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Dritter Brief.

Paris, den 14. April 1842.

Heut will ich meine letzten Theatereindrücke ausschütten. Ich thu' es, um nicht wieder aufs Theater zurückzukommen. Die häufigen Wiederholungen der Stücke, so ersprießlich sie für die Kasse sind, so langweilig dem Fremden. Der Theaterzettel, der uns bei der Ankunft in Paris so sehr den Appetit reizt, wird uns nach vier Wochen schon nüchtern. Verwöhnt von den guten Bissen sehen wir, daß die guten Bissen immer wieder kommen und mehr als einmal rufen wir aus: »Toujours perdrix!«

Man spricht soviel von dem größern Talent der Franzosen für die Bühne, man rühmt den Reichthum ihres Repertoires, man erkennt ihnen das Theater als ihren eigentlichen Beruf zu. Es ist wahr, daß die Franzosen besser beobachten, als wir. Es ist noch mehr wahr, daß ihre Sitten gleichförmiger sind, als die unsrigen, und deshalb sich leichter beobachten lassen. Aber dennoch kommen hier in Paris unzählige Nebenumstände zusammen, um dem Franzosen die Ausbildung seines dramatischen Berufes zu erleichtern. Es ist das hiesige Theater auf Voraussetzungen gebaut, die man in Deutschland nicht kennt, geschweige besitzt.

Schon oft hab' ich es gesagt und ich wiederhol' es, das pariser Publikum ist das mildeste von der Welt. Es ist mild, weil es billig ist. Es legt an die Beurtheilung eines neuen dramatischen Werkes nur den Maßstab, den dieses selbst voraussetzt. Es muthet dem Drama nicht zu, daß es Vaudeville, dem Vaudeville nicht, daß es höheres Lustspiel, dem Lustspiel nicht, daß es Schauspiel ist, es nimmt, was man gibt, und freut sich der Gabe, die es bezahlt. Der Franzose hat eine Hochachtung vor Allem, was geschrieben ist, noch größere Hochachtung vor Allem, was gedruckt ist, die größte Hochachtung aber vor Allem, was gesprochen wird. Bei uns ist es grade umgekehrt. Uns imponirt nur der Buchstabe. That und Wort reizen unsern Widerspruch. Wir lassen uns nicht erschüttern, wir lassen uns nicht fortreißen. Wir wittern in Allem, was uns zugemuthet wird, einen Hinterhalt. Wir zergliedern jeden Genuß, jeden Eindruck. Wir erwehren uns noch der Thränen, während der Franzose schon weint, wir erwehren uns des Komischen, während der Franzose schon lacht. Es liegt zum Theil schon in unsrer Sprache. Unsre Sprache hat etwas Schlotterndes, Haltloses. Es fehlt ihr das scharfe Gepräge, es fehlt ihr die geschlossene Gliederung. Wir mistrauen jedem Aufgebot klingender Worte, wir nennen schwülstig, was den Franzosen erhaben dünkt. Was bei uns den Gebildeten erobern soll, muß poetisch-naiv sein; was aber der Masse imponirt, wird wieder allen Gebildeten misfallen. Wir haben eine Erhabenheit in manchen naiven Gedichten, die der Masse albern erscheint.

Ich habe in Paris die dümmsten und langweiligsten Stücke gesehen. Es fiel dem Publikum nicht ein, sie geistreich und unterhaltend zu finden, aber es ertrug sie. Es wird nicht wiederkommen, es wird nach dem frostigen Trauerspiele noch eine drollige Farce sehen, es kann im äußersten Falle sagen: ich war da, ich kenne das neue Stück, ich lebe mit der Mode, ich folge den Ereignissen! Keinem fiel ein, das Stück auszuzischen oder die Schauspieler zu insultiren. Es gibt in Paris eine Art, die Stücke durchfallen zu lassen, die schlagend ist. Man geht nicht mehr hin. Die leere Kasse ist das Fiasko, die verzweifelnde Miene des Direktors ist das ganze Ungewitter, gegen das sich ein junger Dichter zu rüsten hat. Er wird es noch ein Mal versuchen, er wird etwas Besseres liefern, er liefert es, da er sich Zeit nehmen kann, da man ihn das erste nicht ein für alle Mal entmuthigt hat.

Die Kritik, so wesentlich zur Vermittelung des Talentes mit dem Publikum, ist hier zuweilen sehr heftig, sehr widersetzlich, aber im Durchschnitt weit milder, als in Deutschland. Ich sahe die mittelmäßigsten Stücke und fand sie überall gelobt. Man kennt hier den in Deutschland üblichen Maßstab nicht, von jeder dramatischen Novität den Umschwung der Welt zu erwarten. Wenn bei uns ein Trauerspiel nicht gleich eine neue Epoche in der Literatur bezeichnet, wenn es nicht, wie wir es nennen, »ins Volk dringt«, wenn nicht Shakespeare und Schiller darüber vergessen werden, so setzt man es herab. Hier in Paris kennt man eine solche utopische Kritik nicht. Hier folgt die Jugend der Jugend, huldigt die Zeit der Zeit. Bei uns richten die siebziger Jahre die neunziger, das achtzehnte Jahrhundert richtet das neunzehnte, die Schule von Iffland und Schröder beurtheilt die Schule Raupach's, und die Schule Raupach's beurtheilt die Talente der Gegenwart. Wir haben Zeitschriften, bei denen die Dramaturgie in Händen von Leuten ist, die sich seit dreißig Jahren der Zeit entgegenstemmen. Einen solchen veralteten Rhadamantismus kennt man hier nicht. Jeder wird von Seinesgleichen beurtheilt, wie in den Geschwornengerichten. Will das Publikum dem Lob und Tadel nicht glauben, so kann es sich selbst unterrichten. Das Publikum ist hier keine Macht, keine Größe, kein Souverain, dem man wie in Deutschland schmeichelt. Gutes Publikum, man will dich täuschen, liebes Publikum, man will dir etwas aufbürden, diese Phrasen der deutschen Dramaturgie würden in Frankreich für unsinnig erklärt werden. Man appellirt in Frankreich wol an die Ehrlichkeit der Masse, aber nie an den Geist der Masse. Es herrscht unter der französischen Literatur ein Einverständniß, das uns im Angesicht unsrer kritischen Niedrigkeiten, unsrer täglichen Denunziationen, unsrer Verdächtigungen und scheelsüchtigen gegenseitigen Werthherabsetzungen, im Angesicht des durch und durch pasquillantischen Charakters unsrer literarischen Debatten melancholisch stimmen kann.

Wenn sich hier ein Stück nicht durch eignen Werth und die Kritik halten kann, so hält es sich durch den Unternehmer, durch die Reklame. Der Unternehmer führt kein Stück auf, von dem er nicht seine Existenz zu fristen gedenkt. So muß es gefallen, muß es sich halten. Alle Feuilletons können es verdammen, in den Reklamen, die am Schluß jeder Zeitung stehen, wird es gelobt. Es wird gelobt im Entreakte, im Vert-Vert, in der Avant-Scene, in tausend Blättern und Blättchen, die man beim Eintritt ins Theater für zwei oder drei Sous kauft. Ich sage nicht, daß es gut ist, wenn die Wahrheit dem Interesse geopfert wird. Ich sage nur, daß hier der dramatische Autor Zeit hat, sich in seinem Talent zu entwickeln. Es hängt nicht, wie in Deutschland, von einem übersättigten Abonnentenpublikum ab, das alle Tage Opern, alle Tage Possen sehen will. In den folies dramatiques gibt man keine Opern, keine Krönungszüge. Man kann sie hier nicht erwarten. Gähnend streckt sich in Deutschland unser Parquet auf seinen Bänken und ennuyirt sich über die Experimente der Direktion. Gefällt das neue Stück, Himmel, dann wird es wiederholt. Dann hören wir Abonnirten, wir »zahlende« Theatergänger keine Puritaner, keine Krone von Cypern, keine Jüdin, dann hören wir alle Tage das neue Stück, bis es abgespielt ist. Lieber tödtet man es beim ersten Male der Aufführung. Ein französischer Theaterdichter schlug die Hände zusammen über diese Manöver. »Das ist noch nicht genug,« fuhr ich fort. »Sie sind am Ziel, wenn Ihr Stück in Paris gefallen hat. Bei uns wird es von Stadt zu Stadt herumgepeischt: überall Correspondenzen, überall Klatschberichte in den Zeitungen. Hier hat es nicht recht gefallen, hier hat es trotz der ›vortrefflichen‹ Darstellung misfallen, hier soll's erst noch gegeben werden, hier verspricht man sich nichts davon, und Weimar, Cassel, Frankfurt, Nürnberg, Pesth, Prag, Magdeburg, Breslau, alle diese Städte wetteifern miteinander, keine ordnet ihr Urtheil dem Urtheil der andern unter, jede richtet, jede ist Instanz, jede hat ihre boshaften Berichterstatter. Ermüdet von dieser Hetzjagd legt der dramatische Autor die Feder nieder und verläßt eine Laufbahn, die ihm nicht ein Zehntheil der Vortheile einbringt, die Sie von Ihrem Talente ziehen. Wie oft muß man unsern Direktoren in Deutschland antworten: die Schreiberei, die ich von Ihrem Nest, wenn sie mein Stück geben, auszustehen habe, ist mir das Honorar, das Sie zahlen, nicht werth. Ein solcher Direktor zahlt zehn Thaler für eine Arbeit, die, wenn er sie von seiner schlechten Truppe darstellen läßt, mir für zehntausend Kummer und Ärger macht.«

Zu diesem äußern Sonnenschein, der das französische Theater so gut gedeihen läßt, kommen die günstigsten innern Bedingungen. Ich rechne zu diesen ganz besonders die häufige Anwendung der Musik. Die eingestreuten Couplets des Vaudeville mögen für die Schauspieler eine große Unbequemlichkeit sein, für den Dichter sind sie eine große Erleichterung. Die Musik ergänzt, die Musik zerstreut. Wo die Gedanken ausgehen, mögen Töne kommen. Wo eine Situation sich verknotet hat, mag die Musik sie auflösen. Der gesungene Vers erhöht die Illusion und erleichtert die Enttäuschung. Der Gesang verwandelt Das, was soeben Ernst schien, in Scherz, in Spiel, der Gesang spannt die Erwartung herab, mildert die Farten der Wirklichkeit und erlaubt eine tändelnde Digression, eine leichtere Lösung, ein unbefriedigenderes Ende. Die Musik besänftigt das Urtheil und kürzt die Langeweile. Die Monologe werden erträglich durch Musikbegleitung. Die Finales der Scenen und Akte bekommen durch die Musik Frische und Abrundung. Im Drama der Porte St. Martin und des Ambigü wird die secondäre Hülfe der Musik noch bedeutungsvoller. Wenn hier auch das Melodrama im frühern Sinne als gesprochenes Tongemälde aufgehört hat, so ist doch für die hier üblichen großen Stücke die Musik als wesentliche Ergänzung noch immer übrig geblieben. Jede lyrische Stelle wird durch Musik gehoben, jeder Monolog durch zitternde Violinenbegleitung mit einer Art Glorie umrahmt. Jedes Anschwellen der Handlung wird beschleunigt durch kurze, energische Geigenstriche. Jede endlich gelingende That, jeder entscheidende Moment verwandelt sich durch eine plötzliche Cadenz der Instrumente in einen zuckenden Blitz, der uns mit all unserm Verstand, all unserer Kritik, all unsern Bedenklichkeiten elektrisch durchrieselt. Man kennt aus der Theatersprache die sogenannten Abgänge. Ein Abgang, ohne Effekt, ohne Herausforderung zum Applaus, kann einen ganzen Akt umwerfen. Eine nüchtern endende Scene, auf welche nun gar eine Verwandlung folgt, tödtet ein ganzes Drama. In den genannten Theatern wird dieser Gefahr durch die Musik vorgebaut. Die Musik füllt jede Leere aus, einige kräftige Geigenstriche heben jeden noch so matten Abgang. Findet gar eine Verwandlung statt, so sorgt ein vollständiges Tonstück, ein schönes Solo dafür, den Zuschauer in der Illusion zu erhalten. Alle diese krassen Dramen, die man bei uns übersetzt hat, der Glöckner von St. Paul, die Galeerensklaven, der Spieler, der Hungervertrag, Diana von Chivry, Richard Darlington u. s. w., werden mit Musik gegeben. Wollte man sie in Deutschland vollständig übersetzen, so müßte man ihnen diesen bindenden Kitt, dieses Hülfsmittel zur Wahrscheinlichkeit, nicht nehmen. Füg' ich nun noch hinzu, daß bei der classischen Tragödie im Theater Français nie der Vorhang fällt, sondern die fünf Akte rasch hintereinander gegeben werden, füg' ich endlich noch hinzu, daß hinter jedem Trauerspiel noch ein Lustspiel folgt und der Jammer wegfällt, den man in Deutschland, wenn Trauerspiele angekündigt sind, täglich hören kann: Ich geh' ins Theater, um mich zu amüsiren! so wird man begreifen, daß der größte Theil des Vorsprungs, den das Theater in Frankreich vor uns voraus hat, nicht im Talent, sondern mindestens zu gleichen Theilen auch in den Umständen liegt.

Ich war in den folies dramatiques. Wenn nebenan in der Gaité die Blouse sich erst im zweiten Range zeigt, so sitzt sie hier schon im ersten. Man befindet sich hier auf den besten Plätzen schon mitten unter Handwerkern, Studenten, Grisetten und Kindern; Allen gefällt das aufgeführte Stück und die Kritik, sah ich, beurtheilte Amour et Amourette nach diesem Gefallen. Es fragte Niemand, fängt mit Amour et Amourette eine neue Epoche der Literatur an? Man ließ das lustige Studentenspiel für Das gelten, für was es sich gab. Amour et Amourette schildert Scenen aus dem Quartier Latin, Scenen aus der Chaumière, Scenen aus den Nachwehen des Philisterlebens. Die Thränen, die nebenan in der Gaité Dem. Clarisse vergießen macht, läßt hier Dem. Judith (eine Jüdin) fließen. Dem. Judith wurde viel applaudirt und sie schien mir diese Aufmunterung zu verdienen. Für einen kleinen, noch unausgebildeten, fast kindlichen Körper leistete sie Unglaubliches. Sie liebt, sie entsagt, sie verzweifelt, sie erklärt sich schuldig, sie wird gerechtfertigt, sie wird glücklich: alle diese angreifenden Leidenschaften und kraftraubenden Schicksale malte und ertrug sie mit großer Ausdauer, wenn auch ohne höhere Grazie. Die komischen Parthien waren an viele junge hübsche Mädchen vertheilt. Die Grisetten wohnen bei den Studenten und führen ihnen die Menage. Sie kochen ihnen Rühreier, sie backen ihnen Pfannkuchen, sie stopfen ihnen Strümpfe, sie flicken ihnen die Hemden, sie frisiren ihnen das Haar und verlangen für alles Dies nichts, als Liebe, unüberschwänglich viel Liebe und alle vierzehn Tage eine seidne Schürze. Wenn mir alle diese häuslichen und ländlichen Zerstreuungen den Studenten eben nicht nützlich erschienen, um ihr Recht und ihre Anatomie zu studiren, so erstaunt' ich, als ich sah, daß Dem. Judith einem Studenten sich als tugendhafte Grisette nicht nur selbst ergibt, sondern vom eignen Vater des jungen Mannes ihm als Schutzengel gegen die Sünde offiziell beigeordnet wird. Dem. Judith wohnt bei ihrem Freund, um zu verhindern, daß Andre bei ihm wohnen; sie tanzt mit ihm, um zu verhindern, daß Andre mit ihm tanzen. Sie ist förmlich bei ihm als Ableiter seiner Leidenschaften installirt. Sie näht ihm auch, sie stopft ihm auch, sie backt ihm auch Eierkuchen, sie frisirt ihn auch. Sie liebt ihn wie ein deutsches Mädchen, keusch, sittsam, sentimental, mit Citaten aus Tiedge und Matthison, nur mit dem Unterschied, daß sie auch in seinem Zimmer schläft. Und für alle diese Tugend, für alle diese hingebende Unschuld will sie der Vater des jungen Mannes nur mit einer Summe Geldes belohnen? Dumpfes Gemurmel der Bässe, zuckender Blitzeinschlag der Violinen, das Schicksal naht sich und die Thräne rinnt. Das Stück schien mir nach Verlauf von fünf Akten doch etwas unbefriedigend zu enden, was jedoch nicht hinderte, daß Alles vergnügt und wohlgemuth das Theater verließ.

Für die Porte St. Martin hatt' ich mir einen Genuß eigner Art aufgespart, den einer ersten Vorstellung. Ein solcher Genuß kommt in Paris etwas theuer. Für das Vergnügen, noch eine Stunde vor Beginn ohne Billet zu sein, für eine noch schwankende und unsichre Vorstellung, für eine Vorstellung voller Längen, für ein Spiel, das noch an Gedächtnißlücken leidet, kurz für die hundert Mängel einer ersten Vorstellung zahlt man hier drei bis vier Mal mehr, als die gewöhnlichen Eintrittspreise betragen. Um das neue Drama von Bouchardy Pâris le Bohemien, zu sehen, zahlt' ich 15 Franken.

Da der Zudrang zu ersten Vorstellungen von Stücken, denen man ein Interesse zutraut, sehr groß ist, so läge der Direktion viel daran, sich die Billette theurer bezahlen zu lassen. Eine Erhöhung der Kassenpreise darf aber nur gegen ausdrückliche, von der Regierung eingeholte Genehmigung stattfinden. Da die Regierung diese Erhöhung meistentheils verweigert, so nimmt man seine Zuflucht zu einem andern Mittel. Man verlegt die Kasse vom Corridor des Theaters auf die freie Straße. Man erklärt Jedem, der ein Billet haben will, es wäre keines mehr vorhanden, und überläßt ihn jenen Zwischenhändlern, die auf der Straße agiotiren. Der Entepreneur dieser Agiotage ist die Direktion selbst. Sie verkauft vierzehn Tage vor der ersten Vorstellung die Billette an sich selbst, d. h. an eine Anzahl fingirter Namen, die auf den Coupons der Billette als Käufer genannt sind und die nun durch ihre Agenten auf der Straße, vor dem Theater, die einzig möglichen Entréen für das Doppelte und Dreifache wieder verkaufen. Der Gewinn gehört der Direktion. Eine erste Vorstellung in dem umfangreichen Theater der Porte St. Martin kann auf diese Art mehr als 10 000 Franken eintragen. Auch die Autoren machen es so mit den ihnen zustehenden billets d'auteur.

Die Porte St. Martin ist in der Geschichte des modernen Theaters von nicht geringer Bedeutung. Sie diente dem schlechten Geschmacke und nützte dem guten. Sie zwang das gute Drama, sich gegen den Wetteifer des schlechten zu rüsten. Die Porte St. Martin hat von allen europäischen Theatern die faule Lyrik vertrieben und wieder die Handlung für sie eingesetzt. Die Porte St. Martin gab das Schlechte in seinem ganzen Reize, in seinem ganzen äußeren Flitter und Schimmer und zwang das gute Drama, die erlaubten Künste der Verführung ihr abzulauschen.

Der dramatische Apparat dieser Bühne ist aus hundert Uebersetzungen und Nachbildungen auch bei uns bekannt. Man wußte, daß das Drama erschüttern soll, und begann vorläufig damit, daß man uns erschrecken machte. Der classische Schrecken war der Tod, der moderne Schrecken wurde die Hinrichtung. Die schauerlichen Figuren der classischen Tragödie waren Todtengräber, die schauerlichen der modernen wurden die Scharfrichter. Um die Menschen in Schrecken zu setzen, fing man mit dem Schreckhaftesten an, mit der Guillotine. Man bedeckte das Schaffot erst mit Blumen. Man verhing es mit einem bunten Teppich, steckte Wachskerzen an und spielte zu Tanz und zur Liebe auf. Die wilde Phantasie der Dichter vereinte zwei Liebende in schwellenden Brautbetten, sie träumen, sie kosen, die Uhr schlägt zwölf, sie blicken um sich, das Schaffot! Mütter lieben ihre Söhne, Söhne ihre Mütter, alle Leidenschaften durchkreuzen sich in bacchantischer Vergessenheit, Wollust, Verbrechen, Tod und im Hintergrund beim Aufgehen einer dunklen Gardine in greller Beleuchtung mit rothem Mantel, auf das blanke Richtschwert gestützt, felsenfest, wie das Schicksal: le bourreau! So fing das moderne Drama an, das Drama der Effekte.

Später wurden diese Stücke langweilig, jetzt sind sie lächerlich. Es wollte Jemand den Hinko der Birch-Pfeiffer übersetzen. Der Direktor sagte: »Nous sommes fatigués des bourreaux.« Von den Henkern ging man auf die mannssüchtigen Weiber über im Tour de Nesle, auf die Schlaftränke, Gifte und Gegengifte, wie in Catharina Howard, dann auf die Rettungen, wie im Reisewagen, dann auf Banditen und Spitzbuben wie Robert Macaire und Vautrin, dann auf untergeschobene Söhne, verfälschte Testamente, gestohlene Urkunden, wie in dem Drama, das jetzt seinen Zulauf hat, Pâris le Bohemien.

Dieser Pâris ist kein gewöhnlicher Zigeuner, wie wir in Deutschland die Zigeuner aus Preziosa kennen. Er schmiert sich sein Hemde nicht etwa mit Talg ein und trägt es dann so lange, bis es ihm vom Leibe fällt, wie die ungarischen Zigeuner. Nein Pâris ist ein pariser Zigeuner, ein civilisirter Zigeuner, der die Laute spielt, den Degen führt, Liebe wecken und Liebe geben kann, ein Zigeuner, der am Hofe von Mailand eine große Rolle spielt, wie alle Franzosen, die zu Hause Comödianten sind und in der Fremde sich einbilden, Minister sein zu können. Und in der That, Pâris ist ein Staatsmann und ein Schauspieler. Da er in Mailand nicht mehr als Staatsmann geduldet wird, wird er Schauspieler, und da er nicht mehr nöthig hat, Schauspieler zu sein, wird er wieder Staatsmann. Dies Marionettenspiel begibt sich unter Galeazzo Visconti von Mailand, unter sehr schwierigen Verhältnissen, rechts Gift, links Schaffot. Ein Testament ist verfälscht, ein Dokument ist abhanden gekommen, ja sogar ein Lebendiger ist eingemauert, ganz wie der alte Maximilian in Schiller's Räubern. Von Angst zu Schrecken, von Furcht zu Entsetzen hin und hergeschleudert, bestürmt von dem leidenschaftlichen Spiel und den ergänzenden Schauern der Musik, gibt man sich in der That dieser Mischung von Talent, Unsinn und Geschmacklosigkeit für die Dauer des Abends gefangen.

Den gewaltigen Zwecken der Porte St. Martin sind auch die Mittel dieser Bühne angemessen. Der Blitz ist hier mehr als das Aufleuchten einer Handvoll gestoßenen Kolophoniums, der Donner mehr, als das hohle Stöhnen einer großen Trommel, bei der man mehr den Nachdruck der aufschlagenden Hand als den Nachhall des Instrumentes hört. Der Sturm pfeift schrill wie durch die knarrende Wetterfahne einer alten Felsenburg, das Geschrei des Aufruhrs, das Murmeln der Verschwornen, das Lachen lustiger Cumpane, die nicht wissen, daß sie Gift aus ihren klirrenden Bechern trinken, das Alles wird mit Geschmack und Umsicht ausgeführt. Und welche Schauspieler! Sie sind keine Genies: ich bewunderte nicht ihre Kunst, ich bewunderte ihre Natur. Welche Lungen, welche donnernden Organe! Diese Bravaden, diese Abgänge! Der Kronleuchter zitterte, wenn Galeazzo wüthete. Man kennt in Deutschland Wilhelm Kunst, wenn er als Otto von Wittelsbach den Kaiser Philipp ermordet, aber dies Organ, dieser Wortschall ist Elfensäuseln gegen Herrn Jemma's Stimme, wenn er schwört, alle Menschen lebendig braten zu lassen.

Pâris, der Zigeuner, tritt in ein halb Dutzend Verkleidungen, als Gaukler, alter Kreuzfahrer, Jude, Wahnsinniger u. s. w. auf. Ich hatte dadurch den Vortheil, Frédéric Lemaitre, der ihn spielt, in seinem wahren Schauspielerwerthe kennen zu lernen. Man hatte gleichsam Frédéric Lemaitre in ein halb Dutzend Stücken. Für jede Verkleidung bekam er einen Blumenkranz. Ich habe in Paris nie jenen kindischen Enthusiasmus gesehen, den die Deutschen an Schauspieler und Virtuosen verschwenden, ich habe nur einmal und nur einen einzigen Hervorruf gehört, ich habe gehört, wie man über die berliner Liszt-Komödie, über das österreichische Hervorruffieber lachte: nur der einzige Lemaitre durfte sich einer Hingebung rühmen, die an die deutschen Triumphe erinnerte. Er allein trug dies verworrene neue Drama. Er wird alle Stücke tragen, in denen er eine große Rolle hat. Man überschüttete ihn mit Beifall, als wollte man ihn entschädigen, daß er nicht im Theater Français spielt, als wollte man ihm sagen: Du spielst an der Porte St. Martin und bist doch der größte Schauspieler Frankreichs!

Frédéric Lemaitre hatt' ich mir als einen jungen feurigen Liebhaber mit outrirten Manieren vorgestellt. Ich dachte nie an ihn ohne an Ruy Blas zu denken, an Ruy Blas, den Bedienten, der Herzog wird, an Ruy Blas, der durch eine geheime Tapetenthür schreitend, die versammelten Granden Spaniens überrascht und ihnen eine Rede voll Weisheit und Geschichtskenntniß hält, eine hinreißende Rede, die nur den einen Fehler hat, daß man nicht weiß, wie ein Bedienter zu ihr kommt. Ich fand aber Lemaitre ganz anders. Ich fand einen bejahrten Mann, der die Hoheit seines Ganges und den Glanz seines Auges nur noch von der Begeisterung für seine Rolle empfängt. Der Gang war gebrochen, der Glanz der Augen erloschen, das Organ der Stimme heiser und metalllos, aber der Gang, das Auge, die Stimme, Alles kommt wieder, wenn nicht im ersten, doch im zweiten, wenn nicht im zweiten, doch im dritten Akt. Ich fand eine große Ähnlichkeit mit Seydelmann, nur mit dem Unterschiede, daß man Seydelmann gestatten müßte, außer Philipp, Alba, Shylok auch Posa, Hamlet und Ferdinand in Kabale und Liebe zu spielen. Man sah wol den folgenden Verkleidungen Lemaitre's an, daß ihm jugendliche Charakterrollen geläufiger sind, als Greise und Juden, aber für Frankreich, wo Alles Specialität ist, waren doch seine Metamorphosen bedeutend. Er hatte sogar einzelne Charakterzüge, die ihm deutsche Schauspieler nicht so leicht nachspielen würden. Bei uns folgt man der Tradition und entnimmt wenig der Beobachtung. Lemaitre gab seinen Possenreißer à la Odry, seinen alten Kreuzfahrer, seinen Juden ganz nach der Natur, aber natürlich bis zur Unschönheit. Der fingirte Kreuzfahrer kommt aus dem heiligen Kriege, hochbetagt, mit flutendem weißen Barte, ganz geharnischt, mürrisch, zornig, wie das Alter, das noch jung sein will, taub, ohne eine Antwort schuldig zu bleiben, redselig, ohne die Sprachwerkzeuge noch beherrschen zu können, spaßend, ohne Spaß zu verstehen, zusammenknickend und sich doch das Ansehen jugendlicher Rüstigkeit gebend. Der Herzog Galeazzo bietet dem verkappten Ritter den Arm, um ihn auf sein Zimmer zu führen. Beleidigt weist Lemaitre diesen Dienst ab und sagt: »Seht, wie ich ausschreiten kann!« Damit geht er, wie alte neunzigjährige Haudegen zu gehen pflegen, die geharnischten Füße weit ausspreizend, kräftig und affectirt die zitternden Beine aufstemmend und so den Weg weisend, wie Einer, der zeigen will, daß er trinken und doch den Kreidestrich noch halten kann. Es war dies ein genialer Moment. Minder werthvoll war der Jude Mazares. Lemaitre gab einen rothhaarigen Schacherjuden wie aus Angély's Abenteuer in der Judenschenke. Ich wunderte mich, daß er seinen Juden im schlechtesten elsässer Französisch jüdeln ließ, ich wunderte mich um so mehr, als die Juden den Christen in Deutschland so bittre Vorwürfe zu machen pflegen, wenn sie jüdisch sprechende Juden auf die Bühne bringen und dabei auf Frankreich zeigen, wo der Jude Franzose wäre und unter der Menge verschwände. Im Gegentheil. Über den Mazares Frédéric Lemaitre's würde sich ein deutscher Jude sehr entrüstet haben. Auch im letzten Akt war Lemaitre outrirt. Er brachte auch hier Beobachtungen an, die er der Natur wie einem anatomischen Secirtische entnommen hatte. Er hatte einen Vergifteten zu fingiren. Galeazzo weidet sich an einer ihm gelungen scheinenden Rache, er weidet sich an den Krümmungen und Todesqualen des geopferten Feindes. Lemaitre stöhnt und ahmt die Manieren eines Sterbenden, eines an Vergiftung Sterbenden nach. Es war ein gräßlicher Anblick, diese Convulsionen zu sehen. Lemaitre hatte an einer allgemeinen Zeichnung des Todes noch nicht genug. Er war, um diese Scene gut zu spielen, ins Hotel de Dieu gegangen, wo zuweilen Vergiftete sterben. Er brachte Züge zum Vorschein, die nach der Morgue schmeckten. Er röchelte, er kugelte sich, er richtete sich auf und begann wieder niederfallend einen sonderbaren Veitstanz auf der Erde, der ihm jedoch statt Bewunderung seiner chirurgischen Studien allgemeines Gelächter einbrachte. Die Thurmuhr schlägt. Galeazzo glaubt, am Ziel seiner Wünsche zu sein. »Bist Du todt? Hat das Gift gewirkt?« raunt er dem Pâris ins Ohr mit einer Bosheit, die man auf der deutschen Bühne nicht auszumalen wagen dürfte. Da erhebt Pâris den Kopf, erst leise, dann dreister, klammert sich an die Stufen eines Sessels, richtet sich höher, immer höher und ruft endlich, fest und triumphirend vor dem erschrockenen Galeazzo stehend, zum Jubel des ganzen Hauses, aus: »Und wenn ich das Gift nun nicht getrunken hätte?« Erst diese Verstellung, diese Krümmungen, diese Todesqualen und dann diese schadenfrohe höhnische Frage, dieser Uebermuth der gelungenen Hinterlist! Ich weiß nicht, für mich lag etwas Gemeines, ich muß es mit dem stärksten Ausdruck bezeichnen, etwas Niederträchtiges in diesem bejubelten Momente. Ich schauderte vor der Masse, die oft das Zarteste herausfühlen kann und nicht minder oft das Schlechteste mit dem Erhabensten verwechselt. Ich war froh, daß das Stück zu Ende war. Ich habe vor diesem furchtbar höhnischen: Und wenn ich das Gift nun nicht getrunken hätte? die Nacht nicht schlafen können.

In der Porte St. Martin sind die Stalles und ersten Gallerien sehr anständig. Dafür sieht man im dritten Rang statt der Blousen schon Hemdärmeln. Eine kleine Pièce, die dem Pâris vorherging, durfte nicht ausgespielt werden. Sie wurde in jedem Worte unterbrochen, nicht weil sie schlecht oder langweilig war, sondern weil man das neue Stück sehen wollte. Ich hörte bei den Effektstellen des Bouchardy'schen Stückes großen Applaus, ohne eine Claque zu sehen. Ist in Paris wirklich eine Claque da, so muß man sagen, daß sie wenigstens sehr verständig ist. Sie beklatschte im Pâris nichts Unwesentliches, sie compromittirte nicht den Autor, wie dies meist die Art und Weise der Claque in Deutschland ist. War eine Claque zugegen, so war sie im Geist des Autors geregelt. Die Claque in Deutschland ist nie für den Autor, sondern nur für die Schauspieler da. Die Schauspieler bestellen sich an bestimmten Stellen und Abgängen die Applause: nämlich die mittelmäßigen Schauspieler. Daher kommt es, daß in Deutschland die Claque immer die Stücke stürzt, statt hebt. Der Dichter und der Schauspieler, der die Hauptrolle spielt, haben ein und dasselbe Interesse. Alle neidischen Rivale, die nur Nebenrollen haben, fürchten, von Dem, der die Hauptrolle hat, erdrückt zu werden. Daher bestellen sie sich Applause für ihre Episoden, für ihre kleinen Rollen, für ihre halbe Scene, während der Darsteller der Titelrolle oft leer ausgeht. Dies erzeugt im Publikum Widerspruch, erzeugt Schwankungen im Gleichgewicht der fortschreitenden Handlung und zieht, im glücklichsten Falle, daß man die Absicht nicht merkt, die Aufmerksamkeit so von der Hauptidee des Stückes ab, daß der Dichter sicher sein kann, den Vorwurf zu hören, sein Stück litte in der Hauptsache, sein Held wäre passiv, sein Süjet ohne Handlung. Erlebt ein solches Drama Wiederholungen, so tritt oft erst bei der vierten oder fünften, wo die Herren Collegen ihren Egoismus befriedigt haben, das natürliche Gleichgewicht seiner Construktion und das Gleichgewicht der Rollen ein. In Paris erstaunt' ich, Alles anders zu finden. Die hübschesten Episoden bleiben ohne Applaus. Die Mitspieler Lemaitre's hatten artige Scenen, wirksame Abgänge: keine Hand rührte sich. Man applaudirte wenig, aber mit Nachdruck. Als sich bei einem flauen Aktschlusse eine einzige zischende Stimme vernehmen ließ, schwang ein Blousenmann im dritten Rang den Knotenstock und rief: »A la porte les siffleurs!« Im Zwischenakt amüsirte man sich allerdings, auf Pfeifen und Hausschlüsseln schrillende Töne hervorzubringen, man pfiff, daß einem die Ohren gellten; aber während der Vorstellung, trotz der ersichtlichen Mängel des Ganzen, trotz zahlloser Schwächen, beobachtete man ein feierliches Schweigen. Als ich das Haus verließ, drängten sich hunderte von Gamins aus der obern Gallerie herab. Es waren Feuilletons in Blouse und Sammtkappe. Sie urtheilten, ohne lesen zu können, doch wie gedruckt. Ich bemerke nämlich, daß alle pariser Gamins Sammtkappen tragen und nicht lesen können. Es macht einen eignen Eindruck, auf dem Boulevard du Temple von Gamins höflich angeredet zu werden: »Mein Herr, haben Sie die Güte und lesen Sie mir den Theaterzettel vor!« Ich wiederhole, daß sie darum über Lemaitre und Pâris le Bohemien sehr geistreiche Urtheile fällten, ja ich schäme mich sogar, die deutsche Philisterei einzugestehen, die mich bestimmte, im Gedränge von Kunstrichtern, die nicht schreiben und lesen können, die Hände an meine Taschen zu halten. In der großen Oper hätt' ich dies weit eher nöthig gehabt. Ich muß nun von der großen Oper reden.

Man sieht es dem Saal und den Leistungen der Rue Leppelletier sogleich an, daß hier die Musik ein Privilegium ist. In Paris hat das Drama in allen Stadtvierteln Concurrenz, die Oper nicht. Die Italiener singen italienische Musik, die große Oper singt französische. Und nur sie allein. Wär' es möglich, in Paris die Jüdin, Robert den Teufel, Wilhelm Tell, die Hugenotten u. s. w. noch von einer zweiten Truppe dargestellt zu sehen, so würd' es um den Nimbus der großen Oper geschehen sein. Jetzt findet man Alles unübertrefflich, was sie gibt. Ihre Tenors, ihre Bässe, ihre Chöre sind die besten in der Welt. Man beklatscht, was uns mittelmäßig erscheint. Man applaudirt Dissonanzen, falsche Töne, falsche Triller, man applaudirt die confusesten Melodien. Der Franzose ist unmusikalisch. Seine Rede ersetzt ihm die Musik. Daß der Franzose Lieder trällert, muß wol im vorigen Jahrhundert, im Zeitalter der Mätressen und Abbés, gewesen sein, man spricht und liest soviel davon. Jetzt sind sie alle stumm. Ich bin durch die Bourgogne, durch das Lyonnais gereist, ich hörte nicht einen Ton, Alles ist in Paris und Frankreich stumm, auch die Hunde bellen nicht, ganz wie in Amerika. Auch in Paris hab' ich keinen Hund bellen hören. Im Vaudeville trällert man Lieder, aber man singt sie nicht nach. Beranger wird gelesen, gesprochen, nicht gesungen, und wenn ich irgend eine Strophe singen höre, wenn ich fühle, daß eine Melodie in der Oper Anklang findet, so wird es immer eine unmelodische sein. Oft war mir's, als wenn der französische musikalische Genius grade mit dem Kopf gegen die Melodie angehen wollte. Wo wir mit der Stimmlage herabsteigen, steigen die Franzosen hinauf. Entweder hat der geist- und geschmacklose Halévy für dieses stumpfe musikalische Ohr gedichtet, oder er hat dies Ohr selbst auf seinem Gewissen. Genug, man findet die unausstehlichen Gesänge aus der »Jüdin,« der »Pest in Florenz«, der »Reine de Chypre« hier in Paris außerordentlich wohltönend, man müht sich zuweilen in den Zwischenakten ab, die halsbrechenden Capriolen der Halévy'schen Arien und Gesänge mit scheinbar großer Befriedigung nachzusummen.

In der »Jüdin«, die ich sahe, wurde das Ohr von einer gastirenden Recha gepeinigt. Eine junge Anfängerin, die weder singen noch spielen konnte, machte ihr zweites Gastdebüt. Ihre kindisch dünne Stimme, ihr Mangel an allem Beruf hinderte nicht, das sie applaudirt wurde, hinderte nicht, daß die Kritik sie zwar nicht lobte, aber doch mit mildem Stillschweigen überging. Marie sang den Eléazar. Man konnte sich durch ihn befriedigt fühlen. Die hohen und mittleren Töne ergaben sich frei, doch da die untern versagten, so sah man, daß die ganze Tonleiter nur künstlich in die Höhe geschraubt war. Unerquicklich war die Düsterheit, die auf seiner ganzen Leistung lag. Alle übrigen Rollen waren höchst mittelmäßig besetzt, was insofern nicht Wunder nehmen darf, als die Jüdin, wenn auch noch oft gegeben, doch schon zu den ausrangirten Opern gehört. Die besten Kräfte sind immer in der Oper beschäftigt, die grade die Oper des Tages ist. Dies Mal die Reine de Chypre.

Tanz und Mise en Scène waren dagegen ganz vorzüglich. Ich habe sonst oft geglaubt, wenn ich die ewig gleichen Sprünge und Entrechats, Wirbel und Gruppen des Ballets sah, daß diese Kunst sich bald erschöpfen müsse. Ich fand hier wieder neue Variationen, wieder neue Motive der Fußspitzen, neue Figuren und Combinationen. Das berliner Ballet ist jedoch unstreitig frischer, üppiger, in seinen Koryphäen sinnlicher. Die Französin, die sich gern auszeichnet, läßt sich nicht leicht in die Masse stellen, und zum Solotanz sich zu erheben, ist schwer. Schöne Solotänzerinnen zu haben, hängt sehr von der Gunst des Zufalls ab. Es gibt dürre Perioden, wo die großen Fußkünstlerinnen nicht gedeihen. Es gibt hier eine Carlota Grisi, die ich nicht sah, mehre Fitzjames, eine Dümilâtre und andre Namen. Ich glaube aber nicht, daß eine von ihnen der Taglioni und den Elslers gleichkommt.

Vortrefflich war die Ausstattung der »Jüdin«. Dekorationen, Anordnung der Scenen, die Comparserie, die Costümes ersetzen reichlich die musikalischen Mängel. Ich will von den Pferden nicht reden, die man aus der goldgestickten Seide kaum herauserkennen konnte, ich will die Massen nicht zählen, den Werth der Stoffe nicht prüfen. Die Gruppirung, der Geschmack in der Anordnung verdienen schon allein Bewunderung. Die Dekorationen sind Gemälde. Sie drücken weit mehr aus, als sie zunächst bedeuten sollen. Es sind nur Häuser, nur Plätze, nur Straßen, aber mit so vielem anregenden Beiwerk, mit einer so eigenthümlichen perspectivischen Auffassung, daß sich ihre nächste Bestimmung in einem reizenden Ensemble von Staffagen verliert. Die Comparserie ist verschwenderisch. Aus dem großen Zuge des ersten Aktes hätte man für deutsche Theater zehn Krönungszüge zusammensetzen können. Wenigstens sechs Truppen von Bogenschützen, jede von dreißig Mann, folgten sich unmittelbar aufeinander. Nur an Frauen schien es zu fehlen. Die Frauen kennen in Paris bessre Geschäfte, als Figurantinnen bei der großen Oper machen. Malerisch war die Gruppirung der Massen. Weiber, Kinder, Greise waren sinnig vertheilt. Nichts stockte, nichts starrte. Die Bilder waren flüssig, ohne die Haupthandlung zu stören. Die Kinder liefen auf und ab, die kleinen Mädchen trieben Possen, Alles war individuell belebt, nichts steif, nichts hölzern, wie die Comparserie in Deutschland, die der Regisseur an dicken Schiffstauen regieren kann und die doch nicht weiß, wo sie den Arm heben, wohin sie den Fuß setzen soll. Die Fahnenwimpel, die Wappen, die Costüms beruhten alle auf gründlichen antiquarischen Studien, auf guten Gemälden, auf alten Holzschnitten. Nur mit den weißen, rothen und blauen Farben ward zuviel Verschwendung getrieben. Auch artete die Costümirung zuweilen ins Fabelhafte aus. Die Hofdamen trugen buntscheckige seidne Kleider, aus vier Stücken, grün, gelb, weiß und roth zusammengesetzt. Quer über den Leib waren Wappenthiere eingenäht. Leoparden schwänzelten von der Brust bis auf die spitzen Schnabelschuhe herab. Die Costümes hatten zuweilen etwas von der Heraldik und dem Colorit der Spielkarten.

Gediegnere Gesangstalente entfalteten sich denn freilich in der Königin von Cypern. Madame Stolz ist keine jener Sängerinnen, die Epoche machen: aber sie kann den Übergang zu einer Epoche würdig vertreten. Ihre Stimme hat jene Schärfe, die dem Metall eine längere Dauer sichert und leicht mit dem Metall selbst verwechselt wird. In Düprez hatt' ich mir einen sehr hohen Tenor vorgestellt. Düprez, der häßliche Düprez, hat keine Höhe, hat kein gutes Falsett, aber eine körnige, geschulte Bruststimme, die etwas aushält und durch gute Behandlung sich geltend macht. Baroilhet, der Bassist, eine wunderliche Figur, der Oberkörper einem Riesen, der Unterkörper einem Zwerge angehörend, Baroilhet schien der Vortrefflichste von Allen. Es liegt in seiner Stimme eine erschütternde Resonanz, eine wahrhaft männliche Kraft.

Die Oper selbst, La Reine de Chypre, ist von den Halévy'schen wol die verfehlteste. Der Text ist so unglücklich wie die Musik. Ich will hoffen, daß Herr von St. Georges, der bekanntlich den bairischen Capellmeister Lachner um den Alleinbesitz eines ihm bezahlten Operntextes so schändlich betrogen hat, dem deutschen Maestro die Handlung des von Eduard von Schenk entlehnten Süjets gelassen hat. Das Textbuch, das er Halévy gab, ist nichts als die Lyrik davon. Nie hab' ich einen so zerflossenen französischen Operntext gesehen. Die Tochter eines Venetianers wird von einem französischen Ritter geliebt. Sie muß den König von Cypern heirathen. Der Ritter reist ihr nach, rettet dem König das Leben, ohne ihn zu kennen, der König schwört ihm ewige Dankbarkeit. Als er in seinem Retter den Buhlen seines Weibes erkennt, ist er edel und Esel genug, sich umzubringen. Dieser larmoyante Stoff wird fünf Akte lang durch eine Sündflut von bedeutungslosen Noten geschleppt. Es ist in Paris, als wäre die Musik nur zum Anfeuchten und Aufweichen der Stoffe da. Der Begriff des Tones ist hier aufgelöst in den des Klanges. Die Reime sind im Text, nicht in der Musik. Wahre Opernmusik hat so gut ihre Strophen und ihre Reime, wie die Poesie. Diese Halévy'schen Tonschöpfungen sind ungereimte Dithyrambik. Das kleinste Lied von Hölty ist mir lieber als ein ganzer dicker Band von Willamov.

Schließlich war ich nochmals im Palais Royal. Ich würde in Paris nicht leben können, ohne nicht alle vierzehn Tage ein Mal die Dejazet zu sehen. Die Dejazet macht mich lachen und rührt mich. Sie hat etwas Elegisches, etwas Wehmüthiges in ihrer Art. Seufzt sie unter der Nothwendigkeit, jeden Abend spielen zu müssen? Seufzt sie über die entschwundenen ersten achtzehn Sommer? Macht ihr Sohn, der, wenn ich nicht irre, ein Maler ist, zu viel Schulden und zu wenig Fortschritte? Sie lacht und singt und ihr Lachen und Singen klingt wie Melancholie. In »Être aimé ou se périr« will sie sich mit ihrem Geliebten in Kohlendampf ersticken. Der Geliebte schlägt vor, wenigstens nur so zu thun und ihre Verwandten zu erschrecken. Sie dagegen ist sehr ergeben und kurz entschlossen, sich von einem Tisch mit Champagner unmittelbar in die Arme des Todes zu begeben. Sie führt diesen Entschluß so heroisch aus, daß ihr Geliebter die größte Angst bekommt und die Fensterscheiben zerschlägt, um frische Lust zu schöpfen. Sie bemitleidet die Männer als schwach, schürt die Kohlen, trinkt noch ein Glas Champagner und will sterben. Zwischen einer Hammelkeule und der Unsterblichkeit träumt sie sich gläubig in höhere Gefilde hinüber. An ihr liegt die Schuld nicht, daß sie gerettet wird. Ich habe wenig Sinn für Alcide Tousez und Achard. Mich beschäftigt nur die Dejazet. In »Indiana und Charlemagne« kommt sie eben vom Maskenballe. Sie ist als Débardeur gekleidet, erschöpft vom Tanz, mürrisch, keinen Anbeter gefunden zu haben, schläfrig. Nebenan (die Bühne ist in zwei Theile getheilt) wohnt ein Student, der gleichfalls, als Husar gekleidet, von demselben Balle kommt. Es wimmelt in der Art, wie diese beiden Personen durch die Zwischenwand, ohne sich zu sehen, Bekanntschaft machen, an argen Zweideutigkeiten, aber die Dejazet hat das Talent, das Verfänglichste mit Anstand zu sagen. Höchstens daß sie über einen etwas gewagten Witz ein leises, leises Lächeln von Ironie haucht und mit halbzugeblinkten Augen andeutet, wie gut sie verstehe, was sie uns in aller Unschuld sagt. Endlich hat Charlemagne ein Mittel gefunden, Indiana's Thür zu öffnen. Sie kommen überein, diese Thür nie wieder zu schließen. Der schöne Kistenablader fällt überwunden in die Arme des Husaren. Mit der über die Augen gelegten Hand deutet die Dejazet an, was der fallende Vorhang verbirgt. Leb wohl, Indiana! Erheitre eine Welt, die Du nicht mehr zu lieben scheinst!


 


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