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IV

Das fühlte nun wohl die junge Gräfin am Abend, in der Nacht und am Morgen, daß das nimmermehr ihre Welt werden konnte! Zu wenig Erfahrung besitzend, um ihrem Mißfallen einen bestimmt begründeten Ausdruck zu geben, hätte sie nimmermehr sagen können, was ihr so unbehaglich war. Bei alledem hatte sich Feodore ihrem Gemüte eingeschmeichelt. Das, was ihr immer fehlte, eine ältere und doch jugendliche Freundin, das, so behauptete wenigstens August, hatte sie in Feodore gefunden. »Die Baronin ist von dir hingerissen«, sagte er. »Vertraue dich ihr an, laß dich von ihr leiten, sie hat die Welt gesehen, sie weiß, was der gute Ton erfordert, du kannst dich glücklich schätzen, bei deiner Jugend in solche dich bildenden Hände zu geraten. Wenn jemand aus dir etwas machen kann, so ist sie es!«

Imagina glaubte das in vertrauensvoller Unschuld. Man beschloß, der Baronin einen Anstandsbesuch zu machen. »Sie erwartet uns«, sagte August, »und um so eher müssen wir zu ihr gehen, als es Zeit ist, das Hotel zu verlassen und eine Privatwohnung zu nehmen, die sich im ersten Stock des von der Baronin bewohnten Hauses nicht gelegener bieten kann.«

Die schon fast im »Hôtel d'Angleterre« Eingewohnte trennte sich von der kleinen Häuslichkeit, die sie sich schon begründet hatte, ungern, allein sie hatte von Feodore selbst so viel Schönes über deren Wohnung vernommen, daß sie ihren Gedanken gern eine andere Richtung gab und mit der ihr eigenen Befangenheit dem jungen Gatten, der ihr im Grunde so beängstigend neu und mit jedem Tage fremdartiger vorkam, folgte. Gerade je mehr sie sich an ihr plötzlich geändertes Lebenslos gewöhnte, desto beklemmender waren die Betrachtungen, die sie darüber bei sich im stillen anstellen mußte.

Nach einigem Harren in einem Vorzimmer empfing Feodore das junge Paar mit unbeschreiblicher Grazie und Freundlichkeit. Sie umarmte Imaginen und führte sie in ihr Wohnzimmer, dessen Fenster mit Blumen verbaut waren und eine liebliche Aussicht auf das terrassenförmig gebaute Städtchen und die aus den Büschen hervorschimmernde neue Trinkhalle gewährten. Ein kleiner bellender Spitz wurde von Graf August, der in diesen Zimmern schon völlig heimisch war, zum Schweigen gebracht. Die Baronin klingelte. Ihr Kammermädchen mußte dem Wirt ankündigen, daß die Herrschaft da wäre, welche oben den ersten Stock mieten wollte.

»Liebe Freundin«, sagte die Baronin auf Französisch, »wir wollen uns das bequemste und anmutigste Leben etablieren. Heute abend erscheinen Sie zum ersten Male im Konversationssaale, wo die Zimmer rechter Hand der gewähltem Gesellschaft gehören; morgen machen wir eine Partie nach Eberstein, und für übermorgen ist ein großer Picknick nach der Schloßruine angesagt. Der Graf hat sich schon erklärt, daß er für seinen Teil den Champagner liefert.«

Die achtzehnjährige junge Frau lächelte beklommen und wußte sich nicht anders zu helfen, als daß sie von dem phantastischen Schlafrocke der Baronin sprach, den sie wunderbar schön fand. Die Baronin küßte ihr dafür die Hand und antwortete: »Oh, wie liebe ich Sie!« Dann aber begann sie den Anzug der Gräfin zu mustern und entwickelte ein sehr feines kritisches Talent, welches jedoch heute nicht mehr die schmeichelhaften Resultate wie gestern hatte. Sie sagte: »Herrliches, bestes Wesen! Sie kleiden sich nicht gut. Wir müssen nach Straßburg fahren und Stoffe für Sie kaufen. Blond und blau ist zu jugendlich, zu mädchenhaft. Man verbindet jetzt blond mit schwarz; Sie behalten ja den Vorteil Ihrer achtzehn Jahre immerhin, wenn Sie auch wie einundzwanzig aussehen. Nicht wahr, Graf Wartenberg?« – »Allerdings«, bemerkte dieser, der sich daran zu weiden schien, eine Frau zu haben, die beinahe noch ein Kind war. Die Baronin, kaum älter als vierundzwanzig Jahre, nahm darum, daß sie Imaginen erzog, noch nicht das Aussehen einer Bonne Französisch sprechendes Kinderfräulein. an. Sie bat, ihr zu erlauben, einige kleine Bemerkungen über die neueste Mode der Saison zu machen. Während Imagina ihrem Unterrichte zuhorchte, zupfte die Baronin bald da, bald dort an ihren Kleidern und erklärte die Taille derselben für ebenso verfehlt wie den Ausschnitt der Brust nicht schließend genug. Ach, recht armselig, unbedeutend und kindisch kam sich Imagina vor, als sie die Stufen hinaufstieg, die in den ersten Stock führten. Sie hätte weinen mögen, als ihre Blicke auf August fielen. Sie begriff nicht, wie sie dazu käme, sein unwürdiges, unerzogenes und unbedeutendes Weib zu sein. Die Wohnung wurde für zweckmäßig erkannt, behandelt und noch im Laufe desselben Tages bezogen.

Eine neue Wohnung wird uns nur dann heimisch, wenn wir zum ersten Male darin geschlafen haben. Für Imagina reichte aber schon ein Lindenbaum, der eines ihrer Fenster beschattete, hin, es ihr traulicher zu machen als den Gedanken, noch heute der großen Welt mit ihrer ungenügenden Toilette Anstoß geben zu sollen. Sie sah beruhigt ihrem Gatten nach, der allein gehen zu wollen erklärte und dann Feodoren begleitete. Sie blieb daheim, und als am folgenden Vormittage die Baronin erschien, um einen Gegenbesuch zu machen und das Verschieben der Ebersteiner Partie um einige Tage anzukündigen, als sie in einer Fülle von kleinen Artigkeiten wieder von der strengen Weltdame hören mußte, daß sie das Französische nicht fashionable geläufig genug spräche, da war ihr gleichsam außer dem Verbot, sich irgendwo öffentlich sehen zu lassen, auch der Befehl gegeben, überall zu schweigen. Imaginas Hände zitterten in denen der Baronin. Sie hatte keinen Mut mehr, dieser Frau gegenüber einen Willen zu haben, sie dankte mechanisch für die Bücher, die die Polin ihr zu lesen geben wollte, hörte wie abwesend, was sie über die Bequemlichkeiten des Hauses und der Menage von ihr mitgeteilt bekam. Es war nicht Bosheit, nicht Hochmut, sondern rein tödliche Verlegenheit, als sie der Baronin auf diese Mitteilungen wegen Frühstück, Mittagessen, Wäsche erwiderte: »Wollen Sie das alles gefälligst meiner Kammerjungfer sagen!«

Die Baronin biß sich vor Wut auf die Lippen und empfahl sich kalt. Imagina bekam durch Andres einen Pack französischer Bücher, der so umfangreich war, daß der schlesische Landsmann seine Verwunderung äußerte, die Gräfin würde doch bei dem schönen Wetter hier nicht anfangen wollen zu lesen. »Überhaupt«, sagte Andres, »sitzen Sie viel zuviel zu Hause! Sie haben sich ja ganz umgekehrt. Landrat würden das kaum glauben. Gehen Sie doch mehr aus! Es sind so viele Schlesier hier, auch Breslauer. Manche Gesichter kann ich nur nicht unterbringen, wo ich sie zuerst gesehen habe. Es sind gewiß auch ehemalige Breslauer Studenten da!«

Dem guten Andres ging eben nichts über Breslauer Studenten. Diese waren ihm die Zierde jeder Gesellschaft, die eigentlichen Söhne der Götter, die überall das Vorrecht hatten, den feinsten Ton anzugeben. Als Imagina lächelnd an der Anwesenheit von Breslauer Studenten zweifelte, sagte Andres: »Nein, nein, wirklich, gnädige Frau, es sind welche hier, aber verkleidet.«

Mehrere Tage brachte Imagina damit hin, die ihr von der Baronin geliehenen Romane zu lesen. Sie waren von George Sand und regten ihre Phantasie, die ohnehin zum Hinüberschweifen ins Ideale geneigt war, wie Opium auf. Eines Abends hatte sie »Jacques« beendigt, und alle Pulse flogen ihr. Sie fühlte, daß sie diesen Zustand einer freiwilligen Verbannung nicht länger aushielt, raffte sich mit schnellem Entschlusse auf und hatte die Absicht, das Wildeste zu tun, was bis jetzt in ihrer jungen Ehe vorgekommen war, nämlich in der Abenddämmerung mit ihrem Kammermädchen allein auszugehen. Wo August weilte, wußte sie nicht. Die Vormittage war er unten bei der Baronin, die Nachmittage schlief er, und des Abends kam er vor elf, zwölf Uhr nicht nach Hause. War er im Konversationssaal, so gefiel sich die verlassene junge Frau in der Idee, ihn dort zu überraschen. Sie setzte keck den Fuß auf die leer gewordene Kieselpromenade vor dem Portal des Saales. Sie folgte dem Glanz der Kronleuchter, stieg einige Stufen empor und betrat das glatte Parkett des von der Menschenmasse rauschenden großen Saales. Sie wußte nicht, welcher Mut heute über sie gekommen war. Die Lorgnetten und unverschämten Blicke der Dandys kümmerten sie nichts. Sie drängte sich sogar in die Nähe der Spieltische. An dem Roulett ging sie vorüber, weil es zu besetzt war. Aber im Nebensaale, wo ein gleichmäßig kalt monotones: »Rouge gagne – perd la couleur« Rot gewinnt – die Farbe verliert. variiert wurde, machte sie halt, sah auf dem grünen Tuche kleine Haufen Goldes und Silbers, irrte in den Physiognomien der Spielenden flüchtig umher und zuckte erschrocken auf, als sie einen jungen, blassen Mann mit schwarzem Haar, starkem Bart, eleganter weißer Weste, in welche er nachlässig die Finger steckte, erblickte. »Prinz Wismut!« hauchte sie lächelnd, ihres törichten Einfalles sich bewußt, aber sie schwankte einige Schritte zurück und fuhr sogar zusammen, als ihr August, der Feodoren führte, leise auf die Schulter schlug. Allmählich erst mußte sie sich besinnen, daß sie ihre Anwesenheit zu erklären hatte. Sie tat es dann und ließ sich von der Baronin, die ganz außer sich vor Entzücken über ihre Begegnung schien, durch die Säle führen, vermied aber, noch einmal dem Tische zu begegnen, wo sie sich so plötzlich überzeugt hatte, daß Andres für ehemalige Breslauer Studenten ein merkwürdig untrügliches Auge hatte. Denn Prinz Wismut, der Sohn des Königs Kobalt, für den die sieben Todsünden vom Teufel zum Versatz gegeben waren, war der Student, den sie vor fünf Jahren zum ersten Male erblickt und dessen sie später, wenn die Pension vor den Toren spazierenging, noch öfters ansichtig wurde und dem sie törichterweise manche geheime Träumerei gewidmet hatte.

Graf August schien von dem kleinen Beweis von Selbständigkeit, den seine Gattin eben gegeben hatte, zum Verdruß der Baronin ganz außerordentlich erfreut. Noch mehr verwunderte es ihn, sie im Kreise von allerlei schöner Welt, die sich um sie sammelte, so beredt, so angeregt, so teilnehmend zu finden. Die erst vor kurzem beendigte Lektüre George Sands entfesselte auch die Sprachgeläufigkeit der Zunge, die heute das fließendste Französisch sprach. Zwar zupfte die Baronin zuweilen das junge, so elektrisierte Wesen und sagte ihr heimlich ins Ohr: »Man sagt nicht im Französischen dies, man sagt nicht das –«, aber Imagina hörte nicht auf diese ewige Bevormundungs- und Erziehungswut einer Frau, die ihr keine Verehrung mehr abgewinnen konnte. Die Baronin verstummte.

Am folgenden Morgen erklärte auch Imagina, an der für heute bestimmten Partie nach Schloß Eberstein teilnehmen zu wollen. Ihr Gatte machte dazu ein lächerlich befangenes Gesicht und schickte den Bedienten zur Baronin hinunter, ihr diesen Entschluß seiner Frau anzukündigen. Es währte nicht lange, so erschien die verschmitzte Polin selbst, warf sich Imagina an den Hals und vergoß einen Strom von Tränen.

»Gerechter Gott, was ist Ihnen?« fragten die beiden jungen Ehegatten.

»Ich fühle«, sagte Feodore zu Imagina, »daß ich Ihnen nicht gefalle, daß Sie kein Vertrauen zu mir haben und meine Freundschaft nicht erwidern. Wären Sie gestern nicht zur Gesellschaft gekommen, so hätte ich mich Ihnen heute zu Füßen gestürzt und Sie um Teilnahme an dieser Partie gebeten. Ich habe nie ein weibliches Wesen auf den ersten Blick so liebgewonnen als Sie, Gräfin, die Sie in allem vor mir bevorzugt sind! Ich will leiden, dulden; ich will nicht verzweifeln, wenn Sie meine Liebe nicht erwidern; aber diese Liebe aussprechen muß ich, Imagina, Sie haben keine größere Freundin auf der Welt als die arme Feodore Zaluska!«

Dem guten August standen die Tränen in den Augen über diese gefühlvolle, hingebende Frau. Da Imagina mehr erschreckt als erfreut stand, ärgerte er sich über die Kälte und Befremdung seiner Frau, die der Baronin nur einfach die Hand reichte und leise erwiderte: »Ich will mich bemühen, Ihre Freundschaft zu verdienen.« Dafür küßte ihr Feodore stürmisch die Hände und sagte, von dem heutigen Tage an wollte sie das Glück ihres Lebens berechnen.

Der Wagen fuhr vor, Andres stand in Livree hinten auf. Feodore und Imagina saßen im Fond, August ihnen gegenüber. In der Lichtentaler Allee stießen die andern Teilnehmer der Partie zu ihnen, und hinauf ging es durch sich schlängelnde Pfade, bald durch liebliche Wiesen, bald durch schattiges Gebüsch, bald steil, bald sanft sich hebend, bis empor zu dem wiederhergestellten Residenzschlosse des Großherzogs mit seiner wunderbaren, nur mit der Salzburger Ebene zu vergleichenden Aussicht in das reizende Murgtal.

Bei einer für die Rosse besonders beschwerlichen Stelle stieg man aus. Wie man so langsam in der heißen Sonnenhitze emporstieg, zeigte Andres, der hinter seiner Herrin herging, auf einen Mann, der linker Hand vom Wege tief in einer unteren Schlucht des Berges, unter rauhem Gestein, verweilte, und sagte: »Sehen Sie den, der hat in Breslau studiert!« Imagina blickte hinunter und sah den jungen Mann von gestern abend, der dicht in einer schroffen Felsenwölbung stand und mit dem Hammer eines kleinen Spazierstöckchens dermaßen prüfend an die Steine pochte, als wollte er sagen: Tut euch doch auf, ihr Berge, und laßt mich einziehen in euern Schoß.

Imagina stand traumverloren. Der weltberühmte Virtuose, der die Partie mitmachte, sprang hinzu und bot sich keuchend der an Bergsteigen gewöhnten jungen Gräfin zur Unterstützung an. Wenn diese stillstand, so war es nicht die Erschöpfung von der Sonne und dem Wege, sondern der Schreck über dieses wunderliche Zusammentreffen jener Erscheinung unten mit den mystischen Voraussetzungen, die ihre Phantasie an diesen jungen Mann geknüpft hatte. Sie war vernünftig genug, an keine ins Leben hereinragende Wunderwelt zu glauben, und doch war dieses Klopfen und Pochen des Prinzen Wismut an seine Heimat, das Reich der Gesteine, so sonderbar, daß sie in der Tat über den Witz des Zufalls nicht zu lachen wagte. Der Virtuose sprach wieder von quatre mains und von seinen Transskriptionen und bemerkte mit schmerzlichstem Bedauern, daß ihn das Schicksal an den Wagen einer russischen Knäsin Fürstin. fesselte, die hinter ihnen herfahrend aus den ihrer wohlbeleibten Fülle entquellenden feurigen Augen schon giftige Blicke der Eifersucht schleuderte. »Mais, mon cher Udolpho«, schrie die Knäsin, »vous serez incurablement fatigué! Regardez vos concerts, vos soirées, vos discours solennels, vos toasts philanthropiques, vos mille et une fatigues !« (franz.) Aber mein lieber Udolpho, Sie werden sich völlig verausgaben! Denken Sie doch an Ihre Konzerte, Ihre Soireen, Ihre Festvorträge, Ihre philanthropischen Toasts, Ihre tausendundeine Verpflichtung! Es half nichts: der weltberühmte Virtuose kehrte seufzend in sein bewunderndes Sibirien zurück. Imagina aber, den Sitz ihres Wagens wieder einnehmend, träumte von dem Jünglinge, dem es vielleicht wehe wurde auf dieser Erde und der sich sehnen mochte, zu seinem Vater heimzukehren, zu seinen geliebten Zwergen unter ihrem teuern Bischofswalde, und sogar Tränen traten ihr ins Auge, so daß sie sich abwenden mußte. Für den fernern Verlauf der Schloß-Ebersteinschen Partie war die Hoffnung umsonst, aus Gräfin Wartenberg wieder den kecken, liebenswürdigen Übermut von gestern hervorbrechen zu sehen. Was sie gestern in der großen Welt gewonnen hatte, verlor sie heute wieder. Sie war in völlig träumerische Abwesenheit versunken und blickte, als man oben unter kühlenden Linden ein ländliches Dejeuner einnahm, sinnend die hohe Terrasse hinunter in die tiefe, malerische Ebene mit den grünen Ufern des sich schlängelnden Stromes und den langen, gelblichen Flecken, wo schon das Korn gemäht war. Kapellen blickten still und fromm herauf aus den Gebüschen, und hellgestimmte Glocken drangen, das Herz bewegend, empor in die frivolen französischen Gespräche, die Imagina gar nicht mehr hörte. Wenn der junge Mann vielleicht ein Spieler war, verloren hatte und seinen Schmerz zu zerstreuen gesucht hatte?

Am folgenden Tage fand der große Picknick auf der alten Schloßruine statt. Imagina schwankte, ob sie an der Verwirklichung dieser Idee, die durch das Organisationstalent der Baronin hervorgerufen war, teilnehmen sollte. Lächelnd aber sagte sie sich: Vielleicht finde ich da den Sohn des Königs Kobalt wieder, den unglücklichen, in diesem Spielbade verdorbenen Prinzen Wismut, oder ich überzeuge mich, ob er gestern Einlaß fand zu seinem teuern Vater und den Kampf mit dem Fürsten der Hölle aufgegeben hatte. Andres ängstigte sie mit seinen aufgerafften Erzählungen von schrecklich viel verspielten Geldsummen. »Der Breslauer Student«, fügte er hinzu, »hat gestern gewiß da unten in der Höhle gedacht, neue Dukaten zu finden. Der spielt auch schmählich. Gestern abend hab ich's durchs Fenster gesehen, da wir dienende Menschenklasse abends in den Konservationssaal (so nannte ihn Andres) nicht hineindürfen. Solche Spieler sehen verbiestert aus, wie immer unser Gendarm Fritze zu Hause sagte. So ein Mensch grüßt nicht, selbst wenn er einen noch von Breslau her kennen täte. Und wenn's ihnen mal recht schief geht und sie nichts mehr zu verspielen haben, ich glaube, sie könnten stehlen, morden und totschlagen. Andere gehen gleich drüben in den Rhein.«

August hatte den ganzen Morgen schon nichts anderes im Kopf als zu dieser Partie den Champagner, den er liefern wollte. Aus allen Gasthöfen lieh er sich Gefäße zum Abkühlen, und von morgens früh schon an saß er im Keller des Hauses vor einem Berge von Eis, um seine sechzehn Flaschen, die er in die Freude hineinlieferte, im »feurigsten« Zustande vorzuzeigen; »denn«, sagte er, »Champagner ist nur dann feurig, wenn er eiskalt ist«. Die russische musikenthusiastische Knäsin hatte von Straßburg Gänsleberpasteten kommen lassen. Eine vornehme geadelte jüdische Bankierherrschaft lieferte einen farcierten »durch und durch« getrüffelten Wildschweinskopf; ein Pair von Frankreich hatte schon seit zwei Tagen seinen Koch auf der Ruine etabliert, um einen Eiskeller anzulegen für Sorbet und allerhand Gefrornes. Ein ungarischer Magnat lieferte zehn Schüsseln österreichischer Backhändl; ein »Autonome« aus Westfalen und großer Jagdfreund hatte per Kurier Wildpret kommen lassen, das jedoch von dem frischeren Wildpret eines württembergischen Grafen ausgestochen wurde. Ein englischer Viscount, der sehr das Angeln liebte, schickte ein Netz Forellen. Alle diese Speisen wurden von der schreienden und tobenden Gesellschaft unter den uralten Eichbäumen mit einem wahrhaft diplomatischen Hunger verzehrt; nur die arme dicke Knäsin hatte das Unglück, daß ihre Gänseleberpasteten nicht ansprechen wollten, worüber sie untröstlich war und den weltberühmten Virtuosen aufforderte, sein nächstes Notturno in einer schmerzhaften Tonart, in a-Moll, zu setzen.

Die träumerische junge Gräfin aber fand diese Gesellschaft so widerwärtig, den Ton so frei, das Durcheinander so schnatternd, die Eitelkeit der Frauen so herzlos, die Einbildungen der Männer so fade, daß sie in Verzweiflung geriet. Aus dem wilden Chaos dieses hochadligen Picknicks, das in grellem Kontrast zur Ehrwürdigkeit des Orts und den ländlich einfachen Erfrischungen der übrigen Gäste der Schloßwirtschaft stand, flüchtete sie in das dunkle Gemäuer der alten Ruine, durchschritt einen verfallenen Rittersaal mit grünem Rasen als Fußboden, stieg Treppen und Leitern hinauf, die zur Erleichterung des Besuches dieser schönen Ruine angebracht waren, und war mutig kletternd bald auf der höchsten Mauer, die vor verwittertem Moos und jungen Grashalmen ängstlich glatt zu betreten schien; doch schützte ein Geländer vor jeder Gefahr.

Längst war die Sonne jenseits des Rheins im Sinken begriffen. Innig bewegt, weidete Imagina ihr Auge an der schönen Fläche, die nach dem hehren Strome hin, nach Speyer zu und dem Hardtgebirge, sich ausdehnte. Deutlich sah sie den Rauch eines Dampfwagens, der von Straßburg heraufkam, sah ihn durch die abgeerntete Gegend sich schlängeln und hörte bis hierher in die blaue luftige Einsamkeit den Pfiff der Lokomotive. Das Geschrei des wilden Picknicks verhallte unter dem grünen Gewölbe der uralten Eichenstämme. So mochte sie lange gesessen und geträumt haben, bis sie sich umwandte. Ein tödlicher Schreck für sie! Der junge Fremde mit dem blassen Antlitz stand dicht vor ihr, der Spieler, der Student aus Breslau, Prinz Wismut, eine Erscheinung, die für sie, ohne es zu ahnen, schon eine förmliche Lebensgeschichte hatte. Ohne es zu ahnen? O wohl! Wer ahnt denn, was wir denen oft sind, die kalt an uns vorübergehen und uns nicht zu kennen scheinen!

Der junge Mann sprach etwas von der Schönheit der Gegend – er sprach deutsch! Ach, wie wohl tat ihr das nach dem vielen näselnden Französisch! Er sprach von dem ehrwürdigen Schauer einer solchen Ruine und dem sonderbaren Kontrast einer so heiter modernen Gesellschaft. Er schilderte das Niedersteigen von den Trümmern als nicht gefahrlos und begleitete Imagina, die in der Tat zu stürzen glaubte, als der Fremde einige Steine abbröckelte und sie sorgsam betrachtete und dann wegwarf. Was hatte er nur ewig mit den Steinen? Wie sie die Ruine hinunterkam und was sie gesprochen hatte, wußte sie nicht. Nur das sah sie, daß unten Feodore mit dem Champagnerglase auf sie zutrat und, einen Moment ihre Begleitung betrachtend, entsetzt das Glas fallen ließ. Sie hatte von dem Fremden eine lächelnd ironische Begrüßung empfangen. »Kennen Sie diesen Herrn?« fragte die Baronin. Imagina sagte nein! und erstaunte, daß er Feodoren bekannt zu sein schien. Aber die Polin sagte gleichgültig: »Es ist eine Physiognomie, die sich mir einmal auf dem Donaudampfboote eingeprägt hat, als ich Konstantinopel besuchte. Der Herr ist aus Siebenbürgen.« Damit verlor sie sich in die Gesellschaft und war zur Zeit der Niederfahrt von der Ruine so kleinlaut, daß es auffiel. Sie schützte Kopfweh vor und schob die Schuld auf den Champagner, wodurch sich Graf August beleidigt fühlte.

Imagina aber hatte nur noch einmal zerstreut und für sich heiter und ausgelassen ausgerufen: »Siebenbürgen?« und der zum Versatz gegebenen sieben Todsünden, der sieben Bürgen gedacht, dann aber war sie heiter und fast ausgelassen. Machte es der Ärger der Polin oder die Begegnung mit dem Prinzen Wismut oder der Champagner, man gratulierte wieder dem Grafen zu seiner reizenden, liebenswürdigen Gemahlin.


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