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Tschammer

Es wird gegen Abend.

Die Dämmerung kommt zu uns in den Laden und macht sich's in ihrer Fledermauskapuze bequem. Fritz, der Lehrling, döst in einer Ecke und pickt Krumen auf von seinem Frühstück. Er hat Hunger und Sehnsucht auf seine Suppe. Dabei vergißt er, Gas anzustecken. Es kommen auch gerade keine Kunden.

Im Halbdunkel leuchten oben in einem Regal noch die Rücken von Büchern in Leder, mit Haifischhaut, in Altgold schimmernd. Das sind unsere kostbaren Frauen. Das Gold lächelt. – Ich möchte sie alle haben, wenn ich nicht so ein simpler Verkäufer wäre! … Sie sind schöner als alle Mädchen und Frauen, die sich bei uns blähen und Rad schlagen. Und sie werden immer schöner, je älter sie werden. – Ich liebe sie alle.

Sie sprechen so heimlich und haben eine süße Stimme. Von Dichtern sind sie gemacht, von Phantasten für Phantasten und Träumer – und machen Dichter und Phantasten. Es ist nicht die rohe Straße in ihnen. Die aufdringlichen Schmerzen sind abgeschliffen zur Schönheit. Sie regen das Blut auf zu einer inbrünstigen, verklärten Sehnsucht. Alle Dinge und alle Leiber waren ihnen Stoff. Aus Ländern und Zeiten und Menschen wird das Werk gepreßt wie Rosenöl. – –

Da ist so eins, das spricht von der Liebe eines auserwählten Menschen in einem Rauschland. An dem sie alle starben und doch wünschten, nur noch einmal für ihn zu sterben. Sie kamen immer wieder, wurden in anderen Mädchenleibern – ihre alten Träume in neue Träume –, bis er erstickt war, zerstochen von den Bienen der Göttin Kama. – – Ich sah einmal hinein. Heute möchte ich es mitnehmen. Die Dämmerung wird es verdecken. Ein Schulatlas kommt vielleicht hinein. …

 

Die Klingel geht. Fritz schießt auf und stolpert. Dann wird es hell. – Ich hätte das Buch gern noch einmal gestreichelt.

Eine Dame kommt. Sie riecht nach Patschuli und hat ein Gesicht wie ein halbfertiger Pfannkuchen. Man sollte sie noch einmal auf die andere Seite legen. – Wie kommt sie zu dem Parfüm? Müßte sie nicht ein ganz anderes Gesicht haben? Warum besprengt sie sich nicht mit Essig? – Und nun spricht sie mit einer seifigen Stimme. – Es ist ganz scheußlich. – – Natürlich will sie ganz etwas Modernes. – Es muß ein trauriger Beruf sein, Dichter zu sein, für die Menschen der Zeit zu schreiben. Dichter sollten nur für zukünftige Menschen schreiben – oder … für gar keine Menschen. Höchstens für sich – oder gegen sich. …

Ich freue mich, daß ich kein Dichter bin. Aber es wäre doch schöner gewesen, wenn ich nicht so eine platte Nase hätte und eine so unreine Haut. Ich könnte auch gut etwas größer sein.

 

Der Chef sieht noch einmal herein.

Wie kann man dauernd mit Büchern umgehen und doch so gewöhnlich sein! Ein Schacherer mit Geist! –

»Tschammerlein,– Sie dösen wohl wieder« – grinst er. Natürlich. Ich möchte nicht, daß ich immer nur wach wäre, um Geld zu machen.

Die Dame geht. Ein Bengel holt noch jetzt ein Schulbuch. Ich muß ihn auch noch bedienen … ich! Bedienen – natürlich. – Kinder sind mir ekelhaft. Sie sind so frech wie Erwachsene und noch geriebener. Man trichtert ihnen ja nur die Bildung ein, damit sie dümmer werden. Es sind ekelhafte Kreaturen. Der Bengel schlägt permanent mit einer Stiefelspitze gegen die Holztäfelung des Verkaufstisches. Dabei kann ein Tisch durch seelische Kraft bewegt werden, ein Bengel niemals. Wie ein Stück Holz … so unempfindlich, – Beleidigung für das Holz! – –

 

Wir können ja nun wohl gehen.

Fritz sperrt den Rachen auf. Und Herr Seeger, der erste Gehilfe, erhält dauernd Klopfzeichen an die Scheibe von seinem Mädchen draußen. … Er reißt die Uhr auf und springt hinaus.

Das Görgesicht mit dem Wuschelkopf, die gestreifte Seidenbluse wird einen Augenblick in der Spalte sichtbar. … Unzucht, – nichts als Unzucht … sagt Thersites. So habe ich's gelesen. Der Mann ist zu Unrecht verleumdet worden. Nur einer häßlichen Kreatur steigt die Erscheinung der Schönheit auf.

Jetzt geht er in ein Kino mit ihr, und dann quetschen sie sich in ihrer Haustür zusammen – oder noch schlimmer auf seiner Bude – oder auf ihrer Bude. – Ganz scheußlich!

 

Herr Seeger schnalzt mit der Zunge, pfeift, kämmt seinen blonden Schnurrbart auf, sieht in den Taschenspiegel, spritzt sich mit etwas an. – Schön wie Apoll im Siegeswagen! – Er hat mehrere Verhältnisse. Er unterscheidet sie nach den Nummern der Straßenbahnen, an deren Strecke sie wohnen. Heute ist Nummer 91 an der Reihe. Und er hat Glück! Nummer 91 ist noch nie mit Nummer 4 oder mit Nummer 35 zusammengestoßen. Er entgleist nicht, dieser normal – Unzüchtige! …

 

Fritz läßt die Jalousien herunter.

Werde ich nicht einen Augenblick allein sein, um das Buch zu holen?

 

Ich habe meine Handschuh vergessen.

Der Laden liegt dunkel, geheimnisvoll, fremdartig. Räume, in denen man die Hälfte seines Lebens bringt, aber mit Menschen zusammen, im Licht, starren uns an wie Feinde, wenn die Umstände anders sind. Wie mit Menschen ist es!

Der Laden schläft, ruht sich aus von dem Getümmel, erschöpft. Ich fühle ihn tief atmen. Der Staub schwebt dunkel hin in einer langsamen Hauchbewegung, nicht zerrissen, unnatürlich durchwirbelt wie am Geschäftstage.

Die Ladentische recken sich stöhnend. Die Dielen knarren und reden einsilbig miteinander. Gespenstisch ist es. – –

Die Jalousie schließt wohl nicht ganz dicht.

Zwei Strahlen kommen noch als lange Pfeiler hindurch und fallen auf das Regal mit den schönen Frauen.

Zwei oder drei blitzen auf mit zornigen Augen, daß sie gestört werden.

Goldstrahlen rieseln herunter wie blondes Haar. Und es sind keine schmutzigen Kämme oder vertroddelte Schleifen darin.

Der Handatlas liegt auf dem Ladentisch. Ich kann ihn greifen. Meine Liebste muß oben mit sein, eine von den Zornigblickenden. Aber – ich muß sie haben. Ich will sie ja nur leihen, will einmal wieder unter Menschen leben, will herauskommen aus diesen verpöbelten Menschen, die sich heiser schreien, Zigarren im Mund haben, Bier trinken und sich zur Wut aufregen. Warum müssen sie immer in Haufen zusammen sein? Warum müssen sie durchaus Familien bilden und allerhand Gemeinschaften? Gemein, gemeines Zeug! – Ich muß auch einmal wieder herauskommen aus mir selber, aus diesem ekelhaften, kotigen Subjekt, das so häßlich ist. Ein spiegelspuckendes Individuum …

Es ist widerwärtig, in der Gegenwart zu leben. – Nur in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu leben hat Sinn. – Die Leiter knarrt bösartig, als ob sie mich bei den Dielen und bei den Büchern denunzieren wollte! – – – Nun bin ich oben.

Das wird sie sein! Sie hat eine silberne Gürtelschließe und eine köstliche, weiche Haut, die so wunderbar runzlig ist, weich-runzlig wie welke Rosenblätter. Es rieselt in meinen Fingerspitzen. Mein Blut strömt gewaltsam in die Haut. Mein Herz klopft – schwerbeklommen, – süß – angstvoll … Ich gehe auf Frauenraub aus! …

O – ich weiß wohl, daß sie nicht will! Daß sie still in ihrem Winkel bleiben will, um endlich in all ihrer holdseligen Reife und Weisheit zu zerfallen. Sie will schlafen! Das Leben in ihr soll nicht mehr einem andern dienen, nicht mehr Haschisch sein für Traumräusche der Vergangenheit.

So raube ich also.

Aber mein Herz wirbelt. Furcht faßt an meine Kehle …

Wenn jemand käme? …

Der Chef sitzt irgendwo und hält Heerschau über flehende Dichter. Herr Seeger klebt seine Augen auf las Filmband und seine Hand auf die Hüfte seines Mädchens. Fritz liest Tom Pinkertons siebenundzwanzigstes Abenteuer und qualmt hustend eine Zigarette.

Ich habe sie! …

Sie ist mein für vierzehn köstliche Tage!

 

Auf der Straße regnet es.

Die elektrischen Lampen ziehen einen regenbogenfarbenen Schleier um sich und flimmern gedämpft.

Das Volk schiebt sich aneinander. Menschenfleisch dampft förmlich.

Streichholzverkäuferinnen und Kerle aller Art markieren Not. Sie sollten sich schämen, sich so bloßzustellen. Dabei grinst die schielende Gemeinheit aus allen ihren triefenden Augenwinkeln.

Dann ist da wohl ein Droschkenpferd gefallen. Oder eine Sicherheit ist durchgebrannt.

Gewiß: die Sicherheit ist durchgebrannt. Denn dreißig Menschen schlagen aufeinander los und werfen sich Volksverrat vor. – O ihr Narren! Ihr könnt nicht einmal Hunger ertragen, wenn ihr Phantasie haben könntet! Habe ich denn etwa das sogenannte tägliche Brot? Eine warme Stube? –

Sie pfeifen und johlen. – Ein Schwarm wird aus dem Knäuel gestoßen, als bliese ein Geisir einen kochenden Strahl aus seiner Nase. Ich komme unversehens in den Schwarm und fasse einen heftigen Stoß gegen meinen Hut. Dann finde ich mich im Rinnstein wieder.

Aber mein Buch ist fest in den Arm geklemmt und gerettet. Die Schramme an meiner Stirn hat nichts weiter zu sagen.

 

Nun biege ich in meine Nebenstraßen ein und bekomme andere Luft. Da sind noch Vorgärten. Auch eine längere Mauer zerbröckelt, und hinter ihr stehen Platanen und Linden. Die Blätter fallen über die Mauer. Es riecht gut und aufreizend nach Verwesung. Ein Parfüm, das stärker ist als Heliotrop – wie exotisch ist es. Pfeilgifte, Taumelgerüche aus fremdartigen Mohnpflanzen mögen so duften …

Heute morgen waren die Blätter noch knochenhart und trocken. Man stieß gegen sie wie auf einem umgegrabenen Kirchhof. Jetzt rauschen sie naß unter den Füßen und krümmen sich an.

Und meine Liebe für die beiden Wochen, die nun kommen, habe ich unter dem Arm.

 

Ein Bettler will etwas.

Da es dunkel ist, klingt sein Flehen heischend, brutal.

Die Rollen könnten sich umkehren.

In einer plötzlichen Angst um das Buch jage ich davon.

Der Lump speit aussätzige Flüche hinter mir her. –

Aber – ich habe sie im Arm! …

 

Nun bin ich in meiner Wohnung.

Das heißt in meinem möblierten Zimmer, abvermietet von der Witwe Amanda Schwabe.

Das Zimmer ist nicht schön, – lang, schmal, schlecht möbliert. Das Bett ist hart wie ein Kapitalist und hat wenig Deckung. Das Sofa ist desto weicher und auseinandergegangener. Es hat zwei Eintiefungen, die ich Asien und Afrika nenne. Die Südseeinseln bilden sich jetzt. Eine Sprungfeder steht vor. Meine Hose bleibt hin und wieder daran hängen. Und ich habe nur zwei. Frau Schwabe ist kühle und strenglippig. Nach ihrem Taufschein ist sie etwa zweiundfünfzig, nach ihren Runzeln sechzig. Sie soll eine Tochter haben, die in Pension ist. Mich duldet sie wahrscheinlich, weil das Geld einbringt, weil ich anspruchslos bin und keine Besuche empfange, auch nächtliche nicht …

Wenn sie um den Besuch meiner Bücher wüßte!

Ich wohne erst sieben Monate bei ihr. Mir ist es ganz gleich, wo ich wohne. Ich brauche auch keine türkische Pfeife, keinen indischen Schal, keine japanischen Tassen, keinen chinesischen Räucherkrug, – nicht einmal eine gepreßte Ledertapete …

 

Frau Amanda Schwabe macht auf, nicht ganz so brummig wie sonst. Vielleicht hat sie gerade einen guten Tag. – –

 

Gegrüßt seist du, Ort meiner Einsamkeit, Ort der Einsamkeit überhaupt! Wo eine Wüste ist, da ist auch Märchenland. Hier kann ich Phantast sein und meine Liebe haben, ohne begrinst und bespöttelt zu werden. – Es ist ziemlich kalt im Zimmer. Frau Schwabe spart. Aber was macht das aus! Ich hänge einen alten Schafspelz um, den die Motten nach vollendeter Durchforschung beinahe schon nicht mehr wollen. Und dann esse ich, auf dem neutralen Gebiet sitzend. Es fängt schon an knapp zu werden. Asien hat sich reichlich ausgedehnt. Meine zukünftige Geliebte liegt auf der Sofalehne, sorgfältig von meinem Mantel bedeckt und schläft noch. Ihre Buchdeckel, die kostbaren Hüllen ihres edlen und makellosen Leibes schließen sich streng und abweisend. Nur mir werden sie sich öffnen. Die vergilbte Weisheit ihrer Blätter wird aufglühn. Wundervolle Zeiten werden die Augen aufschlagen. Der alte Druck wird auflohen, feurig werden. Wein wird aus den Zeilen hervorspringen wie an den Beilagern von Königen …

Daß ich nur die Hand auszustrecken brauche, um sie zu haben, – und es doch nicht tue, – daß ich dünne Brotscheiben esse und eine lauwarme Zwiebelsuppe, – daß ich meine Sehnsucht noch zügeln kann, um sie immer größer werden zu lassen: das ist schon Genuß! … Im Aufstehen blicke ich in meinen halbblinden, ovalen Spiegel über dem Bett.

Ein nobler Liebhaber! Der Stoppelbart, das gemischte Pickelgesicht und die unendlich platte Nase! Und doch habe ich die seltenste Liebe in mir, die verborgenste Phantastik und bin ein weit größerer Schöpfer – oder Nachschöpfer als meine Nächsten! …

Wenn das der Chef wüßte, der eingebildete Idiot! – Oder der flotte Herr Seeger, erster Gehilfe bei allen Mädchen! … Haha! …

Ich bin erschrocken. Frau Schwabe wird mich doch nicht gehört haben? – Und nun herzhaft in die kalte Suppe gehauen! …

 

Es ist nicht meine Geliebte. Aber eine andere, vielleicht noch schönere! …

 

Dem Fuji ähnelt der Kang-Rimpotsche.

Tibets heiliger Berg hebt seine Schneeblende durch Wolkenspitzengeriesel.

Der klingende Frost tibetanischer Sternennächte hat alle Krankheitskeime der Gemeinschaft Menschheit durchfroren, erwürgt, in Schneeknebel gelegt und auf die verfluchten Sonnenebenen der feuchtgärenden Fruchttiefen geworfen. Was hier atmen will, muß Flamme in sich haben, dünnes schnellfließendes Blut, ein ehernes Herz und ein Hirn, das sich von sich selbst nähren kann.

Flüchtige Kulane fächern den Himmel. Der breithüftige Wildjak, seinen Zottelbehang behaglich im Schneesturm badend, steht, wie mit der Blechschere geschnitten, am Horizont …

Ich bin bei der achten Umkreisung.

Bald habe ich das heilige Werk vollbracht und nähere mich den Vorhöfen der Erkenntnis Buddhas. Ein Winken seines rätselhaften Lächelns fällt schon in meine sehnsüchtige Seele und läßt sie heiß werden und sich röten. Nur tierhafte Sünder winden sich in der Kälte, greifen nach Luft, verfärben sich, in Schaum gehüllt, und gehen ein, entsetzt, von neuem in den Fluchkreis der ewigen Geburten geschleudert.

Ich aber messe den Felssockel des heiligen Berges, den Stuhl Buddhas, zum achten Mal mit meinem Leibe, streue die heiligen Silben mit den Resten des Atems in die Luft, unablässig, tausende mal tausend: »Gegrüßt seist du, o Juwel in der Lotosblume!« …

Auf allen Eishöhen, in den Sturmwinden des reinen Gedankens, flattern die Wimpel des Gottes, die Ruten mit den farbigen Zeugen und den magischen Zeichen darauf. Das Haupt seines Berges erglüht. Am Himmel keimt auf ein Farbenlächeln, das friedlich-spöttische Abschiedslächeln Buddhas, das Erröten vor der dunklen Geliebten Nacht.

Ich werfe mich hin, messe die geweihte Erde mit meinen Gliedern, erhebe mich … Tage um Tage …

Ich krieche durch eine Schlucht.

Der Finger Buddhas stieß sie durch den Berg, als er seine Hand lässig aufhob, um an die Kugel der Weisheit auf seiner Stirn zu rühren. – Gebeine bleichen in ihr. Wer unheiligen Herzens ist, wem die vermaledeite Brunst des Lebens nachkroch in diesen Felsweg, der bleibt gelähmt in der Schluchtmitte und verwittert.

Ich messe mich hindurch. Meine Seele hat nur einen Wunsch: die faulige Hülle abzureißen, die Leib heißt. An den Schädeln der Sünder vorbei, ungerührt durch das hohle Klappern von Schenkelknochen, auf die ich pralle beim Hinschmettern, krümme ich mich dem blinzelnden Licht entgegen. Wenn die Haut sich abschält, wenn mein Leib ein entrindeter Stab wird: das ist gut – gut und süß! Wenn ich erlöst bin vom Leben: was kümmert mich das? Die abgefallene Geschwulst der Erde, die ich war? – Mag mein Gehirn zu Kugeln gebacken werden für die reinigende Majestät des Geierschnabels, mögen Tempelschüler mit meinen gebeizten Armknochen Trommeln schlagen, mag mein abgefressener Schenkel Umrührer sein in den Suppen für Hunde: was geht das mich an! – Ich bin erlöst und komme nicht wieder! … Selig bin ich. Meine Sehnsucht ist rein. Die Schlucht stieß mich aus, einen gestählten Gottsucher! Ich vergaß die Zeit. Hunger und Durst, die schnellpfotigen Wolfshunde mit den springenden Zähnen, bleiben keuchend zurück – – ich schwimme im Licht – – mein Leib wird Licht, – wird rosiger Mantel, aufflammend in den Gluten des Morgens. – Der Gott ist in mir … ich bin nicht mehr ich, der schäbige Lump, – sein rätselhaftes Lächeln bin ich, das die Völker aufsaugt,– – ich bin Gott!

 

Niemand hat es bemerkt.

Andraes kleiner Handatlas steht da.

Ich blinzele verstohlen herauf, auf den guten, harmlosen Spießer, den Platzhalter! –

Herr Seeger ist tief gerührt. Um seine Augen ziehen sich einundneunziger Ringe. Nun gähnt er, der Normal-Unzüchtige, und hält sich nach zwei Sekunden in Erinnerungsresten von guter Erziehung die Hand vor den Mund. Dabei kann er es nicht unterlassen, mir eine mattbissige Bemerkung zum Frühstück hinzuwerfen – betreffend meine Verkaterung. – Dieser Halbidiot – Und er? – Ist meine Geliebte nicht schöner als seine einundneunzig oder seine vier? – Daß sie nicht so gutwillig mitgeht, – ist das ein Fehler? …

Der Chef ist ersichtlich schlechter Laune.

Er kommt nur hin und wieder so herein und billigt alles miß. Er kann die modernen Dichter nicht ausstehen. Sie fallen ihm auf die Verdauung und benötigen zur Abwehr der gebrannten Magnesia oder verdünnter Salzsäure. Dabei ist er durch sein Verlegertum gezwungen, ihr Kotauen mit anzusehen.

Fritz döst.

Er war offensichtlich noch in einem Kino und sieht wesentlich aufgeklärter aus.

Neutrale Käufer kommen und gehen.

Ein älteres Mädchen kauft einen Handatlas. Zwei Schulkinder hängen an ihren Flanken.

Ich fühle einen Schlag. Ein kaltes Schwert schneidet mich durch. Mein Herz setzt aus.

Zum Glück trödelt unser dritter Gehilfe heran. Herr Klatt. Er weiß nicht recht Bescheid. Der Handatlas ist leider nicht mehr am Lager. Er soll sofort nachbestellt werden. Und er notiert dienstbereit.

Das Mädchen, so etwas wie Erzieherin, geht hinaus, wie sie sich wendet, formt sich eine Linie aus Hals und Schulter, die ich gelesen habe. Irgendwie beim ersten Aufschlagen einer der schönen Frauen? – Beim Naschen? Bei den flüchtigen Streifküssen? …

Und ich fühle eine Sehnsucht in mir: wenn es doch nur erst Abend wäre! –

Ein paar Nächte der Liebe und dann viele Ruhe für eine Zeit. Ein mißgünstiges Herumschlendern auf den kalten Straßen, ein Nachsehen … Menschen, die angezogen sind und Rollen für andere spielen. Keine Götter – keine Geliebten! …

 

Ich fühle, daß ich tot bin.

Lange lebte ich …

Ich sah den Salzsee, den Kessel zwischen zwei Kegeln, wie er jung war und schwerer Wellenschlag. Eissalzkristalle kränzten die Ruder, zeichneten die Adern der Hand nach, und die Woge stand feststarr in der Luft. Ihr Schaumkamm blieb hängen und wurde zackiges Kristallgewebe …

Ich sah den Salzsee … Salzwüste werden, allmählich. Jahr für Jahr stieg mehr und mehr schwerer Dunst auf aus dem Kessel und ward zu den brennenden Wolken, die am Tage an dem ehernen Himmel Tibets hängen, und die des Nachts, herabsichsenkend, die jähen Eisstürme heulen lassen. Ich wurde gelaugt von den Stürmen, zerfressen von den Nächten, gestoßen von der Sehnsucht zum Nichtsein, daß ich mehr noch wäre als Buddha, der Gott, der ist …

Nun fühle ich, daß ich tot bin.

Drei Grabmönche sind am Werk. Schwerfällig, halb satt noch, strolchen die Geier herum und fegen den Steinboden mit ihren zerschlissenen Flügeln.

Ich stehe dabei, wie mein Leib zermahlen, zerhackt, zerpulvert wird, – wie Geier um meine Eingeweide sich flügelschlagend raufen. – – Ich stehe dabei.

– Schnell Geier! … Solange ihr mahlt, bin ich noch etwas von mir, habe noch nicht die Seligkeit des Verlöschens …

– Und nun … ich fühle das Glück, das über alle Dinge ist. Ich bin alle Berge und Wälder – und alle Sterne … und bin doch nichts. –

Denn das Sein ist eingeschlossen in das Nichtsein wie das Kind vom Leibe der Mutter. – –

 

Ich werde im Geschäft so ein bißchen durch die Zähne gezogen.

Die Witwe Amanda Schwabe hat sich vorsichtig nach mir erkundigt. Was ich hätte, und ob ich wohl Aussicht habe, dauernd hier zu bleiben. Ob sie wüßten, daß ich Geld habe? – Ich hätte wohl einen soliden, zuverlässigen Charakter. – Ich! …

Herr Seger meint ganz harmlos, die Witwe ginge auf Freiers Füßen. Ob man denn bald zu einer so soliden Partie gratulieren könne?

Er braucht bloß noch zu sagen: wir paßten zusammen, – und ich würde ihm … nicht an die Kehle springen. Dazu bin ich zu feige. Oder vielmehr: es würde sich nicht lohnen. Die Aufregung kann man besser gebrauchen. – – Darum aber wird dieses unzüchtige Mistvolk so fett und größenwahnsinnig, weil es seine Haut wegen des dümmsten Unfugs zu Markte trägt! …

Ich – und heiraten! Ich – mit meinen vielen Liebesverhältnissen! … Heiraten – Ehe … das unzüchtigste Verhältnis, was es gibt! – Wie ist es möglich, daß zwei Menschen Tag und Nacht zusammen sein können, ohne sich zum Halse herauszukommen und schließlich sich gegenseitig zu vergiften! Die Haut schaudert mir. Jeder ist doch für sich schon ekelhaft genug. Warum solch ein Zusammenhäufen von Scheußlichkeiten?

Aber – Frau Schwabe kann ganz ruhig sein. Deshalb ziehe ich nicht. An mir prallt das ab. Wenn sie nur meine Bude halbwegs hält, daß ich eine Bleibe habe. Schließlich ziehe ich auch, aber nicht gern, – es ist so langweilig. Man kommt immer in dieselben Verhältnisse. –

Unsere neue Kassiererin fängt auch schon an. – Fräulein Braun. Es ist immer dieselbe Hautgeilheit. Das nennt man nun natürlich. Weil der Bengel eine glatte Haut hat und einen Schnurbart: darum trauen sie ihm etwas zu. Das heißt dann Liebe. Diese Bestien! Wie sie das Wort notzüchtigen!

Dreimal macht er den geistreichen Witz: »Fräulein Braun, Sie sehen ja heute so blaß aus!« – Und sie lacht immer lauter und schamloser. Ihre Augen flitzen um die Ecke, – klebrige Lichter … Unzucht, nichts als Unzucht! – Pfui Teufel! Welche Linie wird sie wohl haben? – –

Man lebt so darunter …

 

Ich streichele das Buch. Seine Blätter knistern. Die Buchstaben winden sich, schreiten feierlich, erhaben leidenschaftlich … seidene Gestalten.

Meine tibetanische Geliebte kommt aus den goldenen Toren des Buchs hervor.

Sie ist nicht die Geliebte des Fleisches, – und doch liebe ich ihr Fleisch. Weil ihr Fleisch Flamme und Sehnsucht ward, liebe ich sie … die Schönheit des Hinscheidens, das Untergehen und Auslöschen in der Weißglut des einen Gedankens, der über alle Gedanken ist. Die Wollust des Entsagens lebt in ihr, die Liebe zum Verwelken, zum Untergehen in einem Gott, durch einen Gott hindurch zum Urgrund aller Götter, zum Nichts, zum Unaussprechlichen und Unausfühlbaren.

Ihre Stirn ist schmal, von der Farbe vergilbten Elfenbeins. Durchwachte Nächte schritten mit Traumfüßen darüber und ließen Hauchhüllen zurück von Spuren, so fein, daß sie nicht Schatten, sondern nur Lichtlinien sind. Ihre Augen stehen eng zusammen, ein wenig schräg, sind mandelförmig, überirdisch groß und dunkel. Ihr Mund ist schmal und blaßlila und hat das sanftzärtliche Sichhinabsenken des verwelkenden Rosenblattes.

– – So nahm meine Geliebte Abschied von der Erde. Von den Gipfeln des Transhimalaja hinab schritt sie, über Stromschnellen, durch Wüstendünen, an Salzseen vorbei zur goldenen Stadt Lhasa.

Der Machtinkarnation Buddhas, der Allmacht über Tibet, dem Dalai-lama, neigte sie sich von ferne, um Abschied zu erhalten von der Gewalt und ihrer Herrlichkeit …

Sie wandert weiter zur heiligen Klosterstadt Taschilumpo, und sie wirft sich hin vor den rotseidenen Vorhängen, die die Wortinkarnation Buddhas verbergen, den Taschi-lama. Sie hört noch einmal die Fragen der großen Priester, sieht die riesigen Götter und Dämonen, umfängt das goldgelbe Flackern der Butterlampen, die goldenen Räuchervasen und das im Dunkel schwimmende Gewimmel der verjüngten Edelsteingötter. Sie nimmt von dem Tee aus den Händen der Priesterschüler und steht schweigend in dem brausenden Gelärme des großen Festes. Ein schmales Seidenzeug, mit den sechs heiligen Silben bedruckt, hält sie in ihrer Hand und streichelt die magische Formel, das letzte Geschenk der Welt. – –

Dann geht sie hinaus in das heilige Gebirge und läßt sich einmauern.

Eine Butterlampe bekommt sie mit und die heiligen Bücher. Eine Schale Brei schiebt sich Tag für Tag durch einen schmalen Spalt. – –

Und dann versinkt sie in der Betrachtung …

Zuerst zählt sie noch Tage. Dann zählt sie nicht mehr. Zuerst fühlt sie noch Tag und Nacht. Dann verliert sie das Gefühl Zeit.

Zuerst ging sie noch hin und her, zwei Schritte – zwei Schritte. Dann geht sie nicht mehr. Sie sinkt vor den heiligen Büchern hin und hält sie in den winzigen Lichtkreis des gelben Dochtes.

Zuerst kann sie noch sehen und lesen. Dann liest sie nicht mehr und sieht sie nicht mehr. Denn in ihrem Gehirn leuchten die Fackeln der mystischen Zeichen. Sie braucht das zerscherbte Licht, aufgefangen durch den Irrtum der Augen, nun nicht mehr.

Zuerst fühlt sie noch das Nahen der Regenzeit. Denn der Fels ihres Gemaches wird feucht. Moosknollen setzen sich an. Sie fühlt noch den langen, beißenden Winter. Denn noch kälter und sichtbarer wird der Hauch ihres Mundes. Dann rauschen die Zeiten des Jahres für sie nicht mehr.

Zuerst blickt sie ein verflossenes Jahr noch an wie das Fordern eines neugeborenen Kindes. Dann wird ihr das Wort »Jahr« fremd.

Zuerst fühlt sie noch das Altern. Dann wird die Wärme des Blutes von ihr genommen, und sie weiß nicht mehr, ob sie rückwärts lebt oder vorwärts.

Zuerst weiß sie noch, daß sie lebt. Dann fühlt sie das Leben nicht mehr, und nicht mehr, daß »sie« noch ist. Sie deucht sich ein Odem des Gottes zu sein, der austrat in die Zeit und der kalter, sichtbarer Hauch wird und dann verweht, zurückgeschlürft von den Lippen Buddhas.

Sie ist nur Wimpel des Gottes. Sie ist nur ein heiliges Zeichen, eine Flamme. Einmal wehen die heiligen Silben noch durch sie hin wie ein fernes, unendlich gütiges Säuseln:

»Om mani pad me hum … «

Gegrüßt seist du, o Juwel in der Lotosblume …

Dann ist sie jenseits des Gottes … und dann – ist sie nicht mehr. – –

 

Welche Anfechtungen bietet das gewöhnliche Leben!

Morgen will ich das Buch wieder in seine Einsamkeit zurückgeben. Es soll wieder schlummern, und wenn es möglich ist, soll kein Unberufener den Schlaf des Buches stören. Leise nur sollen die Sandstürme durch die Blätter wehen. Das Läuten der Karawanen mag so fern klingen, daß nur das Ohr eines Träumers davon spürt. Aber ich wollte sie noch einmal bei mir haben. – Morgen erst. – –

Der Chef mit einem langen Menschen kommt nun herein und wird beweglich wie ein hungriger Blutegel. Die Shagpfeife im Mund, ganz lichte Augen, eine eigensinnige Stirn darüber, so stakst dieser Mensch im Laden herum und spricht kaum. Desto mehr plätschert der Chef. Auch Fräulein Braun, die Kassiererin, Linie 79, wie ich jetzt weiß, frißt ihn mit hungrigen Augen kalt herunter.

Es ist ein Globetrotter, ein Gipfelfrühstücker, ein Rekorder, der überall da sein muß, um dagewesen zu sein. Ein Mensch mit der eingefrorensten Phantasie. Kakikimono. Berühmt. Der Chef tänzelt. Berühmtheit ist Kognak für die andern. Er macht auf seine kostbaren wissenschaftlichen und geographischen Rarissima aufmerksam. Alte Reise- und Sittenbeschreibungen höchsten Reizes. – Da oben …

Ich mache instinktiv mein dümmstes und abwesendstens Gesicht, aber mein Blut friert ein. – Vielleicht als Dieb – oder mindestens sonderbarer Narr entlarvt zu werden, davongejagt – oder verspottet: das ist böse. Und das Verhältnis zu meiner Geliebten wird entheiligt.

Aber der berühmte Mann grinst nur, so daß ihm trotz seiner Gewandtheit die Shagpfeife um ein Haar aus dem rechten Mundwinkel trudelt. Er wolle nichts lesen. Er kenne den Schwindel. So sei er im vorigen Jahre in Tibet gewesen. Viel Geschrei. Aber eine elende, hundekalte Hochebene. Ein paar dumme Gipfel. Aber gar nicht mit dem Himalaja zu vergleichen. Mount Everest … Bloß scheußlich kalt. Die Menschen – alberne Sitten – und schauderhaft dreckig … Aber Dreck hält warm. – Dieser Lump! – Ich möchte ihm an den Hals! Weil er ungewaschene Augen hat, sieht er alles schmutzig! Er natürlich läßt alle Illusionen verhungern – dieser dünnblütige Latsch! –

– Doch – die wunde Stelle in der obersten Bücherreihe bleibt unbemerkt. Der Liebe muß alles dienen. – Und die Linie 79 wird wütend von Herrn Seeger mit den Augen gemaßregelt. Der Fremde ist in seinen Beritt gekommen! – – –

 

Ich weiß gar nicht, warum ich doch für so etwas wie einen sanften Narren gehalten werde. Verrückt bin ich offenbar nicht. Denn ich erledige meine Geschäfte prompt und döse nicht mehr wie jeder andere. Fritz ist mehr abwesend, Herr Seeger ist in Gedanken sehr oft bei einer Telefonkonferenz und gibt überquere Antworten, – sogar der normale Herr Klatt lächelt zuweilen so liebenswürdig-verbindlich in die Luft, daß er offenbar einen Star im Gehirn hat. Also – warum? Ich beherrsche mich doch! –

Aber es scheint eine normale Verrücktheit zu geben und eine anormale. Letztere wird Meschuggigkeit genannt. Der Unterschied liegt nur darin, daß nicht die Mehrheit eine solche aufzuweisen hat. Heilige vernunftgemäße Demokratie!

Wenn z. B. Herr Seeger jemand grüßt, so reißt er den Hut ab, verstaucht sich den Kopf mit den angrenzenden Gliedmaßen und scharrt mit dem Fuß hundemäßig. Ich aber, als ich in der Erinnerung auf gut tibetanisch die Zunge herausstreckte und mit der rechten Hand am Kopfe kratzte: – Was war denn da los? Ist das eine unnatürlicher als das andere? – Oder warum soll ich nicht einmal zu meiner Taschenlampe Taschi-lumpo sagen? – Sagt nicht Herr Klatt zu seinem Spazierstock: Hopla Cousin? – Oder Fräulein Braun zu ihrem Halskragen mit zärtlichster Stimme: Mein Bibi? –

 

Frau Amanda teilt mir heute mit einem holdseligen Lächeln mit, daß ihre Tochter Amélie – sie legt Wert auf den Akzent – gestern abend spät aus der Pension zurückgekehrt sei. Ich sage: »So so.« – – Denn es interessiert mich gar nicht. Oder doch. Es wäre mir peinlich, wenn ich dieser funktionierenden Mädchenmaschine mit meinem platten Gesicht in die Dunstweite käme.

Heute will ich das Buch wieder in sein Kloster zurückbringen, nachher, wenn der Laden dunkel ist.

Es ist so klares, kaltes Wetter. Sie werden wohl alle auf die Eisbahn gehen, weil den Eseln zu wohl ist – und des Glühweins wegen. Dann werde ich Zeit haben.

Die Erzieherin mit ihren beiden Anhängern spricht wieder vor. Der kleine Andrae ist immer noch nicht da. – Morgen wird er am Platze sein – ohne Nachbestellung. Wie sie hinausgeht, formt sich wieder die Linie – Hals und Schulter, – die ich irgendwo gelesen habe. Und nun, nachdem sie schon gegangen ist, fällt es über mich. So wandte sich meine tibetanische Geliebte, als sie mit ihrem Blick abglitt von der goldenen Klosterstadt Taschilumpo und ging, um sich in den Felsen einmauern zu lassen. –

Aber es ist unmöglich. Sie kann es nicht sein. – Und doch: – Wissen wir nicht, daß wir wiederkommen können – mindestens: zweifeln wir nicht, daß wir nicht doch wiederkommen könnten? Kann nicht von ihrer Seele etwas in den geprügelten Leib dieser Kindersklavin übergegangen sein und an ihren Gliedern geformt haben? – – Aber sie ist tot … Das würde nur dafür sprechen, – – doch sie ist weit mehr als tot, sie ist nicht mehr. Sie hat sich aus dem Höllenkreis der ewigen Geburten herausgeschleudert – und lebt nun nur noch als glühender Widerschein in mir oder in den Seelen derer, die auf sie abgestimmt sind, ein unwirkliches, aber wahreres Leben! Ich fühle, wie mein Blut wieder sich senkt und schwer wird wie ein Salzsee. So äffen die Augen! …

 

Nun ist es Abend.

Der Chef spukt noch einmal in großer Toilette und mit verdrießlichen Augensäcken herein.

Fräulein Braun singt halblaut das Lied: »Schatz, mach' Kasse!« … und mustert abschließend ihre herausfordernd geblümte Bluse. Sie zieht sich jetzt à la gamin an und frisiert sich à la Wahnsinn.

Herr Seeger gibt deutliche Zeichen von Verwirrtheit von sich. Dies ist einigermaßen unerklärlich bei dem sonst so selbstsicheren Regelfall.

Dann verschwinden alle.

Der Laden wird dunkel. Die Dielen recken sich wieder aufatmend. Die Bücher pressen deutliche Seufzer aus. Durch die Rolljalousie kommen zwei oder drei Lichtstrahlen aus der Laterne draußen. – Also … komm, Buch! Ruhe dich aus!– –

Ich lege die Leiter an und nehme die Taschenlampe.

Ich bin auf den Stufen.

Da kommt jemand in den Laden, hastig. Am Schnaufen höre ich den ersten Gehilfen bei den Mädchen.

Ich halte den Atem an und bleibe stehen. Was will der Narr hier? Muß mich dieses Vieh immer stören und mir zuwider sein? – Ich fühle eine tötende, kalte Wut in mir aufsteigen. Wenn er mich jetzt ertappte, – ich könnte ihm die Kehle durchbeißen, diesem Lump aus Natur, diesem emaillierten Blechtopf mit dem angepappten Bühnenschnurrbart!–

Aber er schleicht sich leise an die Ladenscheibe und will durch die Jalousieritze sehen.

Ich tappe hinunter.

Da fällt meine Taschenlampe und leuchtet auf.

Er fliegt herum.

»Mensch – die Lampe aus! – Was wollen Sie denn hier?«

Er hat also ein Interesse daran, die Personenlage zu verschleiern. – Ich werde sofort ruhiger und bewußter.

»Kann man nicht seine Handschuhe vergessen haben?« frage ich laut.

»Sst – seien Sie doch still! – Natürlich …«

Und nun erhebt sich draußen ein wütendes Gebelfer, zuerst hochdeutscher, dann dialektgemischter und endlich nur gemischter Ausdrücke. Zwei Mädchen kreischen diskant. Dann scheinen zwei Schirme ihr Leben auszuhauchen.

Der erste Gehilfe springt plötzlich gegen die Tür und lehnt sich an. Dann schließt er ab. Höchste Zeit! Draußen wälzt sich offenbar ein Klumpen gegen die Tür.

Entsetzliche Geräusche dringen herein. Dann noch ein paarmal ein Laut, halb Jaulen, halb Husten. Dann wird es stille. Es ist augenscheinlich, daß Linie 79 infolge falscher Weichenstellung mit Linie 35 oder 4 oder 91 in Konflikt geraten ist.

Der gestellte Weichensteller wartet noch etwas. Hierauf steckt er sich eine Zigarette an. Sein spitzbübisches Gesicht grinst beim Aufflammen des Streichholzes.

»Ruhe im Saal!« – sagt er. »Aber sie stehen draußen. Ich haue ab. Durch das Lager übern Hof – nach dem andern Ausgang. Morgen kommen sie mir schon. – Na – Kollege?« – fragt er wohlwollend. »Handschuh suchen, was?« –

»Ich werde meine Taschenlampe wieder anknipsen« – sage ich still.

»Um Gottes willen, Mensch! – Sie ruinieren meine Kinder!! – Erst, wenn ich fort bin!«

»Ach so« – meine ich. Und mutig, wie ich jetzt bin, überlegen durch die Situation, füge ich hinzu: »Sie singen wohl am liebsten nach Noten, nach dem Fünfliniensystem?«

Sein Mund wird frech, schnoddrig–, aber er besinnt sich und geht schweigend, gedämpft durch den Empfangsraum – ab nach dem Lager.

Und dann kommt auch das Buch zur Ruhe.

 

Frau Amanda Schwabe empfindet durchaus das Bedürfnis, mir ihre aus der Pension zurückgekehrte Tochter Amélie vorzustellen. Sie lauert mich direkt ab.

Mag sie.

Ihre Höflichkeit ist zwar frappant. Aber ich werde schon dafür sorgen, daß diese Weiber in der nötigen Distanz bleiben. Ich habe an meinen vier Wänden genug und mißtraue gesellschaftlichem Verkehr. Sie wollen dann etwas von einem. Ich aber will nichts von ihnen. –

Fräulein Amélie verneigt sich fürstlich und imponierend. Sie hat einen Spitzenschal um ihre angeblößten Schultern gelegt und sich glühend und fremdartig aufgemacht. Ihre Haut ist matt. Das ist aber auch das einzige Matte an ihr. Sonst ist sie offensichtlich in voller Form, handgeschöpfte Luxusausgabe – scheint mir. Aber ich bin kein Kenner in Frauen. Möglicherweise ist alles bloß Beleuchtung.

Nur eins ist sicher. Sie hat einen sehr starken Geruch. Nicht Parfüm – Natur! – Das ist mir irgendwie peinlich und störend. Es beunruhigt mich. Das Parfümieren der Frauen billige ich. Man kann sie danach unterscheiden. Das ist wie eine Ordnungsnummer. Aber dieser aufdringliche Naturfleischdunst … ist ekelhaft. Mir wenigstens …

Ich suche also irgendein Mauseloch, um zu verschwinden. Aber es ist keins da.

So muß ich sogar mit auf den Balkon und die Sterne bewundern. Das ist so ungemein wohltuend und ungefährlich für den harmlosen Menschen, da sie sich nicht wehren können. Wenn der Sirius spucken könnte oder der große Bär wie eine nicht intakte Fontäne! – –

Da fällt mir ein, ich habe ja ein Gedicht über den Sirius auf einem Einpackbogen stehen. Ein alter Korrekturabzug. Ich eile also, von dem Nachruf: »Das ist aber nett« begleitet, in meine Bude, um endlich einmal Zimmerluft zu atmen. Wir standen nämlich noch auf dem Balkon, ich natürlich im Überzieher. Frau Schwabe hatte hieran die Anmerkung geknüpft, daß ich im Schlafrock gut aussehen würde, was mich hilflos machte und zu dem Zitat reizte, daß ich wohl in jedem Kleid die Pein des Erdenlebens fühlen würde, worauf Fräulein Amélie einen großen Augenaufschlag versandte.

Was wollen sie bloß von mir? Ich bin ohnehin in einem Interregnum und daher launisch und gereizt.

Das Siriusgedicht fängt das Fräulein Amélie an zu überfliegen. Ich bekomme es aber alsbald mit einem Achselzucken wieder und werde gebeten, es vorzulesen, da ich es kenne. Es sei wohl interessant, aber … so – etwas überspannt – oder vielmehr eigenartig.

Ich kenne es. Der Verfasser sollte sich nicht so entblößen, – er sollte also nicht verfassen – genau genommen … Also lese ich vor …

 

Sirius.

Wie groß die Sterne sind, der kalten Nacht
      Eisige Augen …
      Als lägen hinter ihnen
      Gedankenbestien, lauernd, zum Sprunge
      Zusammengerafft,
      Zu packen und tragen uns und auszusaugen
      Das weiche Gehirn und auszublasen
      Wille und Wissen
      Wie Pfennigkerzen! …
Wie sind wir gestellt
      Schwebend, im Wirbel, in die Mitte der Welt!
      Aller Kräfte Bahnen
      Laufen durch uns und reißen uns mit,
Taumelnd, in Nebel, der die Sterne umhüllt.
      Nur im Erstarrten sind wir Schritt,
      Sind Maß und glauben, Ordnung zu ahnen! –
             Sirius!
      Du sogst mich ein!
In Eisennebel, in glühenden Schein
      Taucht meine Seele, wird überdampft
Von der Glut aufgärender Schwefelquellen,
      Durch rasende Kreisung zerstampft. –
      Der Himmel – brennender Äther –
      Hängt lohend in Wolkenwellen
      Ob meinem Haupt. In Lichtschlünde
            Stürz' ich hinab …
      Wie Sternentupfen vergessener Fernen
            Glimmern noch Worte,
      Die Eisenherrscher einst waren: –
             Liebe und Sünde –
             Leben und Grab …
      Wann gab es die doch? – –
Wie groß die Sterne sind, der kalten Nacht
      Eisige Augen, – flimmernd
      In hartem Glanz, wie Edelgestein, –
      Schräg blickend auf mich,
            – Abtrünnigen! …

Fräulein Amélie sagt lächelnd: »Was meint er wohl damit? Fällt einem denn wirklich so etwas ein, wenn man die Sterne ansieht? – Wenn es noch wirkliche Augen gewesen wären! Aber man weiß ja, diese Leute, – die Dichter – sind wohl alle etwas Phantasten, – alle unklar.« –

Ganz objektiv und aus meiner Erfahrung heraus muß ich ihr sagen, daß dem wohl nicht so wäre. Diesen Dichter kannte ich sogar …

»Nein – wie interessant« – bebt Fräulein Amélie hin. »Wie sieht er aus? Wie kommen Sie zu ihm?« –

Nun – das wäre einfach. Er hat einmal mit unserm Chef Rücksprache genommen wegen Herausgabe von Gedichten. Aber er sähe ganz normal aus, wäre sehr kühl und ruhig gewesen, und der Chef hätte ganz unheimlich geschimpft über diesen Literaten, der brillant rechnen könne. Er sähe nämlich den Dichter als seinen Rohstofflieferanten an, im besten Falle kämen ihm die Werke wie Halbfabrikate vor. Er mache Fertigfabrikate daraus. Die Konfektion läge ihm ob. Natürlich auch der Verdienst. – Dieser Mensch wollte sogar verdienen! – –

Und darauf ziehe ich mich in mein Zimmer zurück. Ich werde brutal, wenn ich hilflos bin. Das ist nur eine andere Form. Aber ihr Geruch, besonders der Dunst der Haare, ist so stark und irritiert mich so, daß mir ganz übel in der Kehle wird. Es scheint mir so, als ob das Weib ein ganz klein wenig fatal hinter mir herlächelte … Diese sich irrende Bestie! …

 

Herr Seeger ist etwas gedrückt. Aber er kommt langsam wieder hoch. Eine gesegnete Stehaufnatur! –

Herr Klatt lächelt seinen Spazierstock an. – Es ist alles wie sonst … Und ich gehe auch wieder auf Frauenraub aus …

 

Diesmal glückt es besser und schneller.

Ich habe gar keine Angst. Nur die aufregende Unsicherheit bleibt mir, – und die will ich haben. Ich möchte die indische Märchenwelt haben mit der silbernen Gürtelschließe. Aber es ist eine so schattende Dunkelheit in dem Laden, daß ich mich auch vergreifen kann. Doch gerade dieses Vergreifen gibt den wollüstigen Reiz des Abenteuers. Aus den Schleiern taucht eine noch schönere Schönheit … vielleicht.

 

Aus der großen See, der maßlosen Mörderin des Festen, die Sturm für Sturm grollt über den Abfall des Landes, – Abfall, obwohl es hinaufstieg, – – aus der verschlingenden Mutter tauchten die Inseln. Als hätte der Erdriese Kokosschalen geworfen, so liegen sie hingetupft. Aber sie sind Reste nur, Gipfelzacken von Vulkanen. In ihren abgesplitterten Spitzen siedelten sich Seen an, eirunde, schweflig und heiß. An den Rändern ist es tot. Aber Schritt für Schritt herum blühen aus den Spalten, die noch dampfen, blaue Blumen von Manneshöhe mit lechzenden Kelchen, eingehüllt in Schleier von Abgrundsdämpfen. – –

Meine Lampe schwelt hoch, und ich fahre einen Augenblick auf. Aber die Wände des Zimmers werden Rauch wie zuvor. Und der Rauch wird Meer. – –

In der Tiefe der Insel stehen die Kegelhütten hervor, von Dorngebüsch umschützt, im Kreis gelagert.

Ich luge hinter meinem Schild hervor.

Der Krieg ist ausgegraben zwischen meinem Dorf und den Männern des Dorfes am Meer. Sie gaben zwei Schädel nicht zurück von Kriegserschlagenen des letzten Kampfes, obwohl der Häuptling ihren Platz vorbereitet hatte auf dem Platz der Toten im Wald und sie gezählt waren mit Kerben auf dem großen Pflock. Der Priester unseres Gottes wartet auf sie, auf daß der Geist der getöteten Männer Ruhe fände und nicht umschweife und die Bäume der Toten beunruhige. Er findet die Schale mit Nahrung und den Krug mit berauschendem Saft nicht, beraubt die hinabgestiegenen Geister ihres Gutes oder wird sichtbar vor Hunger und Durst als schweifender Fuchs mit Feueraugen.

Die Männer vom Meer haben geleugnet und die heiligen Verträge geschändet. Ein eitler Häuptling will sie seinem Ruhm hinzutun.

So tänzelt mein Bogen auf der Schulter, die Pfeile schlagen die Lenden, eine flimmernde Muschel glänzt auf meiner Stirn. Die Männer meines Stammes gleiten die Schluchten hinab. Ihre schillernden Stirnfedern tauchen aus den Spalten wie Vogelblüten.

Der Lochpfad im Walde schießt durch wie ein Pfeil, schon von kreuzenden spitzigen Schlingblüten zerkratzt. – Spur in Spur …, daß nicht das Gekreisch der Paradiesvögel uns verrate! …

Wolken ziehen auf. Die Regenzeit will kommen. Wir müssen eilen.

Der böse Geist spielt. Mit den Fäusten knäult er die Wolkennebel zusammen, dichter, immer dichter und finsterer. Er reibt die Wolken aneinander wie nasses Holz. Sie knistern. Aus der Schwärze hüpfen Funken. Nun brennen die Wolken. Manauaua lacht. Aus den Winkeln der Welt kommt sein Gelächter wieder und prasselt zusammen. Tränen lacht der Grimmige. Es schütten die Wasser herab und hüllen den Wald in einen weißzischenden Dunst. Wir kommen nicht durch …

 

Fräulein Braun kann nicht dauernd zürnen.

Beharrlich liegen die Blicke des Normal-Unzüchtigen auf ihrer Bluse. Die beiderseitigen Blicke flicken an der zerrissenen Leitung. Was stellte den Kontakt her? – Ein Fünfuhrtee mit Gebäck und idealem Tanz erfüllte die Sendung.

Herr Klatt ist ganz schwermütig und Fritz wird frech. Er trägt einen funkelnden Schlips, gemeine Redensarten und Frauenzimmerverhältnisse zur Schau. – Auch er scheint ein Männlich-Normaler zu werden. Es ist gesorgt, daß alles beim alten bleibe. Die versandende Jugend sammelt sich alsdann in dem Becken der Ehe. –

 

Fräulein Amélie trägt sich schwebend und vornehm, wie es einem Wesen mit Akzent zukommt.

Sie beschäftigt sich jetzt mit der Wirtschaft und benutzt eine Tändelschürze.

Einmal kommt sie sogar mit ihrer Mutter unter Wahrung des moralischen Anstandes auf meine Bude und wundert sich über meine merkwürdige Bedürfnislosigkeit. Sie sieht weder eine Laute liegen, noch hängt da eine lange Pfeife. Ich habe auch keine Kissen auf Asien oder Afrika oder die Südsee gedeckt mit der Aufschrift: »Nur ein Viertelstündchen« – oder »Mamas Liebling«. – Amélie schnuppert herum und wundert sich.

Ihr Geruch ist mir beängstigend. Ich sehe sie förmlich als Tier auf allen Vieren herumlaufen und ihre Hautmarke von sich geben. Ich habe ein Würgen in der Kehle und fühle mein Herz schlagen. Es ist scheußlich! – Ich werde doch wohl ziehen müssen! – Vielleicht mache ich einen Umweg zu einer anderen Gegend und studiere die ausgehängten möblierten Zimmer …

Mein Schafspelz ist ihr ein Gegenstand stillseliger, warmüberglänzter Heiterkeit. Die Witwe Schwabe, eine entrunzelte Bärbeißige, mustert mich messend und laurig und empfiehlt nachträglich Naphthalin …

Sie sollen mich nicht stören – abends nicht – und nachts nicht, wenn mein geliebtes Buch auf mich wartet und mich umhüllt, – wenn die Gestalten der einzig lebenden Frauen um mich sind.

 

Wir schleichen durch die Grasebene, die blüht von Schmetterlingen, – den Bogen vorgestreckt, den Schild auf dem Rücken, die Pfeile gehalten. Geduckt sind wir, daß das Gras über uns rauscht.

Sie lagern vor ihren Hütten und trinken.

Ein Späher schlich sich durch den einzigen Pfad des schwankenden, grünen Sumpfes und sah sie. – Wer von uns abirrt, den umfäden zähe Wurzeln, geknotete Halme umschränken ihn, erstickt, erdrosselt, den Mund voll Schlamm, schlürft ihn der Sumpf ein.

Rauch steigt aus dem Feuerplatz hoch. Gesang von Trunkenen. Die Weiber tanzen …

Wir stehen lauschend, gierig, – und zählen die Köpfe. Zwischen den Flammen wirbeln die nackten Körper mit den Knöchelklappern und dem lohenden Schurz.

Da sehe ich sie vor mir, die in den Hütten für mich den Palmwein kocht … die Palmstämmige, kochenden Wein in den Adern, mit den glitzernden Augen und dem einzigen Duft ihres Leibes, der schwingt … durch Wälder, über den Grassumpf Meilen … zu mir und mich aufbrennen läßt nach ihr. – –

Das ist süß: den Feind zu sehen und das Weib zu fühlen – töten und schaffen …

– Gebrüll aus den Hütten – erlöschende – vertaumelnde Flammen der Weiber … da jagt mein Speer durch die Brust des wildesten Feindes. – –

Ich schlage das Haupt ab. Die Freude schießt auf aus mir in jubelnden Strahlen wie das Blut aus seinen durchschnittenen Röhren. – Ich tanze den heiligen Tanz des Sieges, ehrfurchtsvoll besehen von den Kriegern.

»Wer ist der, der hier am Boden liegt, zerscherbte Schale, zerteilter Halm?« – –

»Telaioruru – Telaioruru, …« tönt es dumpf zurück, dumpf und heulend gleich dem Beben einer schweren Trommel aus Menschenhaut.

»Wer durchstach ihn, den Tapferen? Wer raubte sein Haupt?« – –

»Inatetanka – Inatetanka,« – schmettern es die Krieger meines Stammes, stolz, rauschend gleich dem Hall des Pfeiles auf Eisen …

Und ich trinke das Blut aus den Adern des Helden, auf daß er geehrt werde durch seinen Besieger und seines Lebens unbändige Kraft nicht im Sande verdorre, sondern lebe in mir und eins werde mit mir! – Das ist die heilige, liebende Rache, die aufschafft zwei Feinde in einen höheren Krieger, eines Mannes Unsterblichkeit!

Und ich stürze hin und esse das Herz und die Lenden des Telaioruru …

Telaioruru – Inatetanka – bin ich jetzt, mit der Kraft und der Sehnsucht zweier Männer. Es tanzt die schwarze Geliebte durch mein Blut, Wenamiti, die Weinbereiterin. Siegesfest! …

Rasselndes Kreisen um die hochgepflanzten Schädel, die Lust des Quälens an gefangenen Weibern – Speerwurf zur Rechten, zur Linken, – hauptstreifend – das Geheul der Trommel und das gellende Pfeifen der Knochenflöte.

Rausch! …

Das Brüllen des Siegesgesangs stößt mit Fäusten an den Himmel, betäubt Manauaua, den bösen Gott mit den raubenden Fingern … So stehen die großblumigen Sterne der Nacht am Himmel, silberne Pflöcke, an die wir unsere Lust schleudern!

Telaioruru-Inatetanka-Wenamiti bin ich – Tote und Lebende, Mann und Weib sind eins im Genuß. Ein Mund, ein Arm, ein Hals, ein Schenkel sind wir! Die Haut zerblies vor der Glut unserer Küsse. Blut fließt in Blut – ein Rhythmus … ein Wogen, – ein Schäumen in gleichem Schlag! …

Mehr! … Mehr! …

Wir tranken die Sterne, die Wälder, die Grasebenen in uns hinab. Wir schlürften den Himmel, die Wolken, die Schönheit der Vögel, das blutgierige Schnüren des Dingo, den heimlichen Zorn des Sumpfes … Den Sturm griffen wir und preßten ihn ein in uns … Ich bin nicht mehr ich: der Sieger. – Sie ist nicht mehr sie – – die Weinbereiterin, meine Geliebte: – wir sind nicht mehr wir. – Wir sind alle alles, Männlichkeit und Weib, die Welt ein Schoß – ein Mund …

Rausch! – –

 

Herr Klatt ist heute nicht im Geschäft.

Das ist recht unangenehm. Denn gerade heute kommen viel Käufer, und ich muß hin- und herspringen, obwohl ich mich auch etwas müde von dem Rausch fühle. –

Um 11 Uhr etwa kommt die Wirtin von Herrn Klatt, aufgelöst, erschöpft, bleich vor Entsetzen und Neugierde, und berichtet, daß ihr Mieter gestern abend nicht nach Hause gekommen sei. Heute morgen sei er im Kanal gefunden worden. Weil er mit einem jungen Mädchen sich nicht habe ehelich verbinden können aus Geld- und Genehmigungsmangel der Eltern, hatte er den mehrfach benutzten Strick um sie und sich geschlungen und das tiefere Wasser aufgesucht.

Ich bin ganz überwältigt. Ist dieser gleichmäßige Mensch nicht im höchsten Grade wahnsinnig gewesen? Sich wegen eines lebenden Mädchens umzubringen? – Und da spricht man von korrekten Menschen! –

Der Chef ist sehr indigniert. Der Name seines Verlags wird auf eine ungünstige Weise in der Öffentlichkeit bekannt, – eine ihm unpassende Reklame! –

Der erste Gehilfe bei den Mädchen wird blaß, macht einen Augenblick ein Gesicht, als hätte er eine Attacke von Zahnreißen, sieht Fräulein Braun an, Fräulein Braun sieht ihn an und fängt eine Träne mit einem Taschentüchlein mit Hohlsaumstickerei auf, – und dann sehen sie sich wieder an – und lächeln. Es wird die stillschweigende Übereinkunft getroffen, als Cantus auf das Leben heute abend ins Theater zu gehen. – O – diese Normal-Unzüchtigen!

Fritz erhält einen Rückfall in den Jungen, in dem er eben noch steckt, und heult los. Darauf brennt er sich zur Bekräftigung seiner Männlichkeit schamvoll eine Zigarette an, im Laden … mit Publikum! –

Und dann wird eifrig, mit sehr starker Ehrempfindung, zu einem schönen Kranz gesammelt …

Aus alledem geht hervor: einmal, daß es kaum einen sogenannten Normalen gibt, und zum andernmal, daß das Leben sehr schnell Haut über Wunden wachsen läßt. –

Ich – kann mir diesen Klatt gar nicht vorstellen. Er hatte so etwas Ungedrucktes an sich – und tut dennoch so eine Tat! – – Ganz merkwürdig! …

 

Fräulein Amélie erleidet heute abend einen leichten Ohnmachtsanfall.

Dabei ist sie zuvor noch sehr auf der Höhe. Sie meint, meine so sehr verlästerte Nase ließe sich doch ausbessern, ausgleichen! Es gäbe doch so etwas zum Einspritzen unter die Haut, das nachher kalt würde und wunderbare Nasen hervorbrächte. – Aha! – Also paraffiniert! – Man dürfte sich dann aber nicht in den Tropen aufhalten!

Frau Schwabe formiert ein runzliges Lächeln und läßt Sonne auf uns ruhen.

Sie haben etwas vor – denke ich mir. – Aber was? – Anborgen? … Lächerlich! … Ich habe nichts. – Oder heiraten? – Mich? – Den omnipotenten Impotenten? … Dies hoffte ich bisher zu sein, – – wenn nur nicht der Duft dieses Weibes ein so aufstachelnd-lähmendes Gefühl über mich brächte! – – Ich … heiraten? – Und Amélie? Mich? – Was soll sie mit mir? – Was soll ich mit ihr? – – Ich, der unglücklich ist, wenn er nicht zwölf Stunden von den vierundzwanzig allein ist, ich Fernliebender, – ich, dem übel wird in dem Dunstkreis von Menschen, – ich, der schaudert in der Hautnähe? – Und nun wird ihr plötzlich schlecht und sie taumelt an meine Brust. Ich schreie auf vor Schreck und lasse sie in einen Stuhl fallen, – Schlangenhaut und Duft meiner schwarzen Traumgeliebten Wenamiti …

Jetzt fällt die Erkenntnis ihrer Macht über mich – –, und ich stürze in mein Zimmer …

 

Und nun kämpfe ich meinen schwersten Kampf, den ewigen Streit zwischen himmlischer und irdischer Liebe! Ich, der Unterdurchschnittliche, fast Häßliche, ausgespien von der Familie, höhnisch oder doch lächelnd geduldet von der Gemeinschaft Menschheit, – ich, der Freund von vier Wänden, der Liebhaber von Traumfrauen, der Verzehrer von Buchgeliebten, – ich, der ich mein Leben ausbalanciert und an einen Haken von Weltnützlichkeit und Gewohnheit das inwendige Reich meiner absonderlichen Seele aufgehängt habe, – ich, der ich meiner sicher zu sein glaubte und so auch der Welt, – ich, der ich die große Ironie zu haben glaubte, die es gestattet, das Gehirn in den Wolken zu haben und doch die Füße sehen zu können: – – ich habe zehn Stunden, um mich aus den Wirbeln eines Zusammenbruchs zu retten – oder unterzugehn in Sklaverei! – –

Alle meine Geliebten schreiten auf den grauen Wänden vorüber, alle, die ich besaß und ewig besitzen werde, weil sie nicht von dieser Welt waren, sondern Kinder des Buchs, der feinsten Essenz der geistigsten Menschheit, und Kinder meiner von allen Säften genährten Traumnacht! – –

Die heilige Klara mit der unbändigen Liebeskraft ihres katholischen Herzens, die großen Mätressen französischer Könige, die einsame Herrscherkönigin aus dem ägyptischen Grabe, die assyrische Männermörderin, die byzantinische Kaiserdirne mit der strengflimmernden Mosaikherrlichkeit, meine tibetanische Geliebte aus den goldenen Toren – – alle, die ewig sind und ewig entflammen, weil sie durch den Schlund des Todes schritten und das Verwesliche ausgezogen haben, um das Unverwesliche anzutun: sie nicken mir mit ihrem rätselhaften Lächeln zu, bekannt – –, aber unmächtig wie durchscheinende Sternbilder hinter jagenden Wolken. Denn ich kann ihnen heute die Schale meines Blutes nicht reichen, auf daß sie Leben schlürfen! –

Eine von ihnen steht im Bunde mit diesem lebenden Weibe, – diesem sich drehenden, aufgeputzten, eitlen, dummen, schlauen Körper: meine schwarze Geliebte gab ihren einzigen Duft, den betäubenden Hauch der Blumenwälder, voll von zeugendem Leben, von dem Drang nach Empfangen und Schaffen. – – Das macht den Kampf zum Kampf, läßt ihn erst möglich werden, den letzten vielleicht, die große Versuchung!

Ich bin nicht dazu da, schnatternd im Getriebe zu laufen. Ich schliff meine Zunge und meine Gedanken scharf, um mich zu retten. Ich, der normale Anormale, der noch nie einen normalen Normalen sah! …

Ich lache! … Im Spiegel sehe ich das grinsende Verzerren meiner ohnmächtigen Fratze, und es scheint mir, als höbe sich hinter mir dies volle Weib herauf, von der Machtaureole ihres entnervenden Duftes umflossen wie von einem Heiligenschein … Die holde tibetanische Blüte des abwelkenden Fleisches leuchtet – sanft und zärtlich, – fern …

Ich speie den Spiegel an, … aber dies Weib lächelt höhnisch! …

 

Am Morgen finde ich mich in der Südsee, unausgekleidet, erschöpft.

Ich gehe ganz früh fort und schleiche zum Geschäft. Meine Kollegen, auch der Ersatzmann für Herrn Klatt, ein dicker Mensch mit zwei furchtbaren Händen, bemerken mich ironisch. Es scheint, sie haben noch weiter spioniert mit der ganzen Neigung zur Erkenntnis ihres Mitmenschen und mit der ganzen Neugier des Viehs.

Sie sprechen so obenhin von einer alten Witwe, die für ihre pompöse Tochter einen Dummen suche. Denn sie sei schon etwas angegangen.

Angegangen? – Es fallen mir Schuppen von den Augen. Aber das kommt jetzt zu spät und ist unerheblich. Der Kampf liegt tiefer.

Fritz, als der Aufgeklärte, spricht davon, wenn so ein Weib im dritten Monat sei, werde immer ein Dummer gesucht, dem man weismachen könne von Frühgeburt und so –, einer, der nicht rechnen könnte und überhaupt dumm sei!

 

Meine australische Geliebte ist treulos. Ich habe das Buch bei mir. Ich will die Tibetanerin nehmen wie eine Schutzheilige, und es gelingt mir sogar, daß ich eine Zeit allein bin, da Fritz Bier holt, Herr Seeger sich für eine Weile entfernt, um eine Zigarette zu rauchen gegen das Einschlafen, der neue Mann nebenan in Familienangelegenheiten ewig telefoniert und Fräulein Braun, erschöpft von den Wonnen des gestrigen Abends, fest an ihrem Kassenschalter schläft. – –

Ich zittere – und bin entschlossen – und habe sie …

 

Wie ich zurückkomme in mein Zimmer, empfängt mich Frau Schwabe, und alsbald taucht Amélie auf.

Ich vermeide es, sie anzusehen. Aber sie sagt schmelzend: »Mein Gott, Herr Tschammer, – wie sehen Sie aus? Fehlt Ihnen etwas? Sind Sie krank? Haben Sie Fieber?« – Und sie faßt meine Hand. Der warme Blutstrom des diesseitigen Lebens umkreist mich. Ich fühle, wie sich ein Schwindel über mich senkt. Da – wie mein Blick erlöschen will, fange ich im Flurspiegel ein Bild auf. Frau Schwabe grinst triumphierend, Fräulein Amélie lächelt scharf und befreit … Ich fühle die Tibetanerin im Arm. Eine Kraft aus der Phantasie durchströmt mich. Ich schlage dem Weib die freie Faust ins Gesicht …

Sie schreit. Die Mutter wütet, – – und – ich bin gerettet! …

 

Die beiden Frauen schweigen wohl.

Was noch nötig ist, ist Technik.

In einer halben Stunde habe ich meine Sachen fertig, zahle die Miete für einen Monat und suche irgendein Zimmer. – –

Das goldene Buch ist kostbar.

Der Chef hält mich für überspannt, als ich dieses seltene alte Werk erwerben will. Mag er. Wer wäre nicht überspannt nach irgendeines andern Urteil?

Aber ich habe meine Tibetanerin, meine Schutzheilige! Daß sie die Ersparnisse von sieben Jahren verschlungen hat: was will das heißen! Diente nicht Jakob um Rahel auch sieben Jahre – und sie war ein irdisches Weib? …


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