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II.

Man kann nicht behaupten, daß das Verschwinden des alten Herrn gleich anfangs besonderes Aufsehen erregte. Man hatte ihm bei seinem wüsten Lebenswandel längst ein unglückliches Ende vorausgesagt. Jene Nacht war, wie angegeben, stürmisch gewesen, und der Reichtum von zahlreichen Wasserarmen im unwegsamen Walde ließ sein Verunglücken als sehr denkbar erscheinen. Wie leicht war es möglich, daß der alte Herr, wie so manchmal, in berauschtem Zustande von der kleinen Kneipe in Habichtshausen jenseits des Waldes, wo ein Schlupfwinkel von allerlei landfahrendem Gesindel war, heimgekehrt und auf einem der zahlreichen Stege und Brücken das Gleichgewicht verloren hatte. Ebenso denkbar war, daß einer oder mehrere von jenem Gesindel sich die Einsamkeit zunutze gemacht hatten, zumal der alte Herr eine bedeutende Geldsumme bei sich getragen haben mußte, wie aus verschiedenen Umständen später hervorging.

Nur das eine war und blieb verdächtig, daß auch nicht die geringste Spur des Verschwundenen aufzufinden war. Wie in ähnlichen solchen Fällen geschah von seiten der Landpolizei alles Erdenkliche. Fräulein Gertrud drang wie wir wissen, bei der Gendarmerie auf sorgfältigste Nachforschung und setzte eine bedeutende Summe als Belohnung für den Nachweis des Verschwundenen aus.

Man suchte am Stromufer, man leitete die Kanäle ab, man verhörte die Wirte der ganzen Umgegend, es wollte sich nichts ergeben, außer daß es wahrscheinlich blieb, daß der alte Herr wirklich in Habichtshausen gewesen sei; doch waren die Angaben darüber nur unvollständig und unbestimmt.

So gingen mehrere Wochen hin. Man bedauerte den Verunglückten und gönnte zugleich seiner Tochter die erfreuliche Fügung, so von dem Tyrannen befreit worden zu sein. Endlich sprach man nicht mehr von ihm, und die Sache schien bereits in Vergessenheit zu geraten. Daß das gnädige Fräulein, wie ihr zukünftiger Erwählter, durch den unerwarteten Zwischenfall aller Verlegenheiten enthoben wurden, darin fand merkwürdigerweise niemand etwas Auffälliges, und auch nicht eine Stimme wagte einen Verdacht zu äußern. Ein fremder Gendarm, der in Gegenwart mehrerer Bauern sich eine derartige Bemerkung zu erlauben wagte, ward augenblicklich überschrieen und sogar mit Tätlichkeiten bedroht. Fräulein Gertrud war und blieb der angebetete Engel des Dorfes, verehrt von den Armen wie von den Reichen, und was Herrn Mark betraf, so hatte früher schon sein würdiges, männliches Benehmen ihm alle Herzen gewonnen. Man gönnte ihm die Gunst des Fräuleins und fand eine Genugtuung darin, daß ein Mann aus dem Volke die schöne, reiche Erbtochter heimführen sollte.

Damit im Einklang stand auch das jetzige Benehmen der beiden. Gertrud war im Anfang wie aufgelöst von Jammer und Schmerz; sie ging in tiefster Trauer, und zwar nur zur Kirche, sonst ließ sie sich nirgends blicken. Herr Wolfram Mark war endlich wieder auf das Rittergut gezogen und hatte die verwaiste Wirtschaft mit unbeschränkter Vollmacht übernommen. Allerdings war dieser Schritt nicht ganz unmittelbar geschehen, und auch jetzt behielt Wolfram seine Wohnung, nach wie vor, außerhalb des Herrenhauses, bei einem alten Krämer. Im übrigen war er noch verschlossener und einsilbiger als früher und mied die Menschen in auffallender Weise.

In der ersten Zeit, das heißt einige Tage nach dem Vorfall, war Wolfram Mark plötzlich bei dem Holzhändler erschienen und hatte ihm erklärt, daß er jetzt die angebotene Stelle bei ihm annehmen wolle.

Auf die Bemerkung des Alten, daß er dies jetzt wohl nicht mehr nötig habe, denn ein Hindernis seines Glückes bestehe nun nicht mehr, war Herr Mark, wie es schien, in sichtliche Aufregung geraten. Er könne doch aus dem schweren Unglück nicht sein Glück machen, sagte er, ja, er gäbe Tausende darum, wenn das Unheil nicht passiert wäre, denn nun sei ihm das Fräulein für immer verloren.

Alle Gegenreden des Holzhändlers schienen vergeblich. Wolfram Mark bestand auf seiner Absicht, bei ihm einzutreten, und blieb in der Tat einige Wochen bei dem Holzhändler, der ihn wirklich lieb gewann und mit seinen Leistungen völlig zufrieden war. Endlich kam Fräulein Gertrud selbst in die Stadt und verlangte Wolfram zu sprechen.

Der Holzhändler ahnte wohl, welche dringende Gründe das arme Mädchen hatte und ließ beide zur Unterredung allein. Was damals zwischen dem Paare verhandelt worden, ist lange ein Geheimnis für jedermann geblieben, aber den Tag darauf verließ Wolfram die Stadt, um wieder nach Schwelmroda zu ziehen und die Verwaltung des Rittergutes zu übernehmen.

Etwas klarer wurde dieser Schritt etwa vier Monate nach dem Vorfalle, und um diese Zeit wurde abermals die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Bewohner des Rabenschlosses gelenkt. Es war die Zeit nämlich gekommen, wo die Verbindung von Gertrud und Wolfram zur Notwendigkeit wurde. Als beide bei dem alten Pfarrer des Ortes erschienen, um ihr Aufgebot zu bestellen, machte der alte freundliche Herr zwar keine Umstände, aber er fragte nach dem Consens des Vaters des Fräuleins. Da dieser verschollen, müßte er wenigstens gerichtlich für tot erklärt werden.

Nun begannen die Nachforschungen von neuem. In der Zeitung erschien ein öffentlicher Aufruf an den Verschollenen, Nachricht von seinem Aufenthalt zu geben, widrigenfalls er nach Ablauf einer gewissen Frist als tot erklärt sein, erst dann habe die Tochter vollen freien Willen.

Diese Proklamation erregte die Aufmerksamkeit der ganzen Umgegend, und namentlich auch der Adelsfamilien, mehr als alles frühere, zumal man den Grund und den Zweck derselben, das heißt die bevorstehende Vermählung des Fräuleins mit ihrem ersten Verwalter erfuhr. Wie bekannt, fand sich unter jenen Familien mancher abgewiesene Freier Gertruds; und es sollte sich bestätigen, daß gerade aus diesem Kreise eines Tages ein anonymer Brief bei Gericht einlief, und zwar mit der Anfrage, ob man schon auf dem Rittergute selbst Nachsuchung gehalten habe? Wenn ein Verbrechen möglich, so sei es unumgänglich, daß man auch die nächste Nähe erforsche.

Dieser heimtückische Streich eines abgewiesenen Nebenbuhlers – man nannte sofort den Namen des Herrn von Conring, desselben, der jenen Auftritt mit Herrn Erdmann-Ravensbeck im Walde gehabt – sollte übrigens eine ganz andere Wirkung haben und gerade das herbeiführen, was er verhindern wollte.

Infolge jener Denunziation erschienen eines Morgens Gerichtspersonen aus dem Schlosse selbst, und diesmal unter großem Zulauf des Volkes, welches nichts weniger als eine Verhaftung des Paares befürchtete und deshalb eine drohende Haltung einnahm. So groß war das Ansehen des Fräuleins, daß der geringste scheinbare Angriff auf sie die ganze Bevölkerung des Ortes in Empörung und Aufruhr versetzte.

Gertrud erschrak bis zum Tode, als sie von dem Auftrag der Gerichtskommission und der bevorstehenden Haussuchung erfuhr. Indes erholte sie sich sofort und empfing die Herren in würdevoller, stolzer Haltung, ja sie schritt denselben in alle Räume des Schlosses voran, welches sie völlig zur Verfügung der Kommission stellte. Einige laute Bemerkungen des Unwillens von seiten des Gesindes verwies sie mit Ernst und Strenge und befahl, dem Kommissär alle Schlüssel auszuliefern.

Wolfram Mark, welcher herbeigerufen worden war, wurde inzwischen von Polizeidienern beobachtet und zur Begleitung auf den Kreuz- und Querzügen der Kommission aufgefordert. Sein Benehmen war gedrückt und verschlossen, aber fest und fern von jeder Unruhe. Zuweilen ruhte sein Auge mit dem Ausdruck von Sorge, Mitleid und Angst auf der Gestalt der Geliebten. Dann war er wieder geschäftig und hastig, alle möglicherweise übersehenen Örtlichkeiten und Räume anzugeben, als läge ihm selbst daran, daß die Untersuchung so vollständig als möglich durchgeführt werden möge. Er machte auf die Räume und Bodenräume, auf Ställe und Scheunen aufmerksam und schien zuletzt selbst zum Führer der Kommission geworden zu sein. Die Untersuchung dauerte einen vollen Tag.

Man grub in den Kellern, man untersuchte die Fässer, man prüfte verschiedene neugegrabene Stellen im Garten wie im Park, man pumpte den Brunnen aus und leuchtete mit Fackeln hinunter, man untersuchte die sämtlichen Wandschränke, Vorratskammern, Schlafzimmer und Garderoben. Man konstatierte noch einmal die Ereignisse jenes Unglückstages bis in das kleinste Detail, und zum Schluß ging man auch die Hauptbücher der Gutsverwaltung durch.

Dabei bestätigte sich, daß, worauf übrigens Gertrud zuvor schon aufmerksam gemacht hatte, eine Summe von sechshundert Talern fehlte, die am Tage vor jenem Unglücksfall für Korn eingegangen waren. Außerdem fehlte eine beträchtliche Reihe von Wertpapieren, und es schien wahrscheinlich, daß Herr Erdmann-Ravensbeck nur deshalb noch einmal in die Stadt geritten war, um diese Papiere umzusetzen. Ein bestimmter Aufschluß konnte darüber nicht gegeben werden, ebensowenig, ob er jene Papiere, sowie jene Summe etwa in der Stadt deponiert habe.

Im übrigen befand sich alles in musterhafter Ordnung, selbst die Garderobe des Verschollenen fand sich bis auf die Kleidungsstücke, die er an jenem Tage getragen, komplett vor. Der Verdacht, daß auf dem Gute selbst ein Einbruch stattgehabt haben könne, wobei jene Summen und Papiere abhanden gekommen, fand keinerlei Anhaltspunkte, aber auch die Vermutung, daß der alte Herr gerade dadurch, daß er jene bedeutende Wertsumme bei sich getragen, das Opfer eines Raubes geworden sein könne, erwies sich als unhaltbar, denn zu welchem erdenkbaren Zwecke sollte der alte Herr auf seinem Ausflug in den Wald eine so bedeutende Summe mitgenommen haben?

Alles zusammengefaßt war das Resultat gleich Null. Der Eifer der Kommission wie der Gendarmen erlahmte plötzlich, und die anfängliche Absicht, die beiden Verdächtigen, sowohl die Tochter als Herrn Wolfram Mark, dennoch zu verhaften, scheiterte an der drohenden Haltung des Volkes, welches die Tore des Hofes belagert hielt, und die Wächter der Justiz mit Verhöhnung und Schimpfreden, ja mit Insulten empfing, sobald sie sich blicken ließen, so daß die bedrängte Kommission schließlich keinen Ausweg sah, als in einem geschlossenen Wagen und mit gestrecktem Trabe durch die Menge zu brechen und ihr Heil in der Flucht zu suchen.

Der erste Sturm war also glücklich abgeschlagen und nach keiner Seite hin von Entscheidung. Desto entscheidender aber waren die Folgen dieses Tages für Gertrud und Wolfram.

Mühsam hatte die Herrin des Schlosses Ravensbeck ihre Fassung gegen die heilige Hermandad behauptet und nicht einen Augenblick ihrer Würde etwas vergeben. Nachdem aber der Sieg errungen, traten die Folgen der Aufregung und niedergehaltenen Empörung hervor. Gertrud erkrankte in der folgenden Nacht, und bevor der Morgen herankam, war sie von einem Knaben entbunden. Wir übergehen die Szenen der Überraschung und Verwirrung, die dies unerwartete Ereignis, das nicht verschwiegen werden konnte, unter den Dienstleuten des Schlosses hervorrief.

Der bedenkliche Zustand der Leidenden machte schnelle Hilfe notwendig, aber sowohl die »weise Frau« des Ortes wie der Landarzt wußten keinen Rat; im Gegenteil machten sie gegen Wolfram die bedenklichsten Mienen und sagten ihm, er möge sich auf alles gefaßt machen, das Kind könnte davonkommen, aber die Mutter sei verloren.

Aufschreiend vor Schmerz stürzte Wolfram in das Zimmer zurück und umschlang Gertrud, als könne er die Dahinscheidende mit Gewalt in diesem Leben zurückhalten.

Gertrud lächelte über das Übermaß von Furcht und sagte – die »weise Frau« des Ortes, welche anwesend war, hat es später erzählt:

»Rege mich nicht unnötig auf, Wolfram. Der liebe Gott wird es schon wissen, warum er es so mit uns macht und mich vielleicht vor der Zeit zu sich ruft. Ich büße meine Sünden damit, aber leid tut es mir um dich und um unser Kind.« Dann hielt sie erschöpft inne und begann erst nach einer langen Weile wieder mit schwacher Stimme:

»Ich bitte dich, schicke die Leute hinaus. Ich habe dich noch etwas zu fragen, ehe ich vor Gott stehen werde.«

Die »weise Frau« verließ auf diesen Wink das Zimmer, es wurde ihr unheimlich, wie sie später erzählte; zwar strengte sie sich an, draußen an der Tür etwas zu hören, aber es war unmöglich, die beiden sprachen zu leise und zu rasch. Endlich nach Verlauf einer halben Stunde trat sie wieder herein und war erstaunt über die Gruppe, welche sich ihr bot.

Gertrud, obschon mit verweinten Augen, saß wie verklärt im Bette, umschlungen von ihrem Geliebten und im Arm das schlummernde Kind. Auf einmal richtete sie ihr glänzendes Auge empor zu ihm.

»Laß uns nun auch noch an das kleine unschuldige Ding denken. Ich darf nicht so von dir gehen, so nicht. Du kennst meinen Wunsch, laß dem Kinde seinen ehrlichen Namen.«

Wolfram verstand ihre Bitte, erhob sich und ging. Gertrud aber ließ sich im Bett bräutlich wie zur Hochzeit schmücken. Ihre Blässe und ihre weihevolle Stimmung gaben ihr gleichsam ein überirdisches Aussehen.

Nach einer halben Stunde kam Wolfram zurück in Begleitung des alten Pfarrherrn, des Küsters, der ein Kruzifix trug, nebst einigen anderen Personen, welche offenbar noch nicht wußten, zu welcher Handlung sie beigezogen werden sollten.

So wurden Gertrud und Wolfram getraut. Der alte Pfarrherr machte die Sache kurz und bündig, und doch nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit und Herzenswärme. Mit lauter Stimme sprach er die vorgeschriebenen Formeln und segnete nach vollzogener Trauung die Neuvermählten. Zeugen dieses Aktes waren außer dem Landarzt und der »weisen Frau« nur der Wirt vom Gasthaus an der Landstraße und außerdem die Dienstleute, denen die Türen geöffnet wurden.

Vor dem Schluchzen dieser Leute konnte man die Worte des Geistlichen fast nicht verstehen. Kaum zehn Minuten dauerte die ganze Zeremonie, welche im Fall des Ablebens Gertruds Wolfram zum Herrn des schönen Rittergutes machen sollte. Mit leise scheltenden Worten vertrieb jetzt der Landarzt die weinenden Dienstleute, welche nicht anders glaubten, als daß das letzte Stündlein ihrer geliebten Herrin bereits gekommen sei.

Gertrud sank nach dieser letzten Erregung zurück und fiel in einen tiefen, ohnmachtähnlichen Schlaf. Wolfram aber begleitete den Pfarrer und die Zeugen hinaus bis vor das Tor des Gutes, dann bis aus die Landstraße, um dort noch einen unerwarteten Eindruck zu haben.

Dicht neben dem Garten des Gasthauses, an derselben Stelle, wo der Holzhändler dem hoffnungslosen, weggejagten Verwalter damals seine edelmütigen Vorschläge gemacht hatte, hielt jetzt Herr von Conring zu Pferde und sprach mit einigen Bauern, welche abwechselnd auf seine Fragen antworteten. Der vornehme Herr schien wie aus Zufall des Weges gekommen; aber seine Fragen, was es denn eigentlich gestern und heute im Orte gegeben habe, verrieten den Späher, der sich über den Erfolg seines Bubenstückes unterrichten wollte.

Die unerwartetste Antwort gab ihm jetzt der Landarzt, welcher mit dem Wirt und Wolfram Mark unvermerkt herangekommen war und dem neugierigen Kavalier von der soeben stattgehabten Vermählung Gertruds Kenntnis gab.

Mit einem Fluch auf den Lippen und mit dem widerwilligen, höhnischen Wort: »Meinen Respekt zu vermelden!« gab der Baron seinem Gaul die Sporen und sprengte davon, als wenn der böse Feind auf seinen Fersen wäre.

Der Edle hatte sich jetzt unzweideutig verraten, und gerade das, was er verhindern wollte, war verwirklicht worden.

Auch das Schlimmste, was noch zu befürchten war, verlief anders.

Das Kind zwar starb schon in der folgenden Nacht, nachdem es kaum gelebt hatte; aber Gertrud erwachte erst am Abend des andern Tages aus ihrem tiefen, totenähnlichen Schlafe. Statt zu sterben erholte sie sich langsam, und schon nach einigen Monaten war sie außer aller Gefahr. Wolfram wich nicht von ihrem Bette und pflegte die Genesende Tag und Nacht. Den Landarzt hatte man schon nach einigen Tagen abgedankt, als man sah, daß die Natur selbst ihr Heilamt so energisch übernommen und mit den ersten schönen Frühlingstagen führte Wolfram seine junge Frau hinunter in den Garten, wo die Veranda wie die große Laube festlich zu ihrem Empfange geschmückt waren. Der alte Pfarrer, wie der Wirt von der Landstraße und der Holzhändler aus der Hauptstadt hatten sich zu diesem Feste als Gäste einfinden müssen.

Gertrud war heut schöner und blühender als je, selbst der leise Zug von Schwermut und Trauer, der über die einst so Eigenwillige und Unlenksame ausgegossen schien, gab ihr einen unsagbaren Zauber holdseliger Weiblichkeit und rührender Hilflosigkeit.

Von diesem Tage an schien ein neuer Lenz des Glückes für das junge Paar aufzublühen, und wenn sie es auch nicht für notwendig hielten, die früheren Verbindungen mit den Gutsnachbarn und dem Adel der Umgebung wieder anzuknüpfen, so entschädigte sie reichlich ein behagliches Stilleben und die abgöttische Verehrung ihrer Untergebenen.

Man konnte eigentlich nicht sagen, daß der Adel der Umgebung sich gegen die neue Herrschaft des Schlosses Ravensbeck abschloß. Zufällige Berührungen und Besuche wurden auf das Zuvorkommendste erwidert, wenn auch ein guter Teil Neugier dabei im Spiele war. Aber Gertrud wie Wolfram hielten sich selbst zurück, und ihr Umgang bestand zuletzt ausschließlich aus der Pfarrerfamilie und einigen Beamten von Schwelmroda, unter denen der Oberamtmann und der Steuereinnehmer an der Spitze standen. Auch der Forstmeister von Habichtshausen sprach zuweilen ein, kurz, die Familie des Herrenhauses war ganz bürgerlich geworden; und daß Herr Mark der Erste war, der nicht den Namen derer von Ravensbeck annahm, gefiel allgemein. Glücklicherweise war auch in den Regierungskrisen ein momentaner Umschwung eingetreten, so daß man nicht mehr so streng auf der Erfüllung jener Formalität bestand, wie früher.

So verflossen beinahe zwei Jahre in völlig wolkenlosem Glück, und wenn man von einer gewissen Stille, Gemessenheit und Sparsamkeit auf dem Rittergute absah, so hätte kein Mensch aus Erden eine Veränderung gegen früher wahrnehmen können.

Hörte man freilich die Stimmen in der vornehmen Gesellschaft der Umgegend, so war es unmöglich, in dem Gezisch der bösen Zungen nicht ein gewisses System zu erkennen; doch hatte diese Bosheit keinen andern Grund als den der Rache gegen die freiwillige Abschließung und Zurückhaltung der Gutsherrschaft. Die Gesellschaft duldet es nicht, daß man sie verachtet, und wer ihr nicht die gebührenden Ehren erweist, wird bald zur Eule, um welche die andern Vögel mit herausforderndem Lärm und Gekrächz fliegen. Da das eheliche Leben der Glücklichen keinen Stoff zu übler Nachrede bot, so kam man beharrlich auf die Vorgeschichte zurück, und da niemand widersprach, bildeten sich allmählich gewisse Sagen und Legenden als fester Kern der sogenannten öffentlichen Meinung aus.

Die einen fanden, das Rabenschloß sei ein unheimlicher, wüster Bau, und verglichen es mit dem fluchbeladenen Königsschloß irgendeiner Tragödie oder romantischen Ballade. – Herr Mark, hieß es, vermeide durch den Wald zu reiten, und daß er mit allen möglichen Mitteln sich seiner Pflicht entzogen, nämlich die Stelle eines Geschworenen in der Hauptstadt einzunehmen, habe offenbar keinen anderen Grund, als daß er überhaupt nicht gern an die Justiz erinnert sein wolle. Andere wollten wissen, und namentlich nahmen sich geistreiche Damen des Gerüchts an, daß Frau Gertrud als »Lady Macbeth« bei Nacht umgehe und unheimliche Szenen aufführe, wogegen andere wieder behaupteten, daß sie aus Verzweiflung und Gewissensangst zu einer fanatischen Frömmlerin geworden sei, was sich dadurch zu bestätigen schien, daß Frau Gertrud stets in Trauer gekleidet war und jeden Gottesdienst mit peinlicher Regelmäßigkeit besuchte.

Allmählich begannen solche Gerüchte ihren Einfluß im öffentlichen Verkehr zu zeigen, und Herr Mark mußte die Beobachtung machen, daß man ihm wie seiner Frau bei Erntefesten auswich. Bei landwirtschaftlichen Ausstellungen, wie auf dem Wollmarkt in der Hauptstadt schien man ihn nicht zu kennen. Das gleiche geschah auf dem großen Pferdemarkt in einer nahen Landstadt, wo es ihm zuerst begegnete, daß man aufstand, als er an einem Tische Platz nahm, und seinen Gruß völlig unbeachtet ließ. Bei den Landwehrübungen, die im Herbste stattfanden, brachte man die Fahne des Bataillons nicht wie früher im Schlosse Ravensbeck ein, sondern anderswo; infolge davon unterblieb auch die Einladung und Bewirtung der Offiziere, sowie die Serenade, die man früher dem Schloßherrn gebracht hatte.

Nun, dieses sonderbare Benehmen, welches ihn wie einen Verpesteten ächtete, schien Wolfram Mark anfangs leicht zu verschmerzen, da er darin mehr die Wirkung junkerlichen Hochmuts gegen seinen bürgerlichen Stand als irgend eines geheimnisvollen Verdachts sah. Infolge davon zog er sich aus Stolz noch mehr zurück und ließ seine Geschäfte lieber durch andere besorgen, als sich der Gefahr solcher unangenehmen Berührungen auszusetzen. Als dies jedoch nichts half und anonyme Winke ihn über die wahren Gründe jener sozialen Mißhandlung nicht mehr in Zweifel ließen, beschloß er das umgekehrte Verfahren einzuschlagen und sich so oft als möglich öffentlich zu zeigen.

Auf dem Wollmarkt wie auf dem Pferdemarkt trat er mit Ostentation auf. Beim Schwurgericht in der Hauptstadt nahm er seine Stelle ein und setzte es durch, zum Obmann gewählt zu werden; ebenso trat er bei den Landtagswahlen als Bezirksvorstand in den Vordergrund und ließ keine Gelegenheit vorübergehen, um der öffentlichen Meinung eine freie Stirn zu zeigen und jenen geheimen Gerüchten zu trotzen. Zuweilen sogar übertrieb er diese Absicht, suchte Versammlungen auf, wo er gewiß sein konnte, den Adel der Umgegend zu treffen. Dann schlug er einen herausfordernden kühnen Ton an, behandelte seine Gegner mit bürgerlicher Verachtung und brüskem Hohn; und wenn er es durchsetzen konnte, auch seine Frau trotz ihres Widerwillens zu solchen öffentlichen Versammlungen zu ziehen, so hielt er seinen Triumph für vollständig.

Wunderbar war es, daß Wolfram Mark bei dieser gefährlichen Opposition nicht sofort in die bedenklichsten Konflikte geriet. Im Gegenteil schien es, als ob man seinem Mute Anerkennung zolle und seine Energie fürchte. Außerdem übte die Zeit ihr Recht, und es waren, wie gesagt, beinahe zwei Jahre seit jenem Vorfall vergangen, der jetzt völlig in Vergessenheit geraten zu sein schien, als plötzlich ein neues Ereignis abermals alle Zungen entfesselte und auf eine drohende Entscheidung hintrieb. In Wirklichkeit war dieser neue Vorfall nur eine Nachwirkung jener nur scheinbar zur Ruhe gebrachten und überwundenen Macht der bösen Zungen, die bis jetzt zwar geschwiegen, aber nur auf einen Stoff gewartet hatten, um ihre Revanche zu nehmen.

In Habichtshausen nämlich war eine wandernde Schauspielertruppe eingetroffen und kündigte eine Reihe von Vorstellungen an. Da Wolfram und Gertrud bei der rauhen Witterung des März seit letzter Zeit wenig Zerstreuung hatten, folgten sie der Einladung des Forstmeisters von Habichtshausen, welcher von diesen Vorstellungen Wunderdinge erzählte, um so lieber, als auch der Oberamtmann, der Steuereinnehmer und einige andere Familien aus Schwelmroda sich der Partie anschlossen.

Die Vorstellungen der wandernden Truppe, welche mit Einschluß des Direktors aus sieben Köpfen bestand, sollten im Saale des »Wilden Mannes« stattfinden, des einzigen anständigen Gasthauses von Habichtshausen, das, wie wir wissen, außerdem noch mancherlei Spelunken zählte. Als Stück war eine »schöne Rosamunde« angekündigt.

Man fuhr im offenen Wagen durch den Wald nach Habichtshausen, und eine Anzahl Neugieriger folgte zu Fuß nach. Wie auf Verabredung waren eine beträchtliche Anzahl von adligen Familien aus der Umgegend erschienen, weniger aus Interesse an der zweifelhaften Kunst, als aus Neugier oder aus einem andern, noch verschwiegenen Grunde.

Als Wolfram Mark mit Frau Gertrud eintrat, erhob sich ein allgemeines Flüstern des Staunens. Er aber schritt mit erhobener Stirn durch die Reihen und nahm auf der ersten Bank in einer Art improvisierten Loge Platz, wo ihn alle sehen konnten.

Das alte Stück gehörte zu den stelzenhaften Tragödien aus der Zopfzeit, wo teils noch die Lohensteinschen Dramen, teils wunderliche Nachbildungen der englischen Tragödie in Flor waren. Es war indes nicht etwa die Geschichte des Longobardenkönigs Alboin, der den Vater der schönen Rosamunde erschlagen und die Tochter zwingt, aus dem Schädel des im Kampfe Gefallenen zu trinken. Der unbekannte Verfasser hatte sich vielmehr einen erfundenen Stoff zurechtgemacht.

Die Hauptfiguren sind ein ungarisches Magnatenpaar, welches durch eine schwere Schuld aneinander gekettet ist, denn der Vater der Gräfin ist auf geheimnisvolle Weise ermordet gefunden worden. Gräfin Ilona, die moderne Rosamunde, kommt allmählich dahinter, daß ihr eigener Gatte der Schuldige ist. Ihre Vorwürfe aber werden von dem Grafen zurückgewiesen, der sie selbst im Verdacht der Tat hat. Beide Gatten beginnen sich gegenseitig zu fürchten und zu beobachten. Um Gräfin Ilona bewirbt sich gleichzeitig ein fremder Abenteurer, der den Bruch zwischen den Gatten zu benutzen sucht. Um seiner Verführung noch mehr Nachdruck zu geben, läßt er den Geist des Ermordeten – natürlich durch einen Helfershelfer des Komplotts dargestellt – auftreten, welcher den Grafen des Mordes beschuldigt und seine Tochter zur Rache auffordert. Gräfin Ilona willigt unter dem Eindruck dieser Schreckensszene in die Entführung, macht jedoch zur Bedingung daß er, der Verführer, die Vollstreckung der Rache übernehmen müsse. Das Ende des Schauerstücks selbst war ein wildes Durcheinander, denn fast sämtliche Personen blieben tot auf der Szene.

Wer jemals solche herumziehenden Schauspieler, die Nachfolger von Meister Squenz und Genossen, gesehen, kennt auch den Eindruck, den die Leistungen derartiger »Meerschweinchen«, wie der Kunstausdruck für solche Truppe ist, zu machen pflegen. Das Charakteristische für das betreffende Stück war außerdem, daß fast sämtliche Rollen in Husarenkostüm gespielt wurden, entweder weil es das anständigste war, welches man besaß, oder weil man dies für das am meisten ungarische hielt.

Der heitere Eindruck, den solche Travestien der hohen Kunst in der Regel erwecken, wollte sich übrigens diesmal nicht einstellen. Als im ersten Akt Gräfin Ilona ihren großen Monolog hielt, der mit den Worten schloß:

»Hochheiliger Gott, wie schön ist deiner Erde Pracht,
Doch kommt der Reue Graun zurück in jeder Nacht.
Und träufelt Schlangengift in tiefe Seelenwunden,
Daß ich mit einem Mörder mich verbunden –
Mit einem Mörder – ach – verschwiegner Mondenschein,
Du siehst die Tränen mein, die ganze Seelenpein!
Was hab' ich doch getan, mich so zu ketten
Auf Lebenszeit. Nichts kann mich mehr erretten.
Erst blendete mich ganz verruchte Leidenschaft,
Im Täter ehrt' ich blind verwegene Heldenkraft –
Nun wacht die Reue auf und das Entsetzen,
Und immer hör' ich schon das Richtbeil wetzen.
Ich scheu' den hellen Tag. Verrat weht in der Luft –
Ich scheu' die dunkle Nacht, wie eine große Gruft,
Wo Geisterstimmen wie mit Sturmesheulen
Um diese Säle wehn und hohen Säulen.
Ich zittre vor der Hand, auf der das Blut noch glüht,
Ich bebe vor dem Blick, der gleichwie Dolche sprüht.
Mit Schrecken flieh' ich vor dem Gatten,
Denn zwischen uns steht ein befleckter Schatten,
Und seine Fackeln zeigen frei und frank
Des Abgrunds Tiefe ganz, wo ich hinuntersank!«

richteten sich die Augen der meisten Anwesenden auf die Loge, wo Wolfram mit seiner Gattin saß. Man bemerkte, daß Herr Mark in Unruhe geriet und rasch einige Worte zu Frau Gertrud sprach, die jedoch völlig unbeweglich und ruhig blieb. Als aber im dritten Akte der untergeschobene Geist des Ermordeten selbst auftrat, tönte plötzlich ein Schrei der Entrüstung. War es Zufall oder Absicht, die Gestalt des Geistes, die in einem großen ungarischen Schafpelz auftrat, sah flüchtig dem alten Erdmann-Ravensbeck ähnlich.

Gertrud war in Ohnmacht gefallen und vom Stuhl herabgeglitten.

Es gab im Zuhörerraum ein Durcheinander, welches jeder Beschreibung spottet. Man rief um Hilfe, man kletterte über die Bänke, man schrie und lachte, lärmte und tobte, und der Skandal wuchs in unerhörter Weise. Der Vorhang mußte fallen. –

Als Wolfram, an allen Gliedern bebend, mit Hilfe seiner Schwelmroder Freunde die Ohnmächtige hinausschaffte, glaubte er in einem Winkel das spöttische Gesicht des Herrn von Conring zu sehen. Er meinte jetzt zu wissen, wem er diesen neuen Streich zu danken hatte. Mitten unter wüstem Gedränge und anzüglichen Redensarten ward die leblose junge Frau zum Wagen gebracht. Von dieser Stunde an war es mit dem wolkenlosen Glück im Herrenhause Ravensbeck zu Ende, und vor aller Augen trat mehr und mehr die Gewißheit zutage, daß hier ein schreckliches Geheimnis verborgen sein müsse. –

Begreiflicherweise machte dieser Vorfall in Habichtshausen das größte Aufsehen in der ganzen Umgegend, und nicht bloß in den Palästen des Adels, sondern diesmal auch in den Hütten der Armen.

Wolfram war einen Tag lang wie gelähmt, dann aber packte ihn ein namenloser Grimm, ein heiliger Zorn, der es ihm als Pflicht vorschrieb, diese Schmach nicht ohne weiteres über sich ergehen zu lassen. Leider solle der Ärmste die seltsamsten Erfahrungen machen. Zuerst eilte er zu seinem Freunde, dem Oberamtmann, und verlangte eine strenge Untersuchung dieses ehrenrührigen Angriffs, aber der alte Freund war merkwürdig kühl und riet ihm, die Sache auf sich beruhen zu lassen, um nicht noch mehr Staub aufzuwerfen.

Nun beschloß er, sich selbst Licht und Recht zu verschaffen, und ritt nach Habichtshausen hinüber, um den Direktor der Schauspielertruppe aufzusuchen und von diesem Bestrafung des Schuldigen zu verlangen. – Aber er kam um einen Tag zu spät. Don den sieben Mitgliedern waren fünf bereits und unter ihnen der Direktor in der verflossenen Nacht abgereist, die übrigen zwei waren im Begriff, die sämtlichen Effekten der Gesellschaft einzupacken, und machten dabei noch höhnische Mienen, als sie das Verlangen Wolframs vernahmen.

Jetzt blieb ihm nichts übrig, als an Herrn von Conring zu schreiben und von ihm eine Erklärung seines auffallenden Benehmens zu fordern, eventuell ihn zur Rechenschaft mit der Waffe in der Hand zu ziehen. Aber Herr von Conring zog es vor, ihn überhaupt gar keiner Antwort zu würdigen, dagegen präsentierte er jenen Brief in den vornehmsten Kreisen, teils als Kuriosum, teils als Dokument eines schuldbeladenen Gewissens.

Von dieser Zeit an begann für Wolfram und Gertrud ein leidvolles, dornenreiches Leben. Mit dem Trotze des Gutsherrn, der der Welt die Stirn geboten und das Licht der Sonne gesucht hatte, war es jetzt für immer vorbei. Er ließ sich nirgends mehr sehen und brach mit seinen ältesten Freunden, wenn er überhaupt deren gehabt hatte. – Eine Unmasse unheimlicher Gerüchte tauchte jetzt wieder auf, wuchernd wie ein giftiges Unkraut, und hielt die ganze Umgegend in Atem.

Die Dienstboten blieben jetzt nicht lange mehr auf dem Rittergut, sondern wechselten in rascher Folge, und jedes von den Entlassenen und Weggejagten wußte neue und auffallende Dinge zu erzählen.

Was außerdem der Nachtwächter, die alte Nähterin, die bisweilen auf dem Schlosse arbeitete, der Gemeindeschäfer und der Kuhhirt, sowie zahlreiche frühere Dienstboten flüsterten, das ging auf wie ein weiter Rauch, der die Gegend erfüllte und der auf einen bösen, unlöschbaren Brand deutete.

So wurde laut, daß die beiden Eheleute nicht mehr zusammen lebten, und zwar schon seit längerer Zeit. Gertrud hatte den linken Flügel des Schlosses, der Herr dagegen die Oberstuben im Mittelbau bezogen. Eine Zeitlang speisten sie noch zusammen, aber Herr Mark berührte die Schüsseln nicht und aß zuletzt gewöhnlich außer dem Hause. Frau Gertrud, hieß es, werde häufig von Krämpfen befallen und hüte oft tagelang das Bett. Die Seltenen, welche vorgelassen wurden, trafen sie mit verweinten Augen. Und wie sollte man es sich erklären, daß sie nie anders als bei verriegelten Türen schlief. Der Schmied im Orte hatte es selbst erzählt, daß er zwei große Eisenstangen habe machen müssen, die eine vor den Schreibsekretär der gnädigen Frau, die andere vor ihr Schlafzimmer. Eine Magd, die zuletzt als Stubenmädchen auf dem Schlosse gedient hatte, erzählte, daß Frau Gertrud das Kassenwesen wieder ganz in ihre Hand genommen habe; und daß alle Zahlungen von seiten der Pächter, Handelsleute, Vieh-, Korn- und Holzhändler direkt in ihre Hand gingen, war bekannt.

Dazu kamen kleine charakteristische Züge, die an sich unbedeutend, doch mächtig auf die Phantasie derer wirkten, die etwas daraus zu machen wußten.

So war das lebensgroße Porträt des alten Herrn Erdmann-Ravensbeck, welches im großen Saale hing und feit fernem Verschwinden mit Flor bedeckt war, jetzt von seiner Stelle verschwunden; und wie es hieß, sei es auf den obersten Speicher gebracht worden, weil es durch einen Hieb oder Schnitt zerstört worden sei. Die Störche, welche seit undenklichen Jahren immer auf dem Herrenhause genistet, hatten sich in diesem Frühjahr nicht wieder eingestellt, sondern waren weitergezogen; selbst die Bettler und Landstreicher mieden jetzt die gastliche Tür, wo sie sonst ein reiches Almosen empfangen hatten. Früher war die Gutsherrschaft fleißig in der Kirche erschienen; seit jenem Vorfall nicht mehr, und der geschäftige Mund der Leute machte sofort daraus eine Geschichte zurecht. In der Osterwoche nämlich war der alte Pfarrherr zufällig leidend, und ein anderer jüngerer Prediger aus einer benachbarten Gemeinde hatte für ihn vikariert. Dieser fremde Pfarrer aber habe, so hieß es, die Gutsherrschaft warnen lassen, nicht in der Kirche zu erscheinen, denn er werde ihnen das Sakrament des Abendmahls verweigern müssen. Aus Unwillen über eine solche Exkommunikation habe die Gutsherrschaft überhaupt die Kirche nicht wieder betreten. Was an diesem Gerücht wahr oder übertrieben war, ist nicht aufgehellt worden, doch gewann es dadurch noch eine besondere Färbung, daß einige wissen wollten, jener fremde Pfarrer habe sich in früheren Jahren selbst um die Hand des schönen Fräulein Gertrud beworben, sei aber abgewiesen worden.

So viel jedoch war allen Augen klar, daß der Verkehr der Gutsherrschaft auch mit dem alten Ortspfarrer, ebenso wie mit dem Oberamtmann, vollständig aufgehört hatte. Frau Gertruds Antlitz war hart und bleich, ihre Gestalt zu einem wandelnden Schatten geworden. Was Wolfram betraf, so lag er den ganzen Tag auf dem Pferde und schien die wilden Sitten seiner Vorgänger anzunehmen. Er kümmerte sich nicht im mindesten mehr um die Verwaltung des Gutes, lebte draußen in Wald und Heide, in verrufenen Schenken, oder trieb sich in den Weinhäusern der Hauptstadt umher.

Mit Recht sagte der alte Schäfer: »Sehet, die Zeit ist wieder erfüllt, wo auch Herr Mark wird zum Rabenspeck werden, das heißt, diesmal werden ihn die Raben wirklich fressen. Schade um den jungen Mann, er machte mir Freude und ließ sich brav an, aber den alten Fluch zu lösen, ist er doch zu schwach gewesen, nun schlingt er auch den hinunter.«

Auf diese Weise erhielt der Adel der Umgebung täglich neue Geschichten. Es war offenbar, daß sich die beiden Gatten bis auf den Tod haßten und mieden; wollten doch mehrere entlassene Knechte schon längst von Zeit zu Zeit leidenschaftliche Auftritte zwischen den Eheleuten gehört haben. Die innere Ursache des Zerwürfnisses berührte niemand, aber die Mienen sagten, daß die Gedanken aller Welt in diesem Punkte einig waren.

Auch das war jetzt nicht mehr auffallend, daß dieser Zustand wie eine verborgene Krankheit eigentlich schon Jahr und Tag vorhanden gewesen sei – aber der Vorfall in Habichtshausen hatte die Krisis zum Ausbruch gebracht, ohne daß jedoch damit der Justiz ein Anlaß geboten war, von neuem einzuschreiten. Dazu bedurfte es wohl noch einer neuen besonderen Veranlassung. So lagen die Dinge im Hochsommer des gewitterreichen Jahres 18 –, und wie ein Gewitter hing auch die Zukunft in tiefschwarzen Wolken über den Bewohnern des Herrenhauses. Jedermann fühlte, daß diese unerträgliche Schwüle nicht mehr lange dauern könne.

Und plötzlich, obschon erwartet, dennoch in der Art, wie es geschah, unerwartet, sollte sich das Verhängnis entladen.

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