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Eine breite sonnige Landstraße, von Kirschbäumen eingesäumt, führt von Oberhollabrunn nach Göllersdorf. Die Kirschenbäume blühen, die flockigen, weißen Blüten hüllen das Geäst in schneeige Verkleidung, hoch steht das saftige Wiesengras und über die noch mattgrünen Felder streicht kosend, die Halme beugen sich willig, linder Frühlingswind . . . Ist das das Wetter, um ein Zuchthaus zu besuchen, noch dazu eines, in dem nur Jugendliche sind, Burschen zwischen vierzehn und höchstens zwanzig Jahren? . . .
Die Anstalt ist ein altes Schloß der Grafen Schönborn-Puchheim. Verwittert, brüchig, rissig schon von außen, dem adeligen Geschlecht längst zu gebrechlich, hat es der österreichische Staat gemietet, um hier seine Musterstrafanstalt für Jugendliche anzusiedeln. »Es ist ein Rumpelkasten,« sagt mir der Direktor nach den ersten begrüßenden Worten, »man hätte dem Grafen Schönborn seinen Meierhof drin lassen sollen! Na, was will man machen. Die Baukommission, die das Gebäude ein paarmal – ich habe Einstürze gefürchtet – besichtigte, glaubt, daß der Kasten noch nicht zusammenbrechen wird. Sie werden ja sehen, wie 118 gut der alte Bau für ein Jugendlichen-Strafhaus paßt . . . Wasserleitung haben wir keine hier. Das Dorf liegt am Göllersbach, der durch die Kanäle der Bauern ganz verunreinigt ist.«
»Was trinken Sie?«
»Brunnenwasser,« erwidert der Direktor seufzend, »zur Not ist es trinkbar . . . Was wollen Sie haben, die Anstalt steht in sumpfigem Terrain, das Gebäude ist feucht . . . Dafür haben wir auch keine Kanalisierung.«
Unwillkürlich frage ich nach der Zahl der Toten, die diese Anstalt jährlich fordert.
Es sind überraschend wenige. Von ungefähr 180 Sträflingen sind im vorigen Jahre bloß zwei in der Anstalt gestorben. Bei einer anderen Gelegenheit habe ich dann freilich das Geheimnis dieser kleinen Sterblichkeitsziffer erfahren. Ist ein Jugendlicher dem Tode nahe, so wird er rasch begnadigt. Sie sollen draußen sterben, meint das Justizministerium und dieselbe Instanz, die sonst Begnadigungsanträge bündelweise in den Papierkorb wirft, wird plötzlich riesig human, wenn es sich darum handelt, einen Todkranken, Sterbenssicheren rasch an die Luft zu setzen. So erzeugt die Statistik Humanität . . .
Erst sahen wir uns die leeren Schlafsäle an. Siebzehn, achtzehn Jugendliche liegen in einem Saal, Bett an Bett, ein Holzgestell mit Eßgeschirr über jeder Liegestätte. Von 119 außen ist der Saal nicht zu übersehen. Die Burschen sind nachts sich selber überlassen . . . Die Aborte, verrostete Blechkübel, stehen im Schlafsaal drin. Auch die Waschgelegenheiten, kleine Holzschaffel, sind hier aufgestellt, nicht sehr einladend zur Reinlichkeit. Dafür sind wenigstens die Mauern fortwährend unterwaschen, feucht und bröckeln an einzelnen Stellen herunter. Passende Baulichkeiten für ein Strafhaus der Jugendlichen.
»Das ist ein Schlafsaal, in dem ich nachts die Bettnässer unterbringe,« erklärt der Direktor, während der Aufseher die Tür aufsperrt.
Niemand ist jetzt im Saale. Oder doch? Wahrhaftig, da drüben, inmitten der leeren Betten, liegt ein Zwerg auf dem grauen Strohsack (ohne Leintuch); eine winzige, magere Kindergestalt mit gelbgrünem Gesicht hebt sich mühsam ein wenig in die Höhe.
»Na, wie geht's, Wiesinger?« fragt der Direktor, »noch immer Abführen?«
Der Zwerg antwortet weinerlich: »Das Blut reißt's mir weg.«
»Na, lieg nur schön still, es wird schon besser werden.«
Im nächsten Moment ist der Direktor schon wieder beim Ausgang. Die Tür wird wieder abgesperrt und der kranke Zwerg bleibt weiter inmitten der siebzehn leeren Bettgestelle liegen. Keine Glocke neben ihm, kein Mensch, 120 den er mit seinem schwachen Stimmchen rufen könnte. Auch am Gang ist niemand . . .
»Das ist ein Liliputaner, der Wiesinger. Der ganze Bursch wiegt zweiundzwanzig Kilo. Und was glauben Sie, wie groß er ist? 123 Zentimeter . . . O, das ist ein boshafter Kerl! Der kann sich verstellen! Überdies ist er ein Bettnässer ärgster Sorte. Er hat auch schon Wahnsinn simuliert, dann hat er es wieder aufgegeben, wie er gesehen hat, daß es ihm nichts nützt.«
»Wie alt ist er denn?«
»Jetzt geht er ins siebzehnte Jahr, er schaut natürlich noch jünger aus.«
»Weshalb sitzt er?«
»Brandlegung. Drei Jahre.«
Später hat mir der Gefängnisgeistliche mehr von ihm erzählt:
»Erst war er bei einer Liliputanertruppe. Dann wurde er in seine Heimatsgemeinde geschickt. Was sollte man mit ihm anfangen? Der Knirps wurde zum Spaßmacher der Bauern. Lustig kann er sein, ein gescheiter Kerl ist er auch; so zog er von Wirtshaus zu Wirtshaus, machte den Bauern seine Spassetteln vor, die gaben ihm Bier, Wein, Schnaps zu trinken; Sie können sich denken, wie ihn das hergerichtet hat. Riesig boshaft ist er auch. Wenn ihn ein Bauer verhöhnt oder gereizt hat, ist er hergegangen und hat ihm 121 heimlich den Hof angezündet. Mit zwölf Jahren ist er schon wegen Brandlegung zu vier Monaten Einschließung verurteilt worden . . . Eigentlich gehört er in eine Siechenanstalt.«
»Er ist auch in der Anstalt sehr boshaft,« fügt der Direktor hinzu. »Ich kann ihn aber doch nur milde strafen. Der Herr Doktor sagt mir, ich muß vorsichtig mit ihm umgehen. Kräftig ist er nicht, das haben Sie ja gesehen.«
Die Vorsicht des Direktors besteht darin, daß er den Zwerg, dem »es das Blut wegreißt«, nicht ins Spital gibt, sondern tagelang verlassen im öden Schlafsaal liegen läßt . . .
In den Arbeitssälen wird von einigen wenigen Schusterei und Schneiderei betrieben. Die meisten Jugendlichen sind mit Rohrzupfen, Rohrflechten und bei der Mattenerzeugung beschäftigt. Aus zwei großen Arbeitssälen dringt ein höllischer Lärm. Hier werden papierene Lampenschirme, Bukettmanschetten und Schinkengriffe erzeugt. Die Buben haben eine eiserne Form auf den Knien liegen, darauf legen sie die Papierbogen, schlagen mit starken Hämmern zu und im Nu ist die Papierform gepreßt.
»Das ist aber kein Gewerbe, das die Jugendlichen draußen, wenn sie rechtschaffen arbeiten und leben wollten, betreiben können. Rohrzöpfe flechten und Papiermanschetten schlagen! Werden die Jugendlichen so zum Leben draußen gerüstet? Lernen sie hier kein Gewerbe?«
122 »Nein.«
Als ich später erfuhr, daß von den 186 Jugendlichen 76 mit Kerker vorbestraft sind, da wunderte ich mich über die erschreckende Rückfälligkeit gar nicht mehr. Wenn die Jungen in den Strafanstalten die Jahre der Lehrzeit so versitzen müssen, ohne ein Gewerbe zu erlernen, ohne sich eine Fertigkeit anzueignen, die sie erwerbsfähig macht, so müssen sie ungeeignet und ungerüstet zum Leben in der Gesellschaft bleiben . . . Der Herr Direktor schien nicht zu ahnen, daß er mit diesem kurzen »Nein« den ganzen Mumpitz unserer Jugendlichen-Fürsorge einfach in die Luft sprengte . . .
Wir treten in die »Schule«. Ein kleines Zimmerchen, in dem ein paar Bänke stehen. Der Direktor merkt, daß ich über die Kleinheit der Schule erstaunt bin.
»Was wollen Sie? In diesem Hause finden wir keinen passenden Raum dafür. Wir müssen sogar eine Anzahl Sträflinge vom Schulbesuch befreien, weil kein Platz für sie da ist . . .«
Ebenso passende Räume sind für die Anstaltsküche reserviert. Leider sind sie halb finster . . .
Über einen Hof gehend, kommen wir »zu unserem herrlichen Bad«, wie der Direktor bitter sagt. »Im Winter ist das Laufen über den Hof zum Bad besonders angenehm.« Ganze drei Wannen stehen da. »Die habe ich angeschafft!« fügt mein Begleiter hinzu, »früher waren nur die großen 123 Holzschaffeln da.« Auch diese Sträflinge kriegen bloß alle zwei Monate ein Vollbad! . . .
»Das Gebäude sollten Sie sich doch noch genauer ansehen,« rät der Direktor, während wir um das Haus herum gehen. »Da sind Mauern, die sich bereits bauchen, da sind fünf Meter lange klaffende Risse in den Wänden. Ich habe mich gefürchtet, habe die Baukommission gefragt, sie meint, es hält noch. Hier können Sie auch lesen, wann das Haus erbaut wurde.«
»1591 . . .!!!«
Vom Hofe gehen wir zu den Korrektionszellen. »Da ist nichts Besonderes zu sehen,« erklärt der Herr Direktor. »Kleine Zellen, die verfinstert werden können. Am Boden ist der Ring, an den ich den Häftling fesseln kann. Dann hab' ich noch da rückwärts den Keller, wenn die Disziplinarzellen nicht genügen.« Wenn sie nicht genügen! Dabei sehe ich den schmalen, schier endlos langen Gang entlang, an dem sich Strafzelle an Strafzelle reiht . . . »An dem Keller sehen Sie nichts Besonderes.« Ich nickte höflich. Wir gehen daran vorüber. Später hat's mich sehr gewurmt, daß ich mich durch die Höflichkeit verleiten ließ, den Keller nicht zu besichtigen. Ich habe das Versäumnis an einem anderen Tage nachgeholt. Ein Aufseher mußte, nachdem ich den Wunsch geäußert, eine Kerze anzünden, die schwere Kellertür rasselte auf. »Achtung! Sonst stolpern Sie die 124 Stufen hinunter!« Da stand ich in einem großen, finsteren Kellergelaß, in das selbst das geöffnete kleine Fensterchen – wegen der meterdicken Mauern – nur schwaches Licht warf. Der Aufseher leuchtet auf den erdigen Fußboden. »Hier sind zwanzig Ringe angebracht. Als seinerzeit in der Anstalt rebelliert wurde, da hab' ich die Aufrührer da hineingesteckt, hab' sie an die Ringe fesseln lassen, hab' ihnen Handschellen anlegen lassen; in der Hausordnung stehen Handschellen zwar nicht, aber man braucht sie doch zuweilen! . . . O, das hat gewirkt; in ein paar Stunden wurden die ärgsten Schreier still. »
»So still wie in einem Trappistenkloster,« fügte der Gefängnisgeistliche hinzu.
Und der Direktor schloß das Gespräch mit dem befriedigten Satz: »Ja, der Kerker ist unsere Rettung, da werden alle kirre.«
Dieses finstere, große Kellergelaß benützt die Direktion offenbar lieber als die Disziplinarzellen. Am Tage, ehe ich in der Anstalt war, ist in dem Keller ein Häftling schon den achten Tag, unbeschäftigt natürlich, dringesessen, trotzdem eine Menge Strafzellen unbesetzt zur Verfügung stand.
Der nächste Besuch galt einer abgesonderten Zelle, in der zwei Tuberkulöse waren. Grauenhaftere Gestalten hab' ich im Leben noch nicht gesehen. Ich mußte mich abwenden, als die beiden Gerippe mit fürchterlich großen Augen auf 125 mich hinsahen. Der Direktor stellt die stereotype Frage: »Na, wie geht's denn?« Die geröchelte Antwort hab' ich nicht vernommen . . . Der Direktor sagt noch zu dem einen Gerippe: »Wegen Ihrer Begnadigung hab' ich schon das Nötige veranlaßt,« und geht. Diese ins Grab Wankenden werden begnadigt! Offenbar, weil der Tod auf der Landstraße der gnadenvollere ist!! . . .
»Nun haben Sie so ziemlich die ganze Anstalt gesehen,« sagt der Direktor, wie wir in seiner Kanzlei wieder angelangt sind.
»Alles – nur die Sträflinge nicht.«
Der Direktor scheint die Bitte nicht zu hören.
Ich sage dringender: »Es muß doch unter diesen Jugendlichen, von denen viele noch wie Kinder aussehen, etliche geben, deren Schicksal ganz besonders tragisch ist. Jungen, die vielleicht ganz gut veranlagt sind, aber durch einen törichten Streich, durch miserable Eltern, durch verwahrloste Erziehung, durch zwingendes Elend in ihr Jammerschicksal gestoßen wurden. Meinen Sie nicht, Herr Direktor?«
Die phlegmatische Antwort ist: »Schlechte Eltern, schlechte Streiche, schlechte Erziehung, Elend, das trifft für alle zu.«
»Haben Sie selbst, Herr Direktor, nicht das Gefühl, daß es gut wäre, wenn auf irgendeinen besonderen Fall 126 die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gelenkt würde? Liegen Ihnen nicht einige Fälle selbst am Herzen?«
»Ich bitte Sie, Herr Schriftsteller, wir haben hier 186 Sträflinge, da kann ich nicht jeden einzelnen so genau kennen.«
»Aber Sie, Herr Direktor, legen doch die Begnadigungsanträge vor, Sie suchen doch die Würdigsten hervor?«
»Ich kriege ja meine Berichte über die Sträflinge.«
Darauf erwidere ich nichts. Ich notiere den Satz nur einfach in meinem Notizbuch. Wer kann Berichte über die Sträflinge erstatten? Die, die tagsüber bei ihnen sind, die Aufseher. Also begnadigen eigentlich die Aufseher? In Fortsetzung dieses Gedankens frage ich.
»Woran, Herr Direktor, erkennen Sie eigentlich, ob ein Sträfling gebessert ist?«
»Das ist sehr einfach,« erwidert der Mann mit beneidenswerter Sicherheit, »ich sehe die Burschen beim Rapport. Da sagt der eine: ›Verzeihen Sie, Herr Direktor, ich werd' es nicht mehr tun.‹ Der ist gebessert! Die anderen wieder sind trotzig. Wenn ich ihnen die Berichte der Aufseher vorhalte, leugnen sie alles, schieben alles auf den Aufseher. So ein Trotziger ist noch nicht gebessert!«
Was würde es nützen, wenn ich dem Direktor und seiner stupiden Einteilung widerspräche? Lieber heuchle auch ich Besserung und schweige. Der geschwätzige Herr 127 setzt seine Geständnisse fort, die nun freilich andere noch schwerer als ihn belasten.
»Übrigens werden nur wenige begnadigt. Da meinen die Richter, wenn sie einem noch nicht sehr verdorbenen Jugendlichen eine milde Strafe geben, so nützen sie ihm viel. Aber wer eine milde Strafe bekommen hat, wird bei uns dafür um so schwerer begnadigt . . . Der Herr Oberstaatsanwalt fordert uns immer auf, nur recht viel Berücksichtigungswürdige einzureichen. Wir suchen die Bravsten heraus, von denen wir glauben, wenn sie jetzt hinauskommen, werden sie draußen noch etwas taugen, und im Justizministerium weisen sie die Anträge ab. Vierundzwanzig Begnadigungen haben wir in einem Jahre beantragt, eine einzige ist bewilligt worden!«
Was der Göllersdorfer Direktor über die Abweisung der Begnadigungsanträge erzählt, darüber haben die anderen Gefängnisdirektoren ebenso geklagt. Aber die unerbittliche Gnadenverweigerung an gebesserte Jugendliche ist die schwerste Anklage gegen den roh-brutalen Geist der Vergeltungstheorie, die sich im Justizministerium – dank dem harten, unzugänglichen Kopfe des Sektionschefs Holzknecht – ungestört austobt. 128
Ich mußte ein zweitesmal nach Göllersdorf fahren. Das Haus hatte ich gesehen, den Geist der Anstaltsleitung hatte ich kennen gelernt, aber an den Knaben und Jünglingen, die hier das schmutziggraue Verbrecherkleid tragen, war ich vorbeigegangen, ohne mehr von ihnen zu erfahren, als in ihren bleichen Gesichtern, im scheuen Gruß, im traurig-neugierig nachschauenden Blick zu lesen war. So mußte ich ein zweitesmal kommen und diesmal wollte ich die Sträflinge kennen lernen.
Da saß ich nun mit dem Direktor und dem Gefängnisgeistlichen an einem Tisch und wir sahen miteinander die Personalakten der Sträflinge durch. Der Geistliche, der – zu seinen Gunsten sei's gesagt – die Geschichte jedes einzelnen ziemlich gut im Kopf hatte, erzählte von ihnen, später sah ich dann die, die mich am meisten interessierten.
Ein ganzer Stoß Akten gilt Jugendlichen, die wegen öffentlicher Gewalttätigkeit verurteilt wurden. »Das ist das Landesverbrechen,« sagt der geistliche Herr. »In den Weingegenden wird an den Sonntagen gezecht und gesoffen, dann wird gerauft, dann wird gestochen und dann kommen die jungen Bauernburschen zu uns her. Gerade die ›Gewalttätigen‹ sind hier die Bravsten! Ohne diese Weinkellergelage würden sie ihr Lebtag aus dem rechtschaffenen Leben nicht herausgerissen werden.«
129 Der Geistliche nimmt einen anderen Pack Personalakten. »Das ist eine andere Sorte: die Schleiferbuben. Das sind die Kinder der Schleifer, die durchs Land ziehen. Wir haben jetzt zwei hier, die kein Geschäft gelernt haben, die ohne Mutter aufgewachsen sind, niemals ordentlich in die Schule gegangen sind, nicht recht lesen und nicht recht schreiben können, oft vom Vater zum Diebstahl angehalten worden sind. Von den zweien heißt einer Wihlsdorfer. Mit siebzehn Jahren ist er wegen Notzucht zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt worden. Ich halte ihn übrigens für nicht ganz zurechnungsfähig.«
»Jedenfalls nicht ganz normal, » verbesserte der Direktor.
Der geistliche Herr sagt nachdenklich. »Normal sind hier die wenigsten. Ich bin ein Anhänger jener Psychiater. die das Gros der Verbrecher im allgemeinen für geistig abnorm halten. Ich sehe es an unseren Jugendlichen hier. Ganz in Ordnung sind nur wenige, zumindest ist die Willenskraft erschlafft und krank . . . Da lesen Sie zum Beispiel einen Brief, den Wihlsdorfer an seinen Bruder geschrieben hat. Ist das logisch geordnet?«
Ich lese:
An Wohlgeboren Herrn Johann Wihlsdorfer Ich mache Dir zu wissen daß bin ich in Gollersdorf und 130 Dir bekann daß ich 3 Jahre Eingeb eingesperrt bin und Dich gehalten haben oder nicht schreibe Ich schreibe das mir sehrgut geh und schreibe abst Du noch in die Farbrik gehst oder nicht Ich schreibe mein Schreiben mit villen grüsten und schreibe wo der Johann am 3 Speber 1905 ist . . . Schiege mir ein bar Seife
»Manchmal begreift man gar nicht,« erzählt der Geistliche, »wenn man so einen jungen Sträfling bloß aus der Anstalt kennt, wie er draußen ein so gräßliches Verbrechen begehen konnte. Seit zwei Jahren haben wir zum Beispiel einen gewissen Reichenstein hier. Er führt sich tadellos auf, er ist sehr intelligent, er läßt sich nicht das kleinste Verschulden zukommen, und als achtzehnjähriger Mensch ist er wegen – Raubmordes zu zehn Jahren Kerker verurteilt worden. Übrigens ist er krank, er ist tuberkulös, er hat Blutbrechen gehabt . . .«
,.Ich habe ihn aber nicht im Tuberkulösenzimmer gesehen?«
»Nein,« erwiderte der Direktor, »so arg ist sein Zustand nicht.«
Der Direktor fühlt meine stumme Frage: Ist Blutbrechen noch nicht arg? und kommt rasch mit einer Antwort zuvor: »Jetzt arbeitet er draußen im Garten.«
Der nächste Akt gilt dem Sträfling Karl Schöpf. »Er war noch nicht achtzehn Jahre, da ist er vom 131 Innsbrucker Schwurgericht wegen Raubes zu zehn Jahren schweren Kerkers verurteilt worden.«
Entsetzt fahre ich zurück: »Zehn Jahre?«
»Ja. Der dumme Bub ist so leicht zu beeinflussen, er hat eben auch eine geschwächte Willenskraft. Schlecht ist er nicht. Wenn man ihn ermahnt, stehen ihm gleich die Tränen in den Augen.«
»Wie ist denn der Raub geschehen?«
Der Geistliche blättert in der Anklageschrift: »Seine Eltern lebten im Ausland, da hat er sich einem alten Haderlumpen angeschlossen, mit dem hat er zusammen in einem Wirtshaus getrunken, dann ist er hergegangen und hat einen Vorübergehenden beim Kragen gepackt und geschrien: ›Ein Sechserl gib her!‹ Er war jedenfalls angetrunken.«
Zehn Jahre für diese eine verbrecherische Minute! In der Provinz toben sich eben noch viele FeiglsHerr Feigl ist als einer der grausamsten, direkt höhnischen Strafrichter Österreichs bekannt. Er gehört zum Typus Brausewetter, jenes berüchtigten Berliner Richters, der später im Irrenhause endigte. Ich finde, daß der Typus, auch vor der letzten Station schon, von Psychiatern einmal erforscht werden sollte! aus, von der Öffentlichkeit nicht genug überwacht, erbarmungslose Anwender der alten Strafgesetzmaschine . . .
132 Neben den Opfern des menschenverschlingenden Raubparagraphen stehen die Opfer des Brandstiftungsparagraphen.
Der Geistliche erzählt: »Der Hermann Prinz – das ist auch einer, der geistig nicht normal ist. In der Anstaltsschule ist er der beste Schüler, aber dann wird er plötzlich wieder ganz sonderbar störrisch. Er kommt mir so ähnlich vor wie ein Quartalsäufer. Schon seine Kindheit ist merkwürdig. Seinen Eltern lief er weg, weil er nach Eggenburg in die Besserungsanstalt wollte. Dort ist er sieben Jahre gewesen. Als er hinauskam, rannte er in die Hofburg, um vom Kaiser die Erlaubnis zu holen, nach Eggenburg zurückzukehren. Mit siebzehn Jahren machte er einem Mädchen Liebesanträge. Das Mädel wies ihn ab und er ging her und zündete das erstbeste Haus eines wildfremden Menschen an, den weder er noch das Mädchen kannte. Dafür hat er drei Jahre schweren Kerkers bekommen.«
»Manchmal ist er gegen Ermahnungen ganz stumpf.« meint der Direktor.
»Aber dann ist er wieder ganz weinerlich,« fügt der Geistliche hinzu. »Einmal wollte er hier einen Selbstmord begehen. Aber da war im selben Zimmer einer, dem ein Selbstmord mißglückt ist. Der hat ihm zugesehen. wie er das Leintuch zu einem Strick zusammengewunden hat, hat 133 beobachtet, wie er sich alles zurecht gerichtet hat. Im richtigen Moment ist er dazwischen gefahren und hat ihm gesagt: ›Wenn ich mich nicht hab' umbringen können. brauchst du dich auch nicht zu erhängen.‹ Der hat ihn dann die ganze Nacht belauert . . . Er ist nicht normal, der Prinz, er hat auch so einen irrsinnigen Blick.«
Ich habe den armen Jungen später gesehen. Auch ein blaßliches Gesicht mit großen. wässerigen, starren Augen . . . Der Direktor hielt ihm, da er offenbar gerade eine »Krise«. wie der Geistliche es nannte, überstanden hatte, eine mahnende Ansprache. Nach meinen genauen, sofort gemachten Aufzeichnungen lautete sie: »Führen Sie sich brav auf, Prinz, sonst werden Sie die Strafe nicht überstehen. Sie sehen eh schlecht aus. Sie haben nicht viel zuzusetzen . . .«
»Auch ein geistig Abnormaler ist der Josef Probst.« Mit diesen Worten beginnt der Geistliche die Schilderung des nächsten Falles. »Das ist ein Analphabet. Wir haben ihn jetzt schon zwei Jahre hier in der Anstaltsschule und er kann noch nicht lesen. Der Herr Lehrer hat mir unlängst erst erklärt, daß das bei ihm nicht Indolenz ist. Er kann auch keinen längeren Satz normal aussprechen. Er verwechselt die Buchstaben, nennt die letzten zuerst und die ersten vergißt er. Vielleicht beruht das auf einer Anormalität der Sprachwerkzeuge.«
134 Der Direktor unterbricht: »Aber boshaft ist er sehr! Was hab' ich den strafen müssen! Da haben Sie das Verzeichnis. Von Februar bis November dreizehn Disziplinarstrafen. Jetzt ist es besser, seit er in der C-Abteilung ist.« (Die C-Abteilung ist die strengste, am ärmsten an Vergünstigungen.) Sofort fügt der geistliche Herr die Erklärung hinzu, warum Probst in der C-Abteilung sich zusammennimmt. Auch diese Erklärung, so befremdend, ja entsetzlich sie klingen mag, zitiere ich nicht aus dem Gedächtnis, ich habe sie sofort notiert: »Wissen Sie, in der C-Abteilung sind ein paar gestorben. Vorher sind sie streng bestraft gewesen, Fasten, hartes Lager usw. usw., infolgedessen sind sie gestorben. Geschwächte Naturen sind es ja meistens, durch Ausschweifungen hergenommen, die halten eben nicht viel aus und sterben früh.«
Der Direktor fügt phlegmatisch ein: »Na ja, einer war dazu veranlagt.« (Einer! . . .)
Der Priester beendigt seine Erklärung: »Jetzt haben sie alle Angst in der C-Abteilung.«
»Der Fall Stogar.« Der Geistliche greift zum nächsten Akt. »Auch ein merkwürdiger Fall. Denken Sie sich: Ein Sträfling, der von hier aus, von der Anstalt aus, seine Mutter unterstützt! Er könnte die 135 paar Kreuzer selbst brauchen, er sieht nicht besonders aus, er könnte das bissel Geld zur Kostaufbesserung schon benötigen. Aber er schickt es der Mutter! Und doch ist er – unverbesserlich.«
»Weshalb sitzt er denn?»
»Immer wegen einer Gewalttätigkeit. Achtmal ist er vorbestraft. Da ist eben auch ein psychischer Defekt im Spiel. Wenn er aufgeregt wird, wird er unzurechnungsfähig. In seinem Jähzorn muß er wie ein Tier gebändigt werden. Am nächsten Tag ist er wieder still und bereut alles. Der Willen, der Willen ist eben krank! . . .«
Noch ein Opfer des Brandlegungsparagraphen, der Bauernknecht Alois Grübler. Als Sechzehnjähriger hat er einmal an einem Sonntag zu viel Most getrunken. In der Trunkenheit legte er einen Brand. »Damit ich einmal ein großes Feuer sehe,« das war seine Verantwortung, als ihn die Richter fragten, warum er gegen den vernichtenden § 166 gesündigt habe. Für diese Brandlegung gab ihm ein Provinzgericht – sechs Jahre schweren Kerkers. Pyromanie, wie die Psychiater diese krankhafte Brandlust nennen. Der Begriff ist Provinzrichtern wohl noch nie in den Sinn gekommen . . . Hier in der Anstalt ist Grübler sehr brav. Ich habe ihn jetzt 136 zu meinem Ministranten gemacht, das hat sein Selbstgefühl natürlich sehr gehoben.«
Ein hübscher, aufgeweckter Junge ist der Friseurlehrling Johann Schmitt, der wegen Diebstahls sitzt. »Nur ein bissel größenwahnsinnig ist er,« meint der Direktor. – »Warum?« – »Er wollte als Schreiber in die Kanzlei . . . Auch dichtet er Theaterstücke.«
Der Direktor fragt ihn: »Sie schreiben Theaterstücke?«
»Dank Ihrer Gütte.« erwidert Schmitt in eingelerntem Ton (alle Sträflinge, die der Direktor vor mir fragt, erwähnen pünktlich seine »Gütte«), »kann ich in der freien Zeit Stücke komponieren.«
»So? Wieso können Sie denn das?«
»Ich hab' draußen schon angefangen.«
»Kann man denn das als Friseur lernen?«
Auf diesen forschenden Vorhalt hätte auch ein Schlagfertigerer nicht rasch antworten können. Der Direktor läßt den Anstaltslehrer rufen, der die Stücke gelesen hat. »Wie sind seine Komödien?« »Ganz schlecht,« erwidert der Anstaltslehrer, »er kann das nicht. Bei einem Theaterstück muß doch eine Schuld entwickelt werden, dann muß der Knoten geschürzt werden und das Ganze muß doch ein Resultat haben. Das kann er nicht. Er teilt auch die Szenen noch in Akte ein, das geht ja auch nicht.«
137 »Natürlich,« brummt der Direktor, »ich habe mir ja gleich gedacht, daß er das nicht kann, das ist ja sehr schwer.«
»Hammerschlag Julian.« Der Geistliche nimmt den Nächsten vor. »Das ist der Schlechteste, den wir hier haben.«
»Vorbestraft?« frage ich.
»Nein. Zum erstenmal bestraft. 1886 geboren. Ein Halbgebildeter. Ein Sozialist.«
»Wieso das?«
»Er hat selbst gesagt. daß er an nichts glaubt.« Der Direktor sagt: »O, der ist keck. Wie er hereingekommen ist, hab' ich ihn zum Rohrflechten verwendet. Wissen Sie, was er gesagt hat? ›Meine Finger sind zu zart‹ und er hat wirklich eine andere Arbeit verlangt.« Das Rohrflechten, nebenbei bemerkt, ist eine sehr schwere Arbeit, bei der sich, wenn man nicht daran gewöhnt ist, die Haut schmerzhaft herunterlöst, bis die Fingerspitzen eine neue harte Haut kriegen.
»Verfehlte Erziehung,« erklärte der Geistliche, »die Eltern sind geschieden.«
»Ich glaub', der Vater war sogar ein Jud',« fügt der Herr Direktor erklärend hinzu.
»Das würde ja nichts machen,« korrigiert der Geistliche rasch, »aber er hat eine unverdorbene Weltanschauung.«
138 »Dabei hat er nicht einmal eine schöne Schrift,« sagt der Direktor und legt mir aus seinem Akt eine Schriftprobe vor. Man ließ den »Sozialisten« kalligraphieren: »Die Religion ist der beste Schutz des Menschen.« Ja, in Göllersdorf fängt man das Bessern pfiffig an . . .
»Kann ich den Hammerschlag sehen?«
»Er ist unten im Arrest.«
Instinktiv führt mich der Herr Direktor zu jenem schon erwähnten finsteren Kellergelaß. Dort haben sie den »Sozialisten« acht Tage untergebracht. »Heute haben wir ihn schon in die Disziplinarzelle geführt,« erklärt ein Aufseher und ich ahne, daß mein Besuch doch wenigstens ein klein wenig Nutzen gestiftet hat. Ich sehe den »Sozialisten« an, aber er senkt den Kopf und auf eine gewöhnliche Anrede des Direktors antwortet er ganz kurz und bündig. Das Wort »Güte« kommt in dem Satz nicht vor. Nachher hab' ich zur Beruhigung nachgesehen, wie lang die Strafe Hammerschlags ist. Acht Monate. Möge er sie mit seinen siebzehn Jahren überwinden!
Noch eine bange Reihe zieht an mir vorüber. Da ist ein fünfzehnjähriger Junge, der wegen Vagabondage in den Linzer Arrest gesteckt, dort mit einem alten Verbrecher Unzucht getrieben und zu sechseinhalb Monaten Kerker verurteilt wurde. Er sitzt seit Februar und hat noch nicht einen einzigen Brief geschrieben und empfangen. »Die 139 Eltern sind böse auf ihn.« Der Refrain kehrt immer wieder. Da ist ein achtzehnjähriger Stotterer, der zum zehntenmal wegen Diebstahls bestraft ist, die Eltern haben ihn vor Jahren hinausgejagt, jetzt pendelt er zwischen Landstraße und Kerker. Da ist einer, der wegen Landstreicherei vorbestraft ist, wegen Diebstahls sitzt und der nicht einmal angeben kann, wann und wo er geboren . . . Lauter bartlose, glatte Gesichter, mit gradem Kinderblick, so jung, daß man nicht wagt, von Verbrechern zu reden, trotz der bewiesenen Verbrechen. Eine bange Reihe gebrochener Jugendexistenzen. In Göllersdorf wird kaum eine wieder aufgerichtet!