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Andreas Scherwich saß zum ersten Male nach dem Tode seiner Frau in einem Speisehaus.
In den letzten Wochen hatte er seine Bibliothek und seine Laboratorien fast nicht mehr verlassen. Aber auch in ihnen fühlte er sich fremd, verloren, zerschnitten, eine blutende Hälfte eines Menschen, mit abgerissenen Gedanken und Gefühlen. Aus seinem Körper und aus seiner Seele schienen sie herauszuhängen, verworren und geschleift, wie die spannungslos klirrenden Kupferdrähte eines Gestänges, von einer Riesenschere mit einem Druck durchbissen. – Die Ströme seines Innern hatten ihren seligen Kreislauf verloren. Aus den schmerzenden Nervenenden tropften sie in einen toten Raum. Das Licht seiner Bücher war erloschen. Die Wunder der Reagenzröhren, der Retorten, Schalen, Walzen, Kämme und Drähte schwangen nicht mehr um ihn. Das geheimnisvolle Sprachknistern der elektrischen Funken sang nicht mehr durch die verdunkelten Räume – – seit sie tot war! – Sie sollen sein ein Fleisch … mehr … ein Forschen, ein gleichgerichteter, einander stärkender Strom, zwei sich bindende und kulminierende Magnete! Das Gemeine war nicht gemein zwischen ihnen, das Seltsame leicht und alltäglich geworden! Ein gefühlsmäßig ausgewogenes Neigen und Beugen, Fordern und Fördern, Schreiten und Zurückhalten war in ihnen Doppelschritt, Pol und Pol flammend sichtbar geworden in dem mystisch geschwungenen Lichtbogen ihrer Tage … Der Tod zerriß den Vorhang des Tempels von oben bis unten. Der Tag verlor seinen Sinn. Die Forschung war ein Spielen mit Papierschnitzeln geworden: Das Lebendige hatte sich aus seinem Leben zurückgezogen und ein hungerndes, frierendes Vakuum zurückgelassen.
Seine Schüler und Weggenossen hatten nur auf das Ausbluten, auf die absondernde und wundenschließende Macht der stupiden Gewohnheit hoffen können, darauf, daß das Dauernde noch immer stärker gewesen sei als das Vergangene …
Der tierische Trieb des Hungers hatte ihn heute überwältigt. Zwei oder drei Nächte war er umhergeschweift letzthin, am Himmel in dem wissenlos gewordenen Spähen des Kindes nach einem neuen Stern, nach ihr, suchend als vermöchte er eine Lichtsprache zu erzwingen, jenseits und höher als die erblindete Weisheit. – Einmal war es ihm, als glitte Anna vorüber, ein weißes Huschen zurück …, und das Blut seiner Sehnsucht schmetterte ihn vorwärts. – – Aber es war eine Dirne mit dem Phosphorleuchten der Verwesung in den Augen, – und doch fehlte wenig, daß er wie ein bettelndes Kind mit ihr gegangen wäre. – –
Unten strömten die Menschen. Er sah über den Platz. Es war wirklich, als hätten sie etwas zu tun. Die Spiegelscheibe schnitt den Lärm ab. Lemurenhaft jagten Wagen, Pferde, Bahnen, gestopft mit zappelnden Menschen … Züge von hastenden Leichen. Dann stieß ein Kellner ein Fenster auf, und Wellen von Geschrei und Leben schlugen körperlich wie sausende Kugeln an seine Stirn. –
Ein leiser, erwachender Strom in ihm antwortete.
Er erschrak und hatte das Gefühl einer lästerlichen Entweihung. Und doch hing er ganz leise wieder mit dem Leben zusammen. Eine peinigende Scham brannte auf. – Eine Bouillon … ein Kalbsbraten … die tierischen, saftstrotzenden Zellen zwischen den Zähnen – – das konnte den immateriellen Schmerz überwältigen oder doch zurückdrängen?
Der Wolkenduft starken Kaffees glitt auf ihn zu.
Und nun fühlte er ein leises Klopfen an seinen Sohlen wie von warmen Fingern, ein rhythmisches Spielen hin- und herschwebender Blutbälle, während sein Leib und sein Haupt noch von Eisbinden umwickelt schienen. Die dämmernde Tiefe seiner Laboratorien schlug plötzlich vor ihm auf, ein grau verhangenes, kaltes Wissensauge … Die weiße Jacke des Kellners und sein hüpfendes Tuch zerschlugen das Bild … An seinen Füßen rief es: »Lazare – komm heraus!« … Aus der Verwesung von Jahrhunderten stieg er, die vermoderten Tuchfetzen um seine erstarrten Gelenke …
Aber doch fing er an zu leben. – –
Ein Buch lag auf dem runden, gekitteten Steintisch aufgeschlagen. Die Buchhälften legten einen Verband auf die zersprungenen Tischwelten, als brächten sie eine kühne und neue Brücke. – Ein Band Nietzsche …
Andreas Scherwich hatte ihn gedankenlos aus einem Fach genommen, dazu aus einer Ecke einen Spazierstock, ohne zu wissen, was er tat. Die angerufenen Gesellschaftsnerven hatten ganz einfach alte Gewohnheiten reproduziert. Zutiefst war vielleicht der Druck einer Erinnerung wirksam. Vor zwanzig Jahren wohl hatte er zuerst diesen Band gelesen – die Geburt der Tragödie …, an einem Kaffeehaustisch, versunken in einem Dom, taub für die Händlergespräche und die zischende Lüsternheit der Blicke …
Die Dämpfe des Kaffees zogen darüber. Die Lettern schimmerten hindurch wie Sterne aus Wolken lehnen.
Er las …
Es tauchte die köstliche Empfindung auf, die von zwanzig Jahren früher, als käme der Duft einer neuen, blühenden Ewigkeit auf ihn zu, einer paradiesischen Schöpfungsinsel. Aber: – er las jetzt das Vorwort, jene kostbaren Zeilen, schon angeleuchtet vielleicht von der Fackel des Wahnsinns, doch ein freudiger Rausch von jung erschaffenen Worten und Weisheiten, – und wieder blühte aus den alten Schränken der Erinnerung, zarter und luftiger, der Blumenduft jener köstlichen Empfindung auf. – –
Nun lag er in einem Wiesengraben im Walde.
Anna saß neben ihm. In dem feuchten Grund strotzte das Gras hoch. Auf den zitternden Halmen schaukelten sich die Wolken, weiß, Sommerwind in sich, und von den Kiefernwäldern jenseits des Wiesenrandes schwang wiederklingend das Brausen der herben Wipfel, als hätte die Vergessenheit Stimme bekommen. Amseln flirrten. Ihr Flug glich einer huschenden Kette von blühenden Funken in einer luftleer gemachten Röhre.
Ein Band Nietzsche wieder.
Der Wind blätterte die Seiten um, ein neugieriger Freund, und ein seltsamer Falter schwamm bunt und geheimnisvoll auf den lauen Wogen und schaukelte sich auf den neuen, tanzenden Erkenntnissen. Damals schien es ihm, als wäre der Geist des fröhlichen Suchers wiedergekehrt und bei sich selbst zu Gaste, um aus dem Wabenhonig der eigenen Zeilen zu saugen. – –
Annas Haar deuchte ihm das unerhörteste Kunstwerk, das blonde Aufleuchten die wundersamste Verknüpfung von Lichtzahlen, wie es sich bog, im eigenen Glanze schimmernd und die Welt um sich reflektierend, jeder einzelne blonde Faden das einzig vollkommene, unzählig-flächige Prisma. – Das Spiel in ihrem Haar – zu jener Zeit – war ihm la gaya scienza – – damals – Andreas Scherwich erhob die Augen.
Telegraphendrähte schienen an den Scheiben entlang zu laufen. Aber das starke Glas war unbarmherzig. Das Gefühl war ihm mit der Luft ausgewalzt worden. Die Drähte klagten – unhörbar, abgebrochen, gespenstisch, verzweifelt … »Wir können nicht hinein … – Wir können nicht hinein! – Wir verloren den Weg. Deine Augen glauben nicht mehr an uns. Wir sind nicht mehr wir! Wie sehen wir aus in deinen Augen? Zerbrochen, zerknittert, – ein schielendes Durcheinander das gradglatte, fröhliche Kupfer!« – – Abgelenkt zum zweiten Male … murmelte Andreas gedankenlos vor sich hin, – und dann stürzte mit einem sausenden Schwert die jähe Erkenntnis auf ihn: Anna ist tot – mehr als tot – schlimmer als tot! – Nicht ein Zug mehr ihres einzigen Leibes ist da, nicht ein Widerschein ihres Lächelns – nicht ein Gran ihres Fleisches! – Verwandlung: – eine blühende Rose … das Auge eines Rehs … breit grinsendes Maschinenöl … das giftige Knistern eines Zeitungsblattes – – aber nicht sie! …
Vor seinen geschlossenen Augen quoll ihr Sterbeleib auf, ward wimmelnd, durchbohrt von tauben, sich krümmenden Würmern – – da hob er zitternd die Augen auf – und starrte in das tote, offene Auge eines Fisches auf einer Platte neben ihm wie auf das Haupt des Jaokanaan …, starrte mit vorquellenden Augen, – und alles eigene Leid stürzte ab, ward zerstaubt vor dem ungeheuren Schmerz einer Welt in den Augen des toten Fisches! – –
Aus Leben war es der schilfrige Grund für Reflexe geworden, war tot geworden, um Spiegel sein zu können! Starres, blätterndes Email, Ringe, schon von der Verwesung angeküßt, die hinter ihnen lag und fett-zufrieden den Raub in sich hineingleiten ließ! – Ein Hauch noch von Leid glänzte in ihnen, von dem schneidenden Schmerz, als der Haken in das Fleisch riß und die Kiemen durchbohrte – – Diese toten Ringe waren die Welt, die immer und immer durchbissen wird, um auf die Platte gelegt und Genuß zu werden!
Stern in Stern gesenkt, sprach das verwesende Leid zu Andreas. Die stummen Worte hallten durch seine Seele wie die Donner des Gerichts. Nie war ihm ein Wesen näher und Nächster gewesen als dieses abgeschnittene Fischhaupt! …
Endlich konnte er das erregende Flüstern nicht mehr ertragen.
Er erhob sich und stürzte hinaus.
Das wehende weiße Tuch des Kellners schoß sofort aus einem Winkel heraus und machte sich an die Verfolgung. Andreas fühlte an seinen Füßen den Widerwillen der Treppen, als er hastig und schwer herunterstampfte. Sie knarrten und bogen sich. Ein Nagel riß wütend nach ihm. Dann umhüllte ihn ein Menschenknäuel wie eine Wolke.
Der Kellner fluchte wie ein Mensch. Dann aber stieß das sich überstürzende Tuch den Spazierstock Scherwichs um. Der Kellner entrunzelte sich und grinste breit und befriedigt. Eine schwer silberne Krücke … Er war gedeckt … Also nur verrückt, nicht Zechpreller! – –
Andreas Scherwich kreiste in der Wolke von Menschen. Straßenjungen hielten ihn für einen Betrunkenen und fingen an, hinter ihm herzulaufen und seine Gebärden nachzuäffen. Zwei oder drei gesetzte Leute schüttelten den Kopf und blieben ernsthaft und nachdenkend stehen. Sein Hut als das Zeichen menschlicher Würde und Selbstsicherheit trennte sich im Bewußtsein, von beiden der Gentleman zu sein, von ihm und machte sich selbständig. Ein Staubwirbel pfiff durch Andreas' Haar. Er griff in die Luft und blieb dicht vor einem zerlumpten Weibe stehen. Das Weib hatte Elend, Gemeinheit und Ekel im Gesicht, ein grindiges Kind auf dem Arm und zwei stolpernde Kinder an ihrer fettigen, zerrissenen Schürze. Andreas starrte das Kind an. Aus einem Kreise von Schorfflecken schlug sich ein wissendes Auge, Jahrhunderte alt, mehr, eine leidende, abgelaufene, erstorbene Ewigkeit im Blick, und bannte ihn fest. – – Die Ringe des toten Fisches, noch trüb lebendig, aber schon mit dem Wissen um das Untergehen! –
»Warum wurde ich geschaffen?« – schrie das Auge. – »Zeugen ist Sünde, da in der Zeugung der Tod sitzt. Sünde mal Sünde aber ist Lust, wenn sie das Kranke Krankes gebären macht!« –
»Ho« – pfiff eine Stimme in Andreas' Hirn – »was quält sich das Gelumpe und speit Vorwürfe? – Da die Mutter war, muß das Kind sein! – Logik! Logik! …« »Recht, recht!« – kullerte selbstzufrieden und würdig ein Gedanke. »Es kann nicht der Zweck des Seins sein, Nichtsein zu sein! … Tolles Sprachgeholpere, nicht? Wo bliebe denn die Religion und die Würde des Menschengeschlechts, wenn jeder rhachitische Blutstropfen die Natur Streckbetten könnte und nach dem Grunde des Urgrunds fragen? – Nur nicht abgehen vom Winkel! Dann schon lieber Zickzack. Das kommt noch manchmal ans Ziel. Aber Logik, die sich im Anfangswinkel irrt, wird kompletter Unsinn … Fein – was?« – –
»Was lindert mich das?« bettelte das Auge des Kindes. »Wenn einer etwas tun mußte, weshalb muß ich sein?« »Sinn auf dem Grunde des Unsinns. Logik auf den Trieb gepflanzt. Kultur gepfropft auf die Bestialität – – der abgeschnittene Fisch … Früchte!« – heulte es um den starrenden Andreas und stieß ihn weiter.
Es schien ihm, als wäre der Staub fortgesetzt feindlich gegen ihn gesinnt und bemühe sich, ihn gegen einen Baum taumeln zu machen. Eine knorrige Gabel von Ästen streckte sich aus. Da ließ ihn ein Duft im Laufen stehenbleiben.
»Narzissen, schöne Narzissen … kaufen Sie schöne Narzissen, junger Herr!« schilpte die Verkäuferin und hielt einem Arm mit einer Dame daran und einem linksseitigen Spazierstock die Blumen hin.
Das Dazwischenliegende blieb stehen, unwillig halb. Aber die Dame witterte entzückt.
»Die Blumen hängen so – die Köpfe« – sagte es.
»Junger Mann,« schoß Andreas wütend auf ihn zu, »sehen Sie nicht, daß die Narzissen sich schämen?«
»Wie – meinen Sie?« prallte es.
»Sehen Sie nicht, daß sie weiß sind vor Scham? Ihre Schönheit stellen sie bloß wie Hetären, um aufzustacheln und anzureizen, müssen sie ausbieten! Ihr Duft, ihr Honig ist eine schamlos bemusterte, bebilderte Straße zu der Zweckorgiastik ihres sündigen Schlundes! Ihre Schönheit ist ein Nebenprodukt zu dunklen Zielen. Und Sie – Sie kaufen die Narzisse und bezielen das schöne Nebenprodukt an Ihrem Arm. – Wozu – wozu?« – – »Es scheint mir« … stotterte es entrüstet und ängstlich, »es scheint mir … Sind Sie verrückt – Was – wollen Sie?« – –
»Wollen, wollen,« sprach Andreas, plötzlich entsetzt, vor sich in die Luft. – »Was sagt er? Kann er denn wollen? Kann überhaupt einer wollen?« …
Er lief weiter.
Das junge Mädchen nahm es fester. Die Narzissen gingen den Weg alles Fleisches …
Andreas Scherwich wurde von seinem aufgewühlten Gefühl weitergetrieben. Aber ihm war, als hinge sich der Asphalt an seine Füße, zäh und ängstlich. – Der Asphalt brannte. Der Boden schien sich zu wellen. Ein dumpfes, breites Murren schwoll an seine Füße. Andreas wußte plötzlich, daß ihn der Asphalt, als eingestimmt auf die Sprache der Elemente und der unorganischen Wesen erkennend, festhalte, um seine Klagen irgendeinem fühlbar zu machen.
»Mein Zweck? – Mein Zweck?« – murrte der Asphalt – »wozu schleppte man mich her? – Man siedet mich und walzt mich. Mit Eisendruck macht man mich homogen. Dann stampft man auf mir herum. Wer aber will sich mit mir verbinden? Platze ich, so glüht man mich. Werde ich weich, so werfen sich rollende Untiere auf mich und strecken. – Glatt … glatt … homogen. – Pfui!« –
In Andreas' Hirn brannte es. Tausend kleine Teufel mit Fingern von Stecknadelspitzen zwickten sein Gehirn. Die Windungen wanden sich. Ein dumpfer, wühlender Kopfschmerz breitete sich immer mehr aus. Die Leiden der Erde schienen wie durch ein offenes Tor durch seine Augen und die durchlässigen Stirnwände tosend einzuziehen. Dann wußte er, daß die hüpfenden Stecknadelspitzen aus den Nerven Gedanken herauszupften und ihm war, als sei oben in ihm ein steinernes Feld, auf dem die Sonne in weißzischenden, spitzen Dolchflammen tanzte.
Da kam ein sanftes Murmeln aus den Höhen über ihn, ein feuchtes Streicheln. Winzige, kühlende Küsse tropften herab und verdampften auf ihm, einen Duft von Frische und Erquickung bereitend. Er fühlte sich plötzlich so weich und erschöpft, milde und dankbar, daß ihm Tränen über die Wangen liefen … Aber es grollte jetzt über ihm. Wolken schoben sich ineinander, flogen Kundschafter aus, griffen an, verknäulten sich im Ringen, zerfetzten sich und brannten in den Flammen des Zorns. Ein Grollen schoß herab auf ihn, schmerzlich und verächtlich rollend. »Fühlst du unser Leid? – Die Hitze deines elenden Grams zu löschen, ist dir unser Blut gut genug! Schlachten müssen wir uns, auf daß das ewig grinsende kühle Blau triumphiert! Unsere Körper stechen sich an und würgen sich hinab. Unser blutiges Leid trieft von den Blitzzacken der Zähne, strömt und strömt – und wird Parfüm für euch, wird Labsal! – – Stierst du zu uns hinauf, Mensch?« – –
Andreas fühlte sich jäh schwer und schuldbewußt. Er senkte seine Blicke und sah auf die zerplatzenden Ringe des Regens. Ringe! – Unzählige erstarrte Augen von hingeschlachteten Fischen! In einem Meer von schillernden Schuppen schwammen sie stier auf dem Pflaster und erweiterten sich bis zu den Ringen erdumspannender Schlangen …
Er stieß, als er unter Zwang und Schaudern auf die Straße starrte, auf einen Haufen von Gassenbuben. Wie er auch die Füße setzen mochte: er zertrat die toten Augen und tötete das leidende Leben noch einmal. Dies seltsame Tasten wie Spinnenzählen bei abwärts gewandtem Blick ließ ihn auf die Schar stoßen. Sie umstanden in einem Arenahalbkreise zwei Hunde, die auf Störungen nicht achteten und mit glänzenden Augen, von der ewigen Gier getrieben, ihr Spiel trieben, – von Jubel, beinhüpfender, leidenschaftlicher Neugier und pöbelhaften Straßenwitzen umtost.
Andreas erhielt heftige Stöße und unflätige Schimpfworte von Großen und Kindern. Sein brennendes Gehirn erblaßte auf einmal. Die Aufregung stürzte zusammen. Dann aber schoß Scham hoch, und er stammelte hilflos: »Drehen Sie sich doch um, meine Herren!«
Das einsetzende Gejohle über den hilflosen, aufgelösten und verstörten Menschen deklassierte ihn so jäh und überwältigend, daß sich Andreas wie in der Mitte eines luftleeren Raumes empfand. Er stand erschöpft und bebend. Ein freundlicher Jüngling hob seine goldene Brille auf und entfernte sich …
Der Regen hatte aufgehört. Die Wolken standen in der gleichen grauen Not, vereinigt, erschlafft. Ein schwacher Blitz zuckte zuweilen wie ein flüchtiges, grausames Lächeln. Andreas stand noch still und verlassen. Manchmal glaubte er, im Blitzesschein, ein ungeheures, grausames Gesicht aufscheinen und lachen zu sehen. Dann dünkte es ihn einen flüchtigsten Augenblick, daß Annas Leib, weiß, langgestreckt, zwischen den Wolken wie eine eigenleuchtende weiße Wolke erschien, – und dann zwang ihn der Biß einer furchtbaren Vision, von neuem vorwärts zu stürzen.
Ungeheuerliche Ringe von Tieren erschienen ihm, genetisch aneinandergefügt, ineinanderverflochten nach dem Gesetze des Fraßes, ein höheres das, was sich von dem andern nähren konnte! Mit Mäulern, Saugrüsseln, Stechdornen, Bohrarmen, durchpressenden Leibern hingen sie zusammen, zerrissen sich und schlangen sich hinunter, – ein unendliches Fortschieben und Wandern der zerbissenen Glieder durch den Blutstrom und umhüllt von eitlen, schillernden, unschuldig scheinenden Häuten und Wülsten. Ein Dampf von Wärme umhüllte sie und nannte sich Leben, schoß in Flammen aus den klaffenden Rachen und funkelte in bestialischer Freude aus den rollenden Ringen der harten Augen!
Andreas glaubte, von diesem Höllenstrom in neun Windungen umringelt zu sein. Spitze und Krone, deuchte ihm, war das Haupt eines Menschen, der weich und gerührt in den Wonnen einer Weltverdauung schwelgte und ein Spruchband aus seinem Munde flattern ließ, bedruckt, endlos, mit dem einen Wort: »Brüder!« –
»Du Heuchler« – – wollte Andreas sagen. Aber er stockte, und ohne seinen Willen fuhr aus ihm eine eherne Stimme der Erkenntnis: »Ich Heuchler!« …
Ein Schauder schüttelte ihn, als er eine ewige Minute in alle diese fraßfunkelnden Augen starrte. Dann aber sah er eine zweite Galerie von Lichtern hinter dem grausamen Glanz der Sattheit sich entzünden. Und er sah die Flamme der Qual zittern, des Entsetzens über den Zwang, die Sehnsucht nach einem Sein in Reinheit ohne Mord: – ein Aufzucken nur, dann quollen die Fackeln des Hungers und der Gier neue brünstige Lichtdämpfe auf und übertäubten sie herrschsüchtig. Auf dem Menschenhaupt aber sah er plötzlich eine einzige Zelle aufbrechen wie ein winziges Horn. Allein sie wuchs, leckte um sich, schwoll an, ward fett und eitel, eigenflimmernd, und sog alles hinein in ihren Krater. Sie rötete auf, schien zu zerfallen in eine Unzahl von flammenden Blüten mit betäubendem Schwefelgeruch, ward riesiger, immer ungeheuerlicher und ergriff wie eine brennende Zeit die neunfach geknäuelte Qualenschlange, um allein zu triumphieren! –
Andreas Scherwich atmete schwer und gepreßt. Die Luft schien zu brennen, der Erdkreis allmählich von der um sich schlingenden und mahlenden Riesenzelle eingeschluckt zu werden. Die Angst stieß ihn vorwärts, an Menschen, Häusern, Begrüßungen, Papier und Kunst vorüber, die er nicht sah, – bis sich ein Gedanke in ihm verschraubte und ihn eisern festhielt. Es erschien ihm im Licht einer neuen Erkenntnis furchtbar, sinnlos und bruderschänderisch, – – daß er atmete. Daß er Luft einschlang und sie durch die sumpfigen, jammervollen Höhlen seines Leibes jagte, um sie zu vergiften und sie, wesensentfremdet, verpestet, wie einen überlästigen Bettler hinauszutreiben. –
»Ich muß ersticken, es hilft nichts« – sagte sich Andreas. »Nur so komme ich aus dem grauenhaften Kreis von Selbstbetrug und Ekel heraus. Mehr noch: Ich muß mich ersticken!« – –
Er stand vorgebeugt, die Augen vorquellend wie bei dem Haupte des toten Fisches. In der Luft rannen feurige Ringe durcheinander, – – und dann brach sein Wille jäh zusammen. Sein offener Mund griff verzweifelt nach Luft und schlang sie strömend hinab. Er atmete stoßend. Aber das Gefühl einer unsühnbaren Schuld, einer Selbstentzweiung ließ ihn in ein hemmungsloses Schluchzen ausbrechen. – –
Dann war wieder stechende Sonne über ihm und ließ die quellenden Tränen auftrocknen, so daß er sein Gesicht fühlte wie einen ausgeglühten Wüstensalzsee. Er spürte die Knochen seines Gesichts sich wölben und tragen, Bogen spannen und morschen. Die Felslöcher seiner Augen lagen trocken da. Die salzigen Quellen hatten sich zurückgezogen und strömten unterirdisch fort, seine Seele immer mehr annagend. Fleisch und Haut schienen ihm weggeschrumpft zu sein. Die Schwermut des Verwitterns war über ihn gekommen.
Nur in seinem Gehirn sprangen die Gedanken über Abgründe, – das einzig Lebende in ihm.
Wie sie so raunten und Wechselreden tauschten, weit ab von ihm und nicht mehr ihm angehörig, deuchte es Andreas, – bannte ihn, mitten auf einem großen Platz, ein krallender Schreck, der sein Herz umschloß und zusammendrückte. Er fühlte, daß kein Gedanke ihm gehöre, daß er sich bisher von fremden Gedanken, von den Essenzen anderer Geister, von gedrucktem und eingeimpften Wissen und Empfinden genährt habe. Was gehörte ihm? Wo war er selbst? – Ihm war, als ob sich Leib und Seele auflösten … Was war noch sein?
Seine Gefühle barsten auseinander. Die Trümmer noch griffen sich an und zerrissen sich. Jedes Erinnern, jedes Empfinden zerspaltete, zervielfältigte sich, irrte durch lebendige und schon gestorbene Räume und Zeiten und suchte seine Knospen und Wurzeln. Alles Wissen verwirrte sich – und entwirrte sich, fädelte die Schlüsse rückwärts auf, warf die Krammen der Assoziationen aus den Wänden, ward dünne, fliegende Spinnenfäden, die durcheinanderschwankten. – –
Andreas stand bewegungslos, mitten im heftigsten Straßenlärm erstarrt. Und doch war ihm, als wäre er nur noch die zum Zerplatzen angespannte Haut eines Atoms, in dem eine rasende Jagd von Kräften tobte, um aus den Poren der kalt gewordenen Schale zu schießen und sie zu zerreißen.
Dann pfiff etwas über seine Schulter. Der Fluch eines Kutschers dröhnte an ihm vorüber. Ohne zu fühlen, ward er eine Strecke beiseite geworfen. Jetzt tauchte auch das zornwütige Gesicht eines riesigen Menschen auf, der sein scheuendes Pferd mit aller Kraft zügelte und zugleich peitschte. – Andreas sah sich an einen Pfahl lehnen. Unflätige Schimpfworte polterten ihm nach. Die geängsteten Augen des Pferdes schienen auf ihn zuzuspringen. Das Pfeifen der Peitsche schloß sich zu Ringen der Qual zusammen. –
Der Blick des toten Fischauges tauchte vor Andreas auf. Tränen schossen ihm in die Augen. – In einer plötzlich aufbrennenden Scham wollte er sie trocknen – und zog die Hand zurück … rot – –
Die Uniform eines Wachtmannes war da. Eine ärgerliche, korrekte Stimme äußerte, daß für Angetrunkene der Strohsack besser wäre als der Bahnhofsplatz! –
Andreas fühlte, daß die Außenwelt in das Entfalten seiner neuen Welt hineingeschnitten habe. – Scherben der einen klirrten mit denen der anderen zusammen. – Schweigend lauschte er. Er wußte nicht, ob er zu dieser oder jener Welt gehöre. Mit einem wehen Gefühl sah er dem geschlagenen Pferde nach. Er fühlte sich wie im Unrecht, als wäre es sündhaft zu atmen, wenn ein Pferd noch geschunden werden könne, – und wenn im Menschen der Mensch durch den Schinder herunterzustoßen sei! Dann wundert er sich in einem flüchtigen Aufglänzen, Zurückspiegeln seines alten Ich, daß ihn Empfindungen der Art überhaupt anfallen konnten! – –
Andreas ging einen Schritt vorwärts. Der Wachtmann sah ihm kopfschüttelnd nach. Der Fall interessierte ihn dienstlich. Es war ihm zweifelhaft, ob er nur einen Betrunkenen, oder einen Zerstreuten und Angetrunkenen oder einen Zerstreuten, Angetrunkenen und leicht Geistesverwirrten vor sich habe. Andererseits mußte er jetzt gerade wahrnehmen, wie ein halbwüchsiger Mensch einen Hund vor einem Karren mit Eisenabfällen offenbar über das zulässige Maß anstrengte und das erschöpfte Tier mit Fußtritten anspornte. Seine Absicht, eine ernste Verwarnung auszusprechen, ward jedoch jäh durch den verwirrten, an der Stirn blutenden Menschen unterbrochen. Der Rock war aufgerissen. Aus einer Tasche sprangen Geldstücke und wurden von der achtsamen Bevölkerung ermittelt. Er selbst aber lag hingeschmettert neben dem zusammengebrochenen Hund, hatte ihn umschlungen und küßte das zerstriemte Fell des Tieres. Seine Finger glitten in scheuem Streicheln über die gestutzten, halb abgeschnittenen Ohren. Tierauge und Menschenauge flossen ineinander über. Das Röcheln des Tieres war menschlich. Das Stammeln und Schreien des Menschen aber klang wie das klagende Heulen eines hungrigen Hundes. – – Dann ergriff der Mensch die Deichsel, ein Stock mit Querstück, der wie ein steilschräg ragendes Kreuz erschien, – und spannte sich vor den Karren … Der Wachtmann fuhr aus seinem Erstaunen. Der Fall lag jetzt klar.
Er drängte den Haufen zusammengelaufener Menschen zurück, pfiff einer träge über den Platz schaukelnden Droschke und nahm sich mit dem Kollegen vom Dienst des offensichtlich Geisteskranken an. – Noch nach einer halben Stunde schrieen Kinder unter lebhaftester Gestikulation einigen neugierigen Reisenden die Handlung dieses Affen von Menschen vor …
Andreas Scherwich, der Physiker und Chemiker, der Erforscher des Verhaltens der Gase zu den bekannten und geahnten Kräften des Weltalls, lag zusammengebrochen im Wagen. Eine Decke war auf das durcheinandergewirbelte Gehirn gefallen. Er fühlte nicht, daß er auf einer Polizeistation war. Er sah auch nicht, daß er in einem kahlen Raume eines festen Hauses der Anstalt lag. – –
Der erste bildhafte Eindruck von der außer ihm erscheinenden Gegenwelt stellte sich ihm nach einiger Zeit im Aufnahmebüro der Anstalt vor. Ob Stunden oder Wochen vergangen waren, wußte er nicht.
Er sah sich einem gleichgültigen, schlecht abgerundeten Menschen gegenüber, der versuchte, die Personalien für den vorgeschriebenen Aufnahmebogen von ihm zu erfahren.
Andreas Scherwich sah ihn nachdenklich und fremd an. Es war ihm ganz unmöglich, seinen Namen anzugeben, weil ihm die Vorstellung eines Namens völlig fehlte. Er hatte seine Persönlichkeit verloren. Er war weder ich noch er, – kaum es noch. Nur ein reflektierender, mathematischer Spiegel, über den unlogisch und hemmungslos Wolkenschatten von verbindungslosen Gedankenfetzen flogen.
Er sah zur Seite. Ein farbiger Eindruck hatte seinen Blick abgelenkt.
Vor einer Bank standen zwei Wärter in blaugestreifter Bluse fest, aufsichtsmäßig und doch nachgeordnet. Auf der Bank aber saßen vier Menschen, die aus einer Epileptikeranstalt überwiesen worden waren, weil die Periode der Anfälle für einige Zeit abgelaufen zu sein schien und für die nähere Zukunft die einfache Verrücktheit vorherrschend war. Alle vier sahen wie Kinder aus, obwohl sie zwanzig bis dreißig Jahre bereits zwischen zwei Anstalten pendelten … wie angestrichene Wachsfiguren mit der steifen Würde gekrönter Idioten …
Andreas sah, daß der erste sechs Finger der linken Hand um einen rotbäckigen, schon faulenden Apfel klammerte und in den sechs Fingern der rechten Hand einen dürren Zweig wie ein Zepter trug.
Der zweite stützte einen ungeheuerlichen Kopf, glatt, runzelfrei, rötlich – und lächelte wie ein schlafendes Kind, während seine Finger einen ergrauten Bart festhielten, als wäre er angeleimt. Seine dünnen Beine steckten in Knabenhosen. Er wurde nur wütend, wenn man sie ihm ausziehen wollte. Seit Jahren schlief er in ihnen. Dem dritten stand ein gefrorenes, hilfloses und schwermütiges Lächeln um den schiefgezerrten Mund. Aber die Augen waren starr, glänzend, in einer schrägen Richtung fixiert. Er spielte mit einem großen, buntglasierten Murmel, ohne sie jedoch anzusehen.
Am grauenhaftesten war der Anblick des vierten. An ihm war außer dem Zwerghaften nichts Außergewöhnliches. Nur waren seine Züge auf eine so unsagbare Weise ausdruckslos, daß ein anatomisches Präparat beseelt erschienen wäre. –
Die Wärter standen in Achtung und gaben die Personalzettel ab.
Andreas durchfuhr wie ein flüchtiges Aufblitzen nur die Empfindung, daß diese Geschöpfe doch mehr sein müßten als er, der Namenlose. Sie hatten doch einen Streifen mit Benennung! Er machte also eine mechanische Verneigung vor den Vieren, eine reproduzierte Geste der Höflichkeit ohne Bewußtsein. Dann fiel er wieder in seine Hüllenlosigkeit zurück.
Der Schreiber sah wohl, daß an eine formgerechte Vernehmung nicht zu denken sei. Das trug nicht zur Erhöhung seiner Stimmung bei. Denn von den wenigen Umständen, die ihn in Erregung brachten, hatte sich hier einer der unangenehmsten gezeigt. Er war auch fernerhin gezwungen, diesen Patienten unter »Unbekannt« – U – im Index zu führen, und er hatte gegen alles Unerforschte, nicht zu Registrierende eine heftige Abneigung. Bei Unbekannt Nr. 3 seines Verzeichnisses fehlte neben der Fähigkeit zur Aussage auch jeder Nachweis. Kein Papier, nicht einmal eine Brieftasche war vorhanden. Wäsche A.S. Nichts weiter. Und doch waren schon reichlich zehn Tage nach der Aufnahme vergangen. – –
So gab er seufzend das Zeichen zur Rückführung. –
Andreas ging automatisch, doch leicht abbiegend, so daß er am Ende des langen Ganges gegen die Mauer kam und stehenblieb. Der Wärter drehte ihn wieder in Richtung. – Er ging.
Einer wußte seinen Namen – der Arzt.
Das Verschwinden dieses Menschen konnte nicht unbemerkt bleiben. Schüler und Behörden forschten. Da aber Andreas Scherwich auf einen Anruf mit seinem Namen nur mit den Händen gezuckt hatte, ohne auch nur die geschlossenen Augen aufzuschlagen und ein Zeichen von Bewußtsein zu geben, so ließ er ihn unter Nr. 3 Unbekannt im Register stehen. Er wußte, wie gefährlich es ist, einen Nachtwandler anzurufen …
Eines Tages wurde Andreas spazierengeführt.
Die Bäume und Sträucher der Anlagen strömten nach einem Gewitterregen Duft und Frische aus. Aus den halbgeöffneten Fenstern eines Landhauses der Anstalt stießen noch hin und wieder schwache, erschöpfte Schreie von hysterischen Mädchen, die während des Gewitters wie zitternde Katzen im Raum umhergeirrt waren.
Andreas ging stumm. Duft und Schreie schlugen nur von außen an ihn. Seine Nerven leiteten noch nicht, so daß er wie in seinem Laboratorium schritt, wenn die künstliche Verdunkelung betätigt war und die dichten Filzplatten jeden Schall abfingen. Das Flöten der Amseln fiel für ihn ins Leere, und der Geruch der Erde schwang an ihm vorbei. –
Würdevollen Schrittes trat plötzlich aus einem Querweg ein hochgewachsener, alter Mann. Die Nachlässigkeit seines Wärters hatte ihn einige Minuten unbeobachtet gelassen. Ein unbeschreiblicher Ausdruck von gesammelter Würde und Kraft thronten in den Augen. Starre, malerisch hingelegte Falten drohten auf der Stirn. Um den Mund wuchs ein kunstvolles, weißgraues, rieselndes Silbergeflecht. In seinen leicht hinaufgezogenen Winkeln stand die Nachgiebigkeit und Güte der Allmacht. Als er auf Andreas zutrat, weiten, gemessenen Schrittes, als ginge er auf Bauschwolken, zeigte es sich, daß er eine bunte Puppe mit Schellen in der Hand trug.
»Sei gegrüßt, Gläubiger in der Seele«, – feierlich, psalmodierend klang es, – »du Schweigender in Andacht! – Du tust nicht ein elendes Maul auf zu beten. – – Beten! – O – ihr Philister! Ihr Unbeschnittenen! Heißt beten euch nicht heischen? Beschmeicheln, bestechen wollt ihr mich, heult und zerrt eure Gesichter, wenn ich dem Zufall gebiete, euch Dachsteine, Blitze oder Lawinen auf eure Stirnen zu schmettern! Oder wenn ich die Absätze wegziehe von euren Gummigaloschen, auf daß ihr wenigstens am Pflaster einmal ein Gefühl habt! – Du kennst mich nicht, Gesalbter, Auserwählter? – Darum liebe ich dich. Denn es ist geschehen in dieser Zeit, daß, die mich kennen, kennen mich nicht, und die mich nicht kennen, kennen mich! – Gottvater bin ich, – – und dieser hier, Tertullian genannt, ist mein Prophet! Credo quia absurdum est … Die sich aber meine lebendigen Jünger nennen, wollen mich beweisen! – O ihr Narren und Kleingläubigen! – Tritt heran, Mensch, Gläubiger, und küsse die Schellen des Propheten!« – – Hier klingelte der alte Mann mit der Puppe. Der feine, schnellende Ton leitete den suchenden Wärter. Auch der Arzt trat heran. Und da er sah, daß zum ersten Male in Andreas' Augen ein erstauntes Lächeln aufkam, gleich dem ersten, halbbewußten Blickwelterfassen eines Kindes, sah er ihn prüfend und forschend an.
Der Wärter hatte inzwischen Gottvater hastig am Arm gefaßt. Der alte Mann ging mit einem traurigen Lächeln mit.
Der Arzt sah noch immer mit einem seltsamen, gleichsam saugenden Blick auf Andreas. In seinem Gesicht verschmolzen auf eine unbegreifliche Weise Kälte und Güte. Augen, flach scheinbar, aber nur Schleier über der Tiefe, glatte, blasse, uralte Haut, die geschlossenen Lippen eines Wissenden und Beherrschenden: – Niemand, der ihn sah, kam auf den Gedanken, daß dieser Mensch einem Geschlecht zuzuweisen sei. Er schien die wirklichen und möglichen Geschlechter zu vereinen, um über sie zu thronen und sich in jedes spalten zu können. –
Unter seinem glänzenden Blick sprach Andreas.
»Was wollte der alte Mann? Wenn er Gott ist, bin ich nicht auch Gott?«
»Sicherlich«, antwortete der Arzt mit Überzeugung, »Sie sind der Gott, der Andreas Scherwich heißt.«
»Andreas Scherwich?« dehnte es Andreas hin, »ich kenne ihn nicht!« – –
»Noch nicht. Aber Sie werden ihn wieder wissen lernen!« –
»Wer weiß«, sprach Andreas langsam vor sich hin, hinabgewandt, und seine Worte schienen ihm wie Steine in einen Schacht zu fallen, und er zähle die Zeit, bis sie zu dem lebendigen Wasser der Tiefe kämen. – – »Ich nenne mich ich. – Es kommt mir so fremd vor …«
»Wie ist Ihnen?« fragte der Arzt.
»Ich weiß nicht, ob ich sprechen darf. Es fällt mir so schwer. Die Worte kommen so mühsam. Kränke ich nicht«, – er suchte nach einem Ausdruck, und es kam eine juristische Wendung heraus – »kränke ich nicht die Rechte dritter Personen?« – –
»Das wohl«, sagte der Arzt ruhig und kühl – »aber das schadet nichts. Was Sie auch tun und sagen mögen: Sie kränken immer die Rechte dritter Personen. – Wir wollen gehen und plaudern«, und ein plötzlicher Strahl von Güte leuchtete über dies zeitlose Gesicht und schuf es um zu einem Garten des Lebens.
»Ob ich gehen kann?« fragte Andreas zaghaft.
»Gewiß. Es wird gehen. – Wie fühlen Sie sich? – Oder – was fühlt sich in Ihnen? – Man hustet sich zuweilen klar. Sprechen Sie sich klar. Oder lassen Sie etwas aus sich strömen. Sprache ist nur Rinnen. Wer in sich aufstauen läßt, sammelt sich zunächst – aber zerbricht seine Form und seinen Geist, wenn er nicht einmal Sprache oder Denken – nicht doch, sie sind synonym. – austönen läßt … Verstehen Sie mich?«
»Nein – aber ich fühle etwas davon …«
»Auch das ist Verständnis – und wird Bewußtheit werden.« – –
Sie gingen ein paar Schritte an den Sträuchern entlang. Andreas neigte sich zu den feuchten Blättern und brach die Spitze eines Zweiges ab. Dann kam ein Ausdruck von Schreck in sein Gesicht. Er hielt den Zweig von sich entfernt – an den äußersten Fingerspitzen gehalten.
»Haben Sie sich weh getan?« fragte der Arzt und lächelte.
»Dem Strauch – habe ich wehe getan und darum – mir«, sagte Andreas und zitterte. »Es kommt alles wieder …«
Der Arzt spannte seinen Blick und ließ die Kraft seines ruhigen, festen Wollens auf das zufällig noch zusammenhaltende Schaudern neben ihm ausströmen.
»Ich werde Ihnen sagen, was in Ihnen ist. Ich kenne Ihren Weg. Ich weiß, wer Sie sind und was Sie hierher gebracht hat – und auch, was Sie wieder herausbringen wird. Darum bin ich jetzt mehr als Sie. Ich bin Ihr Weg, und Sie müssen mich und in mich hineingehen, um wieder heraus und zu sich zu kommen. – Sie hatten sich verloren an ein anderes Ich. Und da dies von Ihnen riß, verloren Sie sich. Was Wunder war zuerst, wurde Wunde in der Folge. Ihr Blut, Ihr Inneres, Ihre Gefühle stürzten nach. Sie sind geschunden! Sie sind ohne Haut – und sind hier, um wieder Ich zu werden, der Gott, der Andreas Scherwich heißt und nicht Peter oder Paul … oder »Anna«, flüsterte Andreas scheu.
»Der Name ist noch nicht aus Ihrem Blut, noch nicht genug. Aber das war nur der Anlaß, um zu reißen und das eigene Blut in alle Dinge strömen zu lassen und alle Dinge in das eigene Blut, das fremd wurde. – Was waren Sie mehr als Stromwirbel, Durchgangskanal, Röhre, die in das Blut der Welt tauchte und in der das Blut, Klang und Stimmung sich hob und senkte nach dem Gesetz der kommunizierenden Röhren und Gefäße, nach dem Gesetz des Du?«
Andreas hatte die Augen geschlossen. Er schien nur der Stimme zu lauschen – und müde zu sein. Aber es war eine süße Müdigkeit.
»Die Haut wächst. Allein es schimmert noch alles durch«, sagte der Arzt und nahm Andreas an der Hand.
In diesem Augenblick ertönte ein Schrei, dem Kreischen des Holzes gleich, in das die Kreissäge sich hineinfrißt, und das Funken weint.
Andreas erblaßte.
Der Arzt schritt mit ihm weiter in die schreilose Luft.
»Die Margarete,« sprach er vor sich hin – und zu Andreas, »ein Irrtum eines Gehirns jammert. Eingebildete Schmerzen sind oft echter als sogenannte wahre Schmerzen, denn sie sind eigener. – Sie glaubt, ihr Kind ertränkt zu haben – – und hat nie geboren. – Aber wer weiß« – und der Arzt senkte die Stimme, als spräche er zu seinen eigenen Gedanken – »wer weiß, wie das Leben ihrer Wünsche war.« – –
»Wo – ist sie?« fragte Andreas und wollte das Haupt wenden.
»Im festen Hause drüben. – Nichts für Sie. Glauben Sie nur, Sie sind jenseits ihrer Schmerzgrenze.« –
Unter der festen Stimme des Arztes ward Andreas ruhiger. Die zerrissenen Kräfte in ihm strebten wie zerschabte Feilspäne zu der magnetischen Stahlkraft des Arztes. Und nur wie ein Bild noch, wie eine handkolorierte Photographie, stellte sich ihm ein Bild vor, jäh vorüberspringend, – der Abdruck jenes Greiskindes mit den sechsfingerigen Händen und dem faulenden Apfel dar. Seine Seele schlief wieder ein.
Er lebte wie in einem Schöpfungstraum. Ohne daß er es wußte, fing seine Seele an, pflanzenhaft zu empfinden, nicht mehr dunkler, mitgerissener Stromwirbel zu sein, von jedem Stein gebrochen, jeden Schmerz tragend und leitend. Wurzelwerden war in ihm. Sein Blut stieg und senkte sich schon saftgleich, bildete Zellen und fing an, auf den Lichtruf des Lebens zu antworten …
»Wollen Sie mitkommen?« fragte ihn der Arzt. »Der alte Gott ist entsetzt und zweifelt an sich. Es ist bemerkenswert, wenn einem Gott der Glaube an sich wiederzugeben ist.« –
Andreas ging sofort in seinem Schritt den Rhythmus des Arztes. Der Arzt lächelte und schüttelte den Kopf. »Warten Sie nur erst, bis Sie wieder bis zum Widerspruch gewachsen sind …« sagte er gleichgültig.
Vor der Tür des Landhauses fanden sie den alten Mann mit der Puppe. Der Wärter stand einen Schritt seitwärts im Laub. Aber Gottvater dachte nicht ans Entfliehen. Tränen strömten über sein Gesicht, über die Hoheit eines unsagbar herben sittlichen Schmerzes. Das weiße Haar flatterte. Die zitternden Hände wiegten Tertullian.
»Ein Patient hatte der Puppe die Schellen abgerissen«, sagte der Arzt.
»Satan, der Verderber und Widerschöpfer,« – heulte Gottvater – »hat meinen Propheten gelähmt, auf daß das Wort meiner Macht nicht mehr verkündigt würde! – Tertullian – du Getreuester – wo sind deine goldenen Zungen, du Mund Gottes? Wer riß dir deine Gewalt aus und machte mich stumm? – Denn da die Menschheit nur abgeschleuderter Splitter ist von mir, und ihre Sprache das Sumsen eines aufgezogenen Kreisels: wie kann sie der verstehen, der den Kreisel aufzog – und Satan, der ihn peitscht?« – –
Gottvater raufte sein ehrwürdiges Haar und röchelte erschöpft.
»Auch die Allmacht Gottes wird matt und seine Stimme schwach, so ihn der Hauch der Gebete nicht nährt und die Ehrfurcht und Kasteiungen nicht tränken. Ich schwinde hin . . . Entsetzlich, wenn die Allmacht ohnmächtig wird!« – Und er streichelte und küßte Tertullian …
Ein Schauder – aber der Abwehr – durchlief Andreas. »Muß er denn – das – tun?« fragte er.
»Ist er nicht Sie? Verstehen Sie ihn nicht?«
»Er ist nicht, was ich bin. – Ist das Leidtun, was ich habe?« sagte Andreas.
»Schmerz und Abwehr. Sie sind nicht mehr ein fremder Gott. Sie trennen sich. Wissen Sie nur – und dann: wollen Sie nur! – Aber – Gottvater soll nicht länger leiden. Wir wollen seinem Propheten eine neue Lehre schenken,« – und hiermit zog er ein Paar helle, klingelnde Messingschellen heraus und steckte sie der Puppe in die Hände.
Gottvater stürzte mit einem übermenschlichen Schrei der Freude in das Haus. – »Ich freue mich nicht! Ich bin nicht dankbar! Ich bin allmächtig, und das Allmächtige kennt nicht Freude und Dankbarkeit,« hörte ihn der Arzt noch jauchzen.
Andreas Scherwich hob aufmerksam die Augen und blickte den Arzt an. Nun hatte er fast die erwachenden Augen eines Tieres. – –
In der nächsten Zeit verbarg er sich vor dem Arzt und war scheu, wenn er ihn sah. Denn er fühlte das Auge dieses Menschen, unsichtbar zwar, aber doch wie eine Allgegenwart auf sich ruhen, und als die Blüte seiner jetzigen Daseinsform entfaltete sich in ihm eine rotleuchtende Scham. Er hatte das seltsame Empfinden, als wüchse etwas wie ein Kind, erst lallend, dann mit Geh- und Spracherschaffen, mit neuen Sinnen und neuen Bildern in ihm auf, noch genährt von dem allgemeinen, gleichen und geheimen Strom, der Luft, Saft, Licht, Strahlkraft und Blut ist, aber doch schon sich abschnürend und sich selbst bildend. Aber er wußte das nicht …
An einem Abend hörte ihn der Arzt zum erstenmal mit dem Wärter reden, reden in dem ruhigen, bewußten Ton eines Menschen, der recht hat. Es zeigte sich, daß Andreas einen Löffel benutzen wollte, der für einen anderen Patienten bestimmt sein sollte. – Aber der Wärter hatte sich geirrt.
»Es ist mein Löffel,« hörte der Arzt Andreas mit Schärfe sagen.
»Seit wann haben Sie Eigentum?«
Andreas schwieg und sah ihn forschend an.
»Wie alt sind Sie jetzt?« fuhr der Arzt fort, nachdenklich und mit einem kaum sichtbaren, geheimnisvollen Lächeln, das Andreas grausam deuchte – »acht Jahre – zehn Jahre, – elf Jahre?« …
Andreas errötete zum erstenmal. Und es war, als ob einen Augenblick der Haß wie ein wildes Tier aus seinen Augen sprang.
»Träumen Sie jetzt zuweilen?« fragte der Arzt.
Andreas begann mit einem zögernden Widerwillen zu sprechen, leise, wie unter einem Zwang, den die ersten saugenden Wellen einer Revolution annagten und unterwühlen wollten. Doch klang seine Stimme automatisch, blechern, wie von einer Kurbel gedreht. »Es ist nichts Sicheres nachts in mir, wenn ich schlafe, oder am Tage. Ich träume nicht. Es kommen keine Stimmen, keine Dinge – nur …«
»Schatten – nicht Situationen, – Farbennebel, Klangwässer tropfen, – nur Düfte von Bewußtsein, nur die Dämpfe einer nach unten brodelnden Glut …«
»Woher wissen Sie das? – Oder … es ist so, daß Sie deuten und mich wissen lassen, was ich nicht wußte! Oder ist es erst, da Sie es mir gesagt hatten?« fragte Andreas erschreckt.
»Sie werden essen wollen,« sagte der Arzt.
»Man muß wohl …«
»Rauben Sie nicht?« – und der Arzt nickte ihm leicht zu und ging. – –
Beim Essen – an einem anderen Tage – blieb Andreas Scherwich plötzlich mit erhobenem Arm erstarrt und sah mit tiefen, staunenden und glänzenden Augen in einen dämmerigen Winkel des Zimmers.
Nichts war dort als ein Winkel zwischen zwei ganz flachen Halbsäulen, zwischen zwei Verkleidungen für Heizungsanlagen. Ein grauer Winkel, mit dem Halbdämmern und Reflexen des stoffumhüllten, elektrischen Körpers angefüllt, in dem der Schnurbehang der Lampe dünne Stäbe, Schattenfächertänze, langsam, gleitend, hin und her webte.
Andreas schoß mit einem Ruck, wie eine Kugel Blut, das Gehirn füllend, die Vorstellung seiner Bibliothek in sein Gedächtnis. Leise zogen die Bücher entlang, eingegliedert in die Schattenfächer, waren lebend, – mit einem unaufdringlichen, zärtlichen Glänzen, wortlos, stummen Vorwurfs voll, wie es ihm schien. Und doch sprachen die breiten Hautrücken mit den verwischten Tintenspuren, mit dem halbverwesten Gold und den noch herausragenden Merkzeichen – wie Finger des Nachdenkens –, sprachen mit den flüsternden Lippenlauten einer wiedererwachten Geliebten, Vorwurf und Liebe bindend. Wie das neufließende Blutleben, warm und pulsend, schlugen die fremd gewordenen Formeln und Figurationen die Augen auf, Klammern lösten sich vor ihm auf und andere, durch die geheimnisvolle chemische Neigung zueinander geführt, schlossen sich zusammen. – –
Dann war das Bild verschwunden. Er sah, daß es nur das Schattenleben eines Zufalls war. Und doch war in ihm der erregende Reiz fast eines erotischen Abenteurers, einer Verabredung mit einer Fürstin ihres Geschlechts. –
Am nächsten Tage trat er auf ein Stück Papier, das wohl ein Besucher in der vorschriftsmäßigen Stunde nach dem Auswickeln des Blumenstraußes fortgeworfen hatte. Er bückte sich und hob das Papier auf. Es war ein halb abgerissenes Zeitungsblatt. Ein Teil eines kurzen, über einige Neuaufhellungen bezüglich der radioaktiven Substanzen, der Strahlenforschung und Ähnliches referierenden Artikels. – –
Er stand und – – las. Es war ihm sofort, als spräche die Stimme eines Urschöpfers zu ihm, der mit dem Wort und aus dem Wort das Chaos spaltete. Über dem Geknäuel schien ihm der Klang einer erzenen Drommete hinzuschmettern. Das Wort ward Kriegerengel mit schimmerndem Schwert und teilte mit einem schaffenden Hiebe den Un-Sinn in einen verklärten Leib, lebendigen Willens voll, und in ein abgleitendes Gewässer von empfangendem Raum. Leib und Raum begatteten sich und ließen die Zeit gebären, das rosige und wachsende Kind. Mit einem neuen Tönen kam immer wieder Spaltung und Leibgeisterstehen, Farbenschimmern und Aufleuchten als Begriff. – Jedes Wort wurde für Andreas Scherwich eine Offenbarung. Denn er sah nicht die abgeschliffenen, tauben Hülsen, das ausgeworfelte Stroh auf der Tenne Welt, die mottenzerfressen und eingekampfert zusammengetragen werden und Wissen heißen, jedes Wort ward Fleisch, ward Blut gewordenes Symbol, und er fühlte eine steilaufschießende Liebesglut für diese Schöpfungen aus dem Vergessen, die jede, eigenen Glanzes voll und selbst leuchtend, vor ihm hintraten als Götter und Heroen. Wärme – Licht – Magnetismus – Sauerstoff – Schwefel – Neigung – Schwingung – Interferenz – Statik – Dynamik – Analyse – Diffusion – elektrisches Feld – Jonisierung …: alle gingen persönlich hervor aus dem Chaos seiner Vergessenheit und sahen ihn mit jungen Augen an.
Andreas Scherwich stand bewegungslos, überwältigt von der ungeheuren Versammlung, die in seine Verschollenheit getreten war. Er bemerkte es nicht, daß der Arzt vorüberging, ihn lange beobachtete und ihn mit einem Blick von Trauer, Lächeln und Erhabenheit betrachtete …
Es schien, als ob der Schreiber terminmäßig eine Ergänzung und Berichtigung seines Rezeptionsjournals anstrebte. Denn bald fand sich Andreas Scherwich wieder im Aufnahmebüro vor den hölzernen Schranken, die den Beamten vor seinen doch nicht immer beherrschten und taktfesten Kunden wenigstens etwas beschützten.
Seufzend nahm dieser menschgewordene Federhalter den Buchstaben U und Nr. 3 vor, breitete ein neues Aufnahmeformular mit häufigen und diskreten Fragezeichen aus und hub an:
»Sie heißen?«
»Andreas Scherwich,« sagte Andreas in völlig ruhiger, selbstverständlicher Reaktion – und dann erschrak er doch, daß der Name so ohne Zwang und Bedeutung sich von ihm getrennt habe. Jetzt war er an seinem Leibe entlang geglitten und hatte sich treu und anhaftend neben ihm und an ihm auf die Erde geworfen: sein Name – – sein Schatten! Und er hatte das Gefühl, als ob etwas in ihm sich umkehre, als ob das Blut in leere Höhlen fließe, ein Schwerpunkt in ihm sich zurechtsuche, als würde er innerlich Figur … und voll. – –
Der Arzt trat ein.
Der Schreiber klappte in Hochachtung und trat diskret zurück.
»Haben Sie mich hierherbestellt?« fragte Andreas.
»Schon Mißtrauen? – Wie wäre es … wollen Sie sich nicht aus dieser Umgebung zurückziehen? Es gibt ja andere Orte, die auch etwas für sich haben. Trotzdem – das, was der Name deckt, ist besser als sein Ruf!« –
»Ich habe nichts einzuwenden. Als ich hier war, war ich nicht hier,« sagte Andreas – »und jetzt … was soll ich sagen …«
»Jetzt sind Sie schon im Weggehen. – Wollen Sie es nicht ganz tun?«
Andreas zögerte.
»Mir ist doch so,« – sagte er dann langsam, als würde jedes seiner Worte erst durch einen Magneten herangezogen – »mir ist doch so, als wäre meine Haut noch zu – dünn …«
»So warten wir.«
Und wie sie hinausgingen, sagte der Arzt in den Gängen, und eine gleichsam unfeierliche Feierlichkeit atmete aus seinen Worten, ihm bisher fremd und desto tönender: »Eine Frau und eine Dichterin hat gesagt: Die Seele ist die ewig Hungernde. Findet sie nichts, was sie in Neigung aufnimmt und verzehren kann, so frißt sie sich selber an. – Siehe da die Selbstsucht der Liebe! – Ich aber sage Ihnen: Die Seele ist die ewig Zerfallende! – Doch sie ist Dauer im Zersetzen und atmet, ewig sich umwandelnd, Kraft aus im Zerfallen … Ersticken Sie nicht in der Ruhe! Freuen Sie sich, wenn Sie Leid tragen. Denn Ihre Seele strömt nur Gewalt aus, wenn der Schmerz sie zerfallen macht!« – –
In den nächsten Tagen klomm immer stärker ein Gefühl wie Feindseligkeit gegen den Arzt in Andreas hoch. Hatte sich dieser Mensch – oder Teufel – oder Gott – je nach dem Licht, das auf ihn fiel – nicht seiner bedient wie eines mikroskopischen Objekts? Hatte er ihn nicht mit Rasiermessern zerschnitten und zwischen Glasplatten gelegt? Welche Zerrungen, Verrenkungen, Zerreißungen, aber auch welches unerhörte Farbenglänzen, Seelenschillern mochte sein bewaffnetes Kristallauge an ihm entdeckt haben? Welche egoistischen Entzückungen eines Künstlers, eines Vivisektors des Rausches, mochte er ihm dargeboten haben? Das Objekt, das Subjekt wurde, fühlte sich geschändet. Mit diesem Gefühl kämpfte eine unbewußte Dankbarkeit – oder nicht Dankbarkeit vielmehr – sondern Ergriffenheit vor diesem Menschen, der auf eine so sonderbare Weise in sein Leben gefaßt hatte, heilend vielleicht, doch gegen seinen Willen! – Aber – – hatte er damals einen Willen? War er so machtlos gewesen, daß er geführt, gefüttert und emporgebildet werden mußte? Es hakte an den Groll die Scham an, und er wußte nicht, grollte er dem Arzt – oder sich, … schämte er sich vor dem Arzt – oder vor sich? –
Er wollte sich hinausschleichen, wenn es ging, still – mit dem offiziellen Entlassungsschein in der Tasche. Dann aber reckte sich der neue Andreas Scherwich in ihm auf. Abbruch muß Bruch sein. Das Wort: Liebe deine Feinde – gewann einen ganz neuen Glanz und stand vor ihm als ein Schwert, an dessen Spitze ein Blutstropfen zittert … Der Arzt kam zu ihm, blaß, als hätte er die Leiden und das Jauchzen von Jahrhunderten hinter sich gelassen. Zum letzten Male hörte er die kalte, unaufgeregte Stimme und sah in die fernen, glänzenden Augen. – – »Sie wollen gehen« – sagte der Arzt. »Des Arztes Beruf, Schicksal – und Freuen ist es, wenn sein Patient der Ungeduldige wird und sich von ihm scheidet. Wir waren fast ein Fleisch geworden. Nun, da Sie mich hassen, – – liebe ich Sie – mit der Liebe des Fernen. Nur die sich voneinander scheiden, haben sich. Gehen Sie Ihren eigenen Weg. Ich bleibe stets allein. – Man pflegt ja bei einem sogenannten Abschied immer zu zitieren. So sage ich also: Du – sei ein Mann – und folge mir nicht nach!« –
Der Arzt ging.
Andreas Scherwich erkannte ihn jetzt – und blieb zurück. – Als er aus dem Tor ging, stand der Wagen mit Lebensmitteln, der täglich zur Bahn fuhr, vor dem Eingang. Körbe mit Fischen wurden abgeladen. Die toten Augen starrten ihm wieder entgegen. Eine Welle überlief ihn. Aber es war nur ein Parfüm des Grauens. Dann lächelte er und staunte das Interferenzglitzern der Schuppen an.
»Die Seele ist die ewig Zerfallende,« sprach er vor sich hin. Er stand vor seinem Laboratorium. – Woher wußte dieser Mensch, der weit ab von ihm jetzt die zerbrochenen und gestörten Uhren in seinen Händen hielt, woher wußte er von seinem besonderen Neigungsstudium? War die Seele wirklich nur das Ur-Radium und der Leib die vergängliche Emanation um sie?
Es schien ihm jetzt fast, als hätte ihn der Arzt gelenkt, als hätte er alles vorher gewußt, ihm das Papier in den Weg geworfen und seine neue Häutung beobachtet. Die wievielte mochte es sein? – –
Sein alter Laboratoriumsdiener stand etwas aufgeregt und schüchtern vor ihm. Der zweite Helfer hielt die Vorrichtung zum Herablassen der Rolljalousien bereit. Denn Andreas pflegte in der letzten Zeit vor seiner Abwesenheit – nur in Gemeinschaft mit Anna – Versuche im völlig verdunkelten Raum anzustellen.
Anna! – –
Es war ihm, als ob der Klang sich entfaltete, ein Duftschleier wurde, unkörperlich, und ihn wie einen Mantel umwalle, wie ein zärtliches Gewand seiner Seele. Aber sie selbst war frei, ohne Entsetzen, ohne Grauen, ohne Selbstzerstörung. Das Gewesene der Schönheit war das Unverwesliche geworden. Der Name war Torbogen für einen neuen Weg. Er schritt hindurch. Wann kam der nächste Bogen? Wann rollte sich der nächste Weg auf? –
Die geschulten Hände seiner Gehilfen hatten die gewohnten Bewegungen ausgeführt. Der Motor lief leise und surrend. Die Luftpumpe arbeitete. Die Eisenwände an den Fenstern sanken lautlos herab. Nacht, die Mutter aller Forschung, ergriff Besitz von ihrem Tempel. Das Radiumpräparat, der Magnet, der Projektionsschirm, die Apparate warteten.
Das Vakuum schritt vor.
Andreas fühlte sich mit einem Male wieder – zu Hause. Aus einer mühseligen Dornwüste war er zu sich gekommen. Die süße Müdigkeit des Beruhigten überkam ihn. Einen Augenblick nur – – schlief er? …
Es war ihm, als wäre er in der Crookeschen Röhre, in dem luftleer gemachten Glashause, das jetzt die Welt war, die Welt, in der er glühte und atmete. Nicht Luft: Elektrizität atmete er, war selbst Elektrizität. Die Namen waren von ihm abgefallen. Er wußte nichts mehr von Kanalstrahlen, Kathoden, Anode – elektromagnetischen Wellen. Ein Kranz von Lichtgeistern umgab ihn, gelb, blau, lila, gleißendweiß. Ihre Kerne sprachen miteinander in dem geheimnisvollen Funkenknistern, das auf eine unbegreifliche, ihm jetzt erst verständliche Weise, Neigung und Haß, Sehnsucht, Durchdringung, Gleichgültigkeit und Rache ausdrückte. Sie waren Wesen, persönlich geworden, gebunden und entfernt durch ihre Natur. Schwere, der Egoismus des Weltalls, war zu schwer ausgedrückt.
Masse und Maß trafen sich nicht mehr. Endlich und unendlich tasteten von außen. Erdschall: Entstehen – Vergehen – Werden – Endigen – Größe – Winzigkeit – war jetzt ein lächerliches Poltern geworden. Hier blühte das Wort auf, das nicht mehr der Luft zu atmen bedurfte, und wurde Entladung. Mitten zwischen ihnen, Funke unter Funken, stand Andreas. – –
Er hob die Augen. Die Glaswände begannen zu fluoreszieren. Gespannt und klar betrachtete er die Strahlgarben. Andreas Scherwich ging an sein Werk …