensachen fallen ungefähr 50,000 vor, und betreffen wieder größtentheils den Bauernstand. Einigemal über 100 wurden auch Prediger wegen Schulden verklagt; 1000 mal Militärpersonen. Die Zahl anderer bürgerlichen Zwistigkeiten erstreckte sich auf mehr als 87,000. Man sieht daraus, welch' eine Haderlust unter den Menschen waltet und wie gerade mit steigender Cultur auch die Berührungen der Menschen leidenschaftlicher und eigennütziger werden. Von Criminalverbrechen betrafen die meisten Verbrechen gegen öffentliches Eigenthum, bei dessen Verletzung nicht gerade immer der Verbrecher sittlich verdorben zu seyn braucht, Forst- und Holzbeschädigungen; oder sie halten wenigstens den Diebstählen das Gleichgewicht; etwa 3000 Diebstähle rechnet man im Jahre, welches nicht viel sind und im Ganzen noch ein Naturvolk erkennen lassen. Auf vier Millionen Menschen kommen 4 Gotteslästerer, 9 Mordbrenner, 56 Mörder, 21 Straßenräuber, 31 Kindesmörderinnen, 14 Giftmischerinnen, 11 Sodomiter, 58 Hochverräther, mehr als 100 Wechsel- und Geldverfälscher. Und alle diese Verbrechen wurden größtentheils in einem Alter zwischen 25 und 35 Jahren begangen; 44 Verbrechen jedoch sogar von Kindern, die noch nicht einmal das 15te Jahr erreicht hatten! Es ist schwer, solche Angaben beruhigend oder beängstigend zu nennen; für den Frieden und die Glückseligkeit der Menschen sind es immer zu viel Frevel, und doch sind es noch immer weniger als es seyn müßten, um über die ganze Welt den Fluch auszusprechen und in die Einsamkeit zu ziehen.

Die Verbrechen unserer Zeit -- selbst wenn sie mit der zunehmenden künstlichen Bildung steigen sollten -- sind nicht so bedenklich, als ein gefährlicheres Uebel: die Sittenlosigkeit ohne Verbrechen. Die Prostitution ist ein Beispiel desselben; allein Vieles, was sich nur nicht offen preisgibt, gehört in diese Kategorie. Es wird viel gestohlen, ohne daß der Dieb gehängt werden kann, viel betrogen, ohne daß man den Betrüger nur so nennen darf. Es wird sogar genug gemordet, ohne daß es Mörder und (wenigstens augenblicklich) Leichen gäbe. Die Weltbildung unserer Zeit ist deßhalb auch die, sich bei Niemanden etwas Gutes zu versehen; sondern in den unschuldigst scheinenden Berührungen vermuthet man die Schlange und rüstet sich. Vertheidigung ist jezt Angriff. Man steht auf den Hinterfüßen und traut dem Frieden nicht. Ein Satyriker würde ein weites Feld haben, wenn er allen Annäherungen zwischen Ge- und Verbrechen nachspüren wollte und jene ehrlosen Handlungen aufdeckte, die gerade vor der Welt mit Ehren überhäuft werden. Er würde in seinem Eifer Manchem Unrecht thun und Vieles zu lebhaft hinstellen; allein für halbe Zustände gibt es keine andere Behandlung, als sie ganz hervorzuziehen, mit Wurzeln und Erde daran. Wie Vieles, das äußerlich schön und lustig blüht, würden wir schon von dem Wurm der Immoralität benagt finden, so daß man sagen muß: Kommt hier nicht der Tod, oder das Alter, oder Gott zuvor, so vertrocknet bald der Saft der Pflanze! Das halbe Verbrechen, die Unsittlichkeit ohne Anklagepunkt -- ja, der Dichter kann hier zuweilen den dunklen Schleier lüften -- im Zusammenhange aber mit dem Streben, vollständig zu seyn, möchte der Versuch einer Darstellung Frevel seyn; wir würden immer tiefer in Anklagen verstrickt, davon im Strome des Lebens fortgerissen werden. Das Böse ist mit dem Guten hienieden eng verbunden, wie die edlen Metalle mit den Schlacken, welche sie verhüllen. Gott aber ist es allein, der Herzen und Nieren prüft.


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