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Nicht allzu weit von der Hauptstadt, ungefähr zwei Stunden nach Südwesten, liegt der Flecken Schwelmroda. Die anmutige Lage zwischen dichtem Wald und zahlreichen Wasserarmen, vor allem die reizende Aussicht auf der Höhe, welche den Ort beherrscht, machte die Ortschaft längst zu einem beliebten Ziele für die Ausflüge der Residenzbewohner. Über die wohlhäbigen weinumrankten Häuser, die alle von sauberen Gärtchen und hellen Teichen umgeben sind, auf denen es von Gänsen und Enten wimmelt, ragt unweit der Kirche das sogenannte »Rabenschloß« als fremdartiger Rest verschollener Tage und Jahrhunderte.
Es ist das einzige Rittergut im Ort, und die wohlgenährten zahlreichen Herden in den Ställen, die prächtigen Gespanne, die weitläufigen fruchtgefüllten Scheunen lassen auf umfassenden Grundbesitz schließen. So sauber und musterhaft die Wirtschaftsgebäude, so seltsam vernachlässigt, ja unheimlich erschien das Hauptgebäude. Die Ecktürme mit den Zwiebelkuppeln, das hohe, spitzgiebelige, vielfach ausgebesserte Dach, die Wände mit schadhaftem Bewurf, der innere Hof mit offenen Galerien, deren Holzsäulen halb verfault waren, die breite Einfahrt mit einem baufälligen Luginsland, die uralten, knorrigen Weiden am Wassergraben – wie die halbvermoderten Nußbäume in der Mitte des Hofes: alles das mochte wohl einen malerischen, aber keineswegs einladenden Eindruck machen.
Ja das ganze Gebäude mit seinen finsteren Mauern, die sich im Wasser spiegelten, mit den geschwärzten, phantastischen Kaminen, Wetterfahnen und Turmspitzen eignete sich wohl vortrefflich zu einer Illustration für die Zeit der Kriege zwischen Hoeks und Kabbeljaus in den Niederlanden, auch für die Geusenzeit, die Scheurens geistreicher Griffel so fesselnd zu schildern weiß, aber niemand hätte geglaubt, daß hier eine Familie des neunzehnten Jahrhunderts hausen und daß Pracht und Luxus in diesen Räumen herrschen könne.
In der Tat waren die Zimmer des obern Stockwerks, welche im ursprünglichen Zustande erhalten waren, reich geschmückt und mit uraltem Väterhausrat behaglich ausgestattet, während das Erdgeschoß unbewohnt stand und zu einem chaotischen Magazin für allerlei Gerümpel geworden war.
Die Geschichte der Familie von Ravensbeck, welcher das Rittergut zugehörte, ist eigentlich höchst einfach, weil sie wenig, ja fast keine Verzweigungen aufweist; und doch ist sie trotz des stets geringen Personalstandes höchst verwickelt, weil ein abnormer, sich typisch wiederholender Zug sie beherrschte. Dieser Hauptzug war der, daß seit Jahrhunderten der Besitzer fast immer nur eine einzige Tochter gehabt hatte. Man nannte deshalb das Herrenhaus mit Vorliebe das Mädchenschloß, und die seltenen Ausnahmen, daß anstatt der Tochter einmal auch ein Sohn vorhanden war, kamen nicht in Betracht. Heiratete dann jene einzige Tochter, so kam die Besitzung mit jeder Generation wieder an einen andern Namen, ein Übelstand, der dadurch ausgeglichen wurde, daß nach den Statuten der Familie die Schwiegersöhne verpflichtet waren, den Namen derer von Ravensbeck anzunehmen, so daß der Familienname des Stammes, trotzdem er durch Aufpfropfung fast ununterbrochen verändert wurde, unverändert erhalten blieb. Doch kamen, wie angedeutet, in jener abnormen Gleichmäßigkeit auch Ausnahmen vor.
So war es vor nunmehr sechzig Jahren gewesen, als der alte Horst von Ravensbeck als der erste seit langen Jahren die Freude erlebte, statt der unvermeidlichen Tochter einen Sohn als Stammhalter zu begrüßen. Dieser Sohn, Curt von Ravensbeck, erwuchs zu einem lebenslustigen Kavalier, der vollständig aus der Art zu schlagen schien. Aber diese Abweichung blieb nur eine scheinbare und kurze. Es zeigte sich bald, daß auch er eine Eigentümlichkeit seines Hauses geerbt, welche seit Jahrhunderten fast alle Erbtöchter ausgezeichnet hatte, nämlich eine seltsame Abneigung gegen ihre Standesgenossen, so daß die Schwiegersöhne selten aus gleichem, in der Regel aus niederem Stande gewesen waren. Curt von Ravensbeck war aber deshalb, weil er die Junker der Umgegend verachtete, nur desto beliebter beim Volke, denn er verkehrte fast ausschließlich mit Jägern und Kohlenbrennern, Floßknechten und Viehtreibern. Es ist unentschieden, ob aus dem Kreise dieser Leute vom Volk oder durch den Spott der Landjunker der alte Spitznamen wieder auslebte, den man den Herren von Ravensbeck schon vor Zeiten angeheftet hatte. Man nannte den Junker Curt nämlich einfach den » Rabenspeck« und prophezeite dem wilden Reiter und Jäger nichts Gutes. Curt aber kümmerte sich nichts um solche Neckereien, verbrauste seine Jugend und begab sich auf Reisen, nachdem sein Vater, der alte Horst, plötzlich gestorben war. Curt selbst war nicht mehr in den Jahren, wo man die Freiheit hat, etwas Unbesonnenes zu tun; um so mehr erstaunte die ganze Umgegend, als der wilde Curt, statt in Paris oder in London zugrunde zu gehen, eines Tages glücklich heimkehrte und eine junge, reizende Frau als seine Gemahlin mitbrachte.
Die Leute vom Gut erzählten Münder von der Schönheit und der Herzensgüte der neuen gnädigen Frau, und wirklich begann nun eine neue bewegte Zeit für das Rabenschloß. Es zeigte sich bald, daß auch jetzt die Frau, obgleich angeheiratet, so zu schalten wußte, als sei sie die herkömmliche Erbtochter von Ravensbeck. Frau Anastasia war leutselig und lebenslustig, tätig und entschlossen, voll Weltkenntnis und höchster Energie. Sie ließ das Schloß wenigstens von außen restaurieren, errichtete zahlreiche Nebengebäude und vergrößerte die Wirtschaft. Dabei hielt sie offenes Haus für Reich und Arm und gewann rasch die Herzen des ganzen Ortes. Die vornehmen Nachbarn freilich mochten sich oft lieblose Bemerkungen erlauben, wenn die Rede auf die schöne Anastasia kam, und zischelten sich in die Ohren, sie sei eigentlich eine Tänzerin oder Kunstreiterin gewesen, und Curt von Ravensbeck sei wieder einmal dem Familienzug treugeblieben – unter seinem Stande zu heiraten.
Gleichviel, aber auch der Neid mußte anerkennen, daß Anastasia Ordnung in die zerrütteten Verhältnisse gebracht, den alten Wüstling und Sportsmann an das Haus gewöhnt und in wenig Jahren das Rittergut nicht nur schuldenfrei gemacht, sondern zum blühendsten Flor erhoben und das Haus zur gastlichen Stätte der ganzen Umgegend verwandelt habe.
Leider sollte diese glückliche Zeit nicht lange dauern. Ritter Curt oder »der Rabenspeck« erlag der ungewohnten Ruhe, vielleicht auch den Folgen seiner wilden Lebensweise. Ungezügelte Naturen, wie die seine es war, können nur selten den Frieden und die Wärme des Glücks lange ertragen. An Sturm und Toben der Elemente gewöhnt, gehen sie im Sonnenschein sorgloser Zustände zugrunde. Der wilde Jäger starb nach fünf Jahren einer, wenngleich kinderlosen, doch glücklichen Ehe, und zwar unerwartet, ohne Testament. Da keine weiteren Erben vorhanden, fiel die ganze reiche Besitzung an die überlebende Ehefrau des Verstorbenen, und Frau Anastasia, die einstige Tänzerin und Kunstreiterin, ward somit zur unbestrittenen Herrin des reichsten Ritterguts der Umgegend.
Man muß bekennen, daß Anastasia diese unerwartete Fügung, welche von vielen als ein Glück gepriesen wurde, das ihr niemals an der Wiege gesungen worden, mit Würde und ohne eine Spur von Überhebung ertrug. Die bösen Zungen waren schon längst verstummt und wußten jetzt unparteiisch den Wert, die Charakterreinheit der Vielverleumdeten zu würdigen. Plötzlich indessen gewannen jene Zungen neue Nahrung, als es hieß, Frau von Ravensbeck werde wieder heiraten. Nun war dieser Entschluß für eine junge, schöne, lebenslustige Witwe an sich nicht wunderbar, und vielleicht hätte manch ein vornehmes Auge sich mit stillen Wünschen und kühnen Hoffnungen nach dem Rabenschloß gewendet. Um so größer war jetzt die Enttäuschung, als es verlautete, daß das Auge Frau Anastasias auf keinen anderen, als den ersten Verwalter des Gutes gefallen. Dies konnte ihr niemand verzeihen, und in häßlichen Variationen wußte man auf einmal Hunderte von kleinen Zügen und kleinen Geschichten, warum Frau Anastasia schon zu Lebzeiten ihres Mannes so heiter gewesen, warum der alte Curt von Ravensbeck schließlich wieder ein Säufer geworden, weil er den Undank seiner Frau und seine Schmach nicht ertragen habe. Und in dieser Tonart schwirrte es eine Zeitlang auf allen Gütern der Umgegend durcheinander.
Indes, auch diese bösen Zungen hatten bald ausgezischt denn im Grunde konnte niemand etwas beweisen, und die Liebe der Dienstleute und der Armen, und der hohe Respekt, in welchem der Verwalter stand, schlugen alle Verdächtigungen zu Boden.
In der Tat war der Verwalter – seines Namens Herr Friedrich Erdmann – ein stiller, gesetzter, tüchtiger Mann, dem niemand etwas nachsagen konnte. Der Pfarrer wie der Gemeindevorstand wußten, daß er die eigentliche Seele der Verwaltung gewesen war. Von seinem früheren Aufenthalt in Amerika hatte er einen Unternehmungsgeist mitgebracht, der vor keinerlei Schwierigkeiten zurückschreckte. Er war noch vollkommen ein Farmer, begeistert, der Wildnis mit eisernem Fleiß die Kultur abzuringen, ein Genie von rastloser Unruhe und unerschöpflich an Anschlägen. Nicht leicht tauchte eine neue Erfindung im Bereiche der Landwirtschaft oder Ackerbaukunde auf, welche er nicht probierte, aber er erfand auch selbständig neue Mittel und Wege, wenn die bisherigen Erfahrungen ihn im Stiche ließen. Auf seinen Rat ward die Entwässerung versumpfter Grundstücke vorgenommen, sowie die Einführung rationeller Bewirtschaftung nach den Anforderungen der heutigen Chemie. Durch ihn ward der Verwilderung und der Waldverwüstung durch eine systematische Forstkultur ein Ende gemacht. Er hatte ebenfalls die Neubauten auf dem Gute geleitet und den Bestand der Herden nicht nur vermehrt, sondern durch Akquisition edlerer Rassen wesentlich verbessert – kurz, Herr Erdmann war ein ganzer Mann, ein guter Christ, der Sonntags in seine Kirche ging, ohne dabei ein Kopfhänger zu sein – ein bescheidener Mann, der jedem seinen Wert ließ, ein erfahrener, sachverständiger, humaner Mann, der seine Leute zu nehmen wußte – genug, wenn überhaupt Frau Anastasia ein Verdienst hatte, so war es das entscheidendste, daß sie diesen tüchtigen Mann entdeckt und angestellt hatte. Kein Mensch, der diese Verhältnisse kannte, fand es ausfallend oder widersinnig, daß die Gutsherrin die treuen Dienste ihres ersten Untergebenen nun mit ihrer Hand belohnte, zumal Herr Erdmann erst an der Grenze des reiferen Alters stand. Wenn auch nicht modern elegant und weitläufig, war er doch eine echt männliche Gestalt, und sein gemütvolles Temperament wußte mit richtigem Takt in jeder Art von Gesellschaft den rechten Ton zu treffen. Wie anerkannt sein Wert bei hoch und nieder war, bewies die allgemeine Freude, als er seine Verbindung mit Frau Anastasien in aller Stille feierte. Er hatte den Antrag seiner Herrin ohne Bedenken angenommen und erhob erst Schwierigkeiten, als er nach dem Familienstatut, welches in diesem besondern Falle vom Landesherrn bestätigt werden mußte, jetzt den Namen derer von Ravensbeck annehmen sollte. Lange hatte sich der einfache, bürgerliche Mann dagegen gesträubt, aber als die landesherrliche Bestätigung wirklich eintraf und die Regierung gleichfalls auf der Erfüllung der alten Satzung bestand, blieb ihm keine Wahl. – Und also ward endlich die Familie derer von Ravensbeck, obschon das Rittergut jetzt völlig in »fremden Händen« war, wieder auf gesunden Wurzeln neu gegründet.
Hielt sich auch die Mehrzahl des Adels von diesen »Emporkömmlingen« fern, so gab es doch einzelne unter ihnen, welche die Tüchtigkeit des neuen Gutsherrn unparteiisch zu würdigen wußten. Das Glück war wolkenlos, und als am Ende des zweiten Jahres eine Tochter geboren wurde, schien der alte Glanz des Mädchenschlosses von neuem aufzustrahlen. Die bösen Zungen, welche sich bei mancher Gelegenheit von neuem hatten rühren wollen, verstummten jetzt völlig, und alle Welt mußte anerkennen, daß Herr Erdmann-Ravensbeck der achtungswerteste Gutsherr und Ehemann, sowie seine Frau Anastasia die musterhafteste Hausfrau und Gattin sei.
So flossen die Jahre hin, und der abnorme Ursprung ihres Glücks geriet in Vergessenheit. Die Familie erfreute sich alles Guten, das nach menschlichem Ermessen für sie möglich war. Obschon ohne viel Verbindungen mit ihren jetzigen Standesgenossen, nur auf den Flecken und einige bürgerliche Familien angewiesen, fehlte ihrem gastlichen Hause kein Behagen, denn die große Welt und die Freuden des adeligen Standes vermißten sie nicht, weil sie dieselben nicht kannten. Dagegen besaßen sie eine Perle, um welche sie von allen beneidet wurden, die einmal Zeuge ihres Glückes gewesen waren. Diese Perle aber war die einzige Tochter.
Je mehr die kleine Gertrud heranwuchs, welche sich zu einer seltenen Schönheit entwickelte, wurde das früher so verrufene Rabenschloß wieder zum Anziehungspunkt für die ganze Umgegend. Wieder war eine reiche Erbtochter vorhanden, und die alte glänzende Geschichte des Hauses derer von Ravensbeck schien sich erneuern zu wollen. Gesellschaften wechselten mit Landpartien, im Winter Bälle mit Schlittenfahrten. Die Anmut und der Geist des jungen Fräuleins wurden zur Frühlingssonne für die ganze Jugend der Umgegend.
Dennoch konnte man nicht sagen, daß sich irgend jemand ihrer Gunst zu rühmen hatte. Bewerber kamen, blieben eine Zeitlang und verschwanden dann eben so rasch wieder. Die meisten allerdings blieben dem Hause befreundet und warteten auf günstigere Zeiten. Manche wohl flüsterten, daß Fräulein Gertrud im Herzensgrunde eine herrische und unberechenbar launische Natur sei. Andere fanden sie zu exzentrisch und als getreues Abbild ihrer Mutter, wie diese während ihrer »Künstlerlaufbahn« früher gewesen sein müsse. Noch andere verglichen sie mit jener Dame vom Kynast, die sich nur jenem Freier ergeben wollte, der dreimal um die Zinnen der Burg reiten werde, und die nichts darnach fragte, wie viele sich dabei den Hals gebrochen hatten. Kurz, das schöne edle Fräulein hatte alle Spießruten zu laufen, wie jede moderne Turandot, von der man nicht begreifen kann, warum sie sich nicht zur Ehe entscheiden will.
Einige, die sie verteidigten, und ihre Anzahl wuchs mit der Zeit, fanden es natürlich, daß die einzige Tochter ganz in der Pflege ihrer alternden Mutter aufging. Allerdings, Frau Anastasia kränkelte seit einem vollen Jahre und regierte das Gut vom Bett aus. Man wollte also wenigstens ihre Genesung abwarten, bevor sich die Werbungen um die Tochter erneuerten. Aber dazu kam es nicht. Frau Anastasia starb, bevor sie Enkel gewiegt hatte; sie starb heiß beweint von ihrem Manne und ihrer Tochter und ebenso von ihren Gutsleuten und von den Armen des ganzen Fleckens.
Schon während der Trauerzeit richteten sich die Blicke der Freier doppelt sehnsüchtig auf das schöne Fräulein. Fand man es auch natürlich, daß sie dem Vater in seinem Witwerstande tröstend zur Seite stehen möchte, so erschien andererseits diese Aufgabe noch leichter, wenn ein junger Mann und Schwiegersohn die schöne schweigsame Tochter bei dieser Liebespflicht unterstützen werde.
Zwar wenn die einen, und zwar die ärmeren, sich abgeschreckt fühlten, ihre Augen zu der reichen, vornehmen Erbtochter zu erheben, so fand die goldene Jugend des Adels, und vor allen ein Baron von Conring kein Bedenken mehr, um die reiche Tochter einer Abenteuerin zu freien, deren Vermögen seine ruinierten Verhältnisse wesentlich verbessern konnte. Dabei hatte selbst der Zwang, einen fremden Namen annehmen zu müssen, noch den großen Vorteil, das Andenken an mancherlei leichte und zweideutige Streiche, die mit dem Namen von Conring verbunden waren, auf immer zu verlöschen.
Eine dritte Klasse von Freiern, welche sich rühmte, die Sache am delikatesten zu behandeln, fand leider, daß die schöne Gertrud, sei es aus Trauer und Gram um den Verlust ihrer Mutter, oder sei es aus falschem Stolz, völlig unzugänglich geworden war und jede, auch die leiseste Annäherung zurückwies.
Abgesehen von jener Trauer war Gertrud in der Tat jetzt schöner als je. Vornehm und würdevoll, eine zauberhafte Erscheinung für jeden, der ihr nahte, schreckte sie dadurch doch ebenso zurück, und es schien absichtlich, daß sie den Leuten auswich und still, in sich gekehrt die Einsamkeit aufsuchte.
Über ihren wahren Charakter war schwer etwas zu sagen, da er die widersprechendsten Eigenschaften vereinigt zeigte. Einige Dienstboten wußten über jähzornige Leidenschaftlichkeit zu klagen, andere ihre schrankenlose Herzensgüte zu rühmen. Sie war die verwegenste Reiterin und Schlittschuhläuferin, und doch hielten sie diese amazonenhaften Übungen nicht ab, für die Armen im Orte Strümpfe zu stricken und den Wöchnerinnen eigenhändig Speisen und Kleidungsstücke zu bringen. Mädchen ihres Alters mied sie fast mit Geringschätzung, aber die alten Frauen des Orts suchte sie aus, um ganze Abende mit ihnen zu plaudern. In der Wirtschaft des eigenen Hauses führte sie die Zügel straff, aber doch mit samtenen Händen. Alle Dienstleute vergötterten sie, weil sie jedem einzelnen durch die Finger sah und das Mangelhafte selbst verbesserte, statt zu tadeln. Durch diese Güte aber erzielte sie es, daß sonstiger Mißbrauch derselben sich nicht mehr hervorwagte. Man tat aus Verehrung und Liebe alles, was man ihr an den Augen absehen konnte, und auch die weniger Selbstlosen – wohin namentlich eine neu angenommene Beschließerin zählte, wagten in Worten oder Taten nie mehr als einmal Widerstand zu zeigen.
So ging abermals ein volles Jahr hin. Die Bewerber verloren sich und die gespensterhafte Ruhe, wie sie ehedem auf dem unheimlichen Schlosse geherrscht hatte, schien jetzt wiedergekehrt zu sein. Nur Herr von Conring wagte es noch, sich bisweilen zu zeigen, aber auch diese Besuche nahmen ein rasches Ende. Er hatte es gewagt, eines Abends das Fräulein, welches im Erdgeschoß mit dem Sortieren neuer Leinwand beschäftigt war, zu überraschen.
Die Dienstleute hörten ein heftiges Gespräch, und mehr als ein Neugieriger näherte sich der Tür; zufälligerweise kam der neue Verwalter, den man gleichzeitig mit der Beschließerin angenommen, von der Jagd zurück und trieb die Zudringlichen von der Tür, an welcher er selbst jetzt Posto faßte. Erst nach einer Weile ertönte die Klingel, und der Verwalter war der erste, der das Zimmer betrat. Gertrud stand ruhig und hoch aufgerichtet an dem Tische, welchen die Leinwand bedeckte, während Herr von Conring in heftiger Bewegung deklamierend in dem freien Raum vor dem Tische auf- und abging.
»Wollen Sie nicht die Güte haben«, sagte Gertrud zum Verwalter, »Herrn von Conring ein Glas Wasser zu bringen – und dann begleiten Sie ihn hinaus«, setzte sie in aller Ruhe hinzu, »er scheint sich auf der Jagd übernommen zu haben.«
Ohne ein Wort zu erwidern oder die Erfüllung jener Weisungen abzuwarten, eilte Herr von Conring durch die offene Tür, warf sich auf sein Pferd, das am Hoftor angebunden stand, jagte fort und wurde seit diesem Tage nicht mehr gesehen.
Das war im Herbst. Der Winter ging ganz still und ereignislos vorüber. Die Strenge der Jahreszeit erschwerte überhaupt den Verkehr, aber für Schloß Ravensbeck hatte der letztere schon längst vollständig aufgehört. Das alte Gebäude schien ausgestorben zu sein, und von Fräulein Gertrud sprach man so wenig, als wäre sie seit Jahr und Tag weggezogen oder in ein Kloster gegangen.
Erst im folgenden Sommer wurden die Zungen der Nachbarschaft wieder lebendig und beschäftigten sich von neuem mit der schönen Gertrud. Ursache dazu gab das völlig veränderte Benehmen des alten Herrn Erdmann-Ravensbeck. Er, der nüchterne, gesetzte, sittenstrenge Mann, schien plötzlich alle bösen Eigenschaften seiner Vorgänger geerbt zu haben. Er ritt durch Nacht und Nebel in die Wälder, auf die umliegenden Dörfer und oft in das weite Land hinaus. Häufig war er Tage lang abwesend, und die bösen Zungen sagten, daß er dann in den Weinhäusern und Winkelkneipen der Hauptstadt zu treffen sei, wo er trank, spielte, fluchte und sein Wesen so arg trieb, wie irgendeiner seiner Vorfahren auf Schloß Ravensbeck.
Aber das war nicht alles. Daß er die Kirche nicht mehr besuchte und seinen besten und ältesten Freunden in der Umgegend auswich, mochte man einer bösen Laune zuschreiben; aber daß er genau wie der wilde Curt nur noch mit Kohlenbrennern, Floßknechten und Wilddieben Umgang pflegte, ja sich unter dem verkommensten Gesindel am wohlsten fühlte, das schien auf eine dauernde innere Wandlung zu deuten, und die Leute hatten nicht Unrecht, wenn sie sagten – nun ist der Herr Erdmann auch ein echter »Rabenspeck« geworden. Zu dieser Verwilderung im allmeinen gesellten sich noch allerhand Wunderlichkeiten. Daß er sich eine Familiengruft im Garten erbauen ließ und öfter Todesgedanken äußerte, wenn er überhaupt zum Sprechen zu bringen war, das mochte man anfangs wie seine ganze Umwandlung der tiefen Trauer um den Tod seiner Gattin zuschreiben; diese Erklärung reichte doch nicht ganz hin. Er hatte ein völlig unstätes Wesen angenommen; er ging, ohne zu sagen wohin, und kam zurück, wenn man es am wenigsten vermutete, beschenkte Bettler reichlich und enthielt den Dienstleuten ihren Lohn vor, sprach mit sich selber laut, wenn er allein war, und schien taub zu sein, wenn man ihn anredete, er ließ die schönsten alten Bäume fällen und ordnete neue Anpflanzungen an, wo kaum ein Strauch gedieh, gab Befehle und nahm sie in der nächsten Stunde zurück, kurz, er war vollkommen unberechenbar geworden, und wenn die neue Beschließerin sagte: »Beim Herrn muß es rappeln« – so spiegelte sich in diesem Worte nur der allgemeine Eindruck.
Für das Hauswesen zwar erwies sich diese Umwandlung ziemlich gleichgültig. Fehlte auch die strenge Hand des Regenten, so hatte das Händchen der Tochter ihrem Vater das Regiment unvermerkt abgenommen. Allmählich ereigneten sich einige Auftritte, welche die rätselhafte Gemütsverfassung des alten Herrn in deutlicherem Lichte zeigten.
Eines Tages war es, als Herr von Conring dem Alten im Walde begegnete, oder ihn vielmehr auf einem Baumstumpf sitzend antraf. Kaum aber gewahrte ihn der Alte, als er aufstand, ihm den Rücken kehrte und einen Seitenpfad in das Gebüsch einschlug. Herr von Conring ließ sich aber dadurch nicht abschrecken, sondern holte den Alten ein, der mürrisch und verdrossen die artigen Worte des Kavaliers anhörte, der ihm als Verehrer seiner Tochter wohlbekannt war. Als jener nun wirklich wagte, sich nach dem Wohlbefinden des gnädigen Fräuleins zu erkundigen, wurde der Alte kirschbraun vor Zorn und verbot dem Herrn, von dieser »Person« zu reden.
Herr von Conring war erstaunt und erlaubte sich, die Partei dieser »Person« zu nehmen, ja er glaubte die Gelegenheit benutzen zu sollen offen um die Hand des gnädigen Fräuleins anzuhalten.
Da aber brach der Alte in ein rauhes, mißtönendes Lachen aus. »Wissen Sie nicht«, sagte er, »daß die Ravensbecker Dirnen alle nichts taugen? Wenn Sie aus Ihrem Stammbaum Krücken schnitzen wollen für die Schande, so kommen Sie – sonst überlegen Sie sich's noch einmal. Gott befohlen!«
Mit diesen Worten wandte er sich in den Busch, aber er kam noch einmal zurück und reichte dem Baron seine Hand. – »Nichts für ungut, Baron, aber wenn der Kuckuck anfängt im Storchnest zu brüten, so kann der letzte Tag nicht weit sein. Obschon ich weiß, daß Sie ein Luftikus, hätt' ich Ihnen doch das Mädel gegönnt – Ihnen dennoch lieber, als – – Leben Sie wohl, Baron, das wird noch mein Tod, und daß mein Glück so enden sollte, hab' ich mir auch nicht träumen lassen!« – und mit einem halb unterdrückten Fluch war er im nächsten Augenblick im Walde verschwunden.
Dieser Auftritt, den der Baron zu verschweigen keine Ursache fand, war das erste Signal. Bald kamen dazu weitere Mitteilungen. Man erfuhr, daß der alte Pfarrer von Schwelmroda eine volle Stunde lang im Schlosse gewesen und mit bedeutungsvollem Kopfschütteln nach Hause zurückgekehrt sei. Auf dem Hofe wollte einer gehört haben, daß es bei dieser Gelegenheit zu einem heftigen Wortwechsel gekommen sei. Der Geistliche habe nämlich den Gutsherrn zur Rede gestellt, weshalb er nicht mehr in die Kirche komme, und dieser habe ungefähr geantwortet:
»Wenn es wirklich einen Herrgott gäbe, Herr Pfarrer, so würde er dem Teufel sein Handwerk legen. So lange aber Meister Urian seine Macht behält auf Erden, kann ich keinen Respekt mehr haben vor Eurem Herrgott! Kann er beweisen, daß er vorhanden, indem er jenem Schurken das Genick bricht, dann will ich an ihn glauben. Für jetzt hat er seinen Kredit bei mir verloren – und damit Gott befohlen!«
Der alte Pfarrherr zwar schwieg auf alle neugierigen Fragen, die an ihn gestellt wurden, auch das Gesinde des Gutes wich allen Fragen aus. Obgleich viele von ihnen Knall und Fall entlassen wurden, zogen sie doch ruhig ihres Weges und ließen keine Spur von Groll oder Erbitterung blicken.
Unter diesen Entlassenen war auch jener Verwalter, welcher Zeuge des Auftritts mit Herrn von Conring gewesen war. Es war dies ein einfacher, in jeder Beziehung tüchtiger, junger Mann, der das Vertrauen der Herrschaft wie die Liebe seiner Untergebenen im gleichen Grade besaß. Herr Wolfram Mark war, man weiß nicht woher gekommen; soviel aus seinen Papieren hervorging, stammte er aus einer guten bürgerlichen Familie Schlesiens. Seine Haltung war eine halb militärische, sein Benehmen wortkarg und gemessen, seine äußere Erscheinung eine schlichte, echt männliche, ohne hervorragende Vorzüge, aber auch ohne Tadel, seine Kenntnisse umfassend, seine Anstelligkeit und Umsicht mustergültig.
Weshalb dieser Treffliche plötzlich mit Schimpf und Schande entlassen wurde, blieb ein Geheimnis, zumal er selbst hartnäckig schwieg und sich vor den Menschen zurückzog, obwohl er im Orte blieb. Ein übelbeleumundetes Subjekt, seinem Rufe nach ein Wilddieb, erzählte lange nachher, daß er um diese Zeit den jungen Mann eines Tages im Walde angetroffen und zehn Schritt von ihm den alten Herrn Erdmann-Ravensbeck, der auf den entlassenen Verwalter das Jagdgewehr angelegt und gerufen habe:
»Vermaledeiter Schelm, kommst du mir wieder vor das Gesicht!«
»Schießen Sie, gnädiger Herr,« habe der junge Mann gerufen; »dann ist der Jammer auf einmal aus, ich lasse mit mir alles machen, aber eins bitte ich mir aus: Mißhandeln Sie niemand meinetwegen, sonst – wenn Sie das wagen, haben Sie es mit mir zu tun. Jetzt schießen Sie!«
Da habe der Alte das Gewehr sinken lassen und sei mit einem Fluche davon gegangen.
Dieser Umstand wurde jedoch erst lange Zeit nachher bekannt. Von dem Betreffenden selbst etwas zu erfahren, war unmöglich.
Weniger verschwiegen war ein Holzhändler aus der Hauptstadt, der eines Tages, es war der 13. Juli, nach Schloß Ravensbeck kam; da er niemand traf, der ihn bei der Herrschaft anmelden sollte, gelangte er durch verschiedene Vorzimmer im obern Stock bis an den großen Speisesaal, dessen anstoßende Tür halb offen stand.
Hier hörte der Holzhändler einen heftigen Wortwechsel und erkannte an der Stimme den alten Gutsherrn.
»Ich bin alt geworden in Ehren!« rief er, »ich habe meinem Gott gedient und meinen Mitmenschen, so gut ich konnte, und nun soll ich auf meine alten Tage das erleben! – Wahrlich, der alte Fluch scheint wieder lebendig zu werden, der auf diesem verwünschten Neste liegt, warum auch mußte ich es wieder aufbauen. Nun muß ich es büßen!«
»Höre auf, lieber Vater, ich beschwöre dich,« sagte eine schluchzende Mädchenstimme, »ich kann nicht so gotteslästerliche Reden hören!«
»Aber Gotteslästerliches tun,« rief der Alte, »zum Spott für Gott und die Welt!«
»Aber was habe ich denn getan, lieber Vater,« sagte wieder die Mädchenstimme, »doch nichts anderes, als was einst meine Mutter getan hat, als sie ebenfalls den Verwalter vorzog – vor allen anderen Bewerbern.«
»Rede mir nicht von dem Buben!« – erscholl wieder die Löwenstimme des Alten, »oder es gibt ein Unglück!«
»Aber was hast du gegen ihn, Vater« kam es zurück. »Wolfram Mark ist ein braver, ehrenhafter Mann, erkundige dich über ihn, wo du willst, so wirst du nur Gutes und Rühmliches erfahren. Und wenn du gegen ihn bist aus blinder Abneigung und mir es selbst verübelst, daß ich keinen Geschmack finden kann an den anderen Freiern, so denke an die Zeit, wo auch die gute Mutter einen schweren Stand hatte, als sie sich für dich entschied.«
»Ja wohl, nach der bist du geraten, phantastische Närrin!«
»Nichts gegen die Mutter!« rief jetzt das Mädchen mit entschiedenem Tone, »das muß ich mir ausbitten als ihre Tochter. Wir sind ihr beide wohl Dank schuldig« – fuhr sie nach einer Pause fort – »ich, daß ich am Leben bin, und du, – o, ich will mich lieber nicht weiter aussprechen –«
»Sprich nur!« donnerte der Alte, – »ich kenne schon deine Meinung – daß ich ihr das schöne Rittergut verdanke, willst du sagen, – daß sie mich armen Teufel aus dem Staube erhob vor allen anderen, daß sie mich zum Herrn gemacht hat aus ihrem Diener – sprich nur weiter – es war ja die alte Neigung zum Niedrigstehenden, die ihre Blicke auf mich lenkte, sag', es war ja der alte Fluch, der damals schon tätig war und der sich heute erneuert – es ist so schön, sich dergleichen von seiner Tochter sagen lassen zu müssen. Nun, ich kann es ertragen, wie ich schon anderes ertragen habe. Es ist wahr, ich hatte meiner Frau mein Glück zu danken, obgleich ich nicht darnach lüstern war, aber ich nahm diese Fügung hin, um das schöne Besitztum nicht verkommen zu lassen, nachdem ich es neu geschaffen – und außerdem ist doch wohl noch ein Unterschied zwischen mir und ihm, dem Hergelaufenen.«
»Aber ich bitte dich noch einmal, was hast du gegen ihn?« fragte das Mädchen noch eindringlicher.
»Rede mir nicht von ihm!« rief der Vater mit Stentorstimme, während er mit großen schweren Schritten das Zimmer maß. »Ein ganzes Rittergut hinwerfen – dem ersten besten Schlucker an den Kopf werfen, weil es einem Dämchen so beliebt, – ein Rittergut, das ich neu aus dem Nichts geschaffen, das ich der Wildnis abgerungen wie ein Farmer dem Urwald – und nun wäre alle Mühe vergebens gewesen um einer Laune willen! Unterbrich mich nicht. Ich habe diesen Tag kommen sehen, so wenig treue Eltern solchen Widerstand verdienen. Wie? hast du nicht die feinste Erziehung genossen, hast die Wahl unter den ersten Familien – und was ist nun die Frucht von allen Mühen! – Die glänzendsten Partien ausgeschlagen, die bravsten Männer vor den Kopf gestoßen, bloß aus purem Eigensinn – aber ich wiederhole es, ich dulde diese Opposition nicht, und von diesem Menschen kann keine Rede sein nun und nimmermehr!«
Es trat eine kleine Pause ein, dann nahm die Mädchenstimme wieder das Wort.
»Wenn ich einst die Erbin dieses Besitztums bin, das meiner Mutter gehörte, so ist es gewiß keine Unbescheidenheit, wenn ich mir das erste menschliche Recht der freien Wahl nicht rauben lasse. Und was mir einst von selber zufallen wird, lasse ich mir jetzt im voraus nicht verkümmern.«
»Einst – ja wohl«, fuhr der Alte heraus, »ihr wartet also auf meinen Tod, ich bin euch dankbar für diese Ankündigung, aber ihr könnt euch dennoch verrechnen, meine Guten. Ehe euch dies Glück blüht, daß ich meine Augen schließe, kann ich dich immer noch enterben. Ich wäre ein Narr, so weiter zu leben, von einem Tag zum anderen beobachtet und tariert, ob ich immer noch nicht reif bin für die Grube. Wahrlich, das hieße seines eigenen Lebens nicht mehr sicher sein!«
Aber diese harten und unbedachten Worte fanden eine Entgegnung, die eben so energisch war, obschon sie im unterwürfigsten, fast demütigen Tone erklang:
»O, wenn du das glaubst und fürchtest, lieber Vater, so ist es besser, du schickst mich aus dem Hause. Ich will gern das äußerste Elend ertragen und selbst die Enterbung erdulden, wenn du dabei glücklich und ruhig sein kannst.«
Wieder trat eine Pause ein. Man hörte das schwere Atmen des untersetzten alten Mannes.
Abermals begann die Mädchenstimme; aber diesmal mit unsicherem, fast flehendem Ausdruck:
»Stoße mich aus dem Hause oder rufe ihn zurück, du mußt ihn zurückrufen, Vater, unseres guten Namens willen« – und sie fiel ihm schluchzend zu Füßen.
»Hallo!« schrie der Alte laut auf, »auch das also, auch das, und den Hohn der Nachbarn dazu, vor denen man so lange die Nase hochgetragen! O das ist, um sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen. Wenn ich den Buben treffe, gibt's ein Unglück. – Weg aus meinen Augen, du –« Das letzte Wort aber erstickte im Übermaß des Zornes, dem die Stimme versagte. Die Schritte des Alten näherten sich der Tür, aber noch einmal hielten sie ein.
»Gehe nicht im Zorne, Vater!« rief die Tochter, »höre mich erst, bevor du mich verdammst. Ich weiß, du hast mich seit Jahren diesem und jenem in der Nachbarschaft zugesagt, ich konnte mich vor diesen Bewerbern wie vor deinen Mahnungen nicht anders retten, als daß ich mich unlöslich mit dem verband, dem mein Herz gehört ... Nenne es ein Selbstvergessen – nein, es war kein Vergessen, es war eine Selbstüberwindung, denn nur so konnte ich mich und ihn vor einer ungewissen Zukunft schützen – mich vor der Möglichkeit, deinen Plänen vielleicht in einer schwachen Stunde nachzugeben, und ihn vor der Schwäche, aus Rücksicht oder Furcht vor dir die Stellung aufzugeben und mich im Stiche zu lassen. Jetzt bindet uns die gegenseitige Pflicht, und wir können nicht mehr getrennt werden. Nach dem Urteil der Welt aber habe ich niemals gefragt.«
»Ja wohl, so kenne ich dich von klein auf«, sagte der alte Herr, »und ich sehe nun, wohin es führt, wenn man aus Affenliebe den Kindern die Zügel schießen läßt. Darin habe ich diese Schmach verdient, aber man irrt sich, wenn man sich einbildet, daß man solcher kuriosen Moral das Licht halten soll. Macht, was ihr wollt. In Gottes Namen vorwärts in die Schande hinein! Aber auf mich rechnet nicht mehr – damit ist das Maß voll von dem, was ein Mann tragen kann, Gott befohlen!«
Und im nächsten Augenblick war der alte Herr aus der Tür, die nicht sanft in das Schloß flog, und schritt durch den Speisesaal in die Vorzimmer. Er war so erregt, daß er den Holzhändler, der sich in eine der tiefen Fensternischen zurückgezogen hatte, gar nicht bemerkte. Einige Minuten später sah der Holzhändler durch das Fenster, daß der Herr Erdmann-Ravensbeck auf dem Hofe seinen alten eisengrauen Hengst bestieg und fortritt, der Richtung nach in die Hauptstadt.
Kopfschüttelnd und erschrocken trat jetzt der unfreiwillige Zeuge seinen Rückzug an, schlich durch die Vorzimmer und gelangte ungesehen vor das Hauptportal des Rittergutes. Eine Minute lang stand der Holzhändler dort still, als schien er zu überlegen, was jetzt zu tun sei, dann schritt er eilig nach der Dorfschenke, die nicht allzu weit an der großen Landstraße lag. Dort nahm er im Eckzimmer am Fenster Platz und blätterte in seiner Brieftasche. Als der Wirt gelegentlich in das Zimmer trat, um Kreide für eine Kegelgesellschaft zu holen, ließ sich der Holzhändler in ein Gespräch mit ihm ein und suchte ihn unvermerkt auf den Gutsherrn von Ravensbeck und seine Familie zu bringen. Der Wirt wich aus und schien große Eile zu haben, kam aber nachher zurück, nachdem er seine Kegelgesellschaft befriedigt hatte.
»Was ich Sie fragen wollte,« sagte der Holzhändler, »ist nicht auf dem Rittergute ein Mann namens Mark? Ich höre, er sei entlassen worden, und möchte wissen, wo ich ihn treffen kann.« Jetzt wurde der Wirt aufmerksamer und trat dem Tisch näher.
»Was wollen Sie von Herrn Mark?«
»Reden möcht' ich mit ihm, weiter nichts; aber ich kenne ihn doch noch nicht, und möcht' auch wissen, was an dem Manne ist – ob man sich auf ihn verlassen kann und so weiter.«
»Ho,« sagte der Wirt, »Herr Mark ist ein kreuzbraver Mensch, oder er war es vielmehr. Seit er auf das Rabenschloß gekommen, ist er ein Duckmäuser geworden. Ich habe ihn immer gewarnt vor dem verfluchten Hause und den kuriosen Herrschaften, aber er hat nicht hören wollen und ist in sein Unglück hineingetappt. Nun hat er die Bescherung. Mit Schimpf und Schande haben sie ihn davongejagt. Ja, mit solchen Herrschaften ist nicht gut Kirschen essen, und was er eigentlich verbrochen haben mag, weiß kein Mensch zu sagen.«
»Kann ich ihn nicht sprechen?« fragte der Holzhändler.
»Warten Sie einmal,« erwiderte der Wirt. »Der arme Teufel wohnt jetzt noch im Ort und läßt sich zuweilen hier sehen – ah, da sitzt er ja,« rief er, nachdem er sich aus dem Fenster gebeugt, »richtig, da sitzt er schon seit einer Stunde, ich dachte, er sei wieder fortgegangen.
Sehen Sie ihn nur an, schaut er nicht aus, als wenn er aus dem Narrenhause entsprungen wäre?«
Neugierig trat auch der Holzhändler an das Fenster und sah am letzten Tische, halb verborgen in einer Laube, einen jungen Mann sitzen, der unbeweglich vor sich hinstarrte, den Kopf aus die Hand gestützt. Wie um nach dem Wetter zu sehen, trat jetzt der Holzhändler auf die Landstraße hinaus und wußte in die Nähe jenes letzten Tisches zu kommen.
»Ihr Diener, Herr Mark,« sagte er dann und wandte sich zu dem jungen Manne.
Dieser aber warf kaum einen argwöhnischen, scheuen Blick auf ihn, ohne ihn der mindesten Antwort zu würdigen. Sein Gesicht hatte einen trotzigen, ja fast drohenden Ausdruck.
»Nichts für ungut, Herr Mark,« sagte der Unermüdliche, »ich bin der Holzhändler Petermann aus der Stadt und habe von Zeit zu Zeit mit Baron von Ravensbeck zu tun. Sind Sie nicht der neue Verwalter auf dem Schlosse?«
»Ich war es,« erwiderte der Angeredete und strich seinen Bart, indem er den Zudringlichen mit mißtrauischen Blicken maß.
»So ist es also wirklich wahr, daß Sie wieder fort sind? Mein Gott, was die Herrschaften doch für wunderliche Launen haben! Indes, was tut es Ihnen. Ein tüchtiger junger Mann findet immer wieder einen guten Posten. Ich zum Beispiel hätte einen Holzschreiber nötig, einen Mann, auf den ich mich verlassen kann.«
Aber Herr Mark fand es nicht für angezeigt, auf dieses ziemlich verständliche Anerbieten zu antworten.
»Wie wär' es,« fuhr der Holzhändler in kordialem Tone fort, »wenn Sie bei mir eintreten wollten? Ich heiße Petermann, und meine Firma ist bekannt.«
»Ich bei Ihnen?« erwiderte der junge Mann erstaunt. »Sie kennen mich ja gar nicht!«
»Tut nichts, Herr Mark aber ich habe manches Gute von Ihnen gehört und, offen heraus, Sie gefallen mir. Ich könnte sagen, Sie tun mir leid, und ich mag's nicht mit ansehen, daß Sie den Kopf hängen lassen. Courage, junger Mann, auf Regen folgt Sonnenschein, und dem Rabenspeck drehen wir eine Nase. Wann werden Sie die Stelle antreten?«
Diese Worte waren so herzlich und rückhaltlos gesprochen, daß Wolfram Mark sichtlich ergriffen war und die dargebotene Rechte des braven Holzhändlers ergriff.
»Sie meinen es gut, Herr Petermann, und Ihr Vorschlag in allen Ehren; aber ich kann ihn doch nicht annehmen. Das Warum kann ich Ihnen heute nicht sagen.«
»Nun so will ich es Ihnen sagen, Herr Mark«, erwiderte der Holzhändler und nahm neben ihm auf einem Gartenstuhle Platz. »Sie hätten es wohl notwendig, die Stelle anzunehmen, aber Sie wollen nicht fort von hier, weil Sie ein gewisses Verhältnis bindet.«
»Woher wissen –?« Sie fuhr der junge Mann auf und seine Augen blitzten.
»Nun, das ist ganz einerlei,« sagte der Alte. »Darüber machen Sie sich keine Sorge. Treten Sie nur getrost ein. Mann und Frau können leben. Es ist doch besser, als ins Elend zu ziehen, und ehrlich durchzukommen, ist heut ein saures Stück Arbeit. Sie starren mich immer noch an; na, im Vertrauen, ich weiß um Ihre ganze Geschichte. Wie ich dazu gekommen bin, ist, wie gesagt, einerlei, wir reden bei Gelegenheit noch darüber. Und wenn Sie sich jetzt noch besinnen wollen, so begreife ich Sie nicht. Ich weiß wohl, Sie denken, ein Junggeselle hilft sich leicht durch für einige Zeit, aber an eins scheinen Sie wohl nicht gedacht zu haben, daran nämlich, daß das gnädige Fräulein selbst aus dem Hause gestoßen werden könnte. Ja wohl, so ist's!« fuhr der alte Holzhändler fort, als der junge Mann ihn heftig am Arme packte. »Und was wollen Sie dann tun, wenn dieser Fall eintritt? In der Stadt etwa auf bessere Zeiten warten und die Hände in den Schoß legen? Nein, das ist eines Mannes unwürdig, der arbeiten kann, also nehmen Sie die Stelle an und ziehen Sie zu mir. Alles andere wird sich finden.«
Wolfram Mark war aufgestanden. Seine verbissene, drohende Miene hatte sich längst verloren, und mit unverhohlener Innigkeit drückte er dem alten Manne die Hand.
»Ich danke Ihnen, Herr Petermann. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ich kenne Sie nicht, aber Sie müssen ein Ehrenmann sein. Ich danke Ihnen nochmals, so liebevoll hat noch kein Mensch mit mir gesprochen; denn meine Eltern sind früh gestorben, ich habe weder Vater noch Mutter gekannt, und fremde Leute haben mich im Waisenhaus aufziehen lassen. Dennoch kann ich Ihren edelmütigen Vorschlag nicht annehmen, wenigstens heut noch nicht. Lassen Sie mir noch einige Tage Zeit. Sollte das Schlimmste eintreten, was Sie erwähnt haben, wohl, so nehme ich an, darauf gebe ich Ihnen heut mein Wort. Aber zuvor muß ein letzter Versuch gemacht werden. Nein, so schlimm darf es nicht kommen, zuerst muß man sich selbst helfen! Leben Sie wohl, Herr Petermann. Morgen, längstens übermorgen, sage ich Ihnen Antwort, heut habe ich noch einen wichtigen Gang zu tun. Auf Wiedersehen, Herr Petermann, aus Wiedersehen!«
Und eilig schritt er nach den letzten Worten davon. Der Holzhändler wußte nicht, was er aus dem seltsam aufgeregten und unsteten Menschen machen sollte; sein ganzes Benehmen kam ihm fahrig und unheimlich vor. Aber wer kann in die Tiefen der Seele blicken; er hatte mit bestem Willen das Seinige getan, um einen Unglücklichen zu retten. Das übrige mußte er nun der Zeit überlassen.
Halb unwillig über sein übereiltes und deshalb abgelehntes Anerbieten machte sich der alte Holzhändler wieder auf den Heimweg in die Stadt.
Unterwegs – dort, wo ein Seitenweg zur Abdeckerei abbiegt, wo auch der Scharfrichter wohnt, begegnete der Holzhändler dem alten Herrn von Ravensbeck, der auf seinem eisengrauen Schimmel aus der Stadt zurückkam.
Herr Petermann grüßte, aber der alte Herr, der ihn als langjährigen Geschäftsfreund kannte, schien heute keine Notiz von ihm zu nehmen, sondern wandte sein Gesicht von ihm ab und spornte sein Roß zu größerer Eile.
Es sollte das letzte Mal sein, daß der Holzhändler den alten Herrn auf dieser Welt gesehen hatte. Dienstleute haben später erzählt, daß Herr Erdmann-Ravensbeck am Nachmittag wirklich wieder auf dem Schlosse angekommen sei und mehrere Stunden auf seinem Zimmer sich zu tun gemacht habe. Gegen Abend habe er befohlen, ihm ein Nachtessen aufzutragen. Fräulein Gertrud habe es ihm hineingeschickt. Gleich darauf sei der alte Herr mit einer Büchse über der Schulter ausgegangen, und zwar nach dem Walde zu. Es war eine dunkle, stürmische Nacht, und einige wollten behaupten, daß Herr Wolfram Mark ihm in den Wald nachgegangen sei, sowie daß der junge Mann stundenlang zuvor in dem Schlosse verweilt habe. Die genaue Geschichte aller Vorgänge an jenem verhängnisvollen Tage erschien von Anfang an dunkel, verworren und widerspruchsvoll, und ihr Zusammenhang sollte erst allmählich aufgehellt werden.
Als Resultat über blieb, daß Herr Erdmann-Ravensbeck seit jenem Abend nicht wieder nach Hause gekommen, und daß jede leiseste Spur seines Verbleibens in rätselhafter Weise verloren war.
Einige Tage wartete man, in der Hoffnung, daß der Verschollene von selbst wieder auftauchen werde. Man wußte, daß es seine Gewohnheit war, allein zu Fuß oder zu Pferde tagelang die Wälder und Berge zu durchstreifen, und man war an solche unregelmäßige Lebensweise schon seit geraumer Zeit gewöhnt.
Endlich, nach Verfluß von beinahe einer Woche, hielten es die Nachbarn des Herrenhauses doch für ihre Pflicht, Anzeige zu machen; als sie aber zur Ortspolizei kamen, fanden sie bereits Fräulein Gertrud anwesend, welche aus eigenem Antriebe in gleicher Absicht gekommen war, um von dem Verschwinden des alten Herrn Anzeige zu machen und die Hilfe der Gendarmerie zur Auffindung des Verschollenen, vielleicht Verunglückten, in Anspruch zu nehmen.
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