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Kaum eine Stunde Weg von Prag aus. Vorbei an dem uralten Festungsgemäuer, durch armselige, spärlich-grüne Wiesen, wie sie so saftlos nur in der Nähe der Großstadt aufsprießen, an vereinzelten, verwahrlosten Vorstadthäusern vorbei, einen anregungslosen, mählig ansteigenden Weg. Dreht man sich aber zufällig plötzlich um, so bleibt man staunend stehen. Unter einem, in silbergrauem Nebel, liegt Prag . . . Dann trottet man weiter den öden Weg. Die Häuser am Straßenrand mehren sich. Lauter Neubauten und doch schon verschmutzt und verunstaltet. Dies ist das Dorf Pankraz. Von Bewohnern ist nicht viel zu sehen, höchstens ein paar Dutzend bloßfüßige, unbeaufsichtigte, raufende, schreiende, bettelnde Kinder. Im Nu ist man von einem Schwarm kleiner barfüßiger Schnorrer umgeben, die ihre tschechischen Bettelworte mit unheimlicher Schnelligkeit heraussprudeln . . . Die jämmerliche Szene ist eine passende Ouverture für einen Strafanstaltsbesuch. Da steht plötzlich – auf freiem Felde – die Strafanstalt vor der Nase, ich reiße mich von den drei Dutzend kleinen Anhängern los, läute und werde eingelassen.
Pankraz, das wußte ich, ist eine lehrreiche Anstalt. Sie 62 zerfällt in drei Teile, in einen Trakt mit Gemeinschaftshaft, einen mit Einzelhaft und ein eigenes Gebäude für Jugendliche. Die Anstalt ist 1889 errichtet worden und beherbergt momentan 819 Sträflinge. Davon sind 315 in Einzelhaft. Das erste, was mir denn auch der Direktor zeigt, ist der Trakt für Einzelhäftlinge. Hier hat der Erbauer am sogenannten »Sternsystem« festgehalten. Das heißt: von einem Mittelpunkt aus strahlen Gänge nach den vier Windrichtungen. An diesen langen Gängen liegen nebeneinander die Einzelzellen. Die Zelle ist licht, luftig, das Fenster oberhalb der Kopfhöhe. Vom Gang aus kann der Häftling durch eine kleine Luke in der Tür beobachtet werden, man braucht nur eine kleine Metallplatte wegzuschieben. Das geschieht ganz unhörbar. Ich selber höre, während ich's versuche, keinen Laut, und doch – der Sträfling, bisher mit dem Rücken zur Tür gewendet, dreht sich um und ein abgemagertes, unrasiertes Gesicht blickt mit tiefliegenden Augen zur Tür . . . So scharfhörig, so reizbar wird man in der Einzelhaft. Wir öffnen eine leere Zelle. Der Aufseher erklärt mir den Signalapparat. Braucht ein Häftling Hilfe, so kann er in der Zelle läuten. Mit dem Läutewerk steht ein Mechanismus in Verbindung, der bewirkt, daß in diesem Moment draußen am Gang bei dieser Zelle eine rote Signalscheibe vorspringt . . . Einen langen Gang gehen wir ab, überall ein Blick durch die Luke, fast überall wendet 63 sich der Sträfling von der Arbeit um. Das Drehen des Blättchens an der Tür – um diese Zeit – ist offenbar ein außergewöhnliches Ereignis. In einzelnen Zellen stehen Handwebstühle, auf welchen Jutestoffe erzeugt werden, in anderen Zellen tritt der Sträfling seine Nähmaschine, manche Zelle ist in die Werkstätte eines Schustergesellen verwandelt, in vielen Zellen werden Papiersäcke geklebt. Als »Antreiber« fungiert hier das »Pensum«. So zum Beispiel sind für die Papiersäckekleber 3000 Säcke per Tag das unerbittliche Pensum! Die Entlohnung nach Klassen ist hier die gleiche wie in Garsten. Im Winter wird um 7 Uhr, im Sommer um 6 Uhr früh begonnen, dafür wird im Sommer um 6 Uhr Schluß gemacht, im Winter um 7 Uhr. »Jeder taugt übrigens nicht für die Einzelhaft«, bemerkt der Verwalter, »manchen muß ich wieder unter Leute geben . . .« Erträglicher ist es ja freilich im anderen Trakt, in den wir jetzt kommen, in der Gemeinschaftshaft. Da sitzen in größeren Zellen die Sträflinge bei der Arbeit beisammen. – Neben dem »Pensum« ist hier noch ein leibhaftiger Aufseher – und es ist schon Erholung des Geistes, wenn neben dem einen Schustergehilfen noch einer sitzt, der seinen Hammer auf die Sohlen der neuen Stiefel sausen läßt, und es ist schon Erfrischung, daß man da in der hellen Buchbinderei nicht den ganzen Tag allein stehen muß und nur das Hallen seiner eigenen Schritte hört, sondern daß dort und dort am 64 Fenster noch einer und noch einer steht, dessen regelmäßige Arbeitsgeräusche herüberdringen. In der Schusterei sitzen um einen niederen Arbeitstisch vier Gesellen. Einer von ihnen, ein kleiner, abgemagerter Kerl mit lebhaften, herumtanzenden Augen, wendet sich nervös nach allen Seiten, wie ich mit dem Verwalter eintrete.
»Arbeiten!« gebietet der Verwalter.
Der Lebhafte beugt sich über seine Stiefel, blickt wieder auf, dreht sich um, duckt sich sofort furchtsam wieder über seine Arbeit und spitzt dabei förmlich die Ohren. Neben den apathischen anderen fällt der ruhelos Nervöse sofort auf.
»Das war der Hilsner,« sagte der Verwalter, wie wir draußen waren. »Er arbeitet ganz brav in der Schusterei . . . Was habe ich seinetwegen alles auszustehen gehabt. Da haben sie in den Zeitungen geschrieben, er ißt Gansel und Salat in Pankraz und spuckt auf die anderen Gefangenen. Was waren deshalb für Untersuchungen! Natürlich lauter Lügen! Er muß hier wie die anderen leben.«
Von den Arbeitssälen weg wenden wir uns zum Spital. Neben der Krankenabteilung ist eine Siechenabteilung für bereits marastische Individuen. Wir treten gerade um die Zeit ein, da diese Siechen spazieren gehen sollten. Es sind Greise, die hier auf den Betträndern sitzen, kleine verhuzelte Gestalten, die gelbe Haut pergamentartig, das Gesicht in tiefen Falten, die Augen wie verglast.
65 »Warum seid ihr denn nicht spazieren gegangen?« fragt der Verwalter.
»Man hat auf uns vergessen . . .«
Ich erinnere mich, wie oft Angehörige von Sträflingen, die schon zwanzig Jahre und länger saßen, darüber klagten, daß Sektionschef Holzknecht von Begnadigung nicht viel wissen will. Man hat auf sie vergessen . . .
In den Krankensälen liegen momentan 38 Mann. Einer fällt mir darunter vor allem auf, ein junger 24- bis 25-jähriger Mann. Ein so kreideweißes Gesicht habe ich noch nie gesehen! Als sei der letzte Blutstropfen daraus entflohen, selbst die Lippen fahlgrau! Betroffen erkundige ich mich nach diesem Kranken, aber der Arzt ist nicht da. Der Verwalter kann mir nicht sagen, was diesem Totenbleichen fehlt. Mit einem Schritt trete ich zu seinem Bett und lese auf der schwarzen Tafel: Suicid. tent..
»Dieser Mann hat einen Selbstmordversuch begangen,« sagte ich zum Verwalter im Hinausgehen.
»So?«
»Wissen Sie nicht, warum?«
»Nein, ich weiß nicht mehr.«
Gut, denke ich und ziehe mit Gelassenheit mein Notizbuch heraus, um mir gerade jetzt einige Anmerkungen zu machen. Während ich schreibe, sagt mir der Verwalter:
»Entschuldigen Sie, ich kann nicht sehr gut Deutsch. 66 Wegen den Selbstmord wollen Sie wissen? Das war ein sehr aufgeregter, nämlich in Geschlechtssachen aufgeregter Mensch. Na, und . . . ein braver Arbeiter in der Buchbinderei war er. Einmal schleicht er sich in die Ecke, nimmt das schärfste Messer und schneidet sich . . . Geschlechtsteil ab . . . Doktor ist sehr besorgt.«
»Wie ist denn die Kost?« frage ich, wie wir das Lokal verlassen haben.
»Na, wie überall. Morgensuppe. Vom November bis April ist Abendsuppe . . .«
»Was?« unterbreche ich ihn, »nur vom November bis April gibt's Abendsuppe? Also vom Mai bis Oktober gibt's nach dem Mittagessen gar nichts mehr?«
»Nein! Früher war nicht einmal im Winter Abendsuppe. Das geht vom Justizministerium aus. Wir haben schon einige Male Vorstellungen gemacht. Wenn es möglich sein wird, wird es gewiß bewilligt werden!«
Das war mir neu, daß das Justizministerium in manchen Anstalten selbst am Abend mit dem bissel Einbrennsuppe spart. Bisher wußte ich nur, daß es in Mürau und in Capodistria keine Frühsuppe gibt! . . . Die Kostnorm in Pankraz ist übrigens folgende:
Dienstag früh: Griessuppe; Mittag: Lebersuppe und Reisbrei. 67
Mittwoch früh: Graupensuppe; Mittag: Erdäpfelsuppe und Knödeln mit Kraut.
Donnerstag früh: Einbrennsuppe; Mittag: Banadelsuppe und gefettete Kartoffeln.
Freitag früh: Reissuppe; Mittag: Brotsuppe und Ritscher.
Samstag früh: Griessuppe; Mittag: Erbsensuppe und gefettete Knödeln.
Sonntag früh: Milch; Mittag: Rindfleisch mit Reis und Bohnensalat.
»Also nur einmal ist Fleisch!«
»Ja. Ich suche durch Suppen das Fleisch zu ersetzen!«
Wie der Herr Verwalter das Experiment zustande bringen wird?
Nun kommen wir in den Pavillon der Jugendlichen. Die Jungen sitzen eben in den Arbeitssälen; hier werden Mützen erzeugt. Stillschweigend gehe ich an ihren Bänken vorbei, und jeder sieht mich mit großer Neugier an. Da in der letzten Bank sitzen ein paar besonders unentwickelte, kleine Jungen. Zwölf Jahre alt, würde man nach den glatten Knabengesichtern schließen.
»Wie alt ist der Letzte?« fragte ich flüsternd den Verwalter.
68 »Sechzehn.«
Wie wir den Saal verlassen, sagte der Aufseher:
»Diese ganz Jungen sind hauptsächlich wegen Brandlegung da. Der Kleine hat noch zwei Jahre zu sitzen . . . So einem Buben die Hosen spannen und ihn dann laufen lassen, wär' g'scheiter. Das sind ja noch Kinder!«
Für die »Jugendlichen« besteht in der Anstalt auch eine Schule mit einem Anstaltslehrer. An jedem zweiten Tage muß der »Jugendliche« einen halben Tag der Schule widmen. Die Elementargegenstände, deutsch und tschechisch, und landwirtschaftlicher Unterricht werden gelehrt. Auch ein Sängerchor der Sträflinge ist von dem jetzigen Lehrer gebildet worden . . . Wir treten in das Schulzimmer, das jetzt leer ist. »Das ist unser Stolz«, sagt der Verwalter und weist auf eine Bronzebüste der verstorbenen Kaiserin hin, die an einer Längswand aufgestellt ist. Unter der schönen, jedenfalls nicht billigen Büste ist eine Gedenktafel angebracht, auf der es heißt:
»Dem Andenken der Allerdurchlauchtigsten Wohltäterin.«
»Sehen Sie,« fügt der Verwalter hinzu, »dieses Denkmal ist von den Arbeitsgeldern der Sträflinge errichtet worden. Monatelang haben alle Sträflinge mit den 2, 3, 4 Kreuzern, die sie per Tag bekommen, gespart, bis sie einen genügend großen Fonds beisammen hatten.«
69 »Ah!« erwiderte ich. »So patriotisch sind hier die Sträflinge?« Und im stillen denke ich mir, mit welcher Bereitwilligkeit die armen Teufel monatelang auf den Bissen Speck als »Nebengenuß« verzichtet haben, um nur, endlich, eine patriotische Büste im Lehrzimmer aufstellen zu können . . . Ob der Verwalter einen Orden bekommen hat, habe ich gar nicht erst gefragt.
Das Merkwürdigste sind die Schlafsäle der »Jugendlichen«. Da steht in einem siebenfenstrigen Saale, ihn fast ausfüllend, ein enorm langes, dicht vergittertes Eisengerüst, ein Riesenkäfig, geteilt in 98 kleine Käfige! So ein kleiner Käfig heißt Schlafkoje, er ist ungefähr 1½ Meter breit, 2 Meter 20 Zentimeter lang und 2 Meter hoch. Dichte Gitter sind die Wände der Koje, deren – wie gesagt – 98 nebeneinander in einem siebenfenstrigen Saale liegen. Die Gitter sind so engmaschig, daß man keinen Finger durchstecken kann. Doch ist es möglich, den Schlafenden durch das Gitter zu beobachten. In diese Käfige werden die Jungens allabendlich gesperrt und in der Frühe wieder befreit. »Wir haben aber leider die Erfahrung gemacht, » erklärt man mir, »daß die Gitter die Luft nicht genug durchlassen. In den Kojen steht die Luft still, das System hat sich nicht bewährt, man wird es nicht mehr verwenden.« Daran, daß man es wegschafft, weil es sich nicht bewährt hat, ist nicht zu denken. Es ist da! Folglich müssen ein paar Hundert 70 Knabenlungen darunter leiden, bis es wieder pfutsch sein wird! Endlich, was die Unsittlichkeiten anlangt, die man durch diese Isolierung vermieden wissen will, so ist freilich jede gegenseitige Berührung unmöglich. Dagegen ist möglich, daß der Aufseher den Kojenbewohner beobachtet, und auch der Nachbar.
Wir gehen durch die Gärten und Felder der Ökonomie. Hier arbeiten gleichfalls Jugendliche.
»Erschreckend ist nur«, sagte mir der Anstaltsarzt, »wie groß der Prozentsatz der Tuberkulosen bei den Jugendlichen ist.«
»Daran mögen auch diese Schlafsäle schuld sein.«
»Nein! Ich glaube, da ist nur eines schuld: die Jugendlichen werden nicht genügend genährt. Viel zu wenig Fleisch! So lange man den Jugendlichen, den im Wachstum Befindlichen, keine kräftigere Kost gibt, werden sie immer wieder wie die Fliegen wegsterben! Das wäre die wichtigste Jugendlichenfürsorge.«
Ein paar Schritte von uns stehen ein paar »Jugendliche« und schaufeln im Gemüsegarten. Vornübergebeugt stehen sie in ihrem grauen Anzuge da, abgemagert, mit grünlichem Gesicht, den Spaten in der Hand, und graben . . .