Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Anstalt, von der ich nun berichten will, habe ich nie gesehen. Aber es gibt verschiedene Wege der Forschung und vielleicht ist der mit einer Legitimation vom k. k. Justizministerium ausgestattete Weg nicht immer der sicherste. Diese Strafanstalt habe ich durchwandert an Sonntagnachmittagen in stundenlangen Gesprächen mit einem Manne, der sechsundzwanzig Jahre in Karthaus gesessen ist. Er heißt Michael Töpfl, ist am 12. Juni 1878 wegen Raubmordes zum Tode durch den Strang verurteilt, dann zu lebenslänglich und nach 26 Jahren, während der er sich musterhaft aufgeführt hatte, gänzlich begnadigt worden. Ehe ich ein Wort weiter über Töpfl schreibe, bemerke ich, daß ich diesen einmal zum Tode Verurteilten für einen Unschuldigen halte. Nur so viel für heute. Ich selbst bin diesem Manne mit dem gründlichen Mißtrauen des Erfahrenen entgegengekommen, ich wußte, daß sich in vielen Verbrecherköpfen der Glaube an die eigene Schuldlosigkeit in dem Maße festhakt, als sie eine zu lange und zu schwere Strafe erdulden müssen. Im Grunde haben die meisten Leugner subjektiv recht, sie sind an ihren eigenen Taten oft viel unschuldiger als andere 144 Kräfte, die sie Schritt für Schritt dazu gedrängt. Ein dumpfes Hirn in seinem lichten Drange kann nun Tat und Ursache, Verführung und Geschehnis auf die Dauer nicht ganz so scharf wie ein Staatsanwalt voneinander trennen, besonders wenn der Lebenswille, das unwillkürliche Bedürfnis, vor sich selbst besser dazustehen, zu einer allmählichen Korrektur des Gedächtnisses drängt. Michael Töpfl ist 26 Jahre gesessen. Ein Generationsalter fast im Kerker verbracht. War daneben die Frage nach Schuld oder Unschuld in einer Viertelstunde des Lebens nicht ganz nebensächlich? Ist denn der Unterschied zwischen schuldigen und unschuldigen Verbrechern überhaupt so groß? Wie viel von seiner Schuld gehört dem Verbrecher selbst? Und wie viel von seiner Unschuld hat er sich selbst zu verdanken? Die Frage, ob Töpfl unschuldig gesessen, interessierte mich nicht. Je länger ich aber mit Töpfl sprach, desto mehr mußten meine philosophischen Überlegungen vor der ausbrechenden Stärke seiner detaillierten, sachlichen Unschuldbeteuerungen zurückweichen.
Vor zwei Wochen kam Töpfl nach Wien, in dünnen, schlechten Kleidern, zerrissenen Schuhen, mit geschwollenen Füßen. Er war zu Fuß von Krems nach Wien gegangen.
»Sie müssen doch Geld in der Strafanstalt erspart haben?«
»Ja, ich hätte gegen vierhundert Gulden haben können, 145 aber ich hab' damit meinen Bruder unterstützt, der neun Jahre mit mir unschuldig gesessen ist und der ein verheirateter Mann mit sechs Kindern ist.«
»Etwas müssen Sie doch vom Unterstützungsverein bei der Entlassung bekommen haben?«
Das verneinte er und ich habe später erfahren, warum Töpfl keine Unterstützung bekommen hatte. Der Landesgerichtsrat hatte ihn auch nach seinen Ersparnissen gefragt und Töpfl hatte daraufhin von seinem unschuldigen Bruder zu reden begonnen. Der Landesgerichtsrat hörte es mit höhnisch verzogenem Gesicht an und ließ die bitteren Worte fallen: »Na ja, unschuldig! Das kennen wir schon. Weiter!« Aber Töpfl redete nicht weiter. Mit einem Manne, der ihm seine Unschuld nicht glaubt, hat Michael Töpfl nicht ein Wort zu reden. Er drehte sich um und ging stracks zur Tür. Der verblüffte Herr Rat rief ihm zu: »So bleiben Sie doch!« Aber nichts flieht dieser Mann mehr als den Hohn der Routinierten. »Mit so an hab' i schon ausg'red't.« Und so ging Michael Töpfl, ein von sechsundzwanzigjähriger Kerkerhaft geschwächter 52jähriger Mann, zu Fuß von Krems nach Wien! . . .
Er hat überhaupt in den paar Tagen der Freiheit viel Ruhe bewahren müssen, um nicht in Verzweiflung zu kommen. »In Krems« – so erzählte er mir, und ich habe niemals, trotzdem ich jedes Wort von ihm sorgfältig 146 notierte, eine lügnerische Silbe von ihm gehört! – »habe ich auch beim Staatsanwalt vorgesprochen, damit er mir durch den Verein vielleicht eine Arbeit verschafft. Was soll ich denn tun, wenn ich nirgends eine Arbeit find'? Man muß doch leben! Der Herr Staatsanwalt riet mir nur: ›So lassen Sie sich wieder einsperren!‹ Ich sagte: ›Gut. Dank' schön!‹ und bin gegangen.«
Nach Krems ist Töpfl gefahren. Als er in Karthaus aus der Anstalt heraustrat, wußte er, daß es nur einen Ort gibt, in den er jetzt muß: Krems. Dort lebte seine Geliebte, die ihm im Herzen 26 Jahre treu geblieben ist, die auf seine Unschuld schwört wie er selbst, die ihn die Jahre über mit hoffender Seele erwartet hatte, wenn auch aus dem jungen Mädel inzwischen ein altes Weib geworden ist. Bei ihr und bei seinem Bruder, der auch in Krems wohnt, verbrachte Töpfl die ersten Wochen nach der Entlassung. Aber nach ein paar Wochen ist er allein nach Wien marschiert, weil er wahrnahm, daß er durch seine Anwesenheit seines Bruders und seiner Freundin Existenz untergrabe. Töpfl denkt nicht hoch von den Mitmenschen. Ein Sohn seines Bruders wurde nach zwei Jahren Lehrzeit vom Meister entlassen, »weil sein Vater g'sessen ist.« Der Sechzehnjährige kann jetzt spazieren gehen. Die Töchter, vierzehn und siebzehn Jahre, haben lange vergebens Arbeit gesucht. »Von solche Leut' nimm i niemand.«
147 Töpfls Geliebte ist Bedienerin in Krems. Eines Tages sagten die Herren, bei denen sie in Arbeit ist, zu ihr: »Wenn Sie mit dem Töpfl beisammenbleiben, so müssen wir uns eine andere Aufwärterin suchen.« So zog Michael Töpfl allein, mit einem funkelnagelneuen, von der Bezirkshauptmannschaft Krems ausgestellten Arbeitsbuch nach Wien, wo er durch gutmütige Leute Maurerarbeit fand, die ihm aber sehr schwer fällt. Sein Ideal wäre eine Hausmeisterstelle.
* * *
»Karthaus ist ausg'schrien, »so beginnt er seine Erzählung. »Die Ärgsten haben sie früher dort hinauf nach Böhmen g'steckt. Es gibt ah wirklich welche, die gar nix nutz san. Aber die meisten lassen Holz auf sich hacken! I sag' Ihnen, Schaf', die sich treiben lassen.«
»Da hat es also nie so etwas wie Revolten gegeben?« fragte ich.
»Nein. Vor fünfzehn Jahr, Da war einmal so eine G'schicht. Aber die Leut' fügen sich ja in alles. Einmal haben wir ganz schlechte Knödel gehabt. Die haben wir hing'schmissen und nicht 'gessen. Wegen den haben s' dann a paar, die s' Rädelsführer nennen, zu drei Wochen Korrektion verurteilt. Wissen S', wia s' die Rädelsführer herauskriegen? Stellen Sie sich vor, es kommt ein 148 Aufseher auf Sie zu und fragt Sie: ›War die Kost schlecht?‹ Wann Sie jetzt ja sagen, so sind Sie schon a Rädelsführer . . . Früher war die Kost besser. Der neue Verwalter gibt immer nur Graupensuppen! Graupensuppen! Es gibt Leut', die die Kost gar net essen. Die kaufen sich um ihre paar Kreuzer Speck oder Butter zum Brot und teilen sich's ein . . . Am Urteilstag war ich immer im Keller. Der ist feucht und kalt. In der alten Korrektion san gar kane Fenster. Früher hat man si beim harten Lager wenigstens seine Decken mitnehmen dürfen. Seit ein paar Jahr, nimmer. Da muaß ma in aner Tour herumrenna die ganze Nacht, wo an' eh kalt is! Und an' Sträfling, der nix in sich hat, is bald kalt, o ja! . . .
Ja, jetzt is's strenger wie früher. In allem. Früher war das Arbeitspensum 1700 Sackeln im Tag, jetzt hat's der Verwalter auf 2500 Sackeln hinaufgeschraubt. Und wie leicht ma g'straft wird! Ich hab' sehr wenig Strafen g'habt, ich war ja immer nur in meine Gedanken . . . Aber wann aner von an' an Schnupftabak verlangt – denn die von der alten Ordnung dürfen noch schnupfen –, da gibt's gleich saftige Strafen: sechs Tag', neun Tag', sogar zwölf Tag' Dunkelarrest wegen Schnupfen!! Früher, unter dem anständigen alten Verwalter, war die Straf' dafür Entziehung der Frühsuppen einmal, höchstens zweimal.«
149 Karthaus hat einen Oberdirektor, der als guter Mann geschildert wird. Aber der eigentliche Leiter ist der Inspektor. Früher: Aufseher. Vorbildung: Korporal beim Militär gewesen. Dieser Kriminalpädagoge herrscht vermöge eines prompt funktionierenden Spitzelsystems. Die verlottertsten Sträflinge sind auch in Karthaus »schwarz-gelbe Hunde«.
»Die sind das größte Gesindel. Die machen die meisten G'schäften mit Wein und Bier. Da schau'n die Aufseher weg. Die dürfen schreien, zanken, raufen. Bei den Raufereien werden die anderen gestraft – mindestens mit sechs Tag' Dunkel –, die rutschen durch . . . Von den Aufsehern san die älteren, die länger dort san, die besseren. Aber viele wollen an' nur reizen und nix is mir mehr z'wider wie die Heanzerei. Ich hab' mich nicht weiter drum geschert, weil ich immer nur meine Sachen im Kopf g'habt hab'.«
In Karthaus ist Gemeinschaftshaft. Daß aber einige wenige auch unter jahrzehntelanger Einzelhaft schmachten, das hat Töpfl, wiederholt genau befragt, immer wieder versichert.
»Da is ein g'wisser Mayer. Der ist seit fast siebenundzwanzig Jahren in der Korrektion!«
Ich unterbreche ihn: »Töpfl! Das ist ja nicht möglich! Das ist ganz gesetzwidrig.«
150 »Es ist aber doch so. Ich bin ja im ganzen Haus herumgekommen als Maurer, als Anstreicher. Er war während 27 Jahr' keine drei Jahr' heraußt in der Gemeinschaft. Immer nur in der Einzelzellen! Ich hab' ja oft mit ihm geredet. Vom Gang aus! Oder beim Weißigen durchs Fenster . . . Und in Karthaus gibt's nur zwei Abteilungen. Da trifft man sich, wenn man »auf Luft« is (der Spaziergang) oder am Gang oder Sonntag in der Kirchen. Der Mayer war nie drunter! Net am Gang und net im Hof und net in der Kirchen! Vielleicht mag er jetzt gar net mehr heraus aus sein' Loch. Er hat einmal einen Fluchtversuch machen wollen, dann hat er einmal ans Ministerium schreiben wollen; deshalb halten s' ihn jetzt gar so fest. Vielleicht ist er schon ganz eingelebt in seinen Jammer. Bitt' Sie, i hab' mi ah voriges Jahr in der Zellen aufg'henkt. Wann mi da net aner noch rechtzeitig abg'schnitten hätt'! In der Korrektion, das dürfen S' mir glauben, hab' ich dreimal den Kopf in der Schlingen g'habt. Aber ich hab' mir gedacht: Deine Sachen muß noch einmal aufkommen! Und das hat mich immer wieder aus der Schlingen heraus'bracht.
»Glauben Sie, daß viele Unschuldige sitzen?«
»Nein. Einige. Man kann ah net an' jeden glauben. Wann mir aner, dem ich meine Sachen sag', mit zwinkernden 151 Augen antwortet: ›Na ja, aber den Richtigen ham s' do!‹ Sehen S', so aner is schuldig! Wann aner mir net glaubt, dem brauch' i g'wiß ah net z' glauben.«
Gefängnisbeamte haben mir oft ähnliche Dinge gesagt. »Wir können über die Leute, die wir jahrelang Tag für Tag beobachten« – sagten sie –, »ein viel gründlicheres und sicheres Urteil abgeben als die Richter, die die Angeklagten bloß ein paar Stunden vor sich haben. In der Anstalt halten nur wenige Schuldige am Ableugnen lange fest und nach einiger Zeit, gar nach Jahren, können wir mit vollster psychologischer Sicherheit unser Gutachten über jeden Sträfling abgeben. Aber wer fragt uns? Wer kümmert sich um unsere Eindrücke? Wir, die wir mit den Leuten leben, haben über ihr Schicksal nicht zu entscheiden. Das tun jene, die sie ein paar Stunden in einer sorgsam vorbereiteten Verhandlung vor sich gesehen haben!« Das waren die intelligentesten Strafanstaltsbeamten, die so sprachen. Aber der Durchschnitt, lebt der denn wirklich mit den Gefangenen? Ich frage Töpfl, mit wem er in diesen 26 Jahren am meisten verkehrt hat?
»Mit niemandem,« antwortet er etwas unwirsch. »Ich hab' immer nur meine Sachen im Kopf g'habt. Wenn aner net mit mir g'red't hat, war i stad. Manchmal war i so vertieft, daß m'r aner g'sagt hat: ›Komm', i les' dir was vor, damitst aus deine Gedanken kommst.‹ Die Sträfling' san ja net schlecht.«
152 »Das ist aber doch sehr freundlich von ihnen gewesen.«
»Ah, bitt' Sie, heut is er gut gegen ein', morgen is er zornig und richt' an' aus. Wann er mir vorliest, so laß ich ihn dafür von mein' Bier trinken, denn's Vorlesen greift die Brust an, so a Sträfling is ja schwach . . . Übrigens die schön' Bücheln ham s' alle kassiert. Oder 's kommt vor, a Büchel g'fallt an', da san auf amal im Schönsten zehn Seiten ausg'rissen, weil das nix für uns sein soll. Am Sonntag hat der Lehrer immer vorg'lesen, aber, bitt' Sie, die Kinderbüacheln hört kaner zua, die wollen an' nur dumm machen. Wann a Sträfling abends am Zimmer a neuches, bessers Büchel erwischt und vorliest, da paßt ma auf!«
»Haben nicht die Beamten manchmal ein gutes Wort für Sie gehabt?«
»Soll ma si no von die Beamten frozzeln lassen? Is 's net gnua, daß an' die Sträfling heanzen? Der Freundlichste war der Oberdirektor. Aber wann der amal was Freundliches g'sagt hat, haben an' die Sträfling nur g'warnt: ›Der halt di eh nur für an Narr'n.‹ Das macht an Menschen nur no verzagter. Übrigens hat ja 's Kommando net der Oberdirektor, sondern der Verwalter g'habt, und das war ein böser Herr.«
»Und die Geistlichen?«
153 »Da waren immer zwei. Jetzt ist einer dort, der die Deutschen net mag. Der hat auch so seine Leut, in jeden Zimmer, die tragen ihm alles zu und dann donnert er von der Kanzel herunter, daß 's an' jeden z'wider wird. I bin a Christ und bleib' aner. Aber in der letzten Zeit bin i in die Kirchen 'gangen, hab' mi auf mein' Sitz g'setzt und nur über meine Sachen nachg'dacht. Wann aner so donnert, da werden alle abspenstig. Das G'schrei geht kan' zu Herzen. Mit die Böhm' red't er, wann a Deutscher kommt, draht er si um und geht weg. Aber der andere geistliche Herr, mir heißen ihn den Jungen, trotzdem er eigentlich a Jahr älter ist, den hab'n alle gern, Deutsche und Böhm'. Der kommt am Abend aufs Zimmer, setzt sich auf den erstbesten Strohsack und red't mit an'. Dem Jungen, dem hab' ich meine G'schicht' oft erzählt, der hat mir's 'glaubt. Aber er kann eben net helfen!
G'reizt wird ma gnua. Einmal war der Staatsanwalt in der Anstalt auf Besuch. Wie er mich sieht, sagt er: ›Sie werden wohl immer dableiben.‹ Das ganze Bluat hat in mir g'rudelt, wie er das sagt. ›Na, wir werden sehen,‹ hab' i repliziert, ›wem der Vater den Schimmel schenkt.‹ Und dann hab'n s' mich doch freigeben müssen, eben weil i unschuldig bin. Grad so, wie s' mich damals net hab'n aufhängen können, trotzdem s' mich mit elf Stimmen zum Tod' verurteilt hab'n.«
154 Einen Moment warte ich, ehe ich frage: »Was haben Sie sich damals vor der Begnadigung gedacht? Waren Sie in großer Angst?«
»In Angst? I? Warum denn?« Seine Augen werden wild. »Wie soll i denn a Angst g'habt hab'n? Ich hab' mir g'sagt: ›G'macht hast es net, da kannst auch net g'hängt werden.‹ In der Meinung war ich sicher, ich hab' mir nur immer g'sagt: ›I laß net nach! Wann S' heut mit mir a Protokoll aufnehmen, sag' ich Ihnen Silben für Silben dasselbe wie im Achtundsiebzigerjahr.‹«
Der alte Mann hat für die paar Wochen eine vorübergehende Arbeit draußen in der Vorstadt gefunden. Nächste Woche kann sie aus sein. Einmal seufzte Töpfl:
»Was tu' ich dann? Wann i nix find', dann geh' i hin und sag' den Herren: ›Da habt's mi! Nehmt's mi! Habt's mi in die sechsundzwanzig besten Jahr' eing'sperrt g'halten, so nehmt's mi jetzt als a alter und macht's mit mir, was ihr wollt!‹«
Aber das sind nur Anfälle von Mutlosigkeit. Dann denkt er auf einmal wieder an »seine Sachen« und ein stürmischer, verzehrender Drang, seine Schuldlosigkeit zu erweisen, richtet ihn wieder stramm aufrecht.