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VII

Der so plötzlich hereingebrochene Winter machte noch nicht vollen Ernst. Es folgten noch freundlichere Novembertage. Auf diese hatte eine Dame in Dresden gehofft, die mit Verzweiflung vernommen, daß in den Wintermonaten – es war noch im alten Gebäude – die königliche Galerie der Gemälde geschlossen sei. Gegen eine besondere Vergütung gelang es ihr jedoch, sich die Säle zuweilen öffnen zu lassen. Sie hätte, eingehüllt in Schals und Mäntel, in den kalten Sälen aushalten können. Aber so vornehmen Ursprungs die Dame zu sein schien, so fehlten ihr doch diese erwärmenden Hülfsmittel. In leichtem Mantel durchstreifte sie die Säle und hielt stundenlang in ihnen aus. Das warme Licht der Farben, schien es, wirkte mächtiger auf sie als pelzgefütterte Überwürfe, die sie nicht bei sich führte und zu kaufen kein Geld hatte.

Der künstlerische Enthusiasmus des Lohnbedienten, der die Dame zu begleiten pflegte, stand nicht auf gleichem Wärmegrad. Er brachte nur die Fremde und holte sie wieder ab. Beim dritten Besuche der Galerie kam er früher als sonst und brachte einen Brief, der die im Hotel bekannte Adresse der Dame trug und eben von Breslau angekommen war. Sie nahm ihn ab, verließ die Galerie und eilte in ängstlicher Unruhe nicht sogleich nach Hause, sondern erst, um sich zu sammeln und auf den Brief, der ihr wichtig schien, vorzubereiten, auf die Brühlsche Terrasse. Dort die frische, feuchte, noch nicht schneidende Luft des Spätherbstes einatmend, stand sie zuweilen still und blickte mit schwermütigem Auge in die Ferne oder in den tief unter ihr mit vollen Wogen sich wälzenden Fluß. Dann fühlte sie den Brief an, prüfte aus seinem äußern Wesen den Inhalt und lächelte schmerzlich, als ihr von dem starken Gewicht desselben wenigstens eines bestätigt schien, daß er Geldanweisungen enthielt. Diese Gewißheit verschaffte sie sich auch sogleich, als sie von der Terrasse in die Promenade niederstieg. Beim Moritzdenkmal an der Ecke hielt sie inne, erbrach den Brief und überzeugte sich, daß sie ein Wechsel auf ein bekanntes Bankhaus wenigstens ruhig in die nächste Zukunft blicken ließ. Das Begleitungsschreiben war von ihrer Erzieherin, Madam Milde, und lautete: »Teure Imagina! Im Auftrag Deines zwar erzürnt scheinenden, aber in Wahrheit nur tiefbekümmerten Vaters schreibe ich Dir diese Zeilen. Sie sind von dem begleitet, was Du vom Vater zu haben wünschtest, da Du es von dem Advokaten Deines Gatten nicht hattest annehmen wollen. Und statt aller Worte, aller Klagen, aller Beherzigungen nur die eine treugemeinte Bitte der mütterlich gesinnten Freundin: Kehr zurück! Zurück in meine Arme! Sie werden Dir die des Vaters öffnen. Was auch seither geschehen sein mag, gutes Kind, ich kann nicht an eine Schuld Deines Herzens, eine Verletzung Deiner heiligsten Pflichten glauben. Dein Gatte, Dein Vater verurteilen Dich, und auch mir hat man Mitteilungen gemacht, Papiere und Beweise gezeigt, die gegen Dich aussagen sollen. Ich teile Deine Entrüstung, die Du in dem Briefe an Deinen Vater und noch mehr in dem an den Advokaten des Grafen ausgesprochen hast, Deinen Unwillen über diese wilden, schonungslosen Männer, die so rücksichtslos Deine Geheimnisse erforschten, so trotzend auf ihre Übermacht Deine Schränke und Mappen erbrachen. Aber schuldig oder nicht, hast Du nicht ein gleichstarkes Vorurteil gegen Dich, daß Du bei Nacht und Nebel flohst und einer Begegnung mit Deinem Gatten auswichest? Wohl räume ich ein, daß es Dir peinlich sein mußte, unter einem Dache mit einem Manne zu wohnen, der den Wunsch um Scheidung von Dir ausgesprochen hatte, noch peinlicher, einer verletzenden Verhandlung über eine Lebensfrage beiwohnen zu sollen, wo Dir, wie Du schreibst, niemand schützend zur Seite stand – selbst Dein Gewissen nicht, Imagina? Doch nein! Ich will Dich nicht verurteilen. Ich weine um Deine Verirrung. Vorläufig hättest Du im Kloster bleiben sollen und dort den Gang der Dinge ruhig abwarten. Wohl glaube ich, daß Dir in der Aufregung Deines Herzens die dortige Stille, die Neugier der Schwestern, die Besorgnis der Äbtissin vor Kollisionen mit dem Grafen oder noch mehr mit dem alles polizeilich auffassenden Landrat wenig zusagte. Wohl kenne ich Dich, um das zu verstehen, was Du schilderst, dies plötzliche Aufwallen und Auflodern eines großen Entschlusses, der Dich trieb, mit einem Wägelchen in die nächste Stadt zu fahren, dort Dich auf die Post zu setzen und von Dresden aus die Wendung Deines Schicksals abzuwarten. Ich kenne dies Aufflammen Deines Geistes und habe es immer gefürchtet. Aber was Dir eine Heldentat scheint, erscheint Deinen Gegnern feige Flucht. Was im geheimen hätte beigelegt werden können, hast Du durch dies kühne Wagnis öffentlich und dadurch fast unheilbar gemacht. – Was man berechtigt ist, Dir vorzuwerfen, kann ich nicht durchschauen. Einiges, was daran sicher unrecht ist, ahne ich bereits. Wie grundlos der Verdacht eines Verhältnisses zu einem berühmten Künstler ist, davon ist jetzt selbst der Graf überzeugt, der wenigstens aus Berlin, wohin er plötzlich abreiste (und zum Glück, weil dadurch Deine eigene Entfernung weniger auffällt!), dem Vater geschrieben hat, daß ein Grund zur Scheidung jetzt nur in dem offenen Bekenntnisse einer sträflichen Beziehung zu Otto von Sudburg läge. So eingenommen ist der Vater gegen Dich, daß er Deine Flucht nach Dresden für ein dortiges Zusammentreffen mit diesem unheilvollen Manne hält. Feierlich durfte ich ihm beteuern, daß der Vorwurf, den er mir machen wollte, in der Pension schon hättest Du diesen Mann gekannt, mich nicht trifft. – Überhaupt, was soll ich über diese Tagebuchnotizen urteilen? Imagina, ich möchte schwören, es sind lediglich Phantasien! Es sind Träume, die auf etwas Wahrheit beruhen, aber nicht auf soviel, daß sie gegen Dich zeugen können! Ich kenne Deine Art, Dich so zu ergehen. Irgend etwas muß Dich angeregt haben zum Ausspinnen der wunderlichsten Vorstellungen, die Ruhe, die Langeweile des Badlebens hat Dir die Feder in die Hand gedrückt, und an den zwischen dem Geschriebenen unterlaufenden Zeichnungen und Gedankenspielen seh ich ja, daß das Ganze mehr dem Versuch ähnelt, einen Roman zu schreiben, als dem, selbst einen zu erleben. Dieselbe Ansicht teilt der Rechtsgelehrte, den der Vater in das Geheimnis dieser sein Alter betrübenden Erfahrung hat ziehen müssen. Eine Aussöhnung mit Deinem Gatten wird keine Schwierigkeiten haben und dieser kurze, aber ernste Zwist vielleicht nur dazu beitragen, eine zwischen Euch eingetretene Verstimmung zu heben. Kehre zurück! Mache die glücklich, die Dich lieben! Komm an das Herz Deiner mütterlichen Freundin! Ich weiß es, statt einer Antwort triffst Du selbst ein, und unsere Tränen werden ineinanderfließen. Deine treue Henriette Milde.«

Eine Antwort auf diesen Brief kam aus München, wohin Imagina mit einem in Dresden gemieteten Kammermädchen abreiste. Sie erwiderte mit einer Bestimmtheit, die Madam Milde zu der Bemerkung veranlaßte: »Was ich fürchtete, ist eingetroffen. Ihr Charakter ist in jene gefahrvolle moderne Entwickelung getreten, gegen welche Bitten und Gründe nichts mehr vermögen.« Die Antwort, die Imagina auf ihre kurze und ausweichende Erklärung dringender und drohend in München empfing, beantwortete sie erst – von Rom. Sie hatte von München aus die Weiterreise über den Brenner gewagt und war von allen Zuschauern des römischen Karnevals vielleicht diejenige, die, da ihr Herz gedrückt war, an dem Ausbruch jener berühmten Faschingsfreuden den geringsten Anteil nahm.

Im Frühjahr, durch neue Geldmittel aus ihrem mütterlichen Vermögen gesichert, besuchte sie Neapel. Es war ein heiterer südeuropäischer Zaubertag, als sie mit einem erprobten Führer die Reise auf den Vesuv wagte. Eine einzige dunkelblaue Azurdecke war der gewölbte Himmel. Dort das in Sonnenglanz schimmernde Meer, hier die grünen Gärten Parthenopes, begrenzt gegen Ost von einem leichten weißlichen Schleier, der die Nähe des feurigen Berges verriet. Wie Imagina von Portici aus in Windungen und Ringeln, reitend auf einem Maultier, allmählich aus dem Geräusch der lautesten und lärmendsten Stadt der Welt emporstieg, erst durch zahllose Landhäuser und Gärten kam, die mit ihren hochstämmigen Kaktus und Aloes auf den wie von der Sonne mürbe gebrannten Mauern bloß andeuteten, welche Fülle von Früchten und Blumen dort nur dem Eigentümer gehören sollten, welche berauschende Duftspende denn aber doch die Blumen der allgemeinen Luft als Würze abgeben mußten, wie die Gartenpracht dann allmählich dem ruhigem Frieden der schon grünen Öl- und Weinpflanzungen Platz machte, da mußte ihr im Anschauen des wunderbaren Himmelbaldachins wohl die Brust sich heben und ihre jugendlich kühne, freie Seele sich fragen: Wie ist das nur gekommen? Wie war das so alles möglich?

Nur die Steine des Weges, nur die Erläuterungen des mitteilsamen Führers, das Aufschreien und jeweilige Lamento der aus Sachsen mitgenommenen Dienerin weckten sie zuweilen aus ihren Träumen. Je näher sie dem Kegel des Berges kam, je wüster die Gegend, fernblickender das Auge wurde, desto beklemmender fielen die tausend oft mehr künstlich als freiwillig zurückgehaltenen Gedanken auf ihr Herz, und sie fühlte hier oben, in dieser Annäherung an eine Welt der Zerstörung, mächtiger, lastender denn je seit diesen sechs Monaten das Bewußtsein einer fürchterlichen Einsamkeit auf dieser großen Gotteswelt. So zerrissen, so mit Lava und Asche bedeckt wie dieser Monte Somma, war sie selbst in all ihrer Jugend, und so schreckhaft wie hier, hatte sie's im Gewühl der Welt da unten, in den Zerstreuungen des Reisens noch nicht gefühlt, was sie, aufrichtig gestanden, in träumender Gedankenlosigkeit und nur von einem stolzen Trotze gehoben, in so kurzer Zeit gewagt hatte. Sie näherte sich dem Krater des Vesuv. Schlacken und Zerstörung ringsum. Sie sah eine Ebene vor sich von gelblichgrün und rötlich schimmerndem Gestein. Die gewaltigen Schwefeldämpfe hatten sich durch das verbrannte Element Wege gerissen, und unter donnerndem Geräusch kündigte sich diesmal nicht eine, sondern drei sogenannte Bocchen oder Mündungen mit drohendem Rauch- und Steinauswurf an. Sie war nicht die einzige Besucherin des Berges. Mit einem scharfen Glase entdeckte sie an der ganzen Rundung des Kegels da und dort Maultiere und Fremde. Sie stieg ab. Sie hatte den Mut, auf dem unsichern, zerbrannten Boden in die sich senkende Fläche des Kegels hinabzusteigen. Unter ihr rollte und donnerte es wie von einem unterirdischen Titanenkampf herauf. Ein düsteres Grollen und Murren, ein plötzliches scheinbares Zucken des Bodens, das alles wurde ihr vom Führer als Vorboten einer in wenig Tagen eintreffenden massenhaften Eruption geschildert.

Wie die mutige junge, schöne Frau auf dem heißen Gestein sich ausruht und nur noch wenige hundert Schritte von der Hauptmündung entfernt ist, scheint ihr jemand aus dem Krater hervorzukriechen. Der Führer nannte ihn den Mutigsten, der seit lange hier oben gehaust hätte. »Ein Gelehrter ist es!« sagte er; »er sucht Steine und ist schon seit drei Tagen oben und übernachtet in San Salvatore.«

Imagina wagt sich näher. Der Fremde verschwindet. Plötzlich wirbelt die Rauchsäule dunkler, ein schwefelgelber Schein zuckt über dem Krater her, und wie eine Erscheinung der Hölle, glühend im Schein wie eine aufblitzende Flamme, steht Otto von Sudburg vor ihr.

Wie ihr wurde bei diesem Anblick, wußte sie selbst nicht mehr. Ohnmächtig sank sie in des Führers Arm und sammelte sich erst in San Salvatore, einer unfreundlichen Einsiedelei auf der Höhe des Berges. Als sie die Augen aufschlug, waren ihr Mädchen und Otto von Sudburg um sie beschäftigt. Mit heftiger Gebärde deutete sie auf Entfernung des Fremden. Dieser betrachtete sie mit schmerzlichem und freudigem Erstaunen zugleich. Sie wagte noch einen Blick, als er das enge Gemach verließ, um sich zu überzeugen, ob es wirklich Otto von Sudburg gewesen. Der Mineralog, der hier am Krater des Vesuv Studien zu machen schien, war in der Tat der blasse Fremde von der Schloßruine in Baden-Baden.

Die Gräfin erholte sich. Der Führer brachte Wasser. Sie war insoweit gestärkt, ihre Rückreise antreten zu können. Der Fremde harre vor der Tür, hieß es. Sie wagte nicht, die Einsiedelei zu verlassen, aber noch zögernd und schwankend erhielt sie vom Führer auf einem Blättchen Papier in französischer Sprache, mit Bleistift geschrieben, diese Worte: »Ich habe Sie in Rom verfehlt, in Neapel vergebens gesucht. Ein Ausflug auf den Vesuv sollte meiner Wissenschaft und dem Trost meines Herzens gelten. Ich muß Sie sprechen. Zu Ihren Füßen muß ich einige Fragen an Sie richten.«

Imagina, die nicht wußte, ob sie lebte oder träumte, hielt lange das Papier in Händen und betrachtete es wie ein unauflösliches Rätsel. Dann ermannte sie sich, zog einen Bleistift aus ihrem Portefeuille und schrieb mit zitternder Hand unter Ottos Worte französisch: »Nicht hier. Ich beschwöre Sie, mich ziehen zu lassen.«

Als der Führer das Papier hinausgetragen hatte, wartete sie noch eine Weile, und als sie hörte, der Fremde hätte den Weg zum Krater zurück eingeschlagen, verließ sie das unfreundliche Gemach, bestieg ihr Maultier und ritt bergabwärts, ohne auch nur einmal den Blick umzuwenden. Die sächsische Kammerjungfer war vorwitzig wie Lots Frau. Sie sah sich um. Schaudernd bereute sie ihren Frevel; der Fremde stand angeglüht von einer feuerdunkeln Rauchsäule am Rande des Kegels da wie ein Dämon der Hölle.


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