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Im Grunde hielt Doktor Borkrum seinen Freund Wolfram Mark durchaus für unschuldig und die Indizien sämtlich für ungefährlich und nichtsbeweisend; indessen waren sie immerhin so mannigfaltig und scheinbar gefährlich, daß sich ein bedeutender Prozeß, eine cause célèbre daraus konstruieren ließ. Gelang ihm dann die Verteidigung, und er entwarf bereits im voraus die wirksamsten Redefiguren, die schwungvollsten Apostrophen, die witzigsten Antithesen – so war er mit einem Schlage ein berühmter Mann, und es gab keine Staffel im Staatsleben, die er dann nicht mit Leichtigkeit zu erklimmen hoffte. Jedenfalls wurde er der große Doktor Borkrum; wenn auch am guten Namen seines Freundes Mark ein Flecken haften blieb, so kümmerte ihn das wenig, so weit hatte der Gatte von Frau Gertrud sowie diese selbst eine Lektion verdient; wurden sie aber mit Glanz freigesprochen, und darauf rechnete Borkrum mit Sicherheit, so wurden sie ihm als ihrem Verteidiger auf Lebenszeit Dank schuldig. Diese Aussicht kitzelte unsern Biedermann ganz besonders, der hier nicht zwei, sondern ein ganzes Dutzend Fliegen mit einer Klappe zu schlagen hoffte, dabei aber außerdem Ursache fand, sich selbst für einen edlen Mann – mindestens für einen »verfluchten Kerl« zu halten, eine Wohltat, die ihm nicht allzu häufig zuteil wurde.
So ungefähr war der stille Calcul des Herrn Doktor, der sich über den genialen Einfall, seinen »Freund« verhaften zu lassen, alle Tage hundertmal ins Fäustchen lachte.
Leider kam die Sache ganz anders, als sich der überschlaue Doktor Borkrum geträumt hatte. Wie es zu gehen pflegt, entfesselte jetzt die wirkliche Verhaftung alle Zungen. So lange die Justiz ihn nicht angetastet, hielt der scheue Respekt vor dem Gutsherrn und die Wahrscheinlichkeit eines unverschuldeten Unglücks alle Gegner im Bann, obwohl die Zahl der letzteren durch das erbitternde Benehmen Marks in letzter Zeit täglich wuchs und die frühere leidenschaftliche Parteinahme der Gemeinde für die Gutsherrschaft längst in ihr Gegenteil verkehrt worden war.
Jetzt aber, wo jener Bann und Zauber gebrochen war, rauschte es wie eine wilde Hochflut von Anklagen, Beschuldigungen und Denunzianten heran. Jedermann im Flecken wollte etwas Neues, Furchtbares und Geheimnisvolles wissen. Und es meldeten sich jetzt freiwillig so viele zur Vernehmung, daß die Voruntersuchung Mühe hatte, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu scheiden.
Der erste Hauptzeuge war ein Oberknecht, welcher schon Jahre zuvor mit Wolfram Mark zusammen gedient hatte. Nachdem der letztere jenes Verhältnis mit der Tochter des Herrn angeknüpft und sie geheiratet hatte, versuchte Joseph Gruber – dies war der Name des Oberknechtes –, den alten vertraulichen Ton nicht nur fortzusetzen, er mißbrauchte auch offen die Nachsicht des neuen Herrn, dem zuletzt nichts übrig blieb, als den frechen Burschen Knall und Fall davonzujagen.
Dieser ehemalige Oberknecht gab an, daß an jenem verhängnisvollen Tage Wolfram Mark, der damals entlassen war, heimlich im Gartenhause erschienen sei und sich dort mit Fräulein Gertrud eingeschlossen habe. Er kam waffenlos, trug aber eine Büchse, als er gegen Abend dem Herrn Erdmann-Ravensbeck in den Wald nachfolgte.
Der zweite Zeuge war jene Beschließerin, die früher ebenfalls in Diensten auf Schloß Ravensbeck gestanden und die Herrschaft mit Fräulein Gertrud eigentlich geteilt hatte. Diese Dame, äußerlich ein robustes Frauenzimmer von wenig anziehendem Reiz – habe, so sagte man, ein Auge auf den Verwalter Wolfram Mark gehabt, sie behauptete sogar ein Eheversprechen von ihm zu besitzen, konnte dieses Vorgeben aber durch nichts beweisen. Seitdem das gnädige Fräulein selbst sich mit dem Verwalter eingelassen, gebärdete sich diese Person wie rasend, und es war vorauszusehen, daß sie die Gelegenheit, Rache zu nehmen, jetzt nicht vorübergehen lassen werde.
Sie gab an, daß Wolfram Mark in der jenem Unheilstage folgenden Nacht noch einmal auf dem Rittergute erschienen sei; sie habe zufällig einige vergessene Stück Wäsche von der Bleiche im Garten heraufgeholt und bei dieser Gelegenheit bemerkt, daß Mark um das Herrenhaus herumgeschlichen sei und in die Hand geklatscht habe. Darauf habe ihn Fräulein Gertrud selbst eingelassen. Neugierig habe sie einige Zeit gewartet und bemerkt, daß Mark nach Verlauf einer Viertelstunde das Gut wieder verlassen habe, und wie ihr schien, in anderen Kleidern. Fräulein Gertrud aber habe noch in selber Nacht irgend etwas gewaschen. Gleich nach der ersten Untersuchung sei sie plötzlich aus dem Dienst entlassen worden, weil man vorgegeben, daß ein Dutzend silberner Löffel fehle, in Wahrheit, weil sie um jene Vorgänge gewußt und nicht geschwiegen habe. Seitdem sei sie nach Habichtshausen gezogen.
Diesen Angaben schloß sich eine Reihe von Aussagen von Knechten, Mägden, Viehtreibern und Tagelöhnern, bis herab zum Gemeindehirten an. Aus allen ging hervor, daß das Ehepaar von Anfang an in Unfrieden gelebt, und daß von Zeit zu Zeit leidenschaftliche Auftritte zwischen ihnen stattfanden. Herr Mark sei meist betrunken gewesen und Frau Gertrud habe sich vor ihm gefürchtet. Ob es zu tätlichen Mißhandlungen gekommen war, wußte niemand mit Bestimmtheit anzugeben, aber die allgemeine Annahme war dafür.
Schon schien es, als ob nach diesen an sich wenig wertvollen Depositionen die Voruntersuchung abermals im Sande verlaufen wolle, als die Aussagen zweier fremden Zeugen neues Licht verbreiteten.
Der erste war Herr von Conring, welcher außer der Wiederholung jenes ersten Auftrittes mit Herrn Erdmann-Ravensbeck im Walde angab, daß er am späten Abend des oft besprochenen 13. Juli zufällig in der Nähe des Flußufers auf dem Stromdamme sich befunden habe. Er wisse sich deutlich zu erinnern, daß er dort einen Schuß gehört habe. Dem Schalle nachgehend, habe er am Fuß einer hohen Pappelweide einen Menschen bemerkt, der etwas zu vergraben schien. Beim Leuchten eines Blitzes glaubte er mit Sicherheit Wolfram Mark erkannt zu haben mit dem Jagdhunde vom Rittergute, der von Zeit zu Zeit ein klägliches Geheul hören ließ.
Man grub an dem bezeichneten Baume nach und fand einen alten Überrock mit Schnüren nebst einer grünen Jagdmütze. Beide Kleidungsstücke wurden einstimmig als dem Herrn von Erdmann-Ravensbeck gehörig anerkannt. Von einer Leiche jedoch war keine Spur aufzufinden, und es drängte die Vermutung sich von selber auf, daß der Körper des Entseelten nach verübtem Mord ausgeraubt und in die Fluten des Stromes geworfen worden sei. Jener Jagdhund, welcher seitdem oft an jener Stelle gesehen worden, wurde kurze Zeit darauf, wie es hieß, aus Versehen, von Wolfram Mark erschossen.
Der zweite auswärtige Zeuge war der Pfarradjunkt Jakobi von Habichtshausen, derselbe, welcher in der letzten Osterwoche für den erkrankten Pfarrer von Schwelmroda vikariert hatte. Dieser gab an, daß am selben Tage des Unheils, und zwar schon vormittags, der alte Herr Erdmann-Ravensbeck bei ihm erschienen sei und ihm eine Art offenes Testament habe anvertrauen wollen. Es sei möglich, habe er gesagt, daß ihm etwas Menschliches passieren werde, und daß er eines Tages nicht mehr da sei. In dem Testament sei seine Tochter enterbt gewesen; abgesehen von einem schmalen auf sie fallenden Pflichtteil, sei das bare Geld in verschiedenen Legaten an die Dienerschaft und an die Ortsarmen vermacht worden. Das Rittergut selbst war dem Fiskus verschrieben worden. Aus seine Einwendung, daß das Testament nur dann Gültigkeit haben werde, wenn es notariell legalisiert worden sei, habe Herr Erdmann-Ravensbeck das Papier wieder mitgenommen, aber versprochen, ihm dasselbe am Abend desselben Tages, und zwar legalisiert wiederzubringen. Auf seine zweite Frage, warum er sich nicht an den Pfarrer seines Orts wende, habe er geäußert, daß dieser nicht sein Freund sei; alles in allem habe er den Eindruck eines Mannes gemacht, der mit dieser Welt abgeschlossen habe. Lange habe er, der Pfarradjunkt, am Abend aus Herrn Erdmann gewartet, aber derselbe sei nicht wiedergekommen.
Als Ergänzung zu dieser Angabe ward konstatiert, daß der alte Herr allerdings jenen Abend in Habichtshausen gewesen war, und zwar im Wilden Mann, wo er hastig eine Flasche Wein getrunken und ziemlich viel Geld gezeigt habe. Gegen acht Uhr sei ein Holzschiff auf dem Strom vorübergekommen, aber Herr Erdmann sei damals schon fortgewesen. Noch wollte man sich erinnern, daß zwei Strolche dem alten Herrn nachgegangen seien, offenbar nicht in der besten Absicht, aber sie seien gewiß zu nichts gekommen, im Gegenteil hätten sie einige Tage nachher in einer Branntweinschenke erzählt, daß sie ebenfalls einen Schuß gehört hätten und nicht lange darauf einem Manne mit einem Jagdhunde begegnet wären, der sie hätte stellen wollen. Aber der Mann, den sie in der Dunkelheit nicht erkennen konnten, habe den Hund zurückgerufen und sei im Walde verschwunden.
Diesen Belastungszeugen gegenüber fanden sich nur zwei Entlastungszeugen; aber leider dienten ihre Aussagen nur dazu, wider ihren Willen das Gewicht jener ersten Indizien zu verstärken. Der erste und einzige, welcher zu Gunsten Wolfram Marks sprach, war der Holzhändler Petermann aus der Hauptstadt.
Er erzählte nochmals, wie er sich am Nachmittag jenes 13. Juli des verzweifelten jungen Mannes angenommen habe, welche Anerbietungen er ihm gemacht, und welche abweisende Antwort er erhalten habe.
Leider klang diese Antwort: »Zuerst muß man sich selber helfen!« nicht bloß abweisend, sondern sogar drohend. Wenigstens wollte dies der Untersuchungsrichter finden und ersuchte den Holzhändler fortzufahren. Dieser erzählte nun, daß Wolfram Mark trotz seiner Absage einige Tage darauf doch zu ihm in die Stadt gekommen sei, um bei ihm einzutreten. Er sei ihm scheu, wortkarg und niedergedrückt vorgekommen, sei wenig ausgegangen und habe mit niemand verkehrt.
Auf die Frage des Richters, ob er nie daran gedacht habe, daß es die Absicht Marks gewesen sein könne, sich bei ihm eine Zeitlang unsichtbar zu machen, bis über den Vorfall Gras gewachsen sei, erschrak der Holzhändler sichtlich und sagte, er selbst habe über das Verschwinden des alten Herrn niemals einen Verdacht gehegt, gab jedoch zu, daß Mark auch bei ihm sich nicht ganz sicher gefühlt habe, denn er habe öfter von Abreisen gesprochen und ihm für diesen Fall eine Summe von tausend Talern zur Aufbewahrung übergeben. Aber aus der Abreise sei nichts geworden, weil Gertrud selber in die Stadt gekommen. Was beide miteinander geredet, sei ihm unbekannt geblieben, und er habe dem jungen Mann Glück gewünscht, als er den Tag darauf wieder nach Ravensbeck gezogen sei.
Als die Leute des Holzhändlers verhört wurden, fand sich übrigens eine alte Frau, die damals krank im anstoßenden Zimmer lag und einiges von dem, was Wolfram und Gertrud miteinander geredet, vernommen haben wollte. So habe Wolfram gesagt: »Du wirst sehen, wenn ich wiederkomme, so stürze ich uns beide, dich wie mich, ins Unglück«, und Gertrud habe erwidert: »Wer kann dir etwas beweisen? Deine Unschuld müßte an den Tag kommen, und wenn ich, die Tochter, dich wähle, so bist du dadurch schon von jedem Verdacht frei. Ich bin dir das schuldig, wie du mir die Ehe, du weißt warum.«
Endlich ward auch der alte Pfarrer von Schwelmroda verhört. Er konnte beiden nur das beste Zeugnis geben; doch unglücklicherweise mußte er einräumen, daß Frau Gertrud gegen ihren eigenen Gatten die schwere Anklage erhoben habe, daß er der Mörder ihres Vaters sei.
So schlugen selbst die Depositionen der Entlastungszeugen zum Unheil für den Angeklagten aus, und am allerwenigsten vermochte Wolframs Benehmen die gravierenden Aussagen der Belastungszeugen zu entkräften.
Auf die Frage, ob er aus dem Gartenhause damals ein Gewehr mitgenommen habe, mußte er bejahend antworten, ohne daß er einen genügenden Grund angeben konnte, weshalb er es getan habe.
Auf die Frage, ob er jene Kleidungsstücke vergraben habe, und wie diese Tatsachen mit anderen im Zusammenhange ständen, erwiderte er, daß er den Überrock samt der Jagdmütze am Flußufer gefunden habe, und zwar beides bewacht von dem alten Jagdhund. Er habe damals geglaubt und glaube es noch, daß der alte Herr verunglückt sei, denn das Hochwasser sei am nämlichen Tage eingetreten, und so sei es auch erklärlich, daß die Leiche fortgespült worden sei und nicht mehr habe aufgefunden werden können. Die Kleidungsstücke habe er vergraben, weil sie die Annahme erweckten, als liege ein Selbstmord vor, eine Möglichkeit, deren Bekanntwerden er verhindern wollte, weil die Leute diesen Schritt als aus Kummer um seine Tochter gedeutet haben würden.
Weiter gab er an, daß er allerdings seine Kleider gewechselt habe, weil er sich beim Graben beschmutzt habe und außerdem vom Flußdamme abgeglitten sei, wobei auch seine Büchse sich von selbst entladen habe.
Die Frage, weshalb er beim Holzhändler Petermann eingetreten sei, beantwortete er wie früher schon, er könne doch nicht aus dem fremden Unglück sein eigenes Glück machen. Das deponierte Geld sei sein Erspartes gewesen, und den Hund habe er erschossen, weil er wiederholt jene Kleidungsstücke aufgegraben habe. Als ein Beisitzer des Gerichts die Frage einwarf, ob er den Hund nicht vielmehr erschossen habe, weil das Tier vielleicht die Stelle kannte, wo der Leichnam selbst verscharrt liege, lachte Wolfram Mark fast auf. »Halten Sie mich für so unsinnig, die Kleider dann noch besonders an einem andern Orte zu vergraben? und wozu sollte ich jenes befürchten, wenn es wahr wäre, wie Sie ja durchblicken lassen, daß ich den Leichnam dem Wasser übergeben hätte.«
Auf die Schlußfrage, wie er sich den Hergang des Verunglückens des alten Herrn denke, erwiderte er: »Das läßt sich schwer sagen. Die Nacht war dunkel, und das Hochwasser stand an Stellen, die sonst trocken und ungefährlich sind. Möglich, daß der Herr, wie ich auch, vom Damme abgerutscht ist und dabei seine Mütze und den Überrock, den er über dem Arm trug, verloren hat. Über den Selbstmord kann ich mich nicht aussprechen, da mir die Gebräuche bei solchen Liebhabereien unbekannt sind.« Dies war sein letztes Wort, und bei ferneren Fragen, die man an ihn zu stellen suchte, wurde er aufgebracht und jähzornig, zuletzt stumpfsinnig und gleichgültig. »Macht mit mir, was ihr wollt!« rief er und gab keine Antwort mehr.
Frau Gertrud wurde in Schwelmroda ebenfalls vernommen, doch mit wenig Erfolg. Charakteristisch war, daß sie, als man ihre eigene Beschuldigung und Aussage gegen ihren Gatten geltend machte, alles ableugnete oder höchstens nur als ein Mittel erklärte, um von ihm loszukommen, denn er sei ihr widerwärtig geworden. Im zweiten Verhör widerrief sie auch dies und erklärte, sie verdiene einen Mann wie Wolfram Mark nicht. »Ich sah, er litt durch mich«, sagte sie, »und wollte ihn von mir befreien.« Sie verwünschte den alten Pfarrer als Plaudertasche und sich selbst als eine launische Person. Den Vorfall im Theater von Habichtshausen, wie die ganze Kette von Tatsachen, die sich aus der Untersuchung ergaben, erklärte sie als boshafte Erfindungen ihrer abgewiesenen Freier, die es ihr nicht verzeihen konnten, daß sie den Verwalter ihnen vorgezogen. Kurz das Verhör war völlig resultatlos. Man zog die Wachen vor dem Schlosse zurück, behielt aber die gnädige Frau unter strenger Aufsicht, so wenig dies notwendig war. Gertruds früheres Selbstgefühl war gebrochen, sie machte in diesen Tagen eine dornenvolle Schule durch, und wenn gewisse Stimmen Recht hatten, welche früher behaupteten, daß sie sich nur deshalb für den einfachen Verwalter entschieden habe, weil dieser Brave am leichtesten zu lenken und ihrer Herrschsucht in seinem lebenslänglichen Dank am wenigsten entgegentreten werde – so hatte diese Berechnung sich furchtbar gerächt. Frau Gertrud gab sich übrigens mit dem resultatlosen Verhör keineswegs zufrieden. Sie bestürmte die Richter mit fortwährenden dringlichen Gesuchen um eine Unterredung mit ihrem Manne, dann mit angeblich neuen Aufschlüssen, die aber nicht neu waren, sondern nur das bestätigten, was man schon wußte. Endlich wandte sie sich sogar an die Minister und suchte Zutritt beim Landesherrn zu erlangen. Da ihre Motivierung aber kerne neuen Momente brachte, schlug man diese Gesuche ab und ließ sie überhaupt nicht vor. So blieb der Unglücklichen zuletzt nichts übrig, als die Hoffnung auf das Schwurgericht und auf die Konfrontation.
Und das Schwurgericht, vor welchem diese cause célèbre, die in Stadt und Land das höchste Aufsehen erregte, verhandelt werden sollte, trat zusammen.
Doktor Borkrum, der, wie wir wissen, das Ganze schlau arrangiert hatte, sah sich allerdings die Geister, welche er beschworen, über den Kopf wachsen, aber er rechnete noch daraus, daß er unfehlbar siegen müsse. War doch die Hauptsache, der Leichnam des Verunglückten oder Ermordeten, nicht aufgefunden. Und wie Judas rechnete er daraus, daß Freund Mark sich im letzten Augenblicke von allen Beschuldigungen werde reinigen können, wenn er nur wollte. Im schlimmsten Falle, das heißt, wenn wirklich seine Schuld erwiesen werden sollte, hatte er wenigstens seine Pflicht getan, und daß dann sein Nebenbuhler, der glücklicher als er gewesen, zugrunde ging, kümmerte ihn, wie gesagt, wenig; kurz Doktor Borkrum war mit sich zufrieden, denn er mußte auf allen Seiten gewinnen.
Den ganzen Gang der Schwurgerichtsverhandlung, welche eine ganze Woche in Anspruch nahm und unter ungeheuerm Zulauf aus Nähe und Ferne stattfand, zu berichten, würde den Rahmen der Erzählung weit überschreiten.
Es genügt, einige Momente daraus hervorzuheben; zunächst einige Kreuzfragen und einige zufällige neue Erhebungen.
Man fragte den Freiherrn von Conring, weshalb er jene Angaben über das Vergraben der Kleider nicht sofort, sondern erst beinahe zwei Jahre nachher gemacht habe. Er geriet dabei in Verwirrung, suchte sich erst damit zu entschuldigen, daß er vor zwei Jahren eine größere Reise angetreten, endlich mußte er zugeben, daß er bereits selbst an jenem Orte nachgegraben und wußte, daß dort kein Leichnam, sondern nur einige Kleidungsstücke zu finden seien. – Der Pfarrer von Habichtshausen mußte ebenfalls seine Angaben wiederholen. Dabei ergab sich der Widerspruch, daß er Herrn Erdmann-Ravensbeck am Abend erwartet habe, dieser aber wirklich in Habichtshausen gewesen sei. Warum sollte er ihn nicht aufgesucht haben, zumal jetzt durch neue Erhebungen festgestellt war, daß der alte Herr am Nachmittag wirklich in der Stadt war und jenes Testament bei einem Notar hatte legalisieren lassen. Außerdem deponierte ein Bankier, daß am selben Nachmittage des 13. Juli Herr Erdmann-Ravensbeck eine beträchtliche Anzahl von Wertpapieren bei ihm in bar umgesetzt habe. Es war also klar, daß er am Abend mit dem Testament in der Tasche, sowie mit vielem Geld versehen, jenen Weg angetreten hatte. Der Pfarrer aber beharrte auf seiner Angabe, und es blieb somit nur die Annahme übrig, daß Herr Erdmann-Ravensbeck durch einen dritten an der Ausführung seines Vorhabens verhindert worden sei. Daß er es selbst aus Reue freiwillig unterlassen, konnte niemand für wahrscheinlich halten.
Von Wichtigkeit war beim ferneren Verlauf der Verhandlung zuerst das Benehmen des Angeklagten den Zeugen gegenüber, dann seine Konfrontation mit seiner Frau, endlich ein unerwarteter Zwischenfall und schließlich die Verteidigung des Angeklagten durch Doktor Borkrum.
Was das erste betraf, so hielt sich Wolfram Mark kurz und vornehm; seine Angaben waren dieselben, wie in der Voruntersuchung, seine Ausdruckswelse ruhig und gemessen, so daß man behaupten konnte, daß sein erster Eindruck auf die Geschworenen ein entschieden günstiger war. Leider hielt dieser Eindruck nicht Stich. Als Frau Gertrud nämlich auftrat, bleich wie der Tod, zuckte Wolfram heftig empor, und sein ganzes Wesen geriet in wilde, leidenschaftliche Bewegung.
»Ich schwöre bei Gott und seinen Heiligen,« sagte sie, »ich komme, um feierlich jede Beschuldigung gegen meinen Herrn und Gatten zurückzunehmen. Habe ich dergleichen Äußerungen getan, so war es eine Verirrung, eine unselige Verblendung, die ich bereue; ebenso bereue ich, daß ich mich hinreißen ließ, wieder die Verwaltung des Gutes zu übernehmen und dadurch Zerwürfnisse zwischen ihm und mir hervorgerufen zu haben.«
Jetzt aber brach der Zorn des Angeklagten unaufhaltsam los.
»Sparen Sie jede Mühe, gnädige Frau« – rief er. »Ich danke gehorsamst jetzt für Ihre Großmut. Sie allein haben mir diese Schmach und Schande angezettelt. Von Ihnen allein ging das erste Signal des Verdachts aus, weil Sie mich satt haben, weil Sie es bereuen, sich einst mit dem Verwalter eingelassen zu haben, der Ihnen gut genug war zu einer verführerischen Laune. Nun, ich wünsche Ihnen aufrichtig Ihre Freiheit zurück und bitte um Entschuldigung, daß ich einige Jahre Ihres kostbaren Lebens Ihren Standesgenossen entzogen habe. – Bin ich tot oder im Gefängnis, so sind Sie frei und können heiraten, wen Sie wollen. Sie sind ja jetzt doppelt interessant, und an Bewerbern wird es Ihnen nicht fehlen. Ihre süßen Worte von Reue und Widerruf täuschen niemand, mich am wenigsten, denn man durchschaut die Absicht, vor diesen Schranken als edle Dulderin erscheinen zu wollen. O, über solche elende Komödie!«
»Wolfram!« rief Gertrud außer sich. »Du hast kein Recht, so zu mir zu reden! Du nennst mich deine Verführerin, mich in meinem grenzenlosen Elend! Das ist namenlos, das ist –« hier verlor sie die Sprache und sank erschöpft zusammen. Auf einen Wink des Präsidenten wurde die Unglückliche hinweggebracht. Außerdem machte er bemerklich, daß dieser Zwischenfall von keinerlei Gewicht sei, denn das Zeugnis der Ehefrau hätte keine juristische Gültigkeit, weder in günstigem, noch in ungünstigem Sinne. Diese Bemerkung war insofern wirkungslos, als der moralische Eindruck des Benehmens Marks ein höchst peinlicher war. Man verglich seine rücksichtslose, schneidende Sprache mit der Großmut und Selbstverleugnung seiner Gattin, und sämtliche Geschworene, sowie die Zuhörer auf den Tribünen waren in höchstem Grade erbittert.
Wolfram Mark gab von jetzt an keine Antwort mehr. Allen weiteren Fragen gegenüber, die man ihm stellte, verharrte er in stolzem, starrem Schweigen, die Arme über die Brust verschränkt und den Blick zu Boden gerichtet. Nur zuletzt, als man ihn fragte, ob er keine Bemerkung mehr zu machen habe, richtete er sich in seiner ganzen Größe auf und sagte mit donnerndem Tone:
»Wozu fragen Sie mich? Die Allwissenheit jener Bierbankrichter,« – und er wies dabei auf die Geschworenen, »ist genügend! Wie sie es ausgemacht haben hinter dem Ofen oder beim Schoppen, so muß es wohl sein. Scheine ich ihnen unschuldig, so bin ich es, scheine ich schuldig, so bin ich es auch! Wonach sonst wollt ihr urteilen, blöde, sterbliche Menschen, als nach dem Schein allein? Die Wahrheit weiß nur Gott im Himmel! Habt ihr Lust und Mut, ihm in sein Metier zu pfuschen, so tragt auch die Verantwortung, mich ekelt solches Schauspiel an, und jedes Wort reut mich, was ich an euch verschwendet habe! Macht ein Ende und krönet euer Werk! Auf ein Opfer mehr oder weniger kommt es ja nicht in eurem Musterstaat an, und was ist billiger, als ein Menschenleben!«
Der Eindruck dieser insolenten Rede war unbeschreiblich. Wenn es die Absicht Wolfram Marks gewesen wäre, jeden letzten Tropfen von Sympathie zu verschütten, so hatte er diesen Zweck vollständig erreicht.
Kaum hatte der Staatsanwalt notwendig, die nun aufgehellten Tatsachen aneinander zu reihen, um seine Anklage in evidentester und vernichtendster Weise zu begründen. – Zuerst der dringende Wunsch, Gertrud die Verstoßung aus dem Vaterhause zu ersparen, dann die halb drohende Äußerung Marks zum Holzhändler, man müsse sich zuerst selbst helfen, die heimliche Entwendung der Waffe, die Verfolgung in den Wald, die drohende Enterbung durch das notariell ausgefertigte Testament, der Schuß, welcher von drei Zeugen gehört worden war; dann die Vergrabung der Kleider, das Wechseln des Anzuges, die Flucht in die Stadt, die Beseitigung des Hundes als eines lästigen Zeugen, die Deponierung der bedeutenden Summe, deren Erwerb nur unvollständig nachgewiesen; endlich die unglückliche Ehe, deren Segen von der andauernden Gewissensangst untergraben und täglich vergiftet wurde – zum Gipfel aber die verhängnisvolle Theaterszene, wo sich der Finger Gottes offenbart und das böse Gewissen öffentlich verraten hatte; am letzten Tage schließlich die beabsichtigte Flucht und Auflösung der Ehe – am nämlichen Tage das Geständnis der Frau vor dem Pfarrer: – alle diese Momente bildeten einen so unzerreißbaren klaren Zusammenhang, daß der Umstand – das Fehlen des corpus delicti, das Verschwinden der Leiche, von keinerlei Bedeutung mehr war.
Aber auch dieser letzte Punkt, worauf die Verteidigung sich hauptsächlich zu stützen hoffte – das Fehlen des Leichnams sollte durch einen unerwarteten Zwischenfall beseitigt werden. Am selben Tage nämlich, wo der Staatsanwalt sein Plaidoyer schloß, lief eine Nachricht von Willmannshofen ein, einem Ort, der zehn Stunden unterhalb Schwelmroda am nämlichen Flusse lag – und zwar besagte die Nachricht, daß man allerdings vor zwei Jahren einen unbekannten männlichen Leichnam aus dem Strome gefischt habe. Da derselbe sichtlich schon lange im Wasser gelegen und völlig unkenntlich geworden sei, so habe man ihn sofort begraben; und da ferner der Ortsvorsteher von Willmannshofen damals gestorben und ein neuer noch nicht erwählt worden, sei die Anzeige zufällig unterblieben und die Sache bald darauf in Vergessenheit geraten.
Man gab sofort zwar Befehl, jenen unbekannten Leichnam wieder auszugraben und sogar eine Obduktion zu veranstalten; aber die lange Zeit hatte bereits an dem verstümmelten Körper derart ihr Recht geübt, daß eine Feststellung der Identität des Leichnams mit der Person des alten Erdmann-Ravensbeck schlechterdings nicht möglich war, ohne daß deshalb die hohe Wahrscheinlichkeit jener Annahme im mindesten erschüttert wurde.
Am folgenden Tage nahm der Staatsanwalt sein Plaidoyer wieder auf, indem er diesen Nachtrag anschloß und beiläufig bemerkte: – wenn nun diese ganze Kette von Tatsachen dennoch nicht genüge, so gebe die frivole Verhöhnung der Geschworenen von seiten des Angeklagten, sein unverkennbarer Trotz, sein nichtswürdiges Benehmen gegen seine edelmütige Frau, die alles durch ihn verloren, sein verstocktes Schweigen endlich hinlänglich die moralische Gewißheit des Schuldbewußtseins; und seine zur Schau getragene Gleichgültigkeit gegen den Ausgang sei nichts, als die bekannte Verzweiflung des Verbrechers, der alles verloren sieht und seine Flinte ins Korn wirft.
Unter diesen Umständen und gegenüber der meisterhaften, unerbittlichen Logik des Staatsanwalts machte die versuchte Verteidigung des Doktor Borkrum einen geradezu jämmerlichen Eindruck. Lächerlich war seine fast ängstliche Apostrophe an den Angeklagten, ihn, den Verteidiger, der bis dahin fest an seine Unschuld geglaubt habe, nun nicht im Stiche zu lassen und sich gleichsam freiwillig preiszugeben. Lächerlich war das beschämende Geständnis, daß er selbst teilweise die Verhaftung des Angeklagten veranlaßt habe, in der Hoffnung, ihn durch offenen Prozeß aus einem Gewebe von heimlichen Gerüchten herauszureißen und ihm Gelegenheit zu geben, seine Unschuld vor aller Welt zu beweisen. Lächerlich endlich war der Versuch, andere Möglichkeiten innerhalb des Tatbestandes anzunehmen und das Ende des alten Herrn durch ein zufälliges Unglück oder einen Selbstmord zu erklären. Schließlich verwickelte er sich dergestalt, daß er stecken blieb und keinen rühmlicheren Ausweg sah, als sich in einen Strom von Vorwürfen gegen den Angeklagten zu ergießen, daß dieser ihm viel Wichtiges verschwiegen habe. Hätte er den wahren Zusammenhang der Dinge gekannt, so würde er sich durch nichts in der Welt haben bewegen lassen, die Verteidigung einer solchen verlorenen Sache anzunehmen.
Die Geschworenen zogen sich zurück und erschienen schon nach einer Viertelstunde wieder. Auf die Frage des Präsidenten, ob Angeklagter schuldig, den Herrn Erdmann-Ravensbeck ermordet zu haben, antwortete der Obmann der Geschworenen: Schuldig! die Nebenfrage, ob mildernde Umstände anzunehmen seien, ward verneint.
Infolge davon verurteilte der Gerichtshof den Wolfram Mark, Gutsbesitzer von Ravensbeck, zum Tode.
Die Frage, ob der Angeklagte an die Gnade des Regenten appellieren wolle, beantwortete er mit geringschätzigem Achselzucken. Er nahm das Urteil wie etwas hin, das sich von selbst verstände, und was er durchaus nicht anders erwartet habe. Und diese trotzige Haltung und geringschätzige Miene behielt er auch, als er abgeführt wurde.
Nun war auch der leiseste Zweifel an der Schuld des Verurteilten überwunden, wenn überhaupt ein solcher Zweifel noch vorhanden gewesen war.
Das Resultat dieser interessanten Verhandlung fand in der urteilsfähigen Presse, in der ganzen Stadt, sowie in der Bevölkerung von Schwelmroda die einstimmigste Billigung. Frau Gertrud wurde bemitleidet, und die wunderbaren Wege der Vorsehung, der »Finger Gottes«, welcher die verborgene Schuld aufgedeckt, wurde in weltlichen, wie in frommen Blättern in allen Tonarten gepriesen.
Seitdem das Urteil gefällt worden, waren Wochen auf Wochen, ja beinahe drei Monate vergangen, aber der Justizminister zögerte immer noch, das Urteil dem Regenten zur Bestätigung vorzulegen und es vollstrecken zu lassen. Der Grund seiner Zögerung war bekannt; es war nicht etwa ein Zweifel an der Gerechtigkeit des Urteils und an der Schuld des Delinquenten, sondern ein humanistisch-philosophischer Standpunkt, sein entschiedener Widerwille gegen das Unnatürliche jeder Todesstrafe.
Infolge seiner Zögerung hatte fast die gesamte Presse, die konservative voran, es für passend gefunden, tagtäglich über den Justizminister herzufallen und ihn der raffiniertesten Grausamkeit zu beschuldigen, weil er den armen Delinquenten, der nun doch einmal verloren war, so lange zwischen Leben und Sterben schweben lasse. Der Justizminister aber, dem sein Amt längst leid war, konnte und wollte trotzdem nicht zurücktreten, weil er befürchten mußte, daß sein Nachfolger das sofort ausführen würde, was er einstweilen noch aufschob. Inzwischen aber mutzte er die zügellosesten Angriffe auf sich ergehen lassen: – aus diesem circulus vitiosus kann er nicht mehr heraus.
* * *
Aufmerksam hatte der Generalarzt das Manuskript zu Ende gelesen, mehrere Stellen sogar zweimal. Er befand sich schon längst nicht mehr im Lesemuseum, sondern in seiner eigenen Wohnung, wo er sich unbeobachtet und unbelästigt von störenden Anreden wutzte. Die Erzählung fesselte ihn dergestalt, daß er am Nachmittage seine Krankenbesuche dem Assistenten übertrug und sich überhaupt als abwesend melden ließ, zum großen Staunen seiner alten Schwester, welche ihm die Wirtschaft führte.
Als er das letzte Blatt umschlug, murmelte er vor sich hin und schüttelte bedenklich das würdige Haupt; dann verschloß er das Manuskript in sein Pult wie ein gefährliches Gift, das man nicht offen liegen lassen darf, und ging, wie es gegen Abend seine Gewohnheit war, in das Zimmer seiner Schwester hinüber.
Zufällig traf er heute Besuch dort, und zwar Selma von Holzhausen, die Tochter des Justizministers und von Jugend auf der Liebling des Generalarztes und seiner Schwester. Zwischen beiden Familien bestand seit Jahren ein reger Verkehr, der nur durch die lange Reise des Generalarztes eine Unterbrechung erlitten hatte. Jetzt war die junge Dame offenbar aus Neugier gekommen, um in irgendeiner Weise zu erfahren, was heute morgen der alte Hausfreund mit ihrer Mutter verhandelt habe.
Aber so geschickt sie auch ihre Fragen zu stellen wußte, so wenig kam sie zum Ziele; überhaupt schien der alte Herr seltsam zerstreut und aufgeregt und sah beständig nach der Uhr. Und als plötzlich die Hausglocke tönte, stand er selbst auf, um zu öffnen. Wie er erwartet, war es Herr Leo Heinecke.
Eilfertig nahm ihn der Generalarzt bei der Hand und führte ihn zuerst in sein Studierzimmer.
»Ich habe mit Ihnen zu reden, Herr Referendar,« sagte er und drückte wiederholt die Hand des jungen Mannes. »Zunächst meinen Dank. Ich habe die Geschichte gelesen. Sie haben ein beachtenswertes Erzählertalent und werden wohl nicht lange Zeit Jurist bleiben. Ich mache Ihnen meine aufrichtige Gratulation dazu. Das Ding liest sich wie ein Roman; aber offen gestanden, mir wäre ein ganz trockener, rein sachlicher Bericht lieber gewesen, schon damit ich klar wüßte, was strenge Wahrheit und was Ihre Erfindung – oder wenn Sie lieber wollen, Ihre Divination ist. Man glaubt eine Kriminalgeschichte aus ferner Zeit und fernem Land zu lesen und muß sich immer wieder besinnen, daß von lebenden Personen aus der nächsten Nähe die Rede ist. Und dann die Charaktere, lieber Freund,« – und der alte Herr drohte dabei mit dem Finger. »Sie haben sich da Freiheiten genommen, die Ihnen übel zu stehen kommen könnten. Dieser Doktor Borkrum ist ja ein Ausbund von Tücke, wenn das alles wahr ist – und woher wissen Sie denn eigentlich –?
»Ich must ausdrücklich bitten, Herr Generalarzt, sich meiner Worte zu erinnern,« erwiderte Leo Heinecke. »Ich sagte ihnen heute mittag schon, daß ich die Vorgänge genauer studieren konnte als mancher andere. Vieles habe ich persönlich mit angesehen, so zum Beispiel die Theaterszene in Habichtshausen. Anderes habe ich mir erzählen lassen und bin zu diesem Zwecke eine ganze Woche in Schwelmroda gewesen, wo ich bei dem alten Pfarrer wohnte. Von diesem weiß ich überhaupt das meiste. Übrigens wiederhole ich, daß ich nie an die Veröffentlichung denke; das Manuskript ist nur für mich geschrieben, und ich bitte ausdrücklich um Ihre Diskretion. Ob sich alle übrigen Auftritte so verhielten, denen ich nicht beiwohnte, wer weiß es, aber sie können kaum anders gewesen sein und sind noch um vieles gemildert. Und wenn es erlaubt ist, aus der Klaue den Löwen zu erkennen, ihn wenn nötig zu konstruieren, wird sich auch gegen die Charakteristik nicht viel einwenden lassen.«
»Gut, gut,« sagte der Generalarzt. »Sie wissen sich zu verteidigen, aber nun komme ich zur Hauptfrage, die mich wahrhaft in Schrecken gesetzt hat. Sie tun ja wirklich, als ob Sie den Missetäter für schuldlos hielten. Die ganze Darstellung scheint auf einen Justizmord hinauszulaufen. Wie verhält sich das in Wirklichkeit? Unmöglich könnten Sie als Jurist dergleichen ruhig mit ansehen, und dann hätte auch der Minister nicht bloß das Recht, sondern auch die Pflicht, die Vollstreckung auszuschieben.«
»Sie vergessen eins, Herr Generalarzt, sagte der junge Mann. »Einmal fehlt noch der Schluß, sowohl in der Wirklichkeit, wie in der Darstellung. Außerdem leugne ich nicht, daß ich im Anfang der Arbeit, wie des Prozesses entschieden von der Unschuld des Angeklagten überzeugt war und immer hoffte, daß sich im Verlauf der Verhandlung ein unvorhergesehenes Moment herausstellen würde, welches seine Schuldlosigkeit bestätigen müßte. Es ging mir gewissermaßen ebenso wie dem Doktor Borkrum; dadurch mag der Ton hineingekommen sein, welcher Ihnen auffiel. Jetzt freilich nach Schluß der Verhandlung glaube ich selbst nicht mehr daran. Ich muß meinen Märtyrer aufgeben, nachdem er sich selbst aufgegeben hat. Bleibt mir auch immer noch ein gewisser Zweifel, eine gewisse Lücke in der Kette der Tatsachen und ein gewisses Rätsel im Charakter des Verurteilten, so ist das alles nicht hinreichend, um an dem Wahrspruch der Geschworenen rütteln zu wollen.«
»Ihre Antwort befriedigt mich nur halb,« sagte der Generalarzt, »indes ist mir jetzt die Lage des Ministers die Hauptsache geworden. Was denken Sie darüber?«
Der junge Mann zuckte die Achseln; es sah aus, als wenn er eine Antwort auf der Zunge hätte, aber sie nicht zu äußern wagte.
In diesem Augenblicke erschien die Schwester des Generalarztes, um die Herren zum Souper einzuladen. Leo Heinecke folgte, ahnungslos, wen er am Familientisch des alten Herrn treffen werde. Um so freudiger war seine Überraschung und Verwirrung, als der Generalarzt ihm Fräulein von Holzhausen vorstellte. Auch die junge Dame war fast erschrocken und errötete tief, als sie sich so unerwartet ihrem stillen Verehrer gegenüber sah. Dem alten welterfahrenen Generalarzt entging die Verlegenheit seiner beiden Gäste keineswegs, und er behielt sie von diesem Augenblicke an scharf im Auge.
Allmählich kam die Unterhaltung in Fluß und lenkte sich zwanglos auf das, was die ganze Stadt beschäftigte, auf den Prozeß, auf das Verhalten des Ministers, auf den Verurteilten, wie auf die Angriffe der Zeitungen. Vieles wurde hin- und hergesprochen, namentlich über die Familiengeschichte Derer von Ravensbeck, und Leo Heinecke konnte dabei die Bemerkung nicht unterdrücken, es sei doch wunderlich, wie die Annahme, daß ein alter Fluch auf dem Geschlecht liege, schließlich sich zu erfüllen scheine, so daß zuletzt nur der Aberglaube und die Unvernunft Recht behielten.
»Ich weiß nicht, ob das so wunderlich ist,« sagte der Generalarzt. »Wie mir scheint, handelt es sich weniger um einen alten Fluch, als um eine ganz natürliche Konsequenz. Und wie alle rätselhaften Vorkommnisse des Lebens ihre gewisse Moral und Logik haben, so ist die Moral der Geschichte vom Hause Ravensbeck offenbar die, daß Heiraten unter dem Stande, wie sie in jener Familie zur Regel wurden, schließlich doch keinen Segen bringen, und schweres Unheil herbeiführen – das eben, was der Volksmund den Fluch nennt.«
»Erlauben Sie,« fuhr jetzt Selma mit fast leidenschaftlicher Wärme auf, und ihr ganzes Wesen schien seltsam bewegt. »Jene Moral kann ich nicht finden, weil sie einfach keine Moral ist. Die Ravensbecker Töchter haben unter ihrem Stande geheiratet, aber sie sind doch dabei glücklich, gewesen; und wenn später Unheil folgte, so lag es eben nicht in jener Wahl, sondern in anderen Dingen, und ich begreife nicht, wie man daraus jenen allgemeinen Schluß ziehen kann!« Und nun erging sie sich in wahrhaft begeisterten Worten über echten Menschenwert, über die inneren Bürgschaften des wahren Glücks und über das veraltete und hoffentlich für immer überwundene Vorurteil gegen sogenannte Mißheiraten aus Standesungleichheit, so daß die Zuhörer mit Staunen und Überraschung auf die vornehme, schöne Rednerin blickten.
»Mein Gott, Selma,« sagte die alte Schwester des Generalarztes. »Ich glaube, Sie wären auch imstande, dergleichen zu tun?«
Selma errötete von neuem; sie schwieg, aber der warme, innige Blick, welchen sie in diesem Augenblicke mit ihrem Verehrer austauschte, war der Antwort genug.
Der Generalarzt hatte diese beredsame stumme Antwort nur zu wohl verstanden. Die Situation erschien ihm mehr und mehr in bedenklichstem Lichte, und schon bereute er es, den jungen Mann zu sich geladen zu haben, ohne daß er sich doch eine Schuld beimessen konnte, denn von diesen geheimen Beziehungen hatte er auch nicht die leiseste Ahnung gehabt.
Mit einer nicht sehr geschickten Wendung suchte er jetzt von dem gefährlichen Thema abzulenken und sagte:
»Nun lassen wir es dahingestellt sein, aber was würden Sie jetzt tun, Herr Referendar? Ich fragte Sie schon vorhin, wie Sie über die Lage meines hochverehrten Freundes des Ministers denken, und Sie schienen fast eine Antwort bereit zu haben. Geben Sie einmal einen Rat, wie Sie das fünfte Kapitel Ihrer Geschichte beschließen würden als Poet. Vielleicht zeigt uns Ihre Divination einen Weg. Das Befinden meines alten Freundes liegt mir sehr am Herzen.«
Leo Heinecke bedachte sich einen Augenblick, dann sagte er: »Allerdings wüßte ich einen Ausweg. Sie, Herr Generalarzt, können eine Entscheidung herbeiführen.«
»Um mich handelt es sich nicht,« erwiderte der alte Herr ungeduldig, »wohl aber um den Minister. Wenn Sie ein Mittel wüßten, diesem edlen Manne zu Hilfe zu kommen – denn er befindet sich in einer wirklich peinvollen Lage, in einem vitiosen Zirkel, wie Sie ganz richtig bemerkten: – ich wüßte nicht, was ich zum Dank für Sie tun könnte.«
»Gut, Herr Generalarzt,« erwiderte der junge Jurist. »Ich werde Sie beim Wort nehmen und freue mich, daß ich Zeugen habe.«
»Wie meinen Sie das?«
»Offenbar,« fuhr Heinecke fort, »wartet Seine Exzellenz der Justizminister auf die Wiedereinberufung der Kammern, wo voraussichtlich die Aufhebung der Todesstrafe, trotzdem dieser Antrag das vorige Mal verworfen wurde, noch einmal beraten werden soll. Geht der Antrag durch, so braucht man das Urteil nicht vollstrecken zu lassen, fällt er aber, so ist, so viel ich weiß, der Minister entschlossen, zurückzutreten, um seinem Nachfolger die Verantwortung zu überlassen. Bis dahin wird die Krisis dauern. Sie aber können dieselbe abkürzen, Herr Generalarzt.«
»Wieso ich?« rief der alte Herr überrascht. »Ich bin doch kein Arzt am Staatskörper.«
»Hier aber könnten Sie es sein, wenn Sie in der nächsten Audienz den Fürsten selbst bestimmen wollten, die Kammern sofort einzuberufen, um der peinlichen Lage des Justizministers so oder so ein Ende zu machen. Da Sie das Ohr des Fürsten besitzen, wird Ihnen dieser Versuch keine Schwierigkeiten machen. Und Sie müssen es tun, Herr Generalarzt!« fuhr er dringender fort. »Das meiste in der politischen Welt geschieht ja doch nur aus persönlichen Gründen. Die Verantwortung für die schwebende Frage hat dann weder der Minister, noch der Fürst zu tragen, sie ist aufs neue auf die Schultern des Volkes und seiner Vertreter gewälzt. Will die Majorität Blut, so kann sie das sofort beschließen. Es wird ein Prinzipienkampf mit sofortiger praktischer Anwendung.«
»Ja, Sie haben recht!« rief Selma, »dies ist der einzige Weg der Lösung, und wenn Sie nicht wollen, Herr Generalarzt, so bestürme ich andere; wir haben auch unsere Verbindungen bei Hofe, und schlimmsten Falls wage ich selbst, um eine Audienz beim gnädigsten Herrn zu bitten. Mir wird er es nicht abschlagen. Wollen Sie also oder wollen Sie nicht?«
»Nur keine Gewalt, mein schönes Fräulein,« lächelte der alte Herr, der sich sichtlich in die Enge getrieben sah. »Der Gedanke ist kühn, vielleicht auch praktisch; ich leugne es nicht, aber, aber – nein, ich kann mich in diese politischen und juristischen Dinge doch wohl nicht mischen. Bestürmen Sie mich nicht. Ich verspreche nichts im voraus. Wir reden noch darüber.«
In diesem Augenblicke schellte es, und der Bediente des Ministers kam, um das gnädige Fräulein nach Hause zu begleiten.
»Wir reden lieber gleich darüber,« rief der Generalarzt, als er sah, daß der junge Mann Miene machte, die Dame zu begleiten, und wußte ihn fast mit Gewalt bei sich festzuhalten.
»Also auf mein Wort, Herr Generalarzt,« sagte Selma beim Abschied, »wenn ich morgen nicht erfahre, daß Sie einen Schritt getan haben, so werde ich selbst handeln. Aus Wiedersehen, Herr Referendar, ich danke herzlich für Ihren Rat.« Und sie reichte dem Glücklichen dabei zum erstenmale die Hand.
Kaum war das Fräulein fort, als der Generalarzt den jungen Mann wieder in sein Studierzimmer führte. Statt nun aber jenen Vorschlag zu besprechen, kam er auf ganz andere Fragen, und jeder Versuch, darauf zurückzukommen, war vergeblich. Nach Verlauf einer halben Stunde, als Selma längst glücklich zu Hause angelangt sein konnte, schützte der alte Herr plötzlich Müdigkeit vor und entließ den jungen Mann ziemlich kühl.
»Er hat mich wirklich also nur festhalten wollen, um meine Begleitung zu verhindern,« sagte Leo für sich, »nun, Selma wird er nicht abhalten können, den kühnen Plan auszuführen. Sie hat Entschiedenheit und Energie dazu, und wenn ich mich für dies herrliche Geschöpf niemals interessiert hätte, heute hat sie mein Herz für immer gewonnen.«
Am Abend des nächsten Tages trugen zahlreiche Kolporteure und Zettelträger eine Extrabeilage der offiziellen Zeitung durch die Stadt. Sie enthielt mit kurzen Worten die Notiz, daß durch fürstliches Dekret die Kammern innerhalb sechs Tagen einberufen seien.
»Aha,« dachte Leo Heinecke. »Also hat der alte Fuchs dennoch meinen Rat befolgt, und wir werden die Entwickelung haben. Den Dank, Herr Generalarzt, werde ich mir bei Fräulein Selma holen, und Sie sollen mir seinerzeit dazu helfen, auch wenn Sie jetzt um Dank herumkommen wollen. Ist dieser kleine Dienst für den Minister noch nicht groß genug, so gelingt mir vielleicht ein anderer. Ich werde meine Augen offen haben, denn ich kenne jetzt das höchste Ziel meines Lebens.«
* * *
In der Tat trat die Kammer sechs Tage darauf zusammen, und sofort ward vom Justizminister selbst die Regierungsvorlage über die Aufhebung der Todesstrafe eingebracht.
Die liberale Partei unterstützte auch mit voller Energie den Minister, dessen glänzende Rede die Runde durch alle europäische Zeitungen machte und weitaus die vollste Anerkennung fand, wenn man auch die »Opportunität« der Maßregel bestritt. Anders die Opposition im eigenen Lande. Die erhitzten Gemüter der Gegenpartei, wie ihre rührigen Organe, ließen durchblicken, daß sie den eigentlichen Grund der Maßregel ganz richtig erraten hatten: und der rücksichtslose Teil ihrer Presse scheute sich nicht, gerade aus diesem Antrag des Ministers von Holzhausen neue Waffen gegen ihn zu schmieden, dessen persönliche Kapricen, Liebhabereien und Theoreme die Gesetzgebung zu ihrem Tummelplatz ausersehen hätten – wie jene Organe sich nämlich ausdrückten.
In der Tat setzte es diese leidenschaftliche Partei durch, daß die Majorität der Kammer eine Adresse an den Fürsten beschloß, in welchem Dokument ein deutliches Mißtrauensvotum gegen den Justizminister als gegen einen »Neuerer« und »experimentierenden Doktrinär« ausgesprochen war.
Sobald der Minister Kenntnis von dieser Adresse bekam, sah er sich in die Lage versetzt, den Fürsten sofort um seine Entlassung zu bitten, und wußte sein Gesuch mit so dringenden Gründen und Belegen über seine zerrüttete Gesundheit zu unterstützen, daß ihm die Gewährung unmöglich versagt werden konnte; vielmehr bewilligte der Fürst sie ihm unter den schmeichelhaftesten Ausdrücken seiner Huld und Anerkennung und wies gleichzeitig als eine Art von Genugtuung die Annahme jener anklagenden Adresse zurück.
»Ich war vielleicht kränker, als Sie glauben,« sagte der Minister am Abend des Tages, an welchem er seine erbetene Entlassung erhalten hatte, zu seinem Freunde, dem Generalarzt, »aber von heute an werde ich wieder gesund werden. Ich bin jetzt schon wie neugeboren, daß ich die Last vom Halse habe; mag nun das übrige, was ich nicht verhindern kann, seinen Lauf haben. Ich warte nur noch den Ausgang der Verhandlung über meine Vorlage ab; sobald diese, die mein Lieblingskind war, begraben ist, gehe ich auf Reisen. Die Menschheit scheint in diesem Lande noch nicht reif für menschliche Gesetze.«
In der Kammer begannen jetzt die Spezialdebatten über die Regierungsvorlage, betreffend die Aufhebung der Todesstrafe. Ein neuer Justizminister ward nicht ernannt, und der interimistische Vertreter dieses Amtes, ein Veteran der Kriminaljustiz, wollte absichtlich die Vorlage nicht zurückziehen, weil ihm sehr viel daran gelegen war, sie ein für allemal zu Fall zu bringen.
Die frühere Anzahl der Verteidiger der Todesstrafe war in den letzten Tagen bedeutend gewachsen, während die kleine Schar der Verfechter eines humanen Prinzips sich nur noch in der Defensive befand und ihre Zahl wie ihre Hoffnung täglich mehr schwinden sah. Gerade der vorliegende Fall – ein feiger, verstockter Mörder, der sich an seinem Wohltäter vergriffen, nachdem er dessen Familienglück zerstört hatte, erbitterte die Menge, und der bloße Gedanke, einen solchen Menschen, der selbst die Geschworenen in ihrem Amte zu beschimpfen gewagt hatte – durchschlüpfen zu lassen, trieb viele sonst liberale Elemente in das Lager der feudalen Partei, welche an den segensreichen Einrichtungen der gepriesenen alten guten Zeit hing.
Der Fall des Antrags schien unausbleiblich zu sein, und der parlamentarische Kampf ward täglich mehr und mehr zu einem geistigen Gladiatorenschauspiel für das sensationsbedürftige Publikum.
Aber der Veteran der Kriminaljustiz, jener greise Präsident, welcher interimistisch als Justizminister fungierte, glaubte nicht einmal bis zum Schluß der Debatten warten zu sollen. Noch während der Kampf hinüber und herüber wogte, erschien er eines Tages im fürstlichen Schlosse und begehrte eine Audienz beim Landesherrn. Der Zweck seines Schrittes war, sofort das lange zurückgehaltene Todesurteil zur Bestätigung vorzulegen.
Ziemlich ungnädig erwiderte der Fürst auf diese Eröffnung:
»Wollen Sie nicht lieber warten, Herr Präsident, bis die Hauptfrage von neuem endgültig entschieden ist?«
»Wozu würde das dienen, Königliche Hoheit,« erwiderte der Starrsinnige. »Ich hätte als Vertreter der Regierung die ganze Vorlage zurückziehen können, aber die Parteien mögen sich austoben, abgesehen davon, daß mir jener Schritt als eine überflüssige Animosität gegen meinen Vorgänger ausgelegt worden wäre. Die Verwerfung des Antrages ist übrigens ganz sicher. Aber gesetzt auch, das Unwahrscheinliche geschähe, und die Todesstrafe würde aufgehoben, so würde ein neuer Streit entstehen, ob und wie weit das Gesetz rückwirkende Kraft haben könne, namentlich im vorliegenden Falle. Es könnte scheinen, als ob der ganze legislative Apparat nur zu Gunsten eines einzigen Menschen in Bewegung gesetzt worden wäre, eines Unwürdigen, der diese Rücksicht in keiner Weise verdient. Es ist besser, wir machen vorher tabula rasa und zeigen diesen sentimentalen Humanisten und falschen Philosophen, daß die göttliche und menschliche Gerechtigkeit in diesem Staate noch in voller Kraft bestehe. Auch sind wir es dem Delinquenten selbst schuldig, seine lange Folter abzukürzen, durch welche unser Vorgänger sich die gerechte Mißbilligung aller Parteien zugezogen hat. Ich möchte nicht in denselben Fehler verfallen. Wollen aber Eure Königliche Hoheit geruhen, sich selbst auf Seite jener Humanisten zu stellen, so müßte ich bitten, mich meiner interimistischen Funktionen wieder zu entheben. Ich würde es bereuen, diese Berufung als einen Beweis allerhöchster Huld und Gnade angenommen zu haben.«
Noch einmal ließ sich der Fürst den ganzen Fall vortragen und seine Geneigtheit durchblicken, die Strafe in eine lebenslängliche Freiheitsentziehung zu verwandeln, wenn der Delinquent selbst darum nachsuchen wolle. Allerdings sei die Bedingung ein volles offenes Geständnis der Tat.
»Daran ist gar nicht zu denken, Königliche Hoheit!« rief der Präsident. »Dieser Mensch weist auch die Gnade von sich. Er verhöhnt uns und die heilige Sache der Justiz!«
Zögernd unterschrieb der Fürst, nachdem auch dieser letzte Versuch, einen Aufschub zu erhalten, mißlungen war. Er hätte allerdings befehlen können, ihm das Urteil erst nach erfolgter Abstimmung über den Antrag vorzulegen, aber er hatte einerseits zu hohen Respekt vor der öffentlichen Meinung, welche durchaus gegen jenen Verbrecher war, den er durch eine weitere Verzögerung entschieden zu begünstigen scheinen würde; anderseits, und dies war die Hauptsache, fehlte es an einem passenden Ersatz, falls der Präsident wirklich von der interimistischen Funktion des Justizministers zurücktreten wollte.
Am Morgen des nächsten Tages publizierte die offizielle Zeitung die Bestätigung des Todesurteils von seiten des Landesherrn; die Hauptstadt wußte, daß der Delinquent nunmehr nur noch eine Nacht zu leben habe und daß, da er die übliche Frist von drei Tagen zurückgewiesen, mit Anbruch des nächsten Morgens der irdischen Gerechtigkeit Genüge getan sein würde.
Der Generalarzt Doktor Westernhagen war diesen Nachmittag wiederum bei dem Exjustizminister, seinem alten Freunde gewesen, um ihm einige Ratschläge zu erteilen. Der Minister hatte beschlossen, noch im Laufe der Nacht vor Anbruch des Morgens abzureisen, um nicht in den Mauern der Stadt zu sein, die begierig war, wieder Menschenblut vergossen zu sehen. Mit Mühe und vergeblich hatte der Arzt versucht, den alten Herrn zu bewegen, noch einen Tag zu warten. Die Empörung desselben über die Eigenmächtigkeit seines Nachfolgers, der nicht einmal das Ergebnis der Debatte abwarten wollte, überstieg alle Grenzen.
»Wenn der Delinquent wenigstens gestanden hätte«, sagte er, »aber einen Unbußfertigen umzubringen, ist eine Barbarei ohnegleichen!«
»Davon, mein alter Freund, wollen wir uns unterrichten«, sagte der Generalarzt. »Ich muß ohnehin in das Gefängnis und werde bei dieser Gelegenheit dem Unglücklichen einen Besuch abstatten. Jedenfalls bringe ich noch Nachricht, wie ich ihn gefunden habe, also noch kein Abschied jetzt, sondern auf Wiedersehen in einer Stunde.«
Mit diesen Worten war der Generalarzt gegangen, um seine Angelegenheit im Gefängnis abzumachen. Dies war aber folgende: Doktor Westernhagen war nicht nur ein berühmter Arzt, sondern auch ein beliebter Professor auf der Universität, namentlich war er eine Autorität im Gebiete der Anatomie. Wie alle Universitäten, hatte auch die der Hauptstadt eine Klinik. Da es häufig an disponiblen Leichen fehlte, bestimmte ein altes Gesetz, daß die Klinik ein Recht habe, die Leichname aller derjenigen, die im Zuchthaus gestorben waren, zu requirieren. Dasselbe galt von den Leichen der Selbstmörder, sowie der Hingerichteten.
An dieses alte Herkommen hatte sich der Generalarzt noch zu rechter Zeit erinnert, und er war jetzt auf dem Wege, um im Stadtgefängnis den Scharfrichter aufzusuchen und die Forderung an ihn zu stellen, nach geschehener Exekution den Leichnam sofort an die Klinik abzuliefern.
In der Tat traf er den Scharfrichter bereits im Gefängnis anwesend; es war ein untersetzter, würdiger Mann mit klugen Augen und gemessener Haltung. Man hätte ihn für einen Landarzt halten können, wenn man an einem andern Orte mit ihm zusammengetroffen wäre. Hier im Hofe des Gefängnisses war er soeben damit beschäftigt, die Schärfe des Fallbeiles an einem Bund Stroh zu probieren.
Als der Generalarzt sein Verlangen ausgesprochen, erwiderte er:
»Das wird doch wohl nicht gehen, Herr Generalarzt, denn Sie werden das doch seiner Frau nicht zuleide tun wollen.«
»Seiner Frau?« rief der Generalarzt, »die wird sich sicher nicht um ihn bekümmern!«
»Das kommt noch sehr darauf an«, erwiderte der Scharfrichter. »Vor einer halben Stunde haben sie beide zusammen das Abendmahl genommen. Jawohl, Frau Mark von Schwelmroda ist selbst hier. Gehen Sie nur hinein, Herr Generalarzt. Überhaupt verlohnt sich's der Mühe, diesen Menschen da drinnen kennen zu lernen. Ein solcher Patron ist mir noch nicht vorgekommen.«
»Wie so? was wollen Sie damit sagen?«
»Entweder ist er ein Ungeheuer, wie noch selten eins die Erde getragen – so glaubte ich noch heute mittag, denn den Geistlichen, der sonst hier Gottesdienst hält und das Nötige besorgt, hat er mit gottlosen Witzen fortgeschickt. Aber seit ein paar Stunden ist er ein anderer Mensch, und ein Unschuldiger könnte sich kaum anders geberden. Seit ihm das Urteil verkündigt wurde, ist er ganz sanft und still geworden und hat nach dem Pfarrer von Schwelmroda schicken lassen, um Abschied von ihm zu nehmen, auch nach seiner Frau, um sich mit ihr zu versöhnen. Ich wollte vorher die nötige Toilette mit ihm vornehmen, aber ich habe es nicht über das Herz bringen können.«
Der Generalarzt war über diese Eröffnungen nicht wenig erstaunt, und einige Minuten später trat er selbst in das Gemach des Erdgeschosses, welches dem Verurteilten zum letzten Aufenthalt angewiesen war. Das einst weißgetünchte, jetzt geschwärzte Zimmer, das kellerartig von einem schmalen vergitterten Fenster in der Höhe erhellt wurde, hatte keine weitere Ausstattung, als einige fest in die Wand gerammte Bänke und einen rohgezimmerten Tisch. Der steinerne Boden war mit Strohmatten belegt. In der Mitte der Wand zwischen einigen Kleiderhaken und einem Wandschrank hing ein Kruzifix.
Zur Seite des Delinquenten, der auf einer hölzernen Bank saß, erblickte der Eintretende Frau Gertrud, bleich, mit verweinten Augen, aber gefaßt und still. Wolfram Mark selbst, den der Generalarzt jetzt zum ersten Male sah, hatte fast das verklärte Aussehen, wie Märtyrer von Malern dargestellt werden, so leuchtete und strahlte heute sein Gesicht.
Beide Gatten saßen Hand in Hand, während der alte Pfarrherr von Schwelmroda ein Kapitel aus der Bibel las. Alle drei schienen unwillig über die Störung, welche ihrer Andacht mit dem Eintritt des Generalarztes drohte.
Doktor Westernhagen befand sich in einiger Verlegenheit, wie er seinen ungewöhnlichen Besuch motivieren sollte. Von seiner ursprünglichen Absicht konnte jetzt keine Rede mehr sein, denn welcher humane Arzt möchte den Gefühlen der Pietät mit einem harten, alten, unbarmherzigen Gesetz in der Hand entgegentreten. So blieb dem Generalarzt nichts übrig, als das Erbieten, etwaige Wünsche des Delinquenten entgegenzunehmen. Bescheiden, aber bestimmt lehnte Wolfram Mark jede Annäherung ab. Weniger Schwierigkeit fand der Generalarzt bei Frau Gertrud, sowie beim Pfarrer von Schwelmroda, den er aus früherer Zeit kannte. Mit beiden gelang es dem Doktor, eine kurze Unterredung anzuknüpfen, doch wollte auch diese nicht recht in Fluß kommen; endlich wandte sich der Generalarzt noch einmal an den Verurteilten.
»Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Mark, daß ich mich in den letzten Stunden noch zu Ihnen gedrängt habe. Ihre Sinnesänderung und fromme Ergebung in das Unvermeidliche muß Ihnen die herzliche Teilnahme jedes gewinnen, der Zeuge davon gewesen. Daß Sie jetzt auf Erden noch alle Zerwürfnisse mit Ihren Angehörigen ausgleichen, daß Sie sich mit Ihrer Lebensgefährtin versöhnt haben, das ehrt Ihr Herz. Geben Sie mir Ihre Hand. Wenn irgend etwas auf Erden noch Ihr Schicksal ändern könnte, wer möchte es nicht versuchen. Eins aber sind Sie Ihrem guten Namen, wie den Nachlebenden, schuldig. Sie erleichtern unser aller Gemüt, wenn Sie endlich noch ein offenes Bekenntnis ablegen wollen.«
Da erhob sich Wolfram Mark von der Bank und legte seine Hand auf die aufgeschlagene Bibel, die vor ihm auf dem Tische lag.
»So wahr ich selig zu werden hoffe, Herr Doktor«, sagte er mit feierlichem und männlichem Ernste, »ich habe jene Tat nicht vollbracht, und Sie mögen es morgen, wenn ich nicht mehr bin, der Stadt verkünden, daß man einen Justizmord an mir begangen hat!«
Der Generalarzt erschrak vor der Bestimmtheit dieser Erklärung.
»Aber können Sie denn nicht dringend etwas anführen, was Ihre Unschuld beweist?«
»Nichts!« erklärte Wolfram Mark.
»Aber dann hätten Sie doch um Begnadigung bitten können,« erwiderte der Generalarzt.
»Nein,« sagte Wolfram Mark. »Ich verdiene keine Gnade; mein Tod ist trotzdem gerecht! Man muß auch zuweilen schon für das büßen, was man nur gewollt hat!«
»Wie meinen Sie das?« rief der Generalarzt, und einen Moment kam ihm jenes Bedenken Leo Heineckes in Erinnerung, der in der Kette der Tatsachen eine gewisse Lücke, im Charakter des Verurteilten ein gewisses Rätsel hatte finden wollen.
»Ich will es nur offen bekennen,« fuhr Wolfram Mark fort. »An jenem unglückseligen Tage war ich fest entschlossen, etwas Entsetzliches zu tun. Ich riß das Gewehr von der Wand und bewaffnete mich für alle Fälle. Ich hatte die Absicht, noch einmal gütlich mit dem alten Herrn zu reden, aber wenn er beharrte, so hätte ich ihn gezwungen mit vorgehaltenem Gewehr. Was dann geschehen wäre, wer weiß es? – ich war vollkommen in der Verfassung, ihn zu ermorden, wenn er nicht nachgegeben hätte! Sie müssen wissen, ich hatte längst keine Achtung vor dem Alten mehr. Er verschleuderte das Vermögen und ließ sich von schlechten Personen ausbeuten. Ich will hier weiter nichts darüber sagen, aber auch sein Testament hatte darauf Bezug. Wäre er leben geblieben, er hätte eine viel schwerere Schande über das Haus gebracht, als seine Tochter und ich! So dachte ich damals, und so bin ich ihm in den Wald nachgegangen. Leider, oder soll ich sagen glücklicherweise traf ich ihn nicht mehr; ich fand nur seine Kleidungsstücke am Ufer und den heulenden Hund. Was auch geschehen sein mag, die Absicht der Tat habe ich gehabt, und dafür muß ich büßen!«
»Sagen Sie wirklich die Wahrheit, Herr Mark?« fragte der Generalarzt nochmals eindringlich.
»Ich habe darauf mit meiner Frau das heilige Abendmahl genommen« – war die Antwort. »Auch der Herr Pfarrer weiß jetzt die ganze Wahrheit.«
»Aber warum in aller Welt haben Sie diese Angabe nicht vor Gericht gemacht?« fragte der Generalarzt wiederum.
»Man würde nicht daran geglaubt haben,« sagte Mark. »Man würde es für eine schlechte Ausrede angesehen haben. Kurz und gut, ich verdiene meine Strafe. Wer weiß denn, ob er nicht gerade deshalb sich ein Unglück angetan hat, weil er wußte, oder merkte, daß die Hand des Mörders über ihm war. Ich bin schuldig durch den Willen, das andere ist Nebensache!«
»Aber, mein Freunds diese Logik mag moralisch sein, aber juristisch ist sie auf keinen Fall!« rief der Generalarzt. »Sind Sie nicht auch der Meinung, Herr Pfarrer?«
»Wir haben unsere Überredung längst erschöpft, Herr Generalarzt. Und wer weiß, wozu ein solches Opfer gut ist. Wenn es der Himmel nicht wollte, so würde er es nicht zugelassen haben,« sagte der alte Herr resigniert, während Frau Gertrud, in starrem Schweigen dasaß.
»Kommen Sie mir in diesem Augenblicke nicht mit theologischen Grillen!« rief der Arzt fast mit Unwillen. »Auf keinen Fall darf das Ungeheuerliche vor sich gehen. Herr Mark, Sie dürfen nicht sterben! Es wäre ein Hohn auf Gesetz und Gerechtigkeit. Da müssen Schritte geschehen. Lassen Sie mich nur machen!«
»Nein, tun Sie das nicht,« sagte Mark und ergriff die Hand des Generalarztes. »Ich danke für Ihren guten Willen, aber ich bitte dringend darum. Es soll so sein. Wo Herr Erdmann geblieben ist, weiß Gott im Himmel allein. Meine Absicht wiegt so schwer wie die Tat. Daher unser böses Gewissen, daher die unglückliche Ehe, daher alles andere, und daher auch meine Verurteilung. Tun Sie nichts dagegen. Ich werde nicht um Gnade bitten. In einigen Stunden ist alles vorüber, und jetzt, Herr Doktor, lassen Sie uns noch eine Weile allein!«
Mit blutendem Herzen riß sich der Generalarzt los und trat seinen Rückweg an.
Die bescheidene Resignation, die energische Bestimmtheit, der Mut der Selbstaufopferung, womit der Delinquent seine letzten Erklärungen abgegeben hatte, alles trug den Stempel der unverfälschten Wahrheit und überzeugte den Arzt mit unwiderstehlicher Gewalt, daß das Verdikt der Geschworenen diesmal ein falsches gewesen war. Er empfand es als eine heilige Pflicht, alle denkbaren Schritte zu tun, um die Vollstreckung des Urteils, das Ungeheuerliche eines Justizmordes noch in letzter Stunde zu verhindern.
Zuerst eilte er in das fürstliche Schloß, um von höchster Hand selbst einen Gegenbefehl zu erwirken.
»Königliche Hoheit ist auf die Jagd gefahren,« hieß es dort. »Wenn Sie vielleicht warten wollen – er kann in jeder Minute zurückkommen, es kann aber auch Stunden dauern. Wünschen Sie Geschäftliches, so ist der Kabinetsrat noch zu sprechen.« Der Generalarzt eilte hinauf, fand aber schlechten Trost bei dem eleganten Herrn, dem juristische Dinge ganz fern lagen.
»Ah, deshalb kommen Sie?« erwiderte er, nachdem ihm der Generalarzt sein Anliegen mitgeteilt hatte. »Diese Art von Verbrechern kennt man schon, sie wissen sich wichtig zu machen noch im letzten Augenblick, bloß um Zeit zu gewinnen. Morgen ist dann eine neue Ausrede bereit. Nein, wenn Sie kein stichhaltigeres Motiv haben, möchte ich kaum raten, den allergnädigsten Herrn damit zu behelligen. Ich fürchte, Sie haben sich täuschen lassen, Herr Generalarzt, und möchte Ihrer Erwägung anheimgeben, ob dergleichen Angelegenheiten doch nicht besser dem zuständigen Ressort vorbehalten bleiben.«
Auf diese Andeutung hin eilte der Generalarzt zum interimistischen Vertreter des Justizministers, zum Präsidenten, der wie früher noch daneben am Appellationsgerichtshofe tätig blieb. Es war noch Licht in dem Bureau, aber jener, den er suchte, war seit einer Stunde bereits abwesend. Einer der Räte, welchen er zu bestimmen suchte, den Präsidenten, sei es, wo immer, aufsuchen zu lassen – und dabei gab er auch hier den Zweck des Besuches an – erwiderte ziemlich trocken:
»O, das würde ganz vergeblich sein, Herr Generalarzt! Der Präsident ist in diesem Punkte ganz unbeugsam, und wir würden uns nur Unannehmlichkeiten zuziehen. Ich bin gewiß kein Rigorist in juristischer Beziehung, wie er, aber dergleichen Ausflüchte, wie die Angabe mit der nicht ausgeführten Absicht, entbehren denn doch alles Wertes. Übrigens ist schon Befehl gegeben, die öffentliche Hinrichtung zu unterlassen und sie im Hofe des Gefängnisses zu vollziehen. Man muß jede Demonstration vermeiden, so lange das betreffende Gesetz wegen der Aufhebung der Todesstrafe noch unerledigt vor den Kammern schwebt. Wir wollen die Verwerfung keineswegs erzwingen, aber ein neuer Aufschub würde alle Parteien stutzig machen und uns möglicherweise noch im letzten Moment den Sieg entreißen.«
Gänzlich niedergeschlagen und völlig verzweifelt langte der Generalarzt wieder am Palais seines Freundes in der Kronenstraße an. Soeben schlug es neun Uhr abends.
Er war zweifelhaft, ob er nochmals hinaufgehen sollte, um seine neuen Erhebungen und das fruchtlose Resultat seiner Bemühungen mitzuteilen.
»Nein«, sagte er zu sich selbst, während er die breite Marmortreppe schon hinaufgestiegen war, »wozu soll es nützen, es wird ihn nur von neuem aufregen, und völlige Gemütsruhe ist für ihn unentbehrlich.« Gleichzeitig begann er selbst am objektiven Wert jener Enthüllung etwas zweifelhaft zu werden und war bereits im Begriff umzukehren.
Da wollte es ihm vorkommen, als ob in der Wohnung des Exministers ein ungewöhnliches Leben herrschte. Er hörte laute Stimmen, sah Lichter über die Gänge eilen und vernahm mehrere Türen heftig öffnen und schließen.
Es wird doch nichts vorgefallen sein? dachte der besorgte Arzt und zog jetzt entschlossen die Klingel. Eine Minute später trat er in das Empfangszimmer, und wer beschreibt sein Erstaunen, als er dort den jungen Referendar Leo Heinecke in einer Art von Wortwechsel mit der Frau Ministerin fand.
Kaum erblickte der junge Mann den alten Freund des Hauses, als er ihm entgegeneilte.
»Bitte, helfen Sie mir, Herr Generalarzt. Sie kommen wie vom Himmel gesendet. In dieser Hand habe ich Sieg und Entscheidung. Aber Eile ist not, das Leben eines Menschen steht auf dem Spiele!«
Der Arzt wandte sich fragend zur Ministerin.
»Jawohl, Herr Generalarzt, dasselbe muß ich sagen, kommen Sie auch mir zu Hilfe!« rief die Ministerin. »Der junge Herr will durchaus, ich soll meinen Mann wecken. Er hat sich auf Ihren Rat sehr zeitig zur Ruhe begeben, weil er um zwei Uhr abzureisen gedenkt, wie Sie wissen. Aus den Andeutungen des jungen Herrn werde ich nicht klar, denn er scheint mit der Hauptsache nicht offen herauszuwollen, oder ich muß vermuten, daß es mit dem Exaltierten nicht recht richtig ist.« Diese letzteren Worte sprach sie etwas leiser. »Wir reden nun bereits eine Viertelstunde, ohne uns zu verstehen.«
Wieder begann Leo Heinecke: »Aber Himmel und Erde, Exzellenz, das ist doch klar und verständlich genug, wenn ich sage: in dieser Hand liegt das Mittel, den Verurteilten vom Tode zu retten? Sie werden mich doch verstehen, Herr Generalarzt?«
Dieser aber ergriff mit heftiger Bewegung den Arm des jungen Mannes.
»Was sagen Sie? Wen meinen Sie? Doch nicht Wolfram Mark?«
»Denselben, der morgen mit Tagesanbruch hingerichtet werden soll.«
»Wenn das ist, so schließe ich mich Ihrer Bitte an – ja ich ersuche Sie, Exzellenz, sofort den Herrn Minister zu wecken. Die Sache ist von höchster Dringlichkeit!«
Kopfschüttelnd und ungnädig verließ die Ministerin das Zimmer, an dessen Türen jetzt auch die Töchter sichtbar wurden. Selma grüßte sogar schüchtern, aber die entschiedene Bewegung des Arztes scheuchte sie wieder davon.
»Sagen Sie mir um des Himmels willen, was haben Sie, Herr Referendar?«
»Keine Silbe vor der Zeit,« erwiderte dieser jetzt in voller Ruhe. »Doch ja, unter einer Bedingung sollen Sie zu den Wissenden zählen. Neulich, Herr Generalarzt, sind Sie in meiner Schuld geblieben. Sie befolgten meinen Rat, aber der Dienst war vielleicht zu klein, um belohnt zu werden. Heute aber mache ich mein Meisterstück! Ich rette den Verurteilten, ich beweise seine Unschuld, ja ich restituiere unsern Justizminister. Sind Sie dann zufrieden?«
»Wenn Sie das können!« rief der Generalarzt, »so sind Sie ein Genie, und ich ziehe meinen Hut vor Ihnen!«
»Das wird mir zwar sehr schmeichelhaft sein,« sagte der junge Mann, »aber es wird mich meinem Ziele nicht näher bringen. Wenn Sie mir aber versprechen wollen, mein Freiwerber zu sein um Fräulein Selmas Hand, und zwar bei ihren Eltern –«
»Mit tausend Freuden, teurer Freund,« rief der Generalarzt. »Wenn Sie ausführen, was Sie versprochen haben, wird man Sie sicherlich willkommen heißen; aber nun lassen Sie hören.«
»Wohl, so hören Sie,« und der junge Mann führte den Arzt in eine Fensternische: doch im selben Augenblick erschien der Minister, begleitet von seiner Gemahlin wie von seinen Töchtern, die sich diesmal nicht vertreiben ließen.
Nach der ersten flüchtigen Vorstellung trat eine momentane Pause ein.
»Was haben Sie mir zu sagen, Herr Referendar?« begann der Minister, indem er den jungen Mann fixierte.
»Exzellenz«, erwiderte dieser, »bevor ich beginne, bitte ich, Befehl zu geben, mich zu verhaften. »Ich bin ein Dieb!«
»Keine unzeitigen Scherze jetzt,« fiel der Generalarzt ein, und auf der Stirn des Ministers zeigten sich einige drohende Falten.
»Keine Scherze,« erwiderte Leo Heinecke mit unerschrockenem Tone. »Ich bin der Dieb eines wichtigen Dokuments, welches dem teuer zu stehen kommen wird, der es bis jetzt verheimlichte. Lesen Sie selbst und urteilen Sie dann!«
Gleichzeitig zog er aus der Brusttasche seines Rockes einen offenen Brief, welchen er dem Minister übergab.
Hastig ergriff ihn der letztere, trat zu der Lampe, welche auf dem Tische stand, und las, während die übrigen in erwartungsvollem Schweigen verharrten.
Der Brief war aus St. Louis datiert und lautete:
»Soeben lese ich in deutschen Zeitungen, daß mir nahestehende Personen – Herr Wolfram Mark wie meine Tochter, in einen gefährlichen Prozeß verwickelt sind, weil man sie mehr oder minder schuldig an meinem Verschwinden hält. Ich lebe und bin bereit, selbst zurückzukommen, sobald ich von einer bedenklichen Krankheit genesen bin, die mich seit vielen Wochen darniedergeworfen. Leider ist das Kabel zur Zeit unbrauchbar geworden, ich würde sonst telegraphiert haben, unter den jetzigen Umständen muß ich zur Feder greifen und will nur wünschen, daß mein Brief noch rechtzeitig eintrifft, um großes Unheil zu verhüten.
»Ich erkläre, daß ich heimlich entwichen bin, weil mein Stolz es nicht ertragen mochte, meine Tochter durch eine unpassende Verbindung erniedrigt und mich dem Spott der ganzen Umgegend ausgesetzt zu sehen. Nun, das war ein Irrtum, den ich bereue, und mit Freuden entnehme ich den Berichten, daß Wolfram und Gertrud in rechtmäßiger Weise Mann und Frau geworden sind. Zur Geschichte der Vorgänge am 13. Juli vor zwei Jahren bemerke ich, daß ich im »Wilden Mann« zu Habichtshausen gewesen bin. Von dort wollte ich mich über die Brücke des Flußarms zum Pfarrer von Habichtshausen begeben, allein ein Holzschiff, welches gerade vorüberfuhr, brachte mich auf den Gedanken, diese Gelegenheit zu benutzen und die Testamentsangelegenheiten brieflich abzumachen. Ich rief das Schiff an und gelangte richtig hinein. Die Leute kannten mich nicht, und so kam ich glücklich bis zur nächsten größeren Stadt, zwanzig Stunden flußabwärts. Dort stieg ich aus und logierte im Gasthof zum Malteser Kreuz und zwar unter dem Namen »Kreuzmann aus Breslau«. Man forsche im dortigen Fremdenbuche nach, und man wird meine Angabe bestätigt finden. Weiter ging ich über Köln, Paris und Havre hierher. Man sollte glauben, ich sei umgekommen, deshalb legte ich die Mütze nebst dem Überrock ans Ufer. Nun sehe ich zu meinem Schrecken, daß man meine Kinder, denen ich längst verziehen habe, unglücklich machen will. Man lasse Herrn Mark sofort frei und teile ihm meinen Wunsch mit, Schloß Ravensbeck zu verkaufen und mit meiner Tochter mir hierher nachzufolgen. Ich befinde mich, von der Krankheit abgesehen, in ganz leidlichen Verhältnissen hier und hoffe noch ein sonniges, ruhiges Alter zu erleben.«
Unterschrieben war der Brief mit festen großen Zügen: »Friedrich Erdmann von Ravensbeck, genannt Kreuzmann.«
Mit lauter Stimme hatte der Minister diesen Brief gelesen, dessen Eindruck auf die Anwesenden unbeschreiblich war.
»Unglücklicher, wie kommt dies Dokument in Ihre Hand?« rief der Minister und faßte den Arm des jungen Mannes.
»Ich sagte es schon, Exzellenz«, erwiderte dieser, »durch Diebstahl!«
»An wen ist der Brief gerichtet?«
»Ich weiß es nicht,« sagte Leo Heinecke. »Der Sache nach wohl an die Gerichtsbehörde, aber wahrscheinlich hat der alte Mann drüben es für sicherer gehalten, an den Verteidiger zu schreiben. Heute morgen noch besaß diesen Brief Doktor Borkrum.«
»Und dieser hätte ihn unterschlagen? Unmöglich!« rief der Minister.
»Das habe ich nicht behauptet,« entgegnete der Referendar. »Erlauben Sie mir hier einen kleinen Auftritt einzuschalten, dessen unfreiwilliger Zeuge ich geworden bin. Sie wissen, ich arbeite seit einiger Zeit auf dem Appellationsgericht, und zwar unmittelbar neben dem Zimmer des Präsidenten, Ihres interimistischen Nachfolgers. Schon seit längerer Zeit ließ sich Herr Doktor Borkrum fast täglich sehen, und Sie mögen beurteilen, Herr Generalarzt, ob meine Charakteristik zu scharf gewesen ist. Man sagt, Doktor Borkrum habe Absichten auf eine ziemlich betagte Anverwandte des Präsidenten, genug, er kam so oft als möglich und suchte mit allen Mitteln sich unentbehrlich zu machen. Er ist in der Hauptfrage des Tages völlig auf Seite des Präsidenten getreten; er schürt, spioniert, hetzt, berichtet und agitiert, es ist eine wahre Freude, solche Rührigkeit zu sehen, die er entfaltet, um wieder in die Höhe zu kommen. Heute nachmittag kam er abermals und ging durch mein Zimmer. Sein eiliges und verstörtes Wesen fiel mir einigermaßen auf. Gleich nachdem er beim Präsidenten eingetreten war, wurde die Tür, die sonst offen steht, geschlossen. Indessen hörte ich unfreiwillig doch jedes Wort. Der Ofen nämlich, welcher durch Röhren beide Zimmer heizt, ist vor einigen Tagen repariert worden, entbehrt aber noch des Rohres auf meiner Seite, und auf der andern scheint dasselbe noch offen zu stehen, so daß es förmlich wie ein Schallrohr wirkt und jedes, selbst das leise gesprochene Wort mir mit verstärktem Tone zutrug. Ich brauchte mich dem Ofen nicht einmal zu nähern, sondern hörte alles auf meinem Platze vor dem Arbeitstische.
»Exzellenz, rief Doktor Borkrum, heute komme ich in einer hochwichtigen Angelegenheit. Soeben ist dieser Brief an mich eingelaufen.
Darauf trat eine Pause ein.
Dann sprach der Präsident, nachdem er gelesen: »Ah, bah, eine Mystifikation!«
»Das ist doch wohl nicht gut möglich, sagte Borkrum. »Ich kenne die Handschrift des Alten und muß sie als echt ansehen. Auch war das Kuvert durchaus unverdächtig.«
»Einerlei,« sagte der Präsident wieder. »Man kann auch Handschriften nachmachen. Sehen Sie denn nicht ein, daß man diesen Streich nur versucht, um die Gesetzesvorlage wegen der Aufhebung der Todesstrafe im letzten Moment noch durchzubringen. Jetzt bereue ich es fast, sie nicht zurückgezogen zu haben, aber nun gilt es fest zu sein!«
»Was denken Herr Präsident zu tun?« fragte dann der Doktor wieder. »Die Exekution muß doch unfehlbar nun aufgeschoben werden.«
Wieder trat eine Pause ein, aber das Wort von der Exekution hatte mich jetzt erst recht aufmerksam gemacht, und ich suchte vom Folgenden keine Silbe zu verlieren.
»Exzellenz«, sagte Borkrum wieder. »Es wird mein Unglück. Sie bringen mich an den Galgen!«
»Wenn Sie vor der Zeit plaudern, Herr Doktor,« war die Antwort, »so sind wir geschiedene Leute und Ihre Aussichten Null. Wollen Sie aber schweigen, so werde ich etwas für Sie tun. Ihre Karriere als Anwalt ist doch verdorben. Aber die Verwerfung der verwünschten Vorlage ist ein Opfer wert. Wo soll die Gottesfurcht bleiben, wenn sie durchgeht, und jedenfalls werden die Männer des Umsturzes alles Bestehenden triumphieren, wenn dieser Brief bekannt wird. Das Gesetz muß bestehen bleiben. Wir müssen in diesem Falle der guten Sache ein Opfer bringen. Die Verantwortung nehme ich auf mich!«
Noch einmal und fast in weinerlichem Tone jammerte der Doktor, ihm seinen Brief zurückzugeben.
»Dieser bleibt bei mir,« sagte der Präsident. »Sie könnten schwach sein, lieber Freund, drum lassen Sie ihn mir. Ich werde überlegen. Ich verspreche Ihnen, die Sache noch einmal zu erwägen. Seien Sie kein Feigling und bauen Sie auf mich.«
Damit hatte er ihn zur Tür hinausgedrängt, ich hörte wenigstens nichts mehr, aber wenn ich noch in Zweifel gewesen wäre, was dies alles bedeuten solle, so ist auch dieser gehoben worden. Gleich daraus nämlich ließ der Präsident mich in sein Zimmer rufen und fixierte mich.
»Ein kurioser Kauz, dieser Borkrum«, sagte er, »haben Sie etwas davon gehört, was er wollte?«
»Nein, Exzellenz«, erwiderte ich, und Gott wird mir diese Lüge wohl verzeihen.
Darauf fragte er mich, ob ich an die Möglichkeit einer Mystifikation glaube, und ich sah dabei, wie er einen Brief in sein Pult legte.
»Was für Mystifikation meinen Herr Präsident?« wagte ich zu fragen.
»Was sonst, als unsere Justiz zu durchkreuzen; aber ich kümmere mich nicht um solche Praktiken, schon aus politischen Gründen nicht.«
»Diese Bemerkung ist mir rätselhaft, Exzellenz,« sagte ich, und wer weiß, wie viel der Präsident in seiner Aufregung und Zerstreutheit noch geplaudert hätte, wenn nicht in diesem Augenblicke Feuerlärm in dem Seitengebäude des Gerichtshofes ertönt wäre. Es war, wie sich nachher herausstellte, nur ein Kaminbrand, aber der Präsident war so erschrocken, daß er davon eilte und vergaß, sein Pult zu verschließen.
Und nun trat der Versucher zu mir und flüsterte mir zu, den Augenblick zu benutzen. Es ist mir nicht leicht geworden, Exzellenz, aber ich glaubte eine heilige Pflicht zu erfüllen. Ich öffnete das Pult – und hier ist die Beute, mich aber lassen Sie als den Dieb verhaften, wenn ich etwas Unrechtes begangen habe!«
»Sie haben recht gehandelt!« rief der Minister in höchster Erregung, »aber wie in aller Welt kann dieser Mann wagen, seinem Prinzip einen Menschen zu opfern? Wie kann er nur hoffen, daß dies Verbrechen unentdeckt bleiben werde? Unerklärlich!«
»O, das ist sehr leicht zu erklären!« sagte der Generalarzt. »Man läßt die Exekution vor sich gehen, damit das Gesetz bestehen bleibt. Kommen später Reklamationen aus Amerika, so leugnet man den Brief ab. Ein Gesetz ist schon ein solches Opfer wert. Aber nun heißt es handeln! Wir haben nur noch fünf Stunden, jetzt ist es elf Uhr und um vier soll die Hinrichtung stattfinden.«
»Folgen Sie mir, meine Herren, auch Sie, Herr Referendar, und Sie, Herr Generalarzt. Unser Weg geht zum Fürsten,« sagte der Minister und nahm Abschied von feiner Gemahlin. Seine Stirn leuchtete, und auch die Mienen der beiden Begleiter trugen einen entschlossenen und gehobenen Ausdruck.
* * *
Am andern Morgen erfuhr die erstaunte Hauptstadt durch öffentlichen Anschlag, daß die Hinrichtung des Wolfram Mark aufgeschoben, sowie daß der Doktor Borkrum verhaftet worden sei. Was den Präsidenten betraf, so ereignete sich ein bemerkenswerter Zwischenfall. Sei es vom Gewissen getrieben oder von der Vorsicht, er war mitten in der Nacht auf dem Appellationsgericht erschienen, um nach etwas – offenbar nach dem betreffenden Briefe – in seinem Pulte zu suchen. Sobald er das Verschwinden desselben bemerkte, schöpfte er Verdacht und änderte sofort seine Taktik. Er erschien nämlich mit Tagesanbruch im Gefängnis, um in der Eigenschaft als interimistischer Justizminister selbst den Aufschub der Exekution zu befehlen. Nicht gering war sein Erstaunen, als er erfuhr, daß diese Maßregel soeben durch allerhöchsten Machtbefehl verfügt worden sei. Gleich darauf traf er mit dem Minister von Holzhausen zusammen, der in Begleitung des Generalarztes und des Referendars noch im Gefängnis verweilt hatte, um den Delinquenten selbst von der Wendung seines Geschickes in Kenntnis zu sehen.
Ein heftiger Auftritt erfolgte. Der Präsident beschuldigte den Referendar offen des Diebstahls und den Minister einer gegen ihn gerichteten Intrigue, drohte mit öffentlicher Anklage und unmittelbarer Beschwerde beim Landesherrn.
Ruhig erwiderte ihm der Minister: »Seine Königliche Hoheit sind bereits vom ganzen Sachverhalt in Kenntnis gesetzt, und nur mir haben Sie es zu danken, daß Sie noch auf freiem Fuße sind. Im übrigen würde ich raten, mit jeder Anklage vorsichtig zu sein; wir werden mit einer schwereren antworten, und die Aussagen des Doktor Borkrum, der bereits verhaftet ist, werden uns das nötige Material dazu liefern.«
Vernichtet und keines Wortes fähig zog sich der Präsident zurück.
Noch am Nachmittag desselben Tages brachten die Zeitungen der Hauptstadt den Brief des alten Erdmann-Ravensbeck im Abdruck.
Die Debatte über die Aufhebung oder Beibehaltung der Todesstrafe nahm infolge davon einen unerwarteten Umschwung.
Um zwei Uhr erschien Minister von Holzhausen selbst in der Kammer, um in Eigenschaft eines Staatsrates eine zündende Rede zugunsten der ursprünglichen, noch von ihm herrührenden Regierungsvorlage zu halten. Menschenweisheit und irdische Gerechtigkeit hatten sich beide als ohnmächtig erwiesen. Nur die zufällige Verzögerung, nur der prinzipielle Widerwille gegen ein veraltetes Gesetz hatten die Welt vor einem Verbrechen bewahrt. Darum fort mit einem Gesetz, welches, wie jede menschliche Einrichtung, gleichfalls dem Irrtum unterworfen ist.
Bei namentlicher Abstimmung wurde die Todesstrafe mit einer Mehrzahl von dreißig Stimmen aufgehoben.
Am Abend desselben Tages wurde Wolfram Mark freigelassen. Der Wagen, in dem ihn Gertrud abholte, wurde vom Volke mit Blumen beworfen.
Am nämlichen Abend brachte die Bevölkerung der Hauptstadt dem Exminister einen solennen Fackelzug mit festlicher Serenade. Um zehn Uhr rollte der Wagen des Fürsten vor das Palais in der Kronenstraße. Der Landesherr selbst stieg zu der Wohnung seines alten Freundes empor, um ihm nicht nur das Portefeuille der Justiz zurückzubringen, sondern auch das seines eigenen Hauses zu übertragen.
»Nicht mein allein ist das Verdienst,« sagte der greise Minister; »ohne gewisse Bundesgenossen wäre ich nimmermehr dazu gekommen, die Erfüllung meines Lieblingswunsches durchzusetzen.« Und dabei präsentierte er dem Landesherrn den jungen Referendar Leo Heinecke, der von dieser Auszeichnung indes wenig befriedigt schien. Glücklicher aber durfte er sich fühlen, als wenige Minuten darauf der Generalarzt seinen alten Freund beiseite nahm und ihm sagte:
»Exzellenz können den jungen Mann besser belohnen als mit kahler Ehre.«
»Und wie meinen Sie?«
»Indem Sie ihn dauernd zu Ihrem Spiritus familiaris, zu Ihrem Schwiegersohn erwählen. Ich habe ihm versprochen, sein Freiwerber um Fräulein Selmas Hand zu sein, und entledige mich hiermit nur meiner Verpflichtung – vorausgesetzt, daß die junge Dame selbst nichts dagegen einzuwenden hat.«
* * *
Wolfram Mark und Gertrud verkauften das Rittergut Ravensbeck und zogen nach St. Louis, wo sie mit dem alten Erdmann ein neues, sorgenfreies und glückliches Leben begannen.
Schloß Ravensbeck selbst hat der Minister Holzhausen käuflich erworben und es seinen Kindern Selma und Leo eingeräumt, in der Tat verlor der Referendar bald die Lust an der Jurisprudenz und lebte auf dem schönen Gute seinen freien wissenschaftlichen Neigungen.
Die Untersuchung gegen den schlauen Doktor Borkrum verlief, wie vorauszusehen war, im Sande. Er behauptete, den verhängnisvollen Brief nicht unterschlagen, sondern in vorschriftsmäßiger Weise dem interimistischen Vertreter des Justizministeriums zur weiteren Verwendung übergeben zu haben. Da nun nicht nachgewiesen werden konnte, daß der Präsident selbst das Verbrechen begangen haben würde, die Exekution dennoch vollziehen zu lassen – da er im Gegenteil noch rechtzeitig persönlich erschienen war, um – nach seiner Angabe, sie zu verbieten, – so mußte die Untersuchung niedergeschlagen werden.
Jedoch wurde der Präsident in kurzer Frist in eine andere Provinz versetzt; Doktor Borkrum aber, der von jenem Tage an der öffentlichen Verachtung anheimfiel, folgte ihm dorthin und blieb in Zukunft das fügsame und untertänige Faktotum des Gestürzten. Seine Sehnsucht, eine cause célèbre zu erleben, hatte ihn für kurze Zeit selbst zum Gegenstand einer solchen gemacht. Er teilte von je die Menschheit in zwei Klassen, aber von jener Zeit an nicht mehr in Verbrecher und solche, die es werden können, sondern in solche, die erwischt werden, und solche, welche durchschlüpfen – oder, wie er auch sagte: in solche, welche unverdientes Glück haben ohne jegliches eigene Verdienst, und solche, die bei eminenten Verdiensten stets die Beute eines heimtückischen Unglücks werden und bleiben. Zu welcher Klasse sich der schlaue Doktor rechnete, braucht nicht weiter angedeutet zu werden.
»Seltsam,« sagte der Minister, als er eines Tages im schattigen Park des Schlosses Ravensbeck bei seinen Kindern saß und ihnen einen Brief von den Freunden in St. Louis mitbrachte, welche von Zeit zu Zeit von sich hören ließen. »Seltsam, daß mir die braven Leute ein Verdienst zurechnen, welches ich gar nicht besitze. Ich war, wie alle Welt, felsenfest von der Schuld des Angeklagten überzeugt. Nur mein alter Widerwille gegen den unnatürlichen Greuel der Todesstrafe veranlagte mich zu jener Zögerung, die man mir von allen Seiten als Grausamkeit auslegte.
»Nun, diesmal hat diese Grausamkeit Segen gestiftet. Jener Widerwille war vielleicht ein Mittel höherer Fügung, um Zeit zu gewinnen und die Wahrheit an den Tag kommen zu lassen. Wenigstens ist dies die Anschauung unseres würdigen Freundes, des Pfarrherrn. Seien wir glücklich, daß jenes Blutgesetz des Mittelalters in unserem Staate für immer getilgt ist. Es ist besser, es bleiben hundert Schuldige am Leben, als daß ein Unschuldiger dem Moloch eines Gesetzes, das dem menschlichen Irrtum unterworfen bleibt, zum Opfer falle.«
* * *