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Man hatte wie immer gut gespeist im Hause Grumbach und sich dann ins Rauchzimmer zurückgezogen, wo schon die funkelnde Kaffeemaschine in Bereitschaft stand und den feinen Mokkaduft versprühte, der gerade nach einem opulenten Mahle so verführerisch wirkt. Das Mahl hatte diesmal allerdings einen gewissen festlichen Charakter aufgewiesen, obschon man nur zu dritt bei Tische saß; aber es war Dagoberts Heimkehr gefeiert worden, und darum war die Zurüstung auch etwas festlicher gewesen als sonst.
Volle zwei Monate hatten sie sich nicht gesehen. Grumbachs hatten Seebäder in Scheveningen genommen und dann eine Tour durch die Schweiz gemacht: über den Verbleib Dagoberts hatte kein Mensch etwas zu sagen gewußt. Frau Violet war schon riesig neugierig. Als sie nun den Herren persönlich den kleinen Schwarzen kredenzt und diese sich mit Zigarren versorgt hatten, setzte sie sich in ihrer Sofaecke neben dem Marmorkamin zurecht und blickte mit Spannung zu dem gegenüber sitzenden Dagobert hinüber.
»Also, Dagobert, erzählen Sie!«
»Gnädigste setzen immer ohne weiteres voraus, daß ich etwas zu erzählen habe.«
54 »Mit dem vollsten Rechte, wie die Erfahrung lehrt. Wir haben uns zwei Monate lang nicht gesehen, und daß Dagobert zwei Monate lang nichts für die Unsterblichkeit getan haben soll, das gibt es einfach nicht!«
»Ich habe mir eben auch zwei Monate Ferien gegönnt.«
»Das weiß ich, aber ohne Ferienarbeit tun Sie's ja doch nicht! Sicher, ganz sicher haben Sie wieder einen Verbrecher entlarvt, da hilft keine Ausrede, Sie müssen erzählen!«
»Von einer eigentlichen Entlarvung kann keine Rede sein.«
»Aha! Aber von einer uneigentlichen! Wie war es also?«
»Ich hatte allerdings eine Ferienarbeit, wie Sie sich so treffend ausdrückten, zu erledigen. Es war der reine Zufall, wie ich dazu kam. Ich hatte nämlich wirklich vor, einmal ordentlich zu faulenzen. Ich glaubte, ich hätte ein wundervolles Talent dafür, und es ist die Tragik meines Lebens, daß ich nie dazu komme, dieses glänzende Talent zu entfalten.«
»Sie machen es immer so, Dagobert! Sie fangen immer an zu philosophieren oder lyrisch zu werden, wenn Sie Tatsachen berichten sollen.«
»Also gut, Tatsachen. Ich bin vorbereitet, da ich ja wußte, daß ich beichten muß. Ich hatte gerade überlegt, wie ich die zwei Ferienmonate, die ich mir gnädigst selbst bewilligt hatte, um die Ohren schlagen sollte, als mir ein sonderbarer Brief einen dicken Strich durch alle Rechnungen machte. Ich habe ihn bei mir. Erlauben Sie, daß ich ihn Ihnen vorlese: ›Sehr geehrter Herr! Der ergebenst Unterzeichnete nimmt sich 55 die Freiheit, Sie um gütige Auskunft zu bitten, ob der in Ihren Erzählungen vorkommende Herr Dagobert . . .‹«
»Ah, der Brief ist ja nicht an Sie gerichtet!«
»Habe ich auch nicht behauptet. Er wurde mir zur ›verfassungsmäßigen Behandlung‹ von unserm gemeinschaftlichen Freunde zugewiesen, der, wie Sie wissen, von meinen kleinen Unternehmungen der Öffentlichkeit zu berichten, gelegentlich sich das Vergnügen und mir die Reklame macht.«
»Und Sie hassen die Reklame!«
»Wenigstens sage ich so, wie alle Künstler. In Wirklichkeit ist sie mir wie allen Künstlern sehr angenehm. Mir im besonderen verhilft sie hier und da zu interessanten Fällen, die mir sonst gewiß nicht untergekommen wären. Ich fahre also fort: ›– ob der in Ihren Erzählungen vorkommende Herr Dagobert eine Romanfigur oder eine lebende Person ist. In letzterem Falle bitte ich Sie um gefällige Angabe der Adresse dieses Herrn, da ich in einen allerdings sehr dunklen Fall verwickelt bin, der im Jahre 1849 beginnt und noch nicht erledigt ist. Es handelt sich wahrscheinlich um Kindesunterschiebung, verbunden vielleicht mit anderen Verbrechen. Die Hauptperson ist meine bei mir wohnende Mutter, die nicht weiß, wer ihre Eltern waren. Alle Versuche meiner Mutter, ihre Herkunft festzustellen, sind erfolglos geblieben. Gewiß ist nur, daß die als ihre Eltern angegebenen Personen nicht ihre wirklichen Eltern waren. Ich selbst bin nicht vermögend, doch würde meiner Mutter wahrscheinlich durch Aufklärung des wirklichen Tatbestandes ein großes Vermögen zufallen, da in diesen Fall reiche Leute verwickelt sind. Ort der Handlung ist das Dorf Szarmizegethusa im Hunyader Komitat an der 56 ungarisch-siebenbürgischen Grenze. Vielleicht würde der Herr Dagobert mir einen Weg zeigen können, auf dem es mir gelänge, die Wahrheit festzustellen. Im voraus für Ihre gütige Auskunft dankend, zeichnet ergebenst Friedrich Rodewald in Rothof am Rhein.‹«Der Brief ist authentisch; geändert wurden nur die Orts- und Personennamen. — D. V.
»Du lieber Gott, Dagobert! Und da wollten Sie sich hineinmischen?! Nach beinahe sechzig Jahren! Was sollte da noch herauskommen?«
Auch der Hausherr war der Meinung, daß das von vornherein eine recht aussichtslose Geschichte gewesen sei.
»Ich selbst hatte wenig Hoffnung,« gab Dagobert zu. »Nach so langer Zeit! Wenn es da wirklich Übeltäter gegeben haben mag, so waren sie sicher schon längst verdorben und gestorben. Auch das war auf den ersten Blick klar, daß der Briefschreiber sich Illusionen hingab, wenn er meinte, daß für ihn oder für seine Mutter da noch ein Vermögen zu retten sei. Wenn es überhaupt jemals Beweisstücke gab, so waren sie gewiß längst vernichtet oder vermodert. Und selbst wenn sie noch vorhanden waren – wie sollten sie jetzt noch aufzufinden sein? Und selbst das Unwahrscheinliche angenommen, sie würden gefunden – was könnte das helfen? Es war ja doch alles längst verjährt! Ich hatte wirklich nicht die mindeste Lust, mich mit dieser Sache zu bemengen, und doch – so oft ich daran ging, meine Sommerpläne zu schmieden, gaukelte vor meinem Geiste immer ein unklares Bild von dem Dorfe Rothof am Rhein. Ich wurde das Bild schließlich überhaupt nicht mehr los, und daran sind eigentlich Sie schuld, meine Gnädigste.«
57 »Nun soll ich wieder an allem möglichen schuld sein! So machen Sie's immer, Dagobert; Sie wollen immer mir alles in die Schuhe schieben!«
»Und doch ist es so. Rothof liegt da irgendwo bei Düsseldorf herum, und von Düsseldorf nach Scheveningen ist es nur ein Katzensprung.«
»Ein großer!«
»Ich traue mir auch große Katzensprünge zu. Von Scheveningen her lockte Ihr Bild, Frau Violet. Da konnte ich Sie leicht überfallen. Das war doch ein wunderhübscher Sommerplan, nicht wahr?«
»Sehr hübsch, nur haben Sie ihn leider nicht ausgeführt.«
»Erst das Geschäft, meine Gnädigste!«
»Wie Ihre Geschäfte schon sind!«
»Nicht so despektierlich, wenn ich bitten darf! Und nun gar in Gegenwart des Herrn Gemahls, der mich in vielen Stücken der Teilhaberschaft würdigt. Er muß ja alles Vertrauen verlieren. Tatsächlich glaube ich gar kein schlechtes Geschäft gemacht zu haben.«
»Ich weiß nur, daß Sie bei Ihren Geschäften immer daraufzahlen.«
»Ich fahre also nach Düsseldorf und mache von dort einen Abstecher nach Rothof, um mir meinen Mann anzusehen.«
»Nun?«
»Ich war in mehrfacher Hinsicht überrascht. Die Schönheiten eines Dorfes am Rhein brauche ich Ihnen wohl nicht zu schildern.«
»Nein, Dagobert; keine landschaftlichen Schilderungen!«
»In einem hübschen, stockhohen Hause mit rotem Dache, die Vorder- und eine Seitenwand mit wildem 58 Wein bewachsen, fand ich im Erdgeschoß, das als Wertstatt eingerichtet war, Friedrich Rodewald bei der Arbeit. Ihm gegenüber am Tische saß seine Mutter – die Ähnlichkeit war unverkennbar – und arbeitete mit. Es war eine Uhrmacherwerkstatt.«
»Auf dem Dorfe? Die wird freilich nicht sehr einträglich sein!«
»Darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Ich stelle mich vor: Dagobert. Kurz, wie unser gemeinschaftlicher Freund mich einmal in die Welt eingeführt hat. Weitere Auseinandersetzungen hätten keinen Zweck gehabt. Der junge Mann springt auf – er mochte so etwa seine achtundzwanzig, höchstens dreißig Jahre haben – und ein Schimmer herzlicher Freude gab seinem Gesicht einen ungemein liebenswürdigen und gewinnenden Ausdruck. Gleichzeitig las ich aber auch etwas wie Verlegenheit in seinen Zügen. Ich fand mich sofort zurecht und erriet gleich: er hatte mir ohne Vorwissen seiner Mutter geschrieben. Ich half ihm hinaus, indem ich bemerkte, ich sei gekommen, um mit ihm geschäftlich zu verhandeln. Wie seine Mutter sich da erhob, mir mit bestrickender Liebenswürdigkeit und Anmut ihren Platz anbot und sich dann taktvoll entfernte, um uns allein zu lassen, da war sie die vollendete Dame.
Sowohl ihr Gesicht wie seines – eigentlich war es das gleiche – hatten gleich im ersten Augenblick meine Gedanken beschäftigt, ohne freilich, daß ich mir über den Grund hätte Rechenschaft geben können. Es war irgendeine dunkle Erinnerung, die sich anmeldete, und die doch nicht über die Schwelle des Bewußtseins dringen konnte. Sie hatte allerdings einen silbern schimmernden Scheitel, während die jugendliche Fülle 59 seines schlichten Haupthaares braun war, etwas dunkler als der flaumige Christusbart. Eine Haarsträhne war besonders ungebärdig, und wenn er sprach – und er sprach immer lebhaft und mit voller liebenswürdiger Hingebung an die Sache – da fiel sie ihm immer wieder in die Stirn, und immer wieder warf er sie dann mit einer Kopfbewegung, die in ihrem Schwung etwas Freies und Künstlerisches hatte, zurück. Von diesen natürlichen Unterschieden aber abgesehen, war es doch das gleiche Gesicht mit den gleichen ungewöhnlichen und markanten Eigentümlichkeiten. Am meisten fiel die feingezeichnete, aber sehr energisch betonte Hakennase auf mit den seltsam geschwungenen Nüstern. Das erinnerte unwillkürlich – der Vergleich mag ja nicht sehr schmeichelhaft sein – an edle Pferde, an reinrassiges Vollblut. Weiter hätten in einem Passe oder in einem Steckbriefe unter den besonderen Kennzeichen angeführt werden müssen die eigentümlichen unregelmässigen Brauen. Bei beiden strebte das linke Ende kühn in die Höhe, während das rechte sich melancholisch ein wenig senkte. Dazu bei beiden die gleichen braunen Augen mit dem herzlichen Ausdruck. Es war ein Gesicht und ein ungewöhnliches, das sich dem Gedächtnis einprägen mußte, und beide hatten auffallend hohe Gestalten.
Als wir nun allein waren, fragte ich meinen Mann sofort aus und während ich ihn sprechen ließ, sah ich ihn mir recht genau an. Ich wollte doch nicht umsonst meinen freiwilligen Dienst auf der anthropometrischen Abteilung unseres Erkennungsamtes geleistet haben. Ich studierte die Form seiner Ohren, die Zeichnung seiner Augen und Lippen und gab mir Mühe, mir keine Einzelheit entgehen zu lassen, die später 60 unter Umständen vielleicht von Bedeutung hätte werden können. Es war leider herzlich wenig, was er mir mitteilen konnte. Ich sah bald ein, daß hier der Wunsch der Vater des Gedankens war. Das große Vermögen, das da irgendwo in der Luft hing, hatte es ihm angetan. An jene dürftigen Anhaltspunkte aber, die er zu bieten vermochte, jetzt noch anzuknüpfen, das schien allerdings völlig aussichtslos. Ich war auch sehr bald im klaren darüber, daß ich da die Finger davon lassen würde. Nur wollte ich ihn nicht gleich ganz entmutigen und sagte, daß es doch wohl rätlich sein würde, auch seine Mutter zu Rate zu ziehen. Das sei doch eine um eine Generation nähere Quelle, und es sei nicht unmöglich, daß sie verläßlichere Angaben zu machen vermöchte.
Während wir so sprachen, fuhr im lichten Sonnenschein draußen ein leichter, von einem livrierten Kutscher gelenkter Phaethon am Fenster vorbei. Im Wagen saß eine entzückende junge Dame in Sommertoilette. Sie bog sich weit vor und grüßte freundlich zum Fenster herein. Rodewald hatte das eine Fünftelsekunde zu spät bemerkt. Er sprang hastig auf und machte, so gut er noch konnte, mit großer Beflissenheit seine Reverenz. Auch ich erhob mich, um mit zu grüßen. Dabei beobachtete ich doch sein Gesicht. Es war förmlich vom Glück verklärt. Seine Erregung war unverkennbar. Erst errötete er wie ein junges Mädchen, und gleich darauf wich die Röte einer leichten Blässe.
Ach so! Die Sache war klar. Der junge Mann war verliebt und, wie ich die Verhältnisse überblickte – hier die einfache Werkstätte und dort die Equipage, der livrierte Kutscher, das Wunderwerk der Toilette – allem Anschein nach nicht besonders verheißungsvoll verliebt, wenigstens was seine Aussichten betraf. Denn 61 sonst natürlich ist bei allen sattsam bekannten ungeheuren Schmerzen des Verliebtseins doch immer auch ein Glück dabei, und ein großes! Nun leuchtete mir auch noch mehr als früher schon seine besondere Sehnsucht nach einem großen Vermögen ein, das ihm so vom Himmel herunter in den Schoß fallen sollte.
Er ward zerstreut, und ich merkte bald, daß etwas Vernünftiges mit ihm doch nicht mehr zu verhandeln sei, und war schließlich selbst froh, als er unter tausend Entschuldigungen sich erhob, da er unbedingt nach seinen Arbeitern sehen müßte, sonst gäbe es dann hinterher wieder allerlei weitläufige Schererei. In höchstens einer halben Stunde sei er ganz bestimmt wieder zurück. Inzwischen würde mir seine Mutter die gewünschten näheren Aufklärungen bieten. Ich hätte vollkommen recht, daß sie eher berufen und befähigt sei, sie mir zu geben.
Ich nahm ihm diese Wendung nicht übel, wie ich denn überhaupt grundsätzlich Verliebten nicht leicht etwas übelnehme. Freilich, darüber war ich keinen Augenblick im Zweifel, daß das mit den Arbeitern eine Ausrede war. Ein Dorfuhrmacher hat nicht nur so seine Arbeiter sitzen. Und wo sollten sie denn sein, wenn sie nicht in der Werkstatt waren? Er wird irgendeinen Weg wissen, auf dem er die Kalesche noch einmal zu Gesicht kriegen wird. Das war die wichtige geschäftliche Abhaltung!
Mir war es aber sehr recht, mit seiner Mutter sprechen zu können, doppelt recht, daß es in seiner Abwesenheit geschehen konnte. Er stürmte also davon, und ich hörte noch, wie er in einem Nebengemach rasch auf seine Mutter einsprach, wahrscheinlich, um ihr die nötige Verständigung zukommen zu lassen, und 62 gleich darauf sah ich ihn bei dem Fenster vorbeischießen.
Wenige Minuten später erschien Frau Rodewald. Sie hatte eine blühweiße Schürze umgebunden und bot mir ein zweites Frühstück an, das ich mir ganz vortrefflich munden ließ. Der Ausflug hatte mich doch schon recht hungrig gemacht. Auch der Flasche Rheinwein, aus der sie mir mit gewinnender Zuvorkommenheit fleißig in den grüngoldigen Römer einschenkte, tat ich alle Ehre an.
Frau Rodewald offenbarte sich mir als eine feine und verständige Dame, mit der ich mich sehr gut unterhielt. Wir verhandelten im wesentlichen folgendes: Zunächst gab sie mit einem anmutigen Lächeln der Befürchtung Ausdruck, daß ich die weite Reise wohl umsonst gemacht haben würde.
Jedenfalls werde ich sie nicht bereuen, entgegnete ich. Ich habe den Rhein gesehen und liebenswürdige Menschen kennen gelernt.«
»Der echte Dagobert, immer liebenswürdig und galant gegen die Frauen!« warf hier der Hausherr ein. Die Hausfrau verwies aber dem gestrengen Gatten sofort das Dreinreden, und Dagobert fuhr fort: »Frau Rodewald eröffnete mir, daß ihr Sohn sie jetzt erst von seiner brieflichen Anfrage verständigt habe. Hätte er das früher getan, so hätte sie ihm natürlich abgeraten. Sie wisse über ihre Geburt selbst sehr wenig, und was sie wisse, reiche keineswegs aus, um darauf irgendwelche Ansprüche zu gründen. Sie langte von einem kleinen Büchergestell ein Gesangbuch herunter und holte daraus ein ganz vergilbtes Blatt heraus, dessen Text nur noch mit Mühe zu entziffern war. Es war ihr Taufschein, den sie mir vorlegte. Ein 63 sonderbares Dokument: Milena Dimitrescu, geboren am 2. Juli 1849 zu Szarmizegethusa, am 4. Juli desselben Jahres nach griechisch-katholischem Ritus getauft durch den Popen Erakliu. Vater Juon Dimitrescu, Mutter Olympia, geb. Aureliano.
›Sonderbar!‹ rief ich. ›Sie sind eine geborene Milena Dimitrescu und griechisch-katholisch! Wer hätte das gedacht!‹
›Das erstere bin ich wahrscheinlich nicht, das letztere bestimmt nicht, wenigstens nicht mehr. Als ich volljährig wurde, trat ich zum evangelischen Glauben über, nachdem meine Pflegeeltern mich schon in meiner Kindheit hatten protestantisch erziehen lassen. Nach ihrem Wunsche sollte aber der formelle Übertritt erst mit meinem eigenberechtigten Willen, also nach erreichter Großjährigkeit erfolgen.‹
›So kriegt ja die Sache erst ein bißchen Sinn, Frau Rodewald. Dimitrescu und griechisch-katholisch! Ich hätte Sie eher, wenn schon nicht für eine protestantische Pastorstochter, so doch für eine Pastorswitwe gehalten.‹
›Sie haben einen guten Blick, Herr Dagobert. Ich bin eine Pastorswitwe.‹
›Der gute Blick, Frau Rodewald, ist mein Geschäft. Reden wir aber jetzt von Ihren Pflegeeltern. Wer und was waren sie, und wie kamen Sie zu ihnen?‹
›Mein Pflegevater Ottokar Gerschlager war Königlicher Garteninspektor in Potsdam.‹
›Schön. Er lebt wohl nicht mehr?‹
›Er ist seit fast dreißig Jahren schon tot.‹
›Und die Pflegemutter?‹
›Sie war schon schwer krank, als er starb, und folgte ihm nur wenige Tage später ins Grab.‹
64 ›Und wie hatte sich das gemacht, daß sie Sie an Kindes Statt annahmen?‹
›Mein Vater – ich meine, Herr Gerschlager, der mir immer ein echter und rechter Vater gewesen ist, war schon vor der Revolution des Jahres 1848 als Obergärtner in den Dienst eines ungarischen Aristokraten getreten.‹
›Wie hieß dieser Aristokrat?‹
›Das weiß ich nicht. Der Name wurde mir niemals mitgeteilt. Meine Eltern – ich meine natürlich meine Pflegeeltern – waren offenbar übereingekommen, in meiner Gegenwart niemals von den Dingen zu sprechen, die Bezug hatten auf meine früheste Kindheit. Nach ihrem Wunsch hätte ich niemals erfahren sollen, daß ich nicht ihr wirkliches und rechtmäßiges Kind sei. Erst als ich etwa zwanzig Jahre alt war, erhielt ich einige, allerdings sehr dürftige Aufklärungen. Gerschlager war schon verheiratet, als er jene Stelle bei dem Magnaten antrat, und er hatte seine Frau mitgenommen. Die junge Frau litt aber schwer in der dortigen völligen Vereinsamung. Es war, abgesehen von dem Park, den mein Vater zu besorgen hatte, die reine Wildnis. Meine Mutter hatte Heimweh, und sie war förmlich krank an der Sehnsucht nach ihren Thüringer Bergen. Ihre tiefste Sehnsucht war aber die nach einem Kinde. Der Kindersegen war dem jungen Paare versagt geblieben. Die kriegerischen Ereignisse mögen dann zum Zusammenbruch des gräflichen Hauses geführt haben. Der Haushalt wurde aufgelöst. Meine Eltern zogen wieder nach Deutschland. Nun erst waren sie meine Eltern geworden. Als sie nämlich fortzogen, nahmen sie mich mit an Kindes Statt. Das ungefähr ist alles, was ich mitteilen kann.‹
65 ›Wie kamen Sie zur Kenntnis dieser in der Tat etwas verschwommenen Tatsachen?‹
›Ja, das wollte ich gerade noch sagen. Als ich zwanzig Jahre alt war, warb ein junger Kandidat der Theologie, Doktor Friedrich August Rodewald, um meine Hand. Ich liebte ihn und gab ihm mein Jawort. Meine Eltern waren sehr glücklich über das Ereignis, und es ging nun an die Ausrüstung meiner Ausstattung. In unseren kleinen Verhältnissen ging das auch recht langsam. Zeit hatten wir übrigens. Heiraten konnte Rodewald erst, wann er eine sichere Stellung bekam, und damit hatte es seine guten Wege. Mein Brautstand dauerte zehn Jahre. Einmal, als ich so mit Mutter beim Nähen saß, da kam es über sie, daß sie reden mußte von dem, wovon sie nicht reden sollte und durfte, und sie erzählte, was ich Ihnen eben mitgeteilt habe. Es hatte ihr fast das Herz abgedrückt, daß wir uns da so kümmerlich abmühten und warten und wieder warten mußten, wo doch, wenn es eine Gerechtigkeit in der Welt gäbe, mir ein großes Vermögen zufallen müßte. An den Juon Dimitrescu, der auf meinem Dokument als mein Vater angegeben sei, glaube sie einfach nicht und nun noch viel weniger als zu der Zeit, da ich noch ein ganz kleines Kind war. Sie war mit ihren Eröffnungen noch gar nicht weit gekommen, als zufällig Vater sich zu uns gesellte. Er bemerkte sofort an der Verwirrung seiner Frau, daß da etwas nicht in Ordnung sei. Er brachte heraus, wovon wir eben gesprochen hatten, und da gab es eine sehr heftige Szene. Es war der erste und überhaupt einzige stürmische Auftritt, den ich in dieser guten und überaus friedevollen Ehe erlebt hatte. Vater tobte förmlich. Er habe sich einen heiligen Eid 66 geschworen, daß ich von all den dunklen und doch nie aufzuklärenden Geschichten aus der Vergangenheit nie ein Sterbenswörtchen erfahren solle, und es sei nicht nur eine hirnverbrannte Albernheit, sondern geradezu eine empörende Gewissenlosigkeit, mir mit einem dummen und unnützen Geschwätz einen Stachel ins Herz zu bohren und mir die Ruhe vielleicht für immer zu rauben. Ich sei einmal ihr Kind; das sei mein Schicksal, und damit hätten wir uns alle ein für allemal abzufinden. All die törichten Phantasien könnten gar keinen andern Zweck haben, als ihnen ihr einziges Kind zu entfremden. Es sei von Mutter das größte Unrecht, das sie im Leben begangen, daß sie überhaupt begonnen habe, mir mit diesen alten Geschichten zu kommen. Wenn Mutter noch einmal davon anfinge, würde er aus dem Hause gehen und nie mehr wiederkommen.
Natürlich wurde davon nun nie wieder gesprochen. Vater hatte aber doch die Wirkung der Mitteilungen auf mich stark überschätzt. Sie hatten mich nicht aufgeregt und mich nicht beunruhigt. Ich hatte es nie anders gewußt, als daß ich ihr Kind sei, und hatte natürlich nie etwas anderes gewünscht und wünschte es auch nun nicht.‹
›Sie haben aber, Frau Rodewald, später doch versucht, Licht in das Dunkel zu bringen?‹
›Ja, Herr Dagobert, ich habe in dieser Sache zwei große Fehler begangen. Ich wurde endlich doch die Frau Pastorin, und als dann Fritz auf die Welt kam, war ich so stolz und glücklich, Sie haben ihn ja gesehen und werden es mir zugute halten, daß ich es heute noch bin, daß ich damals schon im Wochenbett mir vornahm, ihm so viel Glück zu verschaffen, als 67 ich nur immer vermöchte. In die Vorstellung von Glück mengt sich ja immer auch die von Glanz und Reichtum. Wie ich nun so dalag, das Herz voll Glück und Liebe, da erinnerte ich mich des Seufzers meiner armen Mutter: Wenn es in der Welt eine Gerechtigkeit gäbe! Ich begann auch, von einem großen, irgendwo in der Luft hängenden Vermögen zu träumen, und faßte einen Entschluß, dessen Ausführung viel Beharrlichkeit erforderte. Ich wollte mir täglich von meinem kärglichen Wirtschaftsgelde zehn Pfennig abknappen, um dann, wenn ich die entsprechende Summe beisammen hätte, mich auf die Suche nach meinen wirklichen Eltern zu machen. Sie werden vielleicht über diese Zehnpfennigmethode lächeln, Herr Dagobert, der Sie aus der großen Welt kommen und anscheinend selbst ein Weltmann sind, aber in unsern sehr kleinen Verhältnissen wäre es anders überhaupt nicht gegangen, und auch so ging es nur sehr schwer. Als Anhalts- und Ausgangspunkt diente mir mein Taufschein. Über meinen Geburtsort Szarmizegethusa konnte ich die längste Zeit gar nichts erfahren. In keinem Geographiebuch, in keinem Lexikon, in keinem Kursbuch und auf keiner Karte war der Name zu finden. Niemand wußte etwas. Ein junger Archäolog, der manchmal zu uns ins Haus kam, brachte endlich einige Aufklärung. So ein richtiger deutscher Gelehrter weiß doch immer alles, was halbwegs in sein Gebiet schlägt. Also in Szarmizegethusa findet sich außer zahlreichen, in vollster Verwahrlosung zerstreut herumliegenden Spuren römischer baulicher und bildnerischer Kultur auch eine kleine altgotische oder altromanische, so genau weiß ich's nicht mehr, Krypta mit Spuren alter Wandmalerei, und über dieses Stück Altertum wurde später fast wie ein 68 Futteral eine ärmliche Dorfkapelle gebaut. Mehr als diese archäologischen Angaben interessierte es mich, zu erfahren, daß der Ort ganz im Süden an der Westgrenze Siebenbürgens zu suchen sei. Es sei ein winziges walachisches Dorf und liege ganz abseits von allen größeren Verkehrswegen.
Als ich mein Reisegeld beisammen hatte, ich hatte mir ausgerechnet, daß ich es mit einhundertzwanzig Mark wagen könnte, machte ich mich auf, meine Eltern zu suchen, den ehrenwerten Herrn Juon Dimitrescu und seine Gattin Olympia. geborene Aureliano. Ich war darauf gefaßt, sie im Orte selbst nicht zu finden, aber dort in der Nähe herum würde wohl das Schloß liegen, das sie bewohnen. Wenn sie nur nach am Leben sind!‹
›Haben Sie sie gefunden, Frau Rodewald?‹
›Ja. Lassen Sie es mich kurz machen, Herr Dagobert; die Erinnerung ist mir peinlich. Ich war in ein gottverlassenes, wüstes Dorf geraten. Elende, verfallene Lehmhütten, nirgends eine Spur von geregelter Arbeit; überall starrte mir Schmutz und Verkommenheit entgegen. Ich ging auf das einzige, stattliche und reinliche Haus im Orte zu, um Erkundigungen einzuholen. Da wenigstens hatte ich Glück. Der es bewohnte, war ein Deutscher, der herrschaftliche Rentmeister, so etwas wie Gutsverwalter. Ich erkundigte mich, ob er mir vielleicht Auskunft geben könnte über einen Herrn Juon Dimitrescu. Er sah mich erstaunt an und lächelte sonderbar über meine Frage. Er bejahte sie aber und sagte, er wolle mich gleich zu dem Gesuchten führen. ›Sie sind aber zu einer ungünstigen Zeit gekommen, Frau Pastor,‹ fügte er hinzu. ›Ich weiß nicht, ob er zu sprechen sein wird, es ist jetzt die 69 Zwetschkenzeit!‹ Ich verstand das nicht gleich, sollte es aber bald genug verstehen lernen. Wir waren nur wenige Minuten gegangen, als der Rentmeister stehen blieb. Er wies auf die schmutzige Hütte, vor der wir standen, und sagte: ›Das hier ist das Palais des ›Herrn‹ Juon Dimitrescu! Und hier liegt der gnädige Herr selbst.‹
Ich folgte mit dem Blicke seiner Gebärde und sah einen völlig zerlumpten Menschen vor der Schwelle auf der Erde in viehischer Trunkenheit liegen. Jetzt erklärte mir der Rentmeister auch die ›ungünstige Zeit‹. ›Wenn die Zwetschken reif werden, dann brennen sich hierzulande die Leute gleich selber ihren Branntwein. Dann ist einfach die ganze Gegend dauernd besoffen. Die Männer schlagen sich gegenseitig oder ihre Weiber und Kinder ganz oder halb tot, und unsere Komitatsphysici haben während dieser Wochen zehnmal so viel zu tun als sonst im ganzen Jahre. Ich glaube auch, daß der Versuch nutzlos wäre, ›Herrn‹ Juon aufzuwecken. Reden würden Sie mit ihm doch nichts können, ganz abgesehen von seinem Zustande, der allein schon das unmöglich erscheinen läßt.‹
Da stand ich nun. Ich war ja nicht unvorbereitet gekommen. Ich hatte mir vorgenommen, vorsichtig zu sein und auf mich selbst zu achten, an mir selbst zu erproben, was es auf sich habe mit der sogenannten ›Stimme der Natur‹. Ich glaubte an sie und glaube noch. Hier empfand ich nur Abscheu und darüber hinaus völlige Gleichgültigkeit. Ich sah genau in diese gemeinen, verwüsteten Züge, und es regte sich nichts in mir. Ich ging gleichmütig davon: das war nicht mein Vater. Ich gestehe unumwunden, ich wäre auch wortlos gegangen, selbst wenn die Stimme der Natur 70 in mir gesprochen hätte. Ich dachte an meinen Mann, an meinen Sohn, an unser gesittetes, anständiges Heim – was hätte das geben sollen! Ich wäre, ohne ein Wort zu sagen, gegangen, aber unglücklich wäre ich gewesen. Darüber sind nun fünfundzwanzig Jahre vergangen, und ich habe die ganze Sache verwunden. Es war ein Fehler, daß ich jenen Versuch gemacht hatte. Ich habe ihn bitter bereut.‹
›Das war kein Fehler, Frau Rodewald, über den Sie sich Vorwürfe machen müßten. Übrigens sprachen Sie vorhin von – zwei Fehlern.‹
›Richtig, eigentlich die Hauptsache! Wenigstens soweit es auch Sie betrifft, Herr Dagobert. Es ist rein, als wenn sich auch die Geschehnisse vererben müßten. Ich habe unter ganz ähnlichen Umständen den gleichen Fehler begangen, den meine gute Mutter gemacht und über den dann Vater so schrecklich böse geworden ist. Mein Sohn gestand mir eines Tages, daß er sein Herz verloren habe und namenlos glücklich sei. Er war so zuversichtlich, und ich war ganz und gar mutlos. Denken Sie nur, Herr Dagobert – er ein armer Uhrmacher und sie – ach, ich darf gar nicht davon sprechen!‹
›Und sie – eine reizende und reiche junge Dame, die mit livrierten Bedienten ausfährt. Sie sehen, Frau Rodewald, Sie können ganz ruhig reden, denn die Hauptsache weiß ich ja doch schon.‹
›Mein Sohn scheint also doch recht gehabt zu haben,‹ fuhr Frau Rodewald fort, ›als er mir, eben als er forteilte, noch rasch mitteilte, ich sollte Ihnen nur alles sagen; Sie seien ein Hexenmeister, der alles, auch das Verborgenste, herausbrächte, wenn er nur wollte.‹
71 ›Ich fürchte sehr, daß ich diese gute Meinung nicht werde rechtfertigen können. Und der Fehler?‹
›Wie ich ihn so glücklich sah und dabei doch selbst so verzagt war, da entschlüpfte auch mir jener Seufzer: Wenn es eine Gerechtigkeit auf der Welt gäbe! Er fragte und drängte, und da erzählte ich, was Mutter mir erzählt hatte, und das ging ihm immer im Kopf herum, und endlich setzte er sich hin und schrieb Ihnen, Herr Dagobert. Er scheint ein unbegrenztes Vertrauen in Sie zu setzen.‹
So schmeichelhaft nun auch dieses Vertrauen gewesen sein mag und so gern ich es gerechtfertigt hätte, so sah ich doch gleich, daß da nichts zu machen sein würde. Die Leute waren mir aber in hohem Grade sympathisch geworden, und ich hätte ihnen, da ich schon da war, gern einen Dienst erwiesen. Vielleicht war es doch in anderer Richtung möglich. Ich erkundigte mich also nach den geschäftlichen Verhältnissen des jungen Mannes und wie es eigentlich mit seiner Uhrmacherei stehe.
›Fritz ist kein gewöhnlicher Uhrmacher,‹ erwiderte Frau Rodewald mit einem Anflug mütterlichen Stolzes. ›Er ist ein Künstler in seinem Fach. Er hat in der Schweiz und in Paris gearbeitet und gelernt, und ich kann sagen, viel gelernt.‹
›Das glaube ich, nur daß er überhaupt gerade Uhrmacher geworden ist, wundert mich. Wie kamen Sie darauf?‹
›Natürlich war es der Wunsch meines verstorbenen Mannes, daß auch unser Fritz studierte, Theologie wäre meinem Mann am liebsten gewesen. Aber Fritz war nun einmal nicht dazu geschaffen. Er hatte mehr Sinn für das Technische und Physikalische. Schon als 72 Kind spielte er immer nur mit kleinen Lokomotiven und Elektrisiermaschinen, setzte sich selbst Uhren zusammen und machte allerlei Experimente. Gerade als Fritz die Mittelschule verlassen sollte, starb mein armer Mann. Ich konnte nun den Jungen auch nicht, wie ich schließlich selbst gewünscht hätte, auf das Polytechnikum schicken und tat ihn, da er selbst darum bat, zu einem Uhrmacher in Köln in die Lehre. Dort hat er ausgelernt, und dann zog er, um sich in seinem Fache zu vervollkommnen, nach der Schweiz.‹
›Wenn er nun aber ein so tüchtiger Uhrmacher ist, wie konnte er da nur auf die merkwürdig unpraktische Idee verfallen, sich in einem – Dorfe ansässig zu machen?‹
›Das hat seinen besonderen Grund, Herr Dagobert. Er ist deshalb doch kein gewöhnlicher Dorfuhrmacher. Die eigentliche Ursache ist die bewußte junge Dame mit der Equipage. Es gibt hier im Ort ein großes, ein sehr großes Stahlwerk, dessen Besitzer Herr Roderich Bittermann ist. Er ist verwitwet und hat nur ein einziges Kind – jene junge Dame. Fritz hat sie auf dem Dampfer bei einer Fahrt über den Bodensee kennen gelernt. Später traf er sie in Zürich und nach zwei Jahren in Paris wieder. Dort hatten beide eine solche Freude über das Wiedersehen, daß sie sich einander versprachen. Alba gelobte, auf ihn warten zu wollen, widerriet aber mit aller Bestimmtheit, ihrem Vater jetzt schon etwas zu verraten. Fritz müsse erst etwas werden, sonst sei auf die Einwilligung ihres Vaters, der große Pläne mit ihr vorhabe, ganz bestimmt nicht zu rechnen.‹
›Und da kam Ihr Sohn – Sie verzeihen schon, in dieses Nest, um etwas zu werden?‹
73 ›Das ist nicht so ungereimt, wie es sich auf den ersten Anblick ansieht. Zunächst zog es ihn natürlich in ihre Nähe. Dann gab es aber auch praktische Gründe für eine Niederlassung gerade hier. Die Bevölkerung gefiel meinem Sohne.‹
›Mein Gott, eine Dorfbevölkerung? Und wenn sie noch so gut und intelligent ist, fett kann da ein Uhrmacher nicht werden!‹
›Das ist auch nicht sein Ziel, Herr Dagobert, aber etwas werden und etwas erreichen kann er auch hier, hat er auch schon bis zu einem gewissen Grade. Wir sind seit zwei Jahren hier, und er hat schon ganz Erhebliches geleistet.‹
›Ja, wieso denn, um Gottes willen?!‹
›Er hat ein ganz eigenes, sehr einfaches und sehr verläßliches Modell einer Taschenuhr erfunden und sich patentieren lassen. Die Uhr ist billig und gut.‹
›Schön, aber dann muß er mit ihr in die Großstadt hinaus.‹
›Nein, Herr Dagobert. Die Uhr muß fabrikmäßig und doch wieder nicht fabrikmäßig erzeugt werden. Er will aus Rothof ein Uhrmacherdorf machen und hat es zum Teil schon gemacht. Die Leute hier sind intelligent und anstellig. Die Beschäftigung ist ihnen sehr willkommen. Während die Männer im Stahlwerk arbeiten, können die Frauen und Mädchen auch etwas verdienen. Es wird ihnen nichts Grausames zugemutet, Herr Dagobert – zwei, drei Stunden im Tag.‹
›Das ist ja sehr interessant, und sagen Sie, Frau Rodewald, geht denn das Geschäft aber auch?‹
74 ›Es geht, so gut es kann. Wir haben im letzten Jahre tausend Uhren herausgebracht, und wir könnten doppelt soviel verkaufen, wenn wir sie nur liefern könnten.‹
›Was kostet so eine Uhr?‹
›Wir verkaufen sie zu dreißig Mark das Stück. Die Händler verlangen fünfzig Mark. Vielleicht ist Ihnen schon einmal eine untergekommen. Unsere Wortmarke ist ›Helios‹.‹
›Nein, ich habe noch keine gesehen. Liefern Sie auch nach Wien?‹
›Ja, Herr Dagobert.‹
›Das ist gut. Dort werde ich schon gehörig Reklame machen. Alle meine Freunde müssen 'ran; verlassen Sie sich darauf! Jetzt noch eins, Frau Rodewald: Sie sagten, Sie könnten auch das Doppelte verkaufen. Warum erzeugen Sie nicht das Doppelte?‹
›Das ist ja unsere Sorge, Herr Dagobert! Wir können nicht. Um mehr zu erzeugen, müßte Fritz sich noch besondere Maschinen anschaffen.‹
›Ich verstehe. Die kosten Geld. Wieviel?‹
›Sehr viel, Herr Dagobert – achttausend Mark!‹
›Und mit diesen Maschinen könnten Sie dann zweitausend Uhren im Jahre herausbringen und verkaufen?‹
›Leicht. Es werden jetzt schon mehr als soviel verlangt; wir können nur nicht nach.‹
Ich nahm mein Taschenbuch heraus und schrieb einen Scheck auf achttausend Mark. Frau Violet, Sie werden dieses vielsagende und für mich direkt beleidigende Lächeln sofort wieder zurücknehmen! Sie kennen 75 mich gut genug, um wissen zu können, daß ich keinen Hang zu unfreiwillig komischen Rollen habe. Ich hatte durchaus nicht die Absicht, als Wohltäter der Menschheit zu glänzen. Die Leute flößten mir Vertrauen ein, nicht minder das Geschäft. Mir schwebte da eine gute Kapitalsanlage vor Augen. Ich wollte mit dem gezeichneten Betrage Teilhaber des Geschäftes werden und hoffte, einen ganz guten Profit machen zu können.
Frau Rodewald war mit meinem Vorschlage sehr einverstanden, nicht so ganz ohne weiteres aber auch ihr Sohn, der sich, nachdem er seine ›Arbeiter‹ glücklich erledigt hatte, nun zu uns gesellte. Er setzte mir das auseinander.
Durch meine Einlage würde der Umfang des Geschäftes allerdings erweitert, sogar verdoppelt werden. Er aber würde davon keinen wesentlichen Vorteil haben, da er doch dann die Hälfte des Erträgnisses abgeben müßte. Er stände dann eigentlich genau dort, wo er jetzt steht. Ich müßte also entweder meinen Beitrag ganz bedeutend erhöhen, was er mir natürlich nicht zumuten könne, oder ich sollte, wenn ich schon Interesse für die Unternehmung hätte, mich damit begnügen, die Summe als Darlehen zu geben. Das wäre dann allerdings eine Hilfe wie ein Geschenk des Himmels. Denn er selbst sei in keiner Weise in der Lage, sich einen solchen Betrag anderweitig zu verschaffen. Der Nutzen für ihn liege auf der Hand. Er arbeite mit einem Gewinn von durchschnittlich 20 v. H. Wenn er nun für das Darlehen fünf oder sechs v. H. zu bezahlen hätte, so könnte er nicht nur pünktlich die Zinsen erstatten, sondern auch in wenigen Jahren überhaupt die ganze Schuld tilgen, und dann erst sei er ein gemachter Mann.
76 Das leuchtete mir ein. Mehr dran zu wagen hatte ich doch nicht die Courage, und so blieb es denn beim Darlehen. Ich war von dieser Lösung sehr befriedigt. Wenigstens hatte ich doch etwas tun können, und meine Expedition war nicht ganz erfolglos geblieben. Es war immerhin etwas, wenn auch die Hauptsache, die mich hingeführt hatte, unerledigt bleiben mußte. Die hatte ich mir natürlich schon aus dem Kopfe geschlagen. Irgendwie mag ja der alten Frau wirklich Unrecht geschehen sein, aber nun, nach fast sechzig Jahren, war – noch dazu bei den ganz unbestimmten Angaben – ganz sicher nichts mehr zu machen. Es wäre töricht gewesen, in den Leuten unnütze Hoffnungen nähren und erhalten zu wollen. Ich riet, die Vergangenheit zu vergessen und zu vergraben und mit ihr endgültig fertig zu werden. Einen dicken Strich darunter und nur noch auf die Zukunft hoffen!
Damit reiste ich ab.« –
* * *
»Der Mensch denkt –! Vierundzwanzig Stunden später war ich wieder in Rothof, glühend vor Tatendrang. Ganz veränderte Szenerie! Die Vergangenheit sollte nicht begraben sein – ich hatte meine Fährte gefunden!«
»Nicht möglich, Dagobert!« rief Frau Violet gespannt. »Oder eigentlich doch nicht so unwahrscheinlich für den, der unsern großen Detektiv kennt!«
»Es gibt nur einen wirklich großen Detektiv, Gnädigste, und das ist der Zufall. Ich hatte das 77 Glück, daß er mir zu Hilfe kam. Ohne ihn wäre ich der Stümper geblieben.«
»Erzählen Sie!«
»Ich war also von Rothof nach Düsseldorf zurückgefahren. Dort hatte ich noch ein Geschäft zu besorgen. Sie wissen, daß ich eine Schwäche für den Landschafter Höfling habe. Ich habe bisher schon bei Kunsthändlern und auf Ausstellungen alles von ihm aufgekauft, dessen ich habhaft werden konnte, und meine kleine Galerie enthält schon sechs Bilder von ihm. Höfling wohnt in Düsseldorf, und ihn wollte ich aufsuchen. Ich falle also ein in sein Atelier und sehe auf der Staffelei eine Landschaft, an der er gerade arbeitete. Ich war entzückt und erklärte: Das Bild kaufe ich! Nach dem Geschäfte das Vergnügen. In Düsseldorf gab es gerade eine Lenbach-Gedächtnisausstellung. Die mußte ich auch sehen.«
»Aber, Dagobert, Sie vergessen ganz, daß Sie uns eine Detektivgeschichte erzählen wollten. Die Reisebeschreibung heben wir uns für ein andermal auf!«
»Ich ging hin. Lenbach, man mag sagen, was man will. Es ist in neuerer Zeit Mode, ihn ein wenig geringschätzig zu behandeln. Allerdings, sein brauner Galerieton, der Asphalt, gelegentliche flüchtige Zeichnung der Hände – man kann darüber streiten – aber er ist doch ein ganzer, ein großer Künstler! Wenn der ein Bildnis malt, dann schält er die ganze Individualität, die ganze Seele blank heraus.«
»Gott, ja doch, Dagobert! Sie sind wieder einmal von der Kunst nicht wegzubringen! Ich rufe Sie wiederholt und ernstlich zur Sache!«
»Ich bin mitten drin. Vor einem Porträt stehe 78 ich plötzlich wie angedonnert da. Ein ungarischer Aristokrat im Magnatenkostüm. Der Katalog gibt keine Aufklärung. Bildnis des Grafen A. Was mich so namenlos aufregte, war die seltsame Tatsache, daß ich diesen markanten Charakterkopf am Tage vorher in doppelter Auflage gesehen hatte. Eine alte Frau und ein blühender junger Mann hatten dieselben, unverkennbar dieselben Züge aufgewiesen. Dasselbe scharfgeschnittene Profil, dieselben geschwungenen Nasenflügel, dieselbe ungewöhnliche Zeichnung der Brauen. Ich eile ins Sekretariat, um mir nähere Aufklärungen zu verschaffen. Graf A. † 1877. Auf Ersuchen des Künstlervereins eingesandt von Gräfin Alexandra Adorian auf Schloß Paulis, Hunyader Komitat, Ungarn. Das war immerhin etwas. Das Jagdfieber regte sich in mir, und ich nahm das als gutes Zeichen. Wenn's mich einmal packt –! An der Kasse waren auch Photographien von einzelnen der ausgestellten Bilder zum Verkauf ausgelegt, glücklicherweise auch von dem Bilde, das mich nun so sehr beschäftigte. Leider nur Kabinettformat, aber doch besser als gar nichts. Dann lief ich in die nächste Buchhandlung und kaufte mir den Gothaschen Almanach, die gräflichen Geschlechter, um mich wenigstens notdürftig über das Haus Adorian zu informieren. Schließlich setzte ich mich auf und fuhr wieder nach Rothof hinaus. Ohne auch nur die geringste Andeutung über die gefundene Spur zu machen, erklärte ich der alten Frau nur, ich hätte mir die Sache überlegt und sei nun doch bereit, mich mit ihrer dunklen Familienangelegenheit zu beschäftigen und ihr, so gut ich könnte, nachzugehen. Beide, Mutter und Sohn, müßten aber sofort mit mir nach Düsseldorf fahren.
79 Das geschah. Zunächst führte ich sie zu einem Photographen. Format, Stellung und Beleuchtung bestimmte ich. Ich wollte Bilder haben, die in der ganzen Anordnung möglichst genau dem von mir geheim gehaltenen Original entsprechen sollten. Dann ging ich mit den beiden zu einem Notar und ließ mir von ihnen eine unbeschränkte Vollmacht zur Abschließung von Rechtsgeschäften, Verträgen, Vergleichen usw. in ihrem Namen erteilen. Ich machte sie vor dem Notar darauf aufmerksam, daß sie sich damit ganz in meine Hände gäben und daß ich sie nun ruhig um alles, was sie besäßen, bringen könnte. Frau Rodewald erschrak darüber ein wenig, aber ihr Sohn unterschrieb sofort und dann auch sie.
Am nächsten Tage lieferte mir der Photograph die Bilder, und ich fuhr nun in einem Zuge nach Wien. Sie sehen, Gnädigste, der schöne Plan mit Scheveningen war ins Wasser gefallen. Der Name Adorian war mir bekannt, er ist ja sozusagen ein historischer, aber ich mußte mir genaue Einzelheiten verschaffen. Ich ging auf die Hofbibliothek und habe dort in dreitägiger emsiger Arbeit alles zusammentragen können, was ich brauchte. Eine wichtige Notiz hatte ich ja mitgebracht: † 1877. Davon konnte ich ausgehen. Es galt nur, das Datum zu finden, und dann waren in den Zeitungen und Zeitschriften leicht die Bilder, Nekrologe und Biographien nachzuschlagen. Mein Gedächtnis half nach. Ich hatte die hochragende Gestalt des Grafen Georg Adorian in dem malerischen Magnatenkostüm einmal selbst gesehen. Es war auf einem Hofball, auf dem ihn beim Cercle sowohl der Kaiser als auch die Kaiserin besonders ausgezeichnet hatten, und zu dem auch ich als Husarenleutnant, der ich 80 damals war, Zutritt hatte. Schon damals fiel mir, wie ich mich nachträglich immer deutlicher und deutlicher erinnerte, seine ragende Gestalt auf, vornehmlich aber die charakteristischen Brauen und am allermeisten die geschwungenen Nasenflügel, die mich an die Nüstern eines englischen Vollblutpferdes erinnerten. Damit wollte ich mir nur selbst den Eindruck klarmachen, es war der einer hochstehenden und reinen Rasse.
Die Zeitungen boten mir viel mehr als die Geschichtsbücher über die Revolution, die ich natürlich auch zu Rate zog.«
»Haben Sie denn nun wirklich weitere Anhaltspunkte gefunden, Dagobert?« fragte Frau Violet.
»Wir kommen gleich darauf, Gnädigste. Ganz einfach war ja die Sache doch nicht. Ich hatte fleißig Notizen gemacht, die mir wichtig schienen, noch immer mußte ich aber zu sehr mit Kombinationen arbeiten, und das ist immer eine unsichere Geschichte. Man greift zu leicht daneben. Über die Hauptsache glaubte ich schon im klaren zu sein, aber nun mußte zur Feststellung einiger Tatsachen, vor allen Dingen der Möglichkeit, überhaupt noch etwas auszurichten, der Lokalaugenschein vorgenommen werden. Was alle Welt vom Grafen Georg Adorian weiß, das ist seine politische Tätigkeit, die er vom Jahre 1801 bis 1877 entfaltete. Er war einer der Paladine in dem großen Verfassungskampfe, in dem sich die Ungarn im Jahre 1867 den Ausgleich mit Österreich und damit den Dualismus und die politische Selbständigkeit erfochten. Er gehörte zu den führenden Männern, die sich um Franz Deák, den Weisen des Vaterlandes, und um den Grafen Julius Andrássy, den genialen 81 Staatsmann, geschart hatten. Diese vielleicht bedeutsamste Epoche seines Lebens ist für uns belanglos. Wichtiger für uns ist die Vorgeschichte. Ich muß nun bitten, Frau Violet, meinen Ausführungen eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.«
»Ich passe schon auf, Dagobert.«
»Ich muß Ihnen Tatsachen, Daten und Jahreszahlen vorbringen, die Sie auseinander halten müssen. Also Graf Georg Adorian wurde am 18. Mai 1818 geboren. Im Jahre 1839 trat er in ein österreichisches Dragonerregiment ein. Im April des Jahres 1848 vermählte er sich mit Geraldine, geborenen Gräfin Avarffy, geboren am 10. Februar 1827. Im Spätherbst desselben Jahres ging er wie Hunderte anderer Offiziere der österreichischen Armee zum Revolutionsheer über, im vollständigen Einvernehmen, wie wiederholt in den Quellen betont wird, mit seiner jungen Gemahlin, die als eine glühende Patriotin geschildert wird. Sie soll auch eine hervorragende Schönheit und die kurze Ehe geradezu ideal gewesen sein. Dieser Ehe entsproß eine Tochter Alexandra – zu Ehren Petöfis so getauft – geboren am 14. Juni 1849. Der Vater stand im Feld, als das Kind zur Welt kam, und die Mutter des Kindes sollte er nie wieder sehen. Sie starb an den Folgen der Entbindung am 5. August 1849 auf Schloß Paulis. Acht Tage später brach die große geschichtliche Katastrophe herein. Am 13. August erfolgte die Waffenstreckung des ungarischen Revolutionsheeres vor der russischen Übermacht bei Világos. Nun hielt der österreichische General Haynau das große Blutgericht. Es gab zahllose Hinrichtungen. Am 6. Oktober wurden in Arad dreizehn ungarische Generale aufgehängt. Adorian war nur 82 Oberst gewesen. Er wurde zu acht Jahren schweren Kerkers verurteilt. Er hat die Strafe vollständig abgebüßt in den Kasematten der Festung Neu-Arad, und er sah das Tageslicht nur, wenn er, mit schweren Ketten an den Füßen, zum Dienst als Straßenkehrer verwendet wurde.
Alle diese Daten und sonstige tausend Einzelheiten dazu hatte ich mir aus Zeitungen und Büchern zusammengetragen, und so ausgerüstet reiste ich nach Szarmizegethusa. Das sollte der Ausgangspunkt für meine weiteren Untersuchungen werden.
Frau Rodewald hatte richtig geschildert, und der deutsche Gelehrte, der ihr die archäologischen Aufschlüsse gegeben hatte, war wohl unterrichtet gewesen: auch jetzt noch ein grenzenlos elendes Dorf, und auch jetzt noch überall die unbeachteten, marmornen Zeugnisse einer großen Vergangenheit. Es war, als hätte die Zeit stillgestanden. Nichts schien sich geändert zu haben. Wie Frau Rodewald vor einem Vierteljahrhundert ging ich auf das einzige anständige Haus zu, und wie sie fand ich dort den stattlichen deutschen Rentmeister. Nur war es schon der Sohn des frühern, inzwischen verstorbenen. Herr Friedrich August Dielitz der Jüngere hatte seine landwirtschaftlichen Studien in Tharand in Sachsen gemacht – die Familie selbst stammte aus Plauen im Vogtland – und war dann an die Stelle seines Vaters gerückt.
Ich führte mich bei dem Rentmeister als Tourist ein, der eine besondere Vorliebe für entlegene Kulturen hätte. Herr Dielitz lächelte über meinen Geschmack in diesem besonderen Falle, nahm mich aber außerordentlich freundlich auf. Er war, wie er sagte, 83 glücklich, wieder einmal einen gebildeten Menschen zu sehen. Er bot mir Gastfreundschaft an, solange ich wollte, und ich nahm an, nachdem ich ihm meine Bedingungen gestellt hatte. Denn am liebsten hätte er gar nichts von mir angenommen.
Ich ließ mir Zeit, da ich nichts überstürzen und keinerlei Verdacht oder Vermutung wecken wollte. Ich begleitete ihn auf seinen Dienstgängen und trachtete dabei, unauffällig aus ihm herauszuholen, was mir etwa dienlich sein konnte. Juon Dimitrescu hatte er noch gekannt. Nun war er schon seit einer Reihe von Jahren tot. Eines schönen Tages sei er von seinem Schnapsrausch nicht mehr erwacht. Das war das würdige Ende eines würdigen Lebens. Seine Gattin Olympia sei noch am Leben. Sie sei die Amme der Gräfin gewesen, welche die uralte und nun schon völlig kindisch gewordene Person noch immer bei sich halte. Und die Gräfin? ›Selbst eine abgeschmackte alte Schachtel!‹ lautete die wenig respektvolle Antwort. – Ich ließ das Thema vorläufig fallen, da ich wußte, daß sich noch reichlich Gelegenheit finden werde, darauf zurückzukommen. Die Gräfin residierte auf Schloß Paulis, eine Wegstunde vom Dorf. In dieses Schloß mußte ich mir Zutritt verschaffen. Daß ich hineinkommen würde, daran zweifelte ich nicht. Ich wünschte aber eingeladen zu werden. Sie begreifen, Frau Violet, daß dann meine Stellung eine viel günstigere sein mußte, als wenn ich mich aufgedrängt hätte.«
»Begreife ich vollkommen.«
»Ich zerbrach mir den Kopf, durch welches Mittel ich mich bemerkbar machen könnte, und fand nichts Rechtes. Auch da kam mir der Zufall zu Hilfe. Der Herr Rentmeister fragt mich, ob mir eine 84 Wildschweinjagd Vergnügen machen würde. Ich, natürlich, sehr einverstanden. Er hängt mir eine Saufeder um, gibt mir einen Kugelstutzen in die Hand, und wir rücken los mit den Treibern und den Hunden. Wir marschieren eine Stunde durch den Wald – der reine Urwald! – und kommen dann an eine langgestreckte Lichtung, die sich fast wie eine Allee ausnimmt. Wir trennen uns, der Rentmeister geht, immer gedeckt, den linken Waldessaum entlang, ich den rechten. Richtig kommt nach wenigen Minuten eine mächtige Sau die Lichtung heruntergestürmt. Der Rentmeister schreit mir zu, ich solle schießen. Ich rufe zurück: »Sofort!« Ich bin ein ganz guter Scheibenschütze; auf der Jagd habe ich aber immer meine liebe Not. Ich bin nicht geschwind genug. Bis ich mit Visier, Korn und dem Ziel, das ewig nicht still halten will, zusammenkomme, das braucht seine Weile. Der Rentmeister schreit wieder, diesmal schon leidenschaftlicher, ich rufe wieder zurück. Ich nächsten Augenblick erdröhnen gleichzeitig zwei Schüsse, und das starke Tier bricht im Feuer nieder.
Natürlich nehme ich die Siegerehren sofort für mich in Anspruch. Ein Treiber kommt wie der Blitz herangerannt. Ich ziehe die Brieftasche und reiche ihm mit stolzer Gelassenheit eine Hundertkronennote als Trinkgeld. Ebenso natürlich kam meine Schande sofort auf, als wir dann die gewaltige Sau besichtigten. Sie hatte allerdings einen famosen Blattschuß bekommen, aber von – der andern Seite. Der Rentmeister hatte getroffen, nicht ich. Der Rentmeister lachte sich schief. Der Treiber war verschwunden. Am nächsten Tag aber hatte ich meine Einladung ins Schloß.«
85 »Wie ist denn das zugegangen?«
»Ganz einfach. Zuerst lachte der Rentmeister, eine Stunde später das ganze Dorf, dann das ganze Komitat, und man lachte auch im Schloß. Dort machte sich der kategorische Imperativ der Gastfreundschaft geltend. Da ist ein Fremder von Distinktion auf herrschaftlichem Grunde, honoriert einen Fehlschuß mit einem Betrage, von dem der Treiber ein halbes Jahr lebt. Das kann doch nur ein Kavalier sein, und man hat eine Verpflichtung, den einzuladen.
Ich fand, von einem livrierten Bedienten geleitet, die Gräfin in dem wundervoll angelegten und tadellos gehaltenen Park unter einer mächtigen Linde vor einem hoffähig gedeckten Tische beim Frühstück sitzend. An ihrer Seite eine steinalte, verrunzelte Frau in einem grellgelben Seidenkleid – walachischer Geschmack – die keine Notiz von mir zu nehmen geruhte. Die Gräfin erhob sich zum Willkomm und entschuldigte auch gleich die alte Frau. Es sei ihre alte Amme, und sie sehe und höre kaum noch etwas.«
»Und wie war die Gräfin selbst, und wie war sie angezogen?«
»Die Gräfin war in ein duftiges weißes Spitzennegligé gekleidet, und im übrigen war sie gräßlich. Ich muß aber gleich hinzufügen, daß der erste, allerdings entsetzliche Eindruck sich bald verwischte und einem besseren wich. Nach einigen Worten schon offenbarte sie sich als eine Dame, die eine gute Erziehung genossen hatte, die klug und gebildet zu sprechen wußte, sehr fromm und voller Herzensgüte war und in jedem Wort einen feinen Takt bekundete.«
»Wie konnte aber dann der erste Eindruck so ungünstig sein?«
86 »Das war ein rein äußerlicher Grund. Die edle Dame hatte sich sichtlich mir zu Ehren schön gemacht. Du lieber Gott, ich vertrage ja ziemlich viel, aber ein tiefsinniges Wort besagt: was zuviel ist, ist zuviel. Die Dame, oder sagen wir gleich das Fräulein, denn sie ist unvermählt geblieben, hatte da seit Dezennien in ihrer Einsamkeit von der Welt abgeschlossen gelebt. Sie war nunmehr an sechzig Jahre alt und sah wahrhaftig nicht jünger aus. Als von ihrem Antlitz die frischen Farben zu weichen, die ersten Fältchen sich zu zeigen begannen, da mag sie in ihrer Weltabgeschiedenheit die ersten Versuche gemacht haben, die Natur ein wenig zu korrigieren. Das ist die große Gefahr beim Schminken. Man verliert so nach und nach und schön langsam das Augenmaß. Die Farben werden immer frischer und blühender und immer dicker aufgetragen. Hier war die Grenze der Karikatur längst überschritten, und sie ahnte es nicht. Die Lippen waren groß und breit rot angestrichen wie die eines Clowns, die Wangen prangend in Weiß und Rot, die Augenbrauen dick schwarz überstrichen, die Lider hatten ihren blauen Schimmer und zu all dem im Kontrast die unschönen gelben Zähne – es war wahrhaftig kein erbaulicher Anblick.
Und doch – nach wenigen Minuten war all das Unerfreuliche verschwunden. Ich dachte gar nicht mehr daran, sie innerlich zu verhöhnen, mich heimlich lustig zu machen über sie. Sie hatte keine Ahnung, wie sie aussah, und ihr Wesen war sonst natürlich, verständig und gütig.
Ich wurde eingeladen, beim Frühstück mitzuhalten, und ich muß sagen, ich wurde tadellos bedient. Es ging ganz seigneurial zu. Was die Alte betrifft, so 87 kam ich sehr bald darauf, daß sie nicht nur nichts sehe und höre, sondern daß sie überhaupt schwachsinnig sei. Nach dem Frühstück geleitete mich die Gräfin durch den Park. Da bekam ich erst Respekt vor dem gärtnerischen Genie Meister Gerschlagers, der ihn vor mehr als sechzig Jahren mit einem großartigen Blick für Zukunftswirkungen angelegt hatte. Nach dem Spaziergang im Park folgte die Besichtigung des Schlosses. Alles, was recht ist: ein Herrensitz großen Stils. Die Architektur, heiteres Barokko, voll Schwung und doch gediegen, möchte ich auf Fischer von Erlach zurückführen. Die Gemächer prunkvoll eingerichtet, und alles nur so blitzend in blanker Sauberkeit. Im ganzen Haus auch nicht ein Stäubchen.
Auf ein Kompliment in diesem Sinn erwiderte die Gräfin, daß sie ja Zeit zur Genüge habe, darüber zu wachen, daß alles instand gehalten werde. Auch an auserlesenen Kunstschätzen fehlte es nicht. Aus der Frührenaissance sah ich ein Tafelbild von Masaccio, Adam und Eva. Die Gräfin erzählte, es seien im Archiv noch die Dokumente vorhanden, daß um das Jahr 1420 herum ein Graf Adorian den Meister aus Florenz mitgebracht und hier beschäftigt habe.
Im Salon fiel mir an der Hauptwand ein leerer Fleck auf. Das war also der Platz des Lenbachschen Bildes, von dem ich eine Photographie in der Tasche hatte. Gerade unter dem leeren Fleck befand sich ein Sockel, auf dem unter einem Glassturz eine primitive hölzerne Uhr stand. Auf meinen fragenden Blick erzählte die Gräfin, das sei eine heilige Reliquie für sie. Diese Uhr, deren ganzes Räderwerk ebenfalls aus Holz bestand, habe ihr Vater als Sträfling in seinen einsamen Stunden in den Kasematten geschnitzt.«
88 »Nicht möglich, Dagobert!«
»Sie ahnte nicht, wie interessant und wichtig mir diese Mitteilung war. Sie ahnte überhaupt nichts von meinen Plänen und Absichten. So war die Essenszeit gekommen. Ich reichte ihr den Arm und führte sie zu Tische. Wir blieben glücklicherweise im Tete-a-Tete. Sie erklärte freimütig, daß sie sonst mit ihrer alten Amme speise, die sie sehr liebe, aber einem Gast wollte sie doch nicht diese Gesellschaft zumuten.
Ich war fest entschlossen, meine Sache hier und sofort zu irgendeinem Abschlusse zu bringen, und fand doch nicht den rechten Mut, davon anzufangen. Erst als wir schon beim schwarzen Kaffee saßen, fand sich die geeignete Anknüpfung.
Die Gräfin hatte noch eine Überraschung für mich in Bereitschaft. Zunächst sprach sie mich einmal scherzweise nur als ›Herr Dagobert‹ an, und als ich dann erstaunt aufblickte, erklärte sie lächelnd, daß sie die neueren literarischen Erscheinungen mit Interesse verfolge und demgemäß auch mit Vergnügen schon mehreres von meinen Leistungen gelesen habe. Meine Tätigkeit habe ihr Sympathie eingeflößt; es sei doch immer ein Kampf ums Recht, den ich führte.
Nun war der Anknüpfungspunkt da.
›Wissen Sie, Gräfin,‹ erwiderte ich geradezu und sie scharf ins Auge fassend, ›daß ich auch jetzt, wie ich vor Ihnen sitze, in einem Kampf ums Recht begriffen bin?‹
Sie sah mich starr an. ›Ihre Anwesenheit ist nicht zufällig?‹
›Nein, Gräfin, sie ist vorbedacht und wohldurchdacht.‹
89 ›Sie kamen in feindseliger Absicht?‹
›Nein, Gräfin, nicht in feindseliger Absicht. Die Angelegenheit, die mich herführte, ist eine sehr wichtige und berührt Sie sehr nahe, und doch kann ich Ihnen von vornherein die Versicherung geben, daß nichts geschehen wird, wozu nicht Sie freiwillig Ihre Zustimmung geben werden.‹
›Und wenn ich nun ebenfalls von vornherein die Erklärung abgäbe, daß ich mich in keinerlei Erörterung einzulassen wünsche, was würden Sie dann tun?‹
›Nichts. Nicht das mindeste. Ich würde unverrichteter Dinge abziehen.‹
›So rasch geben Sie sonst einen Kampf ums Recht nicht auf, Herr Dagobert!‹
›Ich könnte nichts anderes tun, da mir rechtmäßige Kampfmittel nicht zu Gebote stehen.‹
›Vorläufig streiten wir um des Kaisers Bart, Herr Dagobert. Sagen Sie mir rund heraus, worum es sich eigentlich handelt.‹
›Ich habe, wie schon bemerkt, auch hier einen Kampf ums Recht zu führen.‹
›Und ich meinerseits kann Ihnen ebenfalls eine beruhigende Erklärung abgeben. Ich werde niemals mit Bewußtsein das Recht bekämpfen oder ein Unrecht verteidigen.‹
›Dann werden wir uns ja leicht begegnen, Gräfin, obschon ich Grund habe anzunehmen, daß Sie das, was ich zu sagen habe, schwer treffen wird.‹
›Lassen Sie hören!‹
›Es ist nämlich nichts Geringeres, als daß ich behaupte: Sie sitzen hier zu Unrecht auf dem Schlosse.‹
›Das ist eine Behauptung. Haben Sie auch die Beweise für sie?‹
90 ›Nein.‹
›Und Sie meinen, daß ich nun auf eine unbewiesene Behauptung, auf eine Vermutung hin, ohne weiteres auf alle Rechte verzichten werde?‹
›So habe ich mir das nicht vorgestellt, Gräfin. Wenn ich sagte, daß ich keine Beweise hätte, so meinte ich, daß sie vielleicht für ein Gericht nicht ausreichend sein würden, für mich sind sie es. Das aber ist nicht von Belang. Ich habe keinerlei exekutive Gewalt. Übrigens würde selbst ein lückenloser Beweis auch vor dem Gericht nicht viel helfen können. Wenn Sie mir also nicht freiwillig entgegenkommen wollen, Gräfin, so ist Ihre Position ungewöhnlich günstig. Bei einem etwaigen gerichtlichen Verfahren hätten Sie zwei außerordentlich starke, geradezu unüberwindliche Vorteile für sich. Erstens würde der Prozeß sehr teuer werden. Sie hätten die Mittel, ihn zu führen, und Ihre Gegner sind arm. Zweitens wäre der Prozeß von vornherein aussichtslos für meine Klienten, da Sie die Verjährung für sich haben. Das ist eine geradezu uneinnehmbare Burg.‹«
»Es wundert mich, Dagobert,« fiel hier Frau Violet ein, »daß Sie Ihre Schwächen gleich so demaskiert haben.«
»Es geschah nicht ohne Absicht, Gnädigste. Juristisch war meiner Ansicht nach der Sache überhaupt nicht beizukommen. Ich mußte mich mehr auf die Psychologie verlassen. Etwas anderes gab es da noch, worüber Sie sich hätten wundern können: daß ich so lange herumredete und um den heißen Brei herumging, ehe ich mit dem Kern der ganzen Angelegenheit herausrückte. Auch das hatte seinen guten Grund. Ich hatte beim ersten Wort bemerkt, daß sie wußte, 91 was es sei, worauf ich angespielt hatte. Das verschaffte mir einen psychologischen Vorteil, den ich ausnutzen wollte. Der Fall wäre viel schwieriger gewesen, wenn sie selbst noch keine Ahnung gehabt hätte. So saß sie mir eigentlich als eine Schuldbewußte gegenüber, und ich mußte mir Zeit lassen, sie zu beobachten. Dann ging ich natürlich direkt auf mein Ziel los.
›Was ich behaupte,‹ fuhr ich, ihr gerade ins Gesicht sehend, fort, ›ist, daß Sie nicht die rechtmäßige Tochter des Grafen Georg Adorian und seiner Gemahlin, geborenen Gräfin Avarffy, sind. Ihr Vater ist Juon Dimitrescu aus Szarmizegethusa, Ihre Mutter Olympia, geborene Aureliano, dieselbe alte Frau, die Sie mir als Ihre Amme vorgestellt haben. Auf Ehre und Gewissen, Gräfin – hatten Sie Kenntnis davon?‹
›Ja.‹
›Seit wann?‹
›Seit nahezu vierzig Jahren. Die Stunde, in der ich es erfuhr, war entscheidend für mein ganzes ferneres Leben. Ich war eine glückliche Braut, Herr Dagobert, eine Braut von neunzehn Jahren, und die Hochzeit stand vor der Tür. Olympia – ich nenne sie heute noch so – fürchtete, nach meiner Verheiratung fortgeschickt zu werden. Wahrscheinlich wäre es auch der Fall gewesen. Da vertraute sie mir, um sich zu retten, das lange gehütete Geheimnis an.‹
›Glaubten Sie ihr gleich?‹
›Ja. Ihre Erzählung war glaubwürdig, und wenn ich noch einen Zweifel gehegt hätte, so verscheuchte sie ihn durch den Hinweis auf ein uns gemeinsames, sehr auffälliges Muttermal.‹
›Was taten Sie da?‹
›Was ich mußte. Ich gab meinem Verlobten sein 92 Wort zurück unter dem Vorwande, daß ich ihn nicht liebte. Und, Herr Dagobert, ich gab es zurück, weil ich ihn liebte. – Ich wußte, daß ein Tag der Abrechnung kommen werde – heute ist er gekommen, der erwartete Tag, nur viel, viel später, als ich vermutet hatte – und da wollte ich ihm, mir selbst und vielleicht den Kindern die Schmach ersparen. Ich war im Kloster erzogen worden, und ins Kloster wollte ich nun wieder zurück. Es wäre mir kein Opfer gewesen, denn ich fühlte die Vokation in mir. Sie sehen, Herr Dagobert, ich bin vollkommen aufrichtig mit Ihnen. Sagen Sie mir nur, wie Sie dazu kamen, sich mit dieser Angelegenheit zu beschäftigen, und was Sie vorzubringen haben, um Ihre Behauptung zu bekräftigen.‹
Ich nahm einen Umschlag mit Photographien aus der Tasche und zeigte ihr zunächst die des Grafen Adorian. Sie erkannte sofort, daß das Bild nach dem in ihrem Besitze befindlichen Lenbachschen Original angefertigt sei. Dann überreichte ich ihr zur Vergleichung die zwei andern Bilder von Rodewald Mutter und Sohn. Sie gab ohne weiteres zu, daß die Familienähnlichkeit in hohem Maße vorhanden sei. ›Dieser junge Mann,‹ nahm ich dann das Wort, ›dessen Namen ich nicht nenne, ebensowenig wie er jemals den Ihrigen, beziehungsweise den seines Großvaters, des Grafen Adorian, erfahren wird – es hätte keinen vernünftigen Zweck – hatte die Idee, sich an mich zu wenden, da ihm die Herkunft seiner Mutter einer Aufklärung bedürftig schien. Ich forschte nach, und auf Grund der gesammelten Daten und der durch sie angeregten Kombination halte ich mich für berechtigt, den Tatbestand wie folgt anzunehmen: jene Frau ist im Besitz eines Taufscheines, der bescheinigt, daß 93 Olympia Dimitrescu am 2. Juli 1849 eines Mädchens genas, das auf den Namen Milena getauft wurde. Am 14. Juni desselben Jahres gab Gräfin Geraldine einem Töchterchen das Leben, das Alexandra getauft wurde. Olympia Dimitrescu wurde als Amme aufs Schloß genommen. Graf Adorian war abwesend; er kämpfte in den Reihen der Aufständischen. Die Gräfin starb wenige Wochen nach der Geburt des Kindes. Der Graf wanderte, ohne daß er das Kind gesehen hätte, im Oktober 1849 ins Gefängnis, in dem er viele Jahre zurückbehalten wurde. Nach Niederwerfung der Revolution war die Lage der ungarischen Adelsfamilien hier in dieser Gegend unter den aufgereizten rumänischen Bauern kritisch geworden. Man mußte mit der kleinen Gräfin nach der Hauptstadt fliehen – das war damals eine gefahrvolle Wagenfahrt von einer Woche. Der Obergärtner Gerschlager, derselbe, der diesen herrlichen Park angelegt hat, und seine junge Frau flohen mit. Sie waren kinderlos und sehnten sich nach einem Kinde, das sie mit nach Deutschland nehmen wollten. Olympia Dimitrescu überließ ihnen ihr Kind, angeblich ihr Kind. Unter den obwaltenden Verhältnissen war die Auswechslung leicht und gefahrlos. Eine neue Umgebung, in der niemand die Kinder kannte. Beide Kinder nur wenige Wochen alt und noch ohne ausgeprägte Physiognomie, wer hätte da Verdacht schöpfen, wer etwas beweisen wollen? So, Gräfin, hat sich meines Erachtens die Sache zugetragen.‹
›Sie hat sich so zugetragen, Herr Dagobert, und ich bewundere Ihren Scharfsinn, mit dem Sie alles aufgehellt haben. Wie aber denken Sie sich den weiteren Verlauf?‹
›Ehrlich gestanden, Gräfin, darüber habe ich mir 94 selbst noch keine rechte Vorstellung gemacht. Erst mußte ich Sie doch kennen lernen. Der Hauptsache nach haben Sie meine Pläne durchkreuzt, Gräfin. Ich war auf Kampf gefaßt, und Sie haben mich entwaffnet. Die Sache, die ich führe, scheint mir am besten geborgen, wenn ich mich nur auf Ihre Einsicht und Güte verlasse.‹
›Ich danke Ihnen für diese Auffassung, lieber Herr Dagobert, und wie ich nun wohl sagen darf, mein sehr lieber Freund, und ich bitte Sie zu glauben, daß ich nicht die Absicht habe, mich irgendeiner gerechten Verpflichtung zu entziehen. Machen Sie mir Ihre Vorschläge, und ich werde Ihnen, soweit ich nur kann, entgegenkommen. Eins möchte ich vorweg bemerken. Ich bin eine alte Frau. Machen Sie mich nicht jetzt noch auf meine alten Tage zum Mittelpunkt eines europäischen Skandals. Ich bitte darum nicht nur um meinetwillen, sondern der Familie überhaupt wegen. Der Name Adorian wird im ganzen Reiche mit Verehrung genannt. Diesen Namen möchte ich nicht in ein häßliches Gerede bringen lassen, und ich selbst möchte nicht schimpflich fortgeschickt werden. Was sonst geschehen kann, soll geschehen.‹
›Ich brauche wohl nicht erst zu versichern, Gräfin, daß ich an derlei niemals gedacht habe. Meinen Klienten, die keine Ahnung von dem Stande der Dinge haben, wäre sicherlich nicht gut gedient, wenn sie jetzt in einen langwierigen Prozeß verwickelt würden. Um den Adelstitel kann es ihnen nicht zu tun sein. Die Mutter ist eine Pastorswitwe, die sich gewiß nicht danach sehnt, jetzt plötzlich damit zu prunken, daß sie eine geborene Gräfin sei. Der Sohn ist ein Pastorssohn und könnte doch niemals Graf werden. Er ist Uhrmacher.‹
›Seltsam, gerade Uhrmacher!‹
95 Wir verstanden uns. Wir dachten in diesem Augenblick beide an jene hölzerne Uhr unter dem Glassturz.
›Er ist,‹ fuhr ich fort, ›ein tüchtiger Mensch und wird seinen Weg machen. Was ich also hier erreichen möchte, ist lediglich, daß den beiden der Lebensweg ein wenig erleichtert werde.‹
›Darüber läßt sich reden, Herr Dagobert. Verfügen Sie über mich.‹
›Erst eine Vorfrage, Gräfin, die vielleicht undelikat ist, die Sie aber nicht mißdeuten werden. Ich kenne Ihre Vermögensverhältnisse nicht.‹
›Sie können sie als günstig annehmen,‹ erwiderte sie lächelnd, ›sogar, wenn Sie wollen, als sehr günstig. Gewisse Schranken muß ich aber doch ziehen. Das Vermögen zerfällt in drei Teile, und verfügbar für mich ist nur ein Teil davon, der allerdings immer noch sehr beträchtlich ist. Ich will Ihnen das erklären. Seit vierzig Jahren genieße ich die Einkünfte des gräflichen Stammvermögens. Ich führe, wie Sie sehen, ein Einsiedlerleben und habe nicht den zehnten Teil der Einkünfte verbraucht. Was ich alljährlich erspart habe, wurde in drei gleiche Teile geteilt. Ein Teil diente zur Vermehrung des Stammvermögens. Ich will, daß das Vermögen nicht nur unverkürzt, sondern sogar beträchtlich vermehrt der Familie wieder zufalle. Das habe ich auch schon testamentarisch bestimmt, und daran darf nichts mehr geändert werden.‹
›Ich finde das vollkommen in Ordnung.‹
›Der zweite Teil ist der Kirche vermacht für fromme und wohltätige Zwecke. Auch daran ist nicht mehr zu rütteln. Mich bindet ein Gelübde.‹
›Und der dritte?‹
›Der dritte ist mein Geheimnis. Sie, Herr 96 Dagobert, sind der erste und einzige Mensch, dem ich es nun preisgebe. Sie wissen, daß ich seit vierzig Jahren in diesem Glanz lebe fast wie in einem Schuldbewußtsein und mit einem schlechten Gewissen. Eigentlich schuldig war ich ja nicht, aber ich war doch mitschuldig geworden. Denn ich wußte, und ich schwieg. Ich mußte immer darauf gefaßt sein, eines Tages davongejagt zu werden. Da wollte ich nun weder dem Elend anheimfallen noch auf fremde Wohltat angewiesen sein. Für diesen Fall legte ich nun im geheimen den Sparpfennig an. Das durfte ich, denn ich habe mir das Geld ehrlich abgespart und hätte es ebensogut ausgeben können. Über diesen Sparpfennig – Sie brauchen den Pfennig nicht so wörtlich zu nehmen, Herr Dagobert – können wir nun verfügen.‹
›Gut, dann können wir zu positiven Vorschlägen übergehen. Ich möchte jener Frau ein sorgenfreies Alter sichern. Mit viertausend Mark im Jahre wird sie sorgenlos leben. Sagen Sie, Gräfin, langt der Pfennig für hunderttausend Mark?‹
›Ja, Herr Dagobert, er langt auch für mehr.‹
›Ich bin auch noch nicht fertig. Wir müssen auch noch für den jungen Mann sorgen. Er hat große und gesunde geschäftliche Pläne vor, außerdem kann ich verraten, daß er ein Prachtmensch zwar, doch über seinen jetzigen Stand hinaus bis über die Ohren verliebt ist. Wenn wir ihm nun geschäftlich auf die Beine helfen, machen wir ihn zum glücklichsten der Sterblichen. Ich denke also, wir votieren auch ihm seine hunderttausend Mark.‹
›Ich war auf mehr gefaßt, Herr Dagobert, und darum möchte ich auch noch einen weiteren Betrag in der gleichen Höhe als Hochzeitsgeschenk hinzufügen. 97 Dieser letzte Betrag soll aber nicht in das Geschäft gesteckt werden. Er soll angelegt werden zur Sicherung der zukünftigen Familie.‹
›Haben Sie tausend Dank, Gräfin, und seien Sie überzeugt, daß Ihre Bestimmungen buchstäblich erfüllt werden sollen. Dafür will ich schon sorgen.‹
›Ich möchte noch eins bemerken, Herr Dagobert. Ich kenne Ihre Schützlinge nicht und will sie nicht kennen lernen, aber ich fühle, daß ich Verpflichtungen gegen sie habe. Meine Ersparnisse sind durch die heutigen Widmungen noch nicht erschöpft, und sie werden sich wieder vermehren, solange mir Gott noch das Leben schenkt. Sie werden mir also doch die Namen und die Adressen Ihrer Klienten mitteilen müssen, damit ich zu ihren Gunsten, wie es nur recht und billig ist, auch über jenen dritten Teil testamentarisch verfügen könne.‹
Ich sah ein, daß es für mich keinen Grund mehr gab, die Namen noch weiterhin geheimzuhalten; im Gegenteil, es konnte nur von Nutzen sein, sie bekannt zu geben. Ich nahm also die von Rodewalds ausgestellte und von ihnen unterschriebene Vollmacht aus der Tasche und überreichte sie der Gräfin mit dem Bedeuten, daß sie Namen und Adresse da verzeichnet finde. Sie möge das Schriftstück wohl aufbewahren, damit sie in der Lage sei, die erforderlichen Angaben zu finden, wenn sie noch eine weitere Verfügung treffen wolle.
Darauf begab sich die Gräfin an ihren Schreibtisch und füllte eine Anweisung im Sinne unserer Abmachungen aus.
Unser Geschäft war zu Ende. Ich dankte der Gräfin mit aller Wärme und küßte ihr zum Abschied die Hand. Sie versicherte mir, daß ich immer ein 98 willkommener Gast sein würde, auch wenn ich nicht in Geschäften käme.
Vor dem Haustor stand die gräfliche Equipage zu meiner Verfügung bereit. Ich fuhr zu meinem Freunde und Jagdgenossen, dem Rentmeister, zurück und verabschiedete mich auch von ihm. Ich reiste ohne Aufenthalt nach Wien und präsentierte, dort angekommen, die Anweisung, die glatt honoriert wurde. Dann setzte ich mich wieder auf und fuhr nach Rothof. Ich wollte mir die Freude doch nicht versagen, den zwei Leuten persönlich den Erfolg meiner Bemühungen zu übergeben.
Auch da glaubte ich aber noch einige Vorsicht walten lassen zu müssen. Man muß an alles denken, und ich wollte mich vor etwaigen nachträglichen Vorwürfen sicherstellen. Ich erklärte also in der Konferenz, die ich mit Rodewalds hielt, daß es mir allerdings gelungen sei, eine Spur zu finden, daß aber besondere Umstände mich hinderten, ihnen oder sonst jemand nähere Mitteilungen zu machen. Es handle sich tatsächlich um ein beträchtliches Vermögen. Ich sei nicht der Meinung, daß im Prozeßwege etwas zu erreichen sei. Wenn sie anders dächten, könnten sie immerhin ihre Angelegenheit einem Rechtsanwalt übergeben. Der müßte sich aber dann auf eigene Faust die Spur suchen, von mir würde er keinerlei Informationen erhalten. Es sei sehr zweifelhaft, ob er die Spur finden, noch zweifelhafter, daß er einen etwaigen Prozeß gewinnen werde. Sicher sei es, daß der Prozeß jahrelang dauern und viel Geld kosten werde.
Rodewalds wollten von einem Prozeß nichts wissen.
›Dann bleibt uns nur der Ausgleich übrig, und einen solchen habe ich kraft der mir erteilten 99 Vollmacht geschlossen. Ich denke, Sie müssen ihn auch annehmen, nur weiß ich nicht, ob Sie damit auch zufrieden sein werden. Was meinen Sie, wenn ich nun ganze zehntausend Mark mitgebracht hätte – könnten Sie sich da für befriedigt erklären?‹
›Mit zehntausend Mark in der Hand bin ich ein kleiner König!‹ rief der junge Rodewald begeistert aus.
›Es wäre ein Geschenk vom Himmel,‹ fügte seine Mutter bewegt hinzu.
Nun konnte ich ruhig sein. Ich bedang mir nur aus, daß keine weitere Fragen an mich gerichtet würden, und dann begann ich, ihnen die Beträge vorzuzählen. Ich kann Ihnen sagen, Gnädigste, die Leute haben Augen gemacht, als die Zählerei ewig kein Ende nehmen wollte. Ich ließ mir ordnungsgemäß über die 300 000 Mark eine Empfangsbestätigung ausstellen, die ich dann von Wien aus der Gräfin übersandte.
Ich fuhr nämlich gleich wieder nach Wien zurück, für Scheveningen war es nämlich inzwischen schon zu spät geworden. Sie waren schon in die Schweiz ausgeflogen, Gnädigste. Ich mußte nun selbst ausruhen und an Erholung denken. In verhältnismäßig kurzer Zeit hatte ich mehr als dreitausend Kilometer hinter mich gebracht. In St. Gilgen am Ufer des Abersees habe ich mir dann die ersehnte Ruhe vergönnt. Ich glaube, Gnädigste, sie war wohlverdient. Hoffentlich sind Sie mit mir zufrieden?«
Frau Violet drückte ihm die Hände und sagte: »Es war wieder ein echter Dagobert!«
Ende des vierten Bandes.