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Alexander Behnisch, der Dichter, sprach zu seinen Freunden, und es schien, als ob die eigenen Worte in ihn hineinsanken wie schwertropfender, berauschender Wein. »Es war an einem Märztage, gegen Abend; aber das Licht hatte schon Kraft genug, um eine leuchtende Dämmerung hinzustellen und sich gegen den Tigersprung der Nacht zu halten. Es goß seine Schalen aus auf den dunkelnden Schild. Seine zerfließenden Güsse rannen in hellen, durchsichtigen und schillernden Farben vom Oben herunter und schwammen zuletzt verrinnend auf dem Gekräusel des Flusses.
Ihr wißt, es ist dies die unwirkliche Stunde um die Frühlingswende, und sie ist voll vom Geist vorausgenommener Wärme. Die Idee des Frühlings ist in Schleiern Körper geworden – ohne schweren Dunst und ohne Regen, voll von Erde. Damals war es so, daß der letzte braunrote Rauch aus den Schornsteinen das Schwerste und am meisten Irdische zu sein schien.
Die Fabriken hatten ihre Eingeweide herausgerissen und auf die Straße geschüttet. Die letzten Maschinen röchelten. Der Ruß aus den Lungen der Feuerungen sank zusammen, über die Stadt war die Stille des Lichts und der fließenden Dämmerung gebreitet. Aber die Halbkugel der Ruhe stand auf der Scheibe des Lärms.
Denn die Straßen quollen über von Menschen und von Sprache und von Dunst. Es kam mir aber ein, wie häßlich und verworfen die Worte in diesen dunklen, steinernen und verstopften Adern waren. Sie fielen zerschnitten, eckig, herausgespien auf das Pflaster gleich den Apfelschalen und Nußgehäusen. In ihnen waren Worte von aufgeregter, maschinenmäßig empörender Papiergesinnung, gleichbedeutend mit den zusammengeknüllten und zerrissenen Zeitungsfetzen, aus denen ihr Pathos der Unzufriedenheit stammte. Die Gemeinsamkeit des Lärms vermischte sich aus allen offenen Türen und durchdrang selbst die dicken Scheiben der Kneipen. Eine schmutzige Sprachbrühe schwamm überall. Auf ihrem Gossenstrom wirbelte grell und schreiend das Licht eines Gelächters oder einer Kraftwortschöpfung, die als belebendes Fett von einem Kreise von Menschen heruntergeschluckt wurde, – ein Kreis, der sich aus Pfeifenqualm, Orchestriongewälze und Biergeruch mit Würfelgeknöchel zusammentrudelte …«
»Entschuldige,« – der sanfte Andreas Lotzki kam blaß und verträumt durch die Ringe einer Zigarette, – »entschuldige wirklich. Aber es ist doch wohl möglich, daß du an diesem Abend besonders ästhetisch parfümiert warst.«
Der Dichter sah ihn erwachend an.
Der dunkle Marcus: »Es ist unmoralisch, einen Schriftsteller zu verhindern!«
Und der gütige Dietrich Kreuziger, den sie in der übermütigen Bosheit einer Atelierweinlaune (er war aber ein Maler) Kardinal Bembo genannt hatten, fügte hinzu: »Wir bitten dich also fortzufahren.« –
Der Dichter sah ihn nachdenklich an. Dann glättete er seine Stimme zurecht und sprach weiter.
»Andreas hat nicht ganz abirrende Pfeile verschossen. Ein feiner Verdruß vergällte mir den Abend! Dies Gefühl des Unmuts war um so tiefgehender und stärker, als es nur ästhetischer Art war und also kaum durch eine Tat oder durch eine geschickte Aufeinanderfolge von Schimpfworten zu beleben war. Es kam mir bitter ein, wie so wenig die Kuppel der Ruhe und Schönheit zu der Grundlage des Schmutzes und der Gemeinheit passen wollte! – Dann aber – genau genommen trotzdem – kränkte mich die Naivität und Selbstverständlichkeit dieses unschönen Lebens. Es erstaunte mich, daß alle diese Massenmenschen aufeinander eingestellt und eingespielt waren und selbst die sinnlosesten Handlungen und Worte ein schmatzendes Echo bei den andern hervorriefen, so daß wohl doch ihre faden Seelen und ihre dampfenden Leiber von einem schmierigen Ring der Sympathien gehalten würden!
Sie liefen auch alle offensichtlich nach einem Gesetz, zankten sich, gröhlten, warfen sich erotische Doppelsinnigkeiten und Gelächter zu … Hierin zeigten sie sogar den möglichen Grad von Witz in ihnen … Es war also, als rauchte ich eine vergiftete Zigarette mit einem goldenen Mundstück.«
Marcus warf ein: »Hiernach müßte wohl also ein Abenteuer kommen.«
Der sanfte Andreas hob den Atem. Aber Kardinal Bembo kam ihm zuvor und lächelte gütig: »Wir bitten dich also, fortzufahren – oder anzufangen.« – –
Der Dichter hielt einen Augenblick die Hände vor seine Augen, wie um die inneren Farben zu sammeln. Dann sagte er:
»Es kam so …«
»Nein, – etwas anderes noch zuvor …«
»Bei allem Mißbehagen und bei allem Ablehnen dieser schauerlichen Gemeinschaft von Straße und Menschheit kam es mir doch plötzlich ein, sie möchten wohl immerhin viel instinktsicherer und unzerspaltener sein. Zerspalten waren sie wohl auch, wie Menschen überhaupt; – aber sie vereinigten sich nicht umsonst im Leibe beim Geschlecht, während wir – – Es war also eine kurze Zeit, als sei in meinen Urgründen etwas Verwandtes aufgestanden aus der Zeit, da ich noch irgendwie zu ihnen gehörte, noch einig im Geschlecht war, ohne Ästhetik, Seele, Scham und wie alle diese Schleier und Zerfaserungen der Einheit heißen mögen, und ich überraschte mich, wie ich einem wilden Mädchen mit aufgegangenem Haare und prallen Brüsten unter einem verschmutzten Tuch einen Blick des Verständnisses und Einverständnisses zusandte.« –
Andreas lächelte: »Sie!« – –
Der Dichter wehrte ab und legte seine lange, zuckende Hand gleich einem Gegenstand mißmutig von sich.
»Nein … Nicht »Sie« … Es wäre gut zu schweigen, wenn man sich nähert!« –
Kardinal Bembo kam begütigend dazwischen. »Wir bitten dich also fortzufahren.«
Und Andreas legte die Hand auf den Mund. Alexander Behnisch sank wieder in seine Geschichte.
»Es war nicht – Sie! …
Nach einem Augenblick kaum schämte sich mein parfümiertes Blut. Ein Schreck wie eine leere Stelle kam. Ich fühlte etwas wie das Auftauchen und zugleich wie das Versinken einer Steppe mit wilden Pferden, mit einem Durcheinander von Weibern ohne Besitz, von Jagd und Gefahr, einen Sippezustand ohne Ich zu sein … Dann war das vorüber, und ich sah das talgige Gelb in den Augen des Geschöpfes, die blauschwarzen Zoddeln, die freche Allgemeingültigkeit und spürte den Mischgeruch von Schmutz und Weib …
Ein magerer Mensch in einem protzend-löcherigen Mantel mit einem heruntergefallenen Mund und einer hochsteigenden Nase spie ein Sprachgekaue heraus und pries Schuhwichse in knalligen Dosen an. Er renommierte in starken Tönen mit seiner Abgerissenheit, um schneller und unkontrollierter seinen Vorrat teurer als im Geschäft absetzen zu können. Ein imaginäres Goldstück sollte in irgendeiner Schachtel im schwarzen Bade liegen und eventuell goldkräuselnd, aphroditisch aus der Schuhwichse emporsteigen. Jedoch staunte nur ein halbes Dutzend Halbstarker, und der Mensch wurde mißgestimmt und ehrenrührig.
Zwei Männer und ein Kryptomädchen in einem Umschlagetuch wunderten sich laut und umsehend, einen Menschen zu treffen, der nicht die Hände in die Hosentaschen gebohrt hatte. Einen Augenblick fühlte ich mich fast schuldbewußt, so anders zu sein, und der heiße Fleck kam wieder …
Aus einer Drehorgel bohrten sich hin und wieder Töne. Ein Mann in einem Soldatenmantel zeigte einen Arm und markierte die Sehnsucht nach der Heimat. Ein kleines Mädchen neben ihm achtete fleißig auf den Bestand der Mütze, sang jezuweilen mit oder spie Apfelsinenkerne kauend in den Rinnstein …«
Der dunkle Marcus konnte sich nicht enthalten, dazwischenzuwerfen: » Sie ist ja immer noch nicht da!«
Kardinal Bembo dehnte seine ungeheure Leiblichkeit. »Solltest du etwa so rückständig sein, neugierig zu werden?« –
Das wirkte denn auch.
Andreas und Marcus tauchten zurück …
Alexander Behnisch hielt noch inne und sah in das Fenster. »Es ist fast so die Rhythmik des Lichtes wie damals,« sagte er dann. »Das Wirkliche wird unwirklich. Das Unwirkliche wird möglich – und dann notwendig. Grund und Folge vertauschen sich. Zweck und Ziel spielen Ball. – –
Es war dann eine Brücke da. Pferde keuchten die Steigung hinan. Obwohl kaum ein feuchter, leiser Dunst in den Lüften war, nur wie ein Atmen der Luft, war doch das Holzpflaster klitschig und mit einem dünnen Brei bezogen. So war es kein Wunder, daß eine genügende Zahl von herb-ursprünglichen Fuhrmannsflüchen sich versammelte, und daß gelegentlich ein schwitzender Gaul auf seine Lederdecke breit hinklatschte, um mit untergestreutem Sand und körnigen Peitschenhieben angefeuert zu werden, seine vier grotesken Beine wieder in eine umgekehrte Richtung zu bringen. –
Der Rand der Brücke schnitt ein Bild aus einer andern Welt heraus. Es schien mir, als wären zwei in den Temperamenten völlig verschiedene Sterne an dem Brückenrand unlustig zusammengefügt. Unten war noch ein blaugrünliches Kräuselgeleucht, als kämmte der Fluß seine Haare, und es sprängen Lichtspitzen als elektrische Funken heraus; – aber oben war das ruhige, majestätische Reich des verschwindenden Farbendunstes. Die Schornsteine, die herabstürzende Wucht der Perspektive, die in Lila eingewickelten Schuppen und Kesselhäuser, ein paar versprengte Baumstämme, als abschließende Sehnsucht der einzige Bogenschritt einer fernen – fernen Brücke mit zwei braunrötlichen Hauchen von Türmen dahinter …«
»Pastell«, tropfte hier Kardinal Bembo doch hinein.
Dann sah er die beiden andern schuldbewußt an, und sie lächelten nur in die mokanten Ringe ihrer Zigaretten …
Der Dichter hob ein wenig die Stimme.
»Ich wäre beinahe in der Betrachtung durch einen Handwagen gestört worden. Ein Wagenrad fing schon an, Bekanntschaft zu schließen. Ein Jüngling blähte sich. –
So ging ich schneller auf dem glitschigen Boden und kam am Rande der Brücke vor einem andern fliegenden Händler an. Dieser jedoch verkaufte Seifensteine. Und hier nun, meine geliebten Zuhörer, – kam … »Sie!« – –
Der Seifensteinhändler nämlich hatte natürlich einen kleinen und gewählten Kreis von Zuhörern und Zuschauern um sich versammelt, denen er in vortrefflicher Aufgelöstheit die schmutzverzehrenden Vorzüge seines ungewöhnlich vorzüglichen Präparates vorführte. Ein mitgenommenes Stück Bettstreifen und eine Quadratprobe eines ausrangierten Rockes gewannen im Umsehen ihre Virginität wieder. Hier tat dies auch ein Mädchen …«
Die Freunde sahen den Dichter verblüfft an.
Der Dichter aber fuhr fort: »Wir, die wir uns die Darstellung durch das Medium des Wortes als Herrinaufgabe genommen haben, sind sonderbar. Wenn die Sprache uns ein zusammengezogenes Bild bietet, schwimmt das, was Menschen als Moral oder Gemüt bezeichnen, wie ein bunter Kork obenauf. Unten aber hat das Bild angebissen. Wir angeln alle nach solchen Karpfen … Nun – es waren ein paar Bengel da mit der liebenswürdigen Neigung, die Stiefel der besseren Versammelten als Schwelle zu benutzen. Einige grellbemantelte Damen nahmen naserümpfend Kenntnis und zeigten alsdann abquellende Florstrümpfe. Eine alte Frau in einem Umschlagetuch krauste angestrengt die Stirn, und einige Arbeiter mengten ernsthaft oder grinsend ihre Shagpfeifen gegensätzlich in den Seifensteingeruch. – Dann – – ja, dann aber stand mir gegenüber, an der andern Längsseite des Wagens ein Mädchen in einer dünnen Fahne, mit einem Gesicht, das den Wagen, die scheußlichen Menschen und die widerwärtige Scheibe des Lärms verwandelte.
Als ich dieses weiße Gesicht sah, von dem dunklen Mantel und dem schwarzen Haar getragen, schien mir die scheidende Glorie des Abends um ein Bild zu stehen. Die Lippen waren aufeinandergelegt wie die Türen eines himmlischen Schreines. Mitten in den Sumpf und das Schnattern und Stoßen hinein leuchteten die weißblütigen Lilien der fleckenlosen Wangen. Zwei schwermütige Brauen bogen sich unbewegt zusammen, aber sie schlossen sich nicht, und es blieb eine schmale Pforte für die flechtenbeschwerte, opalisierende Stirn. Ein einziges Mal stand darauf, einem Marmorbruch gleich oder einem Pinselansatz …«
»Perugino«, murmelte Kardinal Bembo.
Der dunkle Marcus wollte beginnen: »Es ist unnatürlich …«
Aber der Dichter durchschnitt seine Ironie. Er fuhr fort, seine Erinnerung abzuzeichnen, und seine Stimme belebte sich und wurde heißer …
»Wie kam dies Geschöpf in diese Pfütze?
Sie war vielleicht Packerin in einem Warenhause – oder Hilfsverkäuferin – oder ein Laufmädchen auf dem Übergange zur Lageristin … Aber kann nicht eine Lilie aus dem Schlamm aufsteigen? –
Da bemerkte ich, daß das Mädchen mich unverwandt ansah – nein: verwandt …
Die schwarzen Augen waren glühende Kohlenbecken in der weißen Nacht des Gesichts geworden und zu einem eigenen Leben aufgeflammt.
Es war nicht mehr die Madonna, die geschlechtsunbewußte, die Flügelliebe ohne Blut, die honigfließende – Plötzlich schien sie nur Magdalena zu sein und mich anzustarren, als ahnte sie in mir und begehrte in mir den großen Sünder, den Dichter, den Vergewaltiger von Menschen und Verhältnissen, den Willensbeuger und Willensbezwinger der Zuhörenden, der auf ihren Gefühlen spielt wie auf einer Orgel und alle Vorzeichen in ihnen vertauscht, Gute böse und Verworfene idealisch macht, den Dichter, den größten Grausamen unter den Menschen!«
»Sehen Sie, hochverehrte Zuschauer«, krähte der Seifenheilige und zog triumphierend ein Leinentuch aus der milchigen Flüssigkeit, »es ist allens drinjeblieben. Kein Schmutz nich mehr im Stoffe! – Wollen Sie sich das entgehen lassen? Nicht fünf Mark – nicht drei Mark – nur zwei Mark kost' bei mir der hochelejant einjewickelte Orijinal-Chemieseifenstein …«
»Magdalena sah mich an – noch immer an. Es kam wie ein Schwindel über mich, – nicht wie Begehren oder vielleicht wie Versuchung. Denn sie sprach kein Wort und auch keinen Blick. Nichts bewegte sich an ihr. Der Mund lächelte nicht und wies nicht ab. Das Gesicht blieb blaß und kalt. Und doch wehte eine unterirdische Flamme aus ihren Augen, ein Hineinziehen ohne zu ziehen, – ein Verlocken ohne zu locken …
Ich fühlte, daß mein Herz hart und hastig schlug.
Der Wagen, die Krähenstimmen, das Grunzen der Menschen, das Pflaster, der Brückenrand, der rauchgeteilte Himmel: es war nichts mehr da. Nur zwei dunkle Flammen standen kreisend. Und dann war es, als ob eine Wand einbräche. Eine Leere fraß das Bild. Mein Herz schlug dröhnend – und sank zusammen …
Das Mädchen war gegangen.
An der Stelle, die sie gewesen war, drückten sich zwei Halbwüchsige gegeneinander und spuckten unter den Wagen. Ein Rollkutscher knallte im Vorbeifahren erschrecklich gegen das auseinanderfluchende Weibsvolk, und es war alles wieder normgemäß.«
Der Dichter schwieg. –
Nach einer Weile, in der die Müdigkeit des Himmels mehr und mehr zugenommen hatte, fragte Andreas Lotzki sanft und heimtückisch:
»Für die Erzählung eines Dichters – oder sagen wir selbst eines Schrift stellers – ist die Handlung doch wohl noch nicht zu Ende?«
»Die Spannung ist erst angespannt worden«, sagte Marcus.
Und Kardinal Bembo ergänzte: »Die Untermalung wäre da.« –
»Das Erlebnis ging auch weiter«, fuhr der Dichter fort, »oder vielmehr: es wurde erst jetzt Erlebnis aus dem Bilde.
Denn als ich leer dastand mit dem Gefühl, etwas Unersetzliches verloren zu haben, etwas, was ich noch nie und noch nicht besessen hatte, und das doch deswegen mein tiefstes Eigentum gewesen war – oder hätte sein müssen, fühlte ich ein Ziehen, die Einwirkung eines Blickes, eines magnetischen Saugens …«
Marcus: »Sie!!« – –
Alexander Behnisch hob abwehrend die Hand: »Natürlich sie! Es war ja danach auch das Selbstverständliche. Aber es gehört schon ein wenig von dem dazu, was man nur Narr, nur Dichter nennt, um zu wissen, daß das Selbstverständliche sehr oft das Entlegenste ist, und daß sehr viel leichter das Entlegene in logischer Verknüpfung erscheint als das Normale. –
Ein Blick Magdalenas hielt mich fest.
Sie stand auf der Hälfte der Brücke und schien ins Wasser zu sehen – oder in die Ferne. Ich hätte entgegengesetzt gehen müssen. Etwas in mir war wohl, das sagte: Ihr dürft nicht! Das geht nicht!
Das Allerseltsamste war, daß ich in der Entfernung ihr Gesicht weit genauer noch vor mir sah als vorher. Die Flammen ihrer Augen leuchteten. Aber es schien jetzt, als wären es Fackeln über Leichenbegängnissen ihrer Seele. Mit jedem Schritt schien sich das Gesicht zu verwandeln. Ein vierzehnjähriges Mädchen war sie, lüstern und unschuldig, Kind im Sprunge zum Weib, mit Lippen, die nach Formung verlangten, um aus roten Aufschlägen zur Vision des Eros zu werden, das Gesicht noch flaumig und rund. Dann schnitt etwas – oder schritt ein Erlebnis in sie hinein, und sie wurde wissend, das heißt voll Reue und Sehnsucht zugleich, den ersten Ring des ersten Weinens um die Augen. – Dann war ein bettelndes Gesicht da, das nachlief und nicht beachtet worden war, vergebens geschleuderte Funken, Zorn und Schamlosigkeit, da das Verlieren der Scham erfolglos geblieben war, eine Rose in Essig geworfen! – – Dann kam das Gesicht einer Zigeunerin der Liebe, wahllos, bluttoll, silberne Reifen in jedem Ohr, schweifend, wilden Gesichts, welkende Rosen im blauen Haar, Haar und Rose zu einem naiv-lasterhaften, aufreizend-keuschen Duft zusammengesprungen.
Dann war sie wie von Wolken unsichtbaren Schmutzes umschattet. Ein Regen von Sünde hatte ihre Weiße schwarz gemacht. Unaussagbare Laster hatten ihre kotigen Füße auf ihr abgewischt. Die Spuren von Verbrechen oder doch von Anreiz zum Verbrechen oder zum Geschehenlassen lagen in bläulichen Ringen auf ihrem Gesicht, und es sah aus wie die Haut eines erstarrten, erstorbenen Sterns, geplatzt, von borkigen Rillen durchlaufen. Sollte das tote Auge eines Kindes auftauchen aus ihren zerfurchten Spiegeln?
Aber – alles verschlingend und leuchtend über allem Verwandeln brannte ein Blick der Sehnsucht nach Reinheit, gleich der kristallenen Farbenwelt auf der Brücke über der Schale des Schlammes. –
Es geschah wie ein Selbstverständliches, daß wir uns entgegenschritten.
Am Geländer blieben wir einen erfüllten Augenblick stehen und sahen in die Ferne.
Die schwere Glocke der Dunkelheit begann sich zu senken. Doch die sterbende Farbe ging dahin, wie Segnende dahingehen: immer mehr sich enthüllend und schenkend! – –
Wir sahen zusammen in die sinkende Verschmelzung von Himmel und Erde, – ohne zu sprechen. Eine Farbe weint, löst sich auf. Eine, entgegengesetzte Farbe weint, löst sich auf: sie rinnen zusammen, und im vereinigten Schmerz wird die dritte Farbe, die Harmonie der Freude aus Schmerz, die Schaumgeborene. –
So sahen wir uns dann an. Ihre Leiden und ihre Sehnsüchte klopften an das Tor, als hätten sie Heimat bei mir. Ich wurde in einem Augenblick voll von Wissen. Alles Entsetzliche, alles Leid Magdalenens schritt durch die aufgetanen Flügel in mich hinein. Ich litt Tage und Jahre, Begebnisse und Versagnisse, einen zusammengeknäuelten Sturm von Leben, Liebe und Sünde in einem Blick.
Wir gingen zusammen, zusammengehörig –, und hatten doch noch kein Wort miteinander gesprochen. – –
Straßen rollten sich unter unsern Füßen auf und ab, andere Brücken gingen neben uns vorüber, schon erloschene Übergänge … Menschen tauchten auf wie Meilensteine in einer Nacht. Lärm war nur Sand an unserm Fuß … Aber die Kenntnis von uns sprang über. Die Ströme unseres Seins glichen sich aus …
Dies fremde Mädchen war in mir. Wir waren übereingekommen und wußten doch nichts von uns. War es eine Verwandtschaft von Dichter und Sünderin, von Maskentragen und Maskenerleben, das Hineinversetzen, das Durchwühlenlassen von fremden Gluten mehr als von eigenen? Wer war näher der Heiligen als die große Sünderin? Wer war beschmutzter, entehrter und gebrochener von seinen Gestalten als der Dichter? Und doch, war er, der im Stoff stand, auch nicht jenseits des Stoffes? Wuchsen nicht auch alle Lilien in seinem Hirn? – –
Da alles zwischen uns nebeneinander geschah und nicht nacheinander, stand die Zeit still. So wußte ich nicht, ob es in einem Augenblick war oder in einem Jahr, als wir vor einem Mietshaus in einer elenden Gegend standen. Ich wußte, es war das Haus, in dem Magdalena wohnte. Nur aus solchem Tümpel konnte dies weiße, süße Gesicht aufgegangen sein. Eine verschmutzte Baracke mit einem entblätternden Dach, blinde, zerschlagene Fenster, aus denen rotes Bettgerümpel quoll, so daß sie entzündeten Augen glichen. Menschenabfall innen, Abfall von Menschen außen. Ein Mensch mit einer Schirmmütze, einen Lappen um den Hals gewürgt, die Faust in die Tasche gebohrt, stand von fern und schien tückisch und wütend herüberzusehen. –
Ein hochgeschossener, blaßschmutzigfrecher Kellertrieb hockte am Rinnstein und riß einen alten Lappen und einen Käfer entzwei – – die Schwester wohl.
Eine räudige Katze kam aus dem Hausflurloch und buckelte. Eine Gichtverkrümmte mit Händen, knotig, zitternd vor vergiftetem Blut und vor Habsucht – wohl die Mutter … Sie schielte, grinste und winkte Magdalenen verstohlen zu – –
Da – schmetterte sich das Mädchen vor meine Knie, schlug die Stirn auf das Pflaster und schrie.
Und wie ich hinabsah an mir, schien ich einen blauen Mantel anzuhaben, meine Füße standen barfuß im Staube des Weges, mein Herz brannte in einer süßen Welle von Tränen und Liebe, und ich hörte aus mir eine Stimme hervorgehen: »Hebe dich auf, Magdalena! Gehe hin – und sündige hinfort nicht mehr!« – –
Die Nacht saß mit am Tisch.
Sie hatte die Reflexe aus den Weingläsern getrunken und die Kupferköpfe der Stuhlbeschläge eingeschluckt. Nur die roten Feuerpunkte der Zigaretten schwammen noch im Dunkeln.
Nach einer langen Pause sagte der schwarze Marcus, und auch in seiner Stimme, als der eines Skeptikers, war etwas wie von einer widerwilligen Ergriffenheit:
»Was Dichter doch nicht alles erleben!« –
»Sie entwickeln die Reinheit rückwärts und schaffen den Stern aus der Pfanne Pech«, träumte der blasse Andreas. –
Und Kardinal Bembo meinte nachdenklich: »Schade, daß du nicht Maler geworden bist, Alexander.« – –
Der Dichter erwachte aus sich. Er griff nach dem Wein. Der dunkle Marcus aber zerstreute die Stimmung mit einem feinen, schneidenden Lächeln, wie um sich selbst zu befreien, und dann fragte er spielerisch:
»Das ist doch wohl nicht so gewesen? Dichter sagen nie die Wahrheit, weil die Wahrheit außerhalb ihres Kreises liegt. Wie war es denn?«
Alexander Behnisch errötete im Dunkel, – das bubenhafte Erröten, das die Frauen ihn so jählings geneigt machte. Er sagte stockend: »Marcus hat natürlich recht. Aber es ist doch wohl unnatürlich, recht zu haben, unnatürlich – und auch unästhetisch …«
Es war anders –; aber wer weiß, ob es sehr viel anders war!
Wir kamen auf der Brücke zusammen. Aber ich tat etwas, was für gewöhnlich in Erlebnissen dieser Art hoffnungslos töricht gewesen wäre. Ich sagte etwa, ich glaube stockend, wie wundervoll der Untergang des Lichtes sei. Wie der Dunst das Leben des Lichtes erwürge, und wieviel Liebe das Licht in sich habe, daß es noch seinen Mörder schön mache! Wie die Türme schwämmen und die Brückenjoche befreiter und doch gelöster schwängen! Ob sie nicht empfände, wie schön das sei?
Das Mädchen errötete und sagte: »Jetzt – ja.« –
Da war es mir klar, daß hier ein Wesen wäre, das begabt sei mit vielen, angelehnten Türen, unwissend und ohnmächtig wegen ihres Unwissens darum. Daß nur ein Wort dazu gehöre, um die Türen aufspringen zu lassen, und daß es doch bisher ihr Schicksal gewesen sei, daß niemand ob er dies Wort und wie er es zu sprechen habe! –
Wir gingen nun zusammen.
Sie sagte mir bald, daß sie bei einer zänkischen und kranken Mutter lebe, daß ihr Bruder roh sei, und daß ihre Straße schlecht und stickig wäre. Jetzt, da sie es aussprach, schien sie es zuerst zu wissen. Sie ginge ins Geschäft, natürlich. Das brächte nicht viel ein …
Ich fragte, ob sie am Sonntag mit mir in die Galerie gehen wolle, denn es drängte mich, dies Mädchen durch das Medium der Kunst zu besitzen und es zu steigern. Wir lieben ja doch nur, um uns reicher und umfangreicher zu machen, und mein Gefühl hielt mich davon ab, ihr so zu nahen, wie es in ihrem Kreise gewöhnlich sein mußte: geradehin, halb roh, halb lüstern, mit Café und Kino, mit einem Kettenring und handgreiflichen Schmeicheleien.
Sie errötete – ein seltsamer Anblick, dies Gesicht rot werden zu sehen! Und dann sagte sie durch einen Blick zu – und lief fort. Sie verschwand in einer verschmutzten Baracke voll Bettgerümpel. Ein Mensch mit einer Schirmmütze sah argwöhnisch auf, ein schmutziges, grünliches Kellergeschöpf brüllte, eine alte Katze schlich, und die knotige, verkrümmte Hand eines alten Weibes kam aus einem Fenster.
Ich hatte meiner Magdalena, so nannte ich sie im Gefühl, nichts von mir gesagt, nicht meinen Namen. Aber am nächsten Sonntag stand sie zur Galeriestunde da und wartete. Sie war blaß und in Weiß und zitterte in geheimer Erregung. –
Und nun kam ein seltsames Spiel.
Dies Mädchen wuchs in die Reinheit primitiver, gläubigster Bilder herein, wurde jungfräulich in ihrem Empfinden, ihr Profil wurde immer süßer und fastender, Boticelli war sie und Fra Angelico, – und doch fragte sie sich erst tastend in den Begriff von Kunst überhaupt hinein. Sie ahmte wie ein kleines Mädchen in der ersten Schreibstunde die Züge des Pinsels nach und sah ernsthaft und nachgrübelnd auf eine Radiernadel und einen Stichel. Sie hatte anfangs kaum Farben gekannt und war immer rot geworden, wenn sie eine Farbe benennen oder sagen sollte, ob ihr dies oder jenes Bild gefiele – und warum es ihr gefiele. – – Dann sah sie aber nicht bloß Bilder, sie sah auch Landschaften und Menschen. An einem Abend, als wir quer über einen Volkslustplatz gingen und von der derben Roheit und der Lust umtobt wurden, sah sie zum erstenmal auch die Landschaft im Menschen und das Menschliche der Landschaft.
Eine Schauspielerin wurde sie und wandelte durch alle Bilder. Mein geheimes Widerspiel wurde sie –, die ewig sich wandelnde Substanz, jede Wandlung Offenbarung, die Wirklichkeitswerdung einer kaum vorstellbaren Möglichkeit. Einzig war das Entzücken in mir, sie lebend unter Kunstwerken gehen zu sehen. Was Jahrhunderte an erlesener Kunst zusammengetragen und in dunkel lächelnden Rahmen zusammengehalten haben, wurde beinahe tot und sank in die Erblindung zurück vor der leuchtenden und lebendigen Kunst. Und mehr als einmal war mir, als tröste sich der matt dunkelnde Veronese mit einem bösen, heimlichen Spruch: Du bist leuchtender und lebendiger als ich, Magdalena, – aber ich bin ewiger. Vor mir wird deine Enkelin noch heiß und träumerisch werden, wenn du längst als Staub durch die offenen Galeriefenster wehst! – –
Ich bosselte an ihr herum wie ein Bildner. Meine Sprüche gingen als Finger und Modellierhölzer über weichen Ton, – und auch mein Kuß war nur Herausstreicheln einer neuen seelischen Form. –
Ach – es war schön. – Darum wohl mußte es enden …«
»Sie lief dir davon?« sagte Marcus spöttisch.
»Natürlich« – der Dichter stieß es verächtlich hervor – »es ist ja so selbstverständlich. Wenn man das Kunstwerk reif gemacht hat, löst es sich und spielt nun seine Rolle weiter. Nichts ist abtrünniger als die eigene Schöpfung.« –
Kardinal Bembo ward nachdenklich. »Wie gut, daß ich mit dem Falerner und dem Kobaltblau – allenfalls mit Pompejanisch Rot verheiratet bin! Sicher nahm sie ein Maler …«
Der Dichter lächelte gereizt und höhnisch.
»Kardinal, Ihr kennt die Frauen nicht!
Dies hätte mich noch nicht weiter erschüttert. Man gibt ja Frauen im allgemeinen nur weiter. Kein Mann macht ein Fertigfabrikat aus ihnen. Und wer sie zuletzt behält, der hat sie noch immer nicht vollendet.
Nein! –
Ich sah wohl manchmal, wie merkwürdige Gestalten auftauchten, sie anstarrten und dann wieder verschwanden. Es schien mir auch hin und wieder, daß ihr Bruder, der Mensch mit der Schirmmütze, sie höhnisch und mich verbissen betrachtete, dann aber auch davonging. Aber ich wußte ja, woher sie kam! Die Gegend und die Leute hatten den Ton gegeben, nicht mehr! Was ich daraus gemacht hatte, war mein!
Oder es war nicht mehr mein. Ich hätte es wissen müssen, und – habe es auch wohl geahnt. Vom Kunstwerk wußte ich es, daß es sich löst, wenn es fertig ist. Und was ist das Weib anders als ein Kunstwerk?
Nein – der Ton ging zum Ton. Die Form wurde wieder das Zufällige und sank zusammen. – – Unwesentliches! Das Wesentliche blieb …
Ich verlor Magdalena – im eigentlichen Sinne des Wortes. Unauffällig. An einem Tage war sie nicht mehr da. Alles, was zu ihrer Familie gehören konnte, war aus dem Hause verschwunden – bis auf die Katze, das Haustier. Die, die ich verlegen fragte, starrten mich tückisch und dumm an.
Ich konnte nur annehmen, daß ihr Bruder nicht ihr Bruder gewesen ist.
Die Freunde schwiegen.
Dann sagte Kardinal Bembo begütigend: »Nun – die Farbenerinnerung blieb dir.«
Und der sanfte Andreas fügte leise, wie versonnen, hinzu: »Und so bleibt noch die Merkwürdigkeit, daß ein Dichter etwas um Gottes willen getan hat.«
Der schwarze Marcus nahm seine Gedanken wieder zurück; denn diesmal hatte ihn Andreas schon ausgesprochen. Er wollte das nur heftiger sagen. – –
Der Dichter fühlte die Nacht nun, da es stille wurde, ganz dicht an sich herantreten und ihre Schleier wehen. So sah niemand, daß er für sich ein sonderbares Lächeln lächelte! …
Die Geschichte war noch anders; aber die dritte, die Wahrheit, war für Alexander Behnisch unaussprechbar. Magdalena hieß sie –, und er hatte Wochen im Krankenhause gelegen …
Da aber der Dichter überdachte, wie es leicht sei, daß jene drei Schicksale in demselben Leibe hätten spielen können, beschloß er, diese Geschichte – zu schreiben …