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In Italien soll der Mensch immer im Freien leben. Das Zimmer ist in Italien nur der Schutz gegen die Launen des Himmels. Zu einem dauernden Aufenthalt bieten auch die italienischen Zimmer nichts Einladendes.
Glücklicherweise gab eine kleine Terrasse und ein darüber gespanntes Zeltdach dem Zimmer Imaginens im »Albergo della Santa Croce« ein wohnliches Aussehen, denn an und für sich war es, ohnehin in einem unbekannten Mittelgasthofe, ohne alle Bequemlichkeit. Am Tage nach der Vesuvpartie nahm Otto von Sudburg vor Imagina auf einem gebrechlichen alten Polsterstuhl noch aus spanischen Zeiten Platz, er voll innerer Bewegung, sie nicht minder in Verlegenheit. Eine Erörterung konnte nicht peinlicher angesponnen werden.
»Gräfin«, begann Otto von Sudburg mit zitternder Stimme, »wenn wir uns in diesem Augenblick, so wie jetzt, in einer Berliner oder Breslauer Gesellschaft gegenübersäßen, so würde man uns für die ausstudiertesten Heuchler halten, die nur je vor der Welt Komödie gespielt haben. Denn das wissen Sie doch, daß ich das Glück habe, oft mit Ihnen zusammen genannt zu werden?«
Imagina, die sich kaum fassen konnte, sagte leise irgendeine unverständliche Entgegnung. Als Otto schwieg und einen seelenvollen Blick auf die reizende junge Frau entsendete, sammelte sie sich und sagte: »Sie haben mir geschrieben, Sie hätten Fragen an mich zu richten. Und da ich bis jetzt selbst vermieden habe, nach Deutschland hin einige Antworten zu geben, die wahrscheinlich mit den von Ihnen beabsichtigten Fragen in Verbindung stehen, so habe ich mir, so peinlich es sein mußte, doch die entsetzliche Pflicht auferlegt, mit Ihnen über Dinge zu reden, an welche ich seit einem halben Jahre mich gezwungen habe, nicht einmal zu denken. Also! Welche Fragen haben Sie?«
»Gräfin«, fragte Sudburg, »ich bin wegen meiner Beziehungen zu Ihnen zur Rede gestellt worden; woher denn in aller Welt kennen Sie mich?«
Mit verlegener Miene, die sich zuletzt in einen schmerzlichen Zug auflöste, fragte sie nach einer Pause: »Haben Sie mich denn nie gesehen?«
»Ja! Zu Baden-Baden«, lautete die Antwort, »auf der Schloßruine, zuweilen im Konversationshause; flüchtige, auch freundliche Worte haben Sie mit mir gewechselt, unvergeßliche, aber ganz flüchtige. Desto befremdlicher war mir's, in Deutschland, von wo ich komme, überall zu hören, daß ich um das Glück beneidet werde, Sie sogar in Breslau schon gekannt zu haben!«
»Ihr Zartgefühl«, sagte Imagina, »macht einen langen Umweg, um zu dem zu kommen, was doch wohl eigentlich auf Ihrer Zunge schwebt.«
»Ja, Gräfin«, fuhr Otto ermutigter fort, »ich bin nicht nur um das Glück Ihrer Freundschaft, das ich nie genossen habe, beneidet, sondern sogar von einem ehrenwerten Mann, dem Landrat von Unruh, Ihrem Vater, zur Rede gestellt worden, wie ich mich unterstehen könnte ...«
»Wie«, fuhr Imagina erschrocken auf, »zur Rede gestellt?«
»Fürchten Sie keine feindliche Begegnung«, sagte Otto. »Ich habe einmal ein schaudervolles Unglück im Zweikampf gehabt. Seitdem drängte ich mich nicht mehr so hitzig dazu und ziehe jeder Gewalttat friedliche Verständigung vor. Aber denken Sie sich meine Lage, was ich nun antworten sollte auf Beschuldigungen, die mich von Ihrem Vater, auch von der Feodore Zaluska trafen.«
»Sie kennen Feodore, ich weiß es!« beantwortete sich selbst Imagina.
»Feodore Zaluska! Ja, ja, Gräfin! Das hatten Sie ganz richtig herausgebracht. Das ist Acedia, die siebente Todsünde!«
Das war zu grausam für Imagina. So hatte man ihre Geheimnisse mißbraucht, so selbst einen ihr wildfremden Mann in die tiefsten Gründe ihrer Seele blicken lassen! Sie sprang an den Balkon, um Luft zu schöpfen, sie hätte über ganz Neapel hinweg vor Schmerz aufschreien mögen, sich die Brust zersprengen, sterben – und erst den Worten Ottos: »Fürchten Sie aber nichts, Gräfin! Nur die dunkelste, die verworrenste Vorstellung habe ich von diesen Märchenträumen!« gelang es, sie zur Besinnung zurückzuführen.
Als sich die so schmählich Verratene wieder auf dem Sofa niedergelassen hatte, auf dem sie vor ihrem Besuch gesessen, fuhr dieser fort: »Ich hörte von einem Tagebuch, einem Gedicht, einem Roman, in dem meine Person Ihnen durch einen Zufall wert genug erschienen ist, daß Sie mich nannten. Man hat mir einige Stellen daraus mitgeteilt, die ich für Erfindung halten muß, und doch, Gräfin, sind diese Stellen so im Einklang mit der innersten Entwickelung meines Lebens, daß mein Erschrecken, als ich sie las, mein Zittern, mein Beben erneuten Verdacht gegen Sie erregen mußte und ich einer förmlichen gerichtlichen Vernehmung nur durch plötzliche Abreise von Breslau entgangen bin.«
»Sprachen Sie meinen Gatten?« fragte Imagina, die den Scheidungsprozeß im Gange wußte, im Ton der Vernichtung.
»Niemals«, berichtete Otto. »Er war den ganzem Winter in Berlin. Sie wissen, daß er in Baden das Wort gegeben hatte, den Winter in Berlin zuzubringen.«
»Das Wort gegeben? Wem?«
»Wem anders als Feodoren?«
Imagina hatte inzwischen Welt genug gesehen, um durch diese Erwiderung nicht überrascht zu werden. Und doch erschütterte sie die Bestätigung ihrer Ahnung.
»Feodore Zaluska ist meine Nebenbuhlerin«, sprach sie gefaßt.
»Acedia!« sagte Otto mit gezogenem Ton und einstimmend in das schmerzlich lächelnde Erstaunen der Hörerin, die denn nun doch fragen mußte: »Warum trifft auch für Sie diese Bezeichnung zu?«
»Wenn diese Frau nicht die Gattin des Grafen von Wartenberg wird, wird sie die meinige!«
Imagina sah den jungen Mann starr an. »Was ist das? Sie könnten sich eine Frau erwählen, die im Begriff ist, Sie zu verraten?« sagte sie.
Otto schwieg, stützte sein Haupt auf die Lehne des Sessels und sagte: »Oh, das sind dunkle Lebenswege!«
»Aber klären Sie mich darüber auf!« drängte Imagina, und als Otto noch immer schwieg, fragte sie: »Sie lieben Feodoren?«
»Nicht mehr!« sprach Otto von Sudburg bestimmt, und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. »Oh, daß ich erlöst würde«, fuhr er nach einer Weile fort, »von Qualen, die mein Leben zu zerstören drohen! Hören Sie, wie ein junges Herz in die Strudel des Lebens geraten kann! Hören Sie ein aufrichtiges Bekenntnis und verzeihen Sie, wenn Ihr reines Ohr durch Mitteilung von Verhältnissen beleidigt wird, deren Möglichkeit Sie in Ihren mir rätselhaften Badener Blättern dichterisch geahnt haben. Ich bin«, fuhr der junge, interessante Mann nach einiger Sammlung fort, »in Siebenbürgen geboren und von meinem Vater, einem Nachkommen der vor Jahrhunderten in jene Karpatenländer eingewanderten Deutschen, zum Bergbau bestimmt. In Breslau studierte ich Mineralogie und vervollkommnete mich zu Freiberg in Sachsen für meinen künftigen Beruf. Hier auf der Akademie war es, wo ich ewige Freundschaft mit einem jungen, liebenswürdigen, aber sehr leichtsinnigen Polen, von Zaluski, schloß. Nach Kronstadt in Siebenbürgen zurückkehrend, trat ich die Erbschaft meines inzwischen verstorbenen Vaters an und machte dann eine meiner Wissenschaft gewidmete größere Reise durch Europa. Aber in Wien angekommen, fesselten mich sogleich die Reize des Vergnügens und mehr als alles mein Freund Zaluski, der sich seit drei Jahren mit einer allbewunderten jungen, liebenswürdigen Kurländerin, Feodore, verheiratet hatte. Nach wenig Wochen hatte Zaluski einen vollkommen begründeten Argwohn gegen die Treue seiner Frau und seines Freundes. Ich war verblendet genug, die gerechte Ursache seiner Eifersucht zu sein. Zaluski spielte. Die mit rasch gefolgten zwei Kindern einsam gelassene, vergnügungssüchtige junge Frau wurde von mir besucht, bis eines Tages Zaluski, unmutig über größer und größer werdende Verluste, die ihm sein ganzes Vermögen raubten, uns überraschte und in seinem Zorn mich so beleidigte, daß wir uns schossen. Ich, der Schuldige, verwundete ihn tödlich! Sterbend legte er meine Hand in die Hand Feodorens, nahm mir einen feierlichen Schwur ab und verschied. Dieser Schwur lautete, entweder Feodoren sogleich oder nach Ablauf von fünf Jahren in dem Falle zu heiraten, daß für sie und die Zukunft seiner Kinder dann noch nicht beruhigend gesorgt wäre. Wir gaben diese Kleinen in Pension und reisten von Wien ab. Der dunkle Schatten des gemordeten Freundes verfolgte mich ruhelos, dennoch verheirateten wir uns nicht. Feodorens Charakter entwickelte sich zu unglaublichem Leichtsinn. Ich selbst, in meiner Moralität geknickt, vermochte ihr keinen andern Anhalt zu bieten, als daß wir zusammen in Paris, London, Turin und einigen Teilen Deutschlands ein Leben geführt haben, das ich Ihnen nicht schildern darf. Erwägen Sie nur dies eine, daß ich mein Vermögen verausgabt hatte und zwei Jahre nur vom Spiel lebte, bald darbend wie ein Bettler, bald das vergeudend, was ein glücklicher Zufall gespendet hatte. Von Treue war bei Feodorens Charakter nicht die Rede, auch bei meinem nicht. Wir trennten, wir vereinigten uns, wie die Umstände es gaben. Oft habe ich Gott auf den Knien gedankt, wenn ich von ihrer nagenden, verzehrenden Nähe befreit war! Dann warf ich mich mit Leidenschaft in wissenschaftliche, mich noch immer fesselnde Tätigkeit, machte kleine Reisen in merkwürdige Gebirgsformationen und kam mir wieder wie verjüngt, wie rein und edel vor! Plötzlich aber stand Feodore vor mir, und die Macht ihres Zaubers auf mich war und ist so groß – daß selbst jetzt – nein, nein, unmöglich, jetzt nicht mehr! Nachdem ich in Ihnen eine reinere Frauennatur kennengelernt habe, kann mich ein solches Wesen nicht mehr fesseln. Wohl gedenke ich des Augenblicks, als ich mir auf der Schloßruine sagte: Wer ist dieses sanfte, himmlisch milde Mädchen! Denn daß Sie eine verheiratete Frau sein könnten, Sie zu der wilden Gesellschaft unter den Eichbäumen gehörten, wäre mir nicht im Traum eingefallen! Feodore trat uns entgegen. Erinnern Sie sich noch? Das Glas entsank ihrer Hand. Sie hatte nicht geglaubt, daß ich von Paris, wo wir uns nach einer heftigen Szene trennten, ihr je wieder folgen könnte. Aber so ängstlich, so zärtlich war meine Sorge um sie, daß ich zitterte, sie könnte vielleicht darben, die Kinder könnten es, und was hatte ich selbst ihr und ihnen zu geben? Ich mußte spielen. Ich war nicht glücklich in Baden. Einsam streifte ich oft in den Bergen umher und saß verzweifelnd auf einem Steine, während Feodore in der Gesellschaft lachte und tändelte. Und dennoch liebte sie mich! Ich wußte, daß unter allen Umständen ich vor jeder andern Verbindung den ersten Platz behielt. Das sah ich, als ich eines Abends zu ihr trat und eine nach vielem Mißgeschick endlich mühsam erspielte Summe vor ihr auf den Tisch rollte. Hätte ich ahnen können, daß Sie damals vielleicht den Klang dieses Goldes hörten! ›Otto‹, sagte an jenem Abend Feodore sicher und fest zu mir, ›ich nehme dies zum letzten Mal von dir, aber ich gelobe, daß wir uns nun für immer trennen!‹ Zornig loderte ich auf. ›Beruhige dich‹, antwortete sie, ›mein Herz wird dir bleiben, aber meine Hand gedenke ich in die eines Mannes zu legen, der spätestens in einem Jahre von einem in keiner Hinsicht für ihn passenden Verhältnisse frei geworden sein wird. Sie nannte mir den Namen Ihres Gatten, eines jungen Mannes, dessen gutmütigen, aber unbedeutenden Sinn ich schon auf der Universität kannte, einen Bequemlichkeitsmenschen, der eine Frau nur zu seiner Unterhaltung haben will, und mit dem allerdings die ewig aufgeregte und andere aufregende Feodore besser stimmt als mit einem Wesen, das selbst Aufmerksamkeit und Liebe verlangt. Dieser Erklärung setzte ich noch in meiner damaligen Verblendung die heftigsten Einsprüche entgegen. Da aber Graf Wartenberg reich ist und durch ihn für meines unglücklich geopferten Freundes Zaluski Kinder am väterlichsten gesorgt werden kann, so sah ich allmählich dieser Schicksalswendung mit stumpfer Gleichgültigkeit zu, bis ich Andeutungen einer sonderbaren Beziehung erhielt, die ich selbst mit Ihnen unterhalten sollte! Feodore, die nicht ahnte, daß die Ursache eines wirklichen Bruches des von ihr untergrabenen Bundes ich selbst werden konnte, wurde von der heftigsten Eifersucht ergriffen, schrieb mir alles, was in Ihrem Lebenskreise geschehen war, und verzweifelte über eben das, worüber sie doch triumphieren konnte. Ich hatte zur Vervollständigung meiner geognostischen Studien noch Sizilien zu bereisen und gelobte mir, nicht eher zu ruhen, bis ich in Ihre Nähe kam, Sie sähe, Ihnen ... doch es ist gelungen, ich sehe Sie – in demselben Augenblicke, wo mein Los dahin entschieden ist, jetzt vielleicht doch Feodoren zu meiner Gattin nehmen zu müssen.«
»Und warum das?« fragte Imagina hastig.
»Ist Ihnen unbekannt geblieben«, fuhr Otto von Sudburg fort, »daß Ihres Gatten Trennung von Ihnen an unübersteigbare Hindernisse gebunden ist? Der Staat scheidet nicht ohne einen vom Gesetz vorhergesehenen Grund, der den fernem Bestand des ehelichen Friedens unmöglich macht. Der Advokat, der Ihre Sache führt, erklärt Ihre Tagebuchblätter für eine Phantasie, für eine dichterische Eingebung, und beweist durch die geschicktesten Entwickelungen Ihres Geistes und eines schon früh sich zeigenden Talents, daß Sie einen Roman zu schreiben beabsichtigten, den Sie selbst nicht erlebt hätten. Ihre eigenen Erklärungen sind so ausweichender Natur gewesen, daß kein Zeugnis einer gegen den Grafen bewiesenen Untreue vorliegt, und die Trennung findet unter diesen Umständen um so weniger statt, als sich der Graf bei seiner Anwesenheit in Berlin überzeugt hat, wie ungern der Hof, dem er vorgestellt wurde, von Ehetrennungen innerhalb der hervorragenden Gesellschaftssphäre hören will. Die Aussicht, den Kammerherrntitel zu erhalten, ist ihm zu lieb, daß er noch wagen dürfte, in dieser Sache weiter zu gehen, als seine Ehre verlangt. Feodore resigniert, Gräfin von Wartenberg zu werden, und mein dem sterbenden Freund gegebenes Gelübde zwingt mich, den Irrfahrten seiner Gattin und der bedrohten Zukunft seiner Kinder fünf Jahre nach seinem Tode dadurch ein Ende zu machen, daß ich mein Wort erfülle, in meine Heimat zurückkehre und einen Bund fürs Leben schließe, der, ich ahne es, die Quelle noch der unsäglichsten Leiden für mich werden wird, vielleicht mein früher Tod.«
Imagina sah den jungen Mann voll Mitleid an.
»Es wird sich der Fluch meines Lebens erfüllen«, rief Otto schmerzlich aus. »Hinschmachten werde ich in den Fesseln dieses dämonischen Weibes, das den Zauber besitzt, mitten in ihren Herzlosigkeiten mich wieder an sich zu fesseln. Ein elendes Leben werde ich hinbringen an der Seite einer Frau, der der Friede meiner Heimat, der Beruf meiner Existenz nie genügen wird. Fort vom heimischen Herde wird sie mich führen, in alle Strudel eines wilden, genußsüchtigen Lebens wieder stürzen; ich werde entweder den unterirdischen Gewalten oder in einem Moment der Verzweiflung dem Nichts verfallen.«
Imagina warf einen langen, mitleidsvollen Blick auf den jungen, an Schwäche des Herzens leidenden Mann, dem der Gram schon bedenkliche Furchen über die edle hohe Stirn gezogen hatte. Ein gewaltiger Entschluß kämpfte in ihr, dann erhob sie sich, sagte, Otto möchte eine Weile in den auf dem Tische liegenden Zeichnungen blättern, und versprach, das Zimmer verlassend, in wenigen Augenblicken zurückzukehren.
Otto sah sie im Nebenzimmer verschwinden und, überwältigt von ihrem Zauber, breitete er die Arme hinter ihr aus ins Leere. So blieb er eine Weile wie ein Verzückter stehen und sank erschöpft auf seinen Sessel zurück.
Es währte lange, bis Imagina zurückkehrte. Er griff nach einem kleinen Portefeuille und blätterte in den zierlichen, saubern Bleistiftskizzen. Ein phantastisches Blatt fesselte ihn. Von sinnigen Arabesken eingerahmt, sah er ein Mädchen, das der Gräfin glich, in einem Schachte schlummern. Ein Engel schwebte ihr zu Häupten und deutete mit einem Lilienstengel an die Felsenwand, die sich zu öffnen schien, denn der kluge Kopf eines Zwergen lauschte aus ihr hervor. Er schlug um. Hier war dasselbe Mädchen gezeichnet in einer Stalaktitengrotte, lauschend hinter einem förmlichen Strauch von sauber und richtig ausgeführten Erzblumen, lauschend einer Versammlung des Königs der Elfen. Ein drittes Blatt enthielt dieselbe Szene, aber dem gekrönten Haupte stand in Flammen ein Riese gegenüber, der, umgeben von Teufelslarven, in Verhandlungen mit den guten Geistern begriffen schien. Für das Verständnis des einzelnen fehlte ihm der Schlüssel, aber ein Student im altdeutschen Rock rief ihm seine Breslauer Jugendzeit zurück! Als er in den Arabesken die charakteristisch angedeuteten sieben Todsünden erkannte, fiel es ihm heiß aufs Herz. Er sah sich auf einem andern Blatt als Spieler, sah sich irrend im Gebirge und Steine suchen, sah sich auf der Schloßruine, und immer deuteten die um die Zeichnung gaukelnden Arabesken, diese kleinen Larven und Tiere und Metalle und Figuren, den Zusammenhang der sinnigen Geschichte an. Auf jedem Blatte hatte der Fürst der Hölle eine seiner Todsünden schon zurückerhalten, bis nur noch die letzte in der Gewalt seines bekümmerten Vaters blieb, Acedia, die blasierte Herzensgleichgültigkeit, das leibhafte Antlitz Feodore Zaluskas.
In dem Augenblicke, als er schaudernd die Macht seines Schicksals fühlte, kehrte Imagina zurück, zeigte ihm einen eben versiegelten Brief und sagte: »Lesen Sie diese Abschrift, die ich zurückbehalten.« Otto las: »An den Justizrat D. in Breslau. Ew. Wohlgeboren geb ich hiermit nach langem und hoffentlich nicht zu spät kommendem Zögern die Erklärung, daß ich meinen Rechtsanwalt beauftragen werde, die Form seiner bisherigen Verteidigung fallenzulassen. Ich fühle mich des gegen mich erhobenen Verdachts schuldig und ersuche Sie, auf Grund einer von mir begangenen Untreue, die ich eingestehe, den Richter zu bestimmen, mich vom Grafen von Wartenberg, wie er gleich anfangs gewünscht, zu scheiden. Mit Achtung zeichnend, Imagina von Unruh.«
Otto übersah die Folgen dieser hochherzigen Erklärung. Besinnungslos hielt er das Papier in der Hand und stammelte unhörbar: »Gerechter Gott, Sie könnten ...? Imagina!« rief er überwältigt und stürzte der Gräfin zu Füßen.
»Das nicht!« sagte die im Charakter seit Monaten gefestigte Frau. »Es genügt, daß Sie frei sind, Otto von Sudburg, Sie haben das Gelübde an Ihren sterbenden Freund gelöst. Feodore wird die Gräfin von Wartenberg werden! Ziehen Sie jetzt in Ihre Berge, werfen Sie sich an das Herz der guten Mutter Erde, werden Sie in Ihrem Beruf wieder jung, werden Sie wieder hoffnungsvoll, werden Sie ein Mann!«
Der also Angeredete erhob sich und konnte in seinem Auge die Tränen nicht verbergen. »Das Gedicht dieser Blätter wollen Sie nicht völlig wahr machen?« fragte er; »Ihr Herz soll dem nicht gehören, von dem es träumte?«
Mit verklärtem, heiligem Lächeln antwortete Imagina: »Es muß ja nicht alles hienieden irdisch abschließen! Was ist es denn, das uns zusammenführte? Sagte ich denn: ein leerer Traum? Nein, ich glaube an eine Geisterwelt, an der wir selbst einst teilnehmen werden. Ich glaube, daß Millionen Neigungen und Empfindungen unsichtbar in den Lüften schweben und holdselige Amoretten oft mit ihren Rosenbanden Wesen verflechten, die in der sichtbaren Welt stumm und kalt aneinander vorübergehen müssen. Dort dereinst treten diese verborgenen Freuden und Leiden, diese ungestandenen Neigungen ebenso in eine ungeahnte neue Wirklichkeit, wie, zur Strafe freilich, mancher hier zurückgehaltene böse Haß und Groll, manche Lüge und Verstellung. Aber für diese Welt leben Sie nun wohl!«
Als der stürmische Bewerber nicht nachgeben, nicht in seinen Bitten um Liebe sich mäßigen konnte, da kam ihr ein heiliger Gesang zu Hülfe, der die Straße herauftönte. Eine glänzende, feierliche Prozession wallte einer nahegelegenen Marienkirche zu, und in den heiligen Klängen, die der himmlischen Liebe geweiht waren, mußten die Bitten der irdischen verstummen. Imagina trat hinaus, neigte ihr Haupt auf die Lehne des Balkons, kniete, und da sie im Gebet verharrte, solange Otto blieb, da sie nicht wieder aufsah und er nicht wagte, ein Wesen, das ihn gerettet hatte, von ihrer stillen Andacht abzuziehen, so trat er nur noch leise zu ihr heran, sagte: »Imagina, ich hoffe auf die Zukunft!« und entfernte sich feierlich wie aus einem Gotteshause.
Als er fort war, atmete Imagina wie befreit auf und bereitete ihre Rückreise nach Rom vor, wo sie seither, bald darauf wirklich vom Grafen Wartenberg, der Feodoren heiratete, geschieden, nur der Kunst lebt.