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Schluß

Ich habe an einer frühern Stelle dieses Buches behauptet, daß es unmöglich ist, die Wissenschaft allein als Fundament unsrer ärztlichen Tätigkeit zu benutzen. Wer sich das Bild des Säftekreislaufs im Körper so deutlich vorstellt, wie es mir als Ziel meiner Worte vorschwebt, der erkennt diese Unmöglichkeit sofort. Es ist mit unsern Kenntnissen auf diesem Gebiet ungefähr so wie mit den geografischen Kenntnissen der alten Zeit. Damals kannte man leidlich das Mittelländische Meer und die angrenzenden Länderstrecken; von den Riesenmassen der Erdteile wußten die meisten überhaupt nichts, und nachdenkliche Leute waren auf Vermutungen oder auf Entdeckungen angewiesen. Sehn wir von dem bißchen Blutkreislauf ab, der, wie ich schon sagte, nur den siebenten Teil aller Körpersäfte in sich faßt, so ist alles übrige unentdecktes Gebiet. Allerdings sind Tausende fleißiger und begabter Männer damit beschäftigt, diese dunklen Strecken der Körperwelt zu erforschen, es wird aber noch Jahrhunderte dauern, ehe wir Klarheit gewinnen. Der Säftekreislauf ist auch nur ein Bruchteil des menschlichen Lebens, noch dazu der einfachste, da er im wesentlichen nach mechanischen Gesetzen geregelt ist, gleichsam ein technisches Problem darbietet, während das tiefre Leben Gesetze hat, die wir nicht einmal ahnen, zu denen wir den Weg nicht wissen.

Zuletzt fragt es sich noch, wieviel Nutzen der Arzt für seinen Beruf als tätiger Helfer daraus ziehen kann, wenn einmal in fernen Zeiten unsre Kenntnisse des lebendigen Menschen genauer und umfassender sind als jetzt. Gewiß, in bestimmten Grenzen wird er dann mehr leisten können, er wird oft rascher und sichrer arbeiten. Aber allzugroßen Hoffnungen darf man sich nicht hingeben. Dem steht das Lebendigsein des kranken Menschen gegenüber. Man kann ihn nicht wie eine Taschenuhr auseinandernehmen, reinigen oder mit einer neuen Feder versehn und ihn dann wieder zusammensetzen. Wenn diese Uhr, gewiß ein sehr einfaches Ding verglichen mit dem Menschen, auf die Erde fällt und stehnbleibt, was hilft es da viel, daß wir ihren Mechanismus genau kennen, sofern wir sie nicht auseinanderzunehmen und zusammenzusetzen verstehn? Diese Geschicklichkeit des Uhrmachers werden wir aber nie erreichen. Die wirkliche Schöpferkraft ist dem Menschen versagt. Es ist eher möglich, den Menschen in Retorten und Tiegeln des Laboratoriums zurechtzukochen, als den Kranken mit Menschenkunst zu heilen.

Und wenn wir alle Kenntnisse besäßen, die die Menschheit in den kommenden Jahrtausenden ansammeln wird, so würden wir damit nicht imstande sein, auch nur einen Schnupfen zu heilen, wir werden immer nur behandeln können. Diese Behandlung, unsre einzige Aufgabe und einzige Machtvollkommenheit, wird auch stets durch die Gewalt des Lebens begrenzt sein. Das Leben duldet vielleicht, daß wir ein krankes Kniegelenk herausnehmen und ein andres statt dessen einsetzen, ja es wäre denkbar, daß es uns einmal gestattet, gesunde Nieren oder Eierstöcke oder Augen anstelle von unbrauchbaren von einem Menschen auf den andern überzupflanzen. Aber es wird sich immer vorbehalten, ob es diese Organe lebendig werden lassen will, ob es sie in die Einheit des Menschen aufnehmen, sie einheilen will, und es wird uns niemals erlauben, den Menschen Stück für Stück zu zerlegen, um die Stelle zu finden, an der der Fehler des Mechanismus sitzt. Man gehe zum Uhrmacher, zeige ihm die verdorbne Uhr und verlange von ihm Auskunft, warum sie nicht mehr geht. Wenn das Glück gut ist, weist er euch vielleicht nach, daß die Feder oder ein Rad gesprungen ist, aber sobald ihr ihn fragt: wird sie auch gehn, wenn eine neue Feder eingesetzt ist, dann zuckt er die Achseln und sagt: Wie soll ich wissen, ob nicht mehr zerbrochen ist; ich muß die Uhr auseinandernehmen. Glaubt man wirklich, daß es leichter ist, dem Menschen anzusehn, wo sein Leben gestört ist, als einer Uhr? – Laßt alle Hoffnungen schwinden!

Sicher ist es wünschenswert, daß ein Arzt um den Verlauf aller Lebensprozesse, gesunder und kranker, Bescheid weiß. Aber es wäre schlimm, wenn das die einzige Grundlage seines Handelns wäre oder auch nur der Hauptstützpunkt. Wer das glaubt, der bricht ohne weitres den Stab über die verflossnen Jahrtausende, in denen so gut wie nichts von dem bekannt war, was jetzt jeder Student weiß, ehe er noch den ersten Kranken gesehn hat; er denkt auch nicht eben hoch von unsrer eignen Leistungsfähigkeit, denn auch wir stehn dem Lebensrätsel so fern, daß von einem sichern Urteil keine Rede sein kann.

Aber es ist auch nicht anzunehmen, daß all unsre Vorfahren Scharlatane waren, selbst nicht Scharlatane aus Unvermögen: dem stehen ihre Leistungen entgegen. Man kann doch nicht vergessen, daß schon vor Jahrtausenden die Kranken im wesentlichen behandelt wurden wie jetzt, daß damals das Ziel der Medizin, dem Körper die Wege zur Selbstheilung zu ebnen, genau festgelegt war, daß die Mittel, Veränderungen in der Ernährung und im Kreislauf herbeizuführen, nicht weniger gebraucht wurden als jetzt. Diätetik, Gymnastik, Massage, Wasserbehandlung, alles wurde schon damals geübt, zum Teil weit besser als heute, wie jeder bestätigen wird, der römische Bäderanlagen oder gymnastische Übungsplätze gesehn hat. Die Chirurgie stand auf einer Stufe, deren Höhe nicht wesentlich unter der unsern liegt; jedes Jahr der Geschichtsforschung bringt neue Beweise, was alles die Ärzte der Antike schon geleistet haben. Ja, wir erleben das Schauspiel, daß man unter den Trümmern verschütteter Städte, aus den schwerverständlichen Überlieferungen toter Sprachen Dinge auferstehn sieht, die wir als die Entdeckungen unsrer Kultur nicht hoch genug zu preisen wußten; man kannte bei Geburten den Gebrauch der Zange genau wie wir, man öffnete die Bauchhöhle, man überpflanzte Haut von einem auf den andern, man verwendete Mineralquellen und klimatische Behandlung und kannte fast alle Medikamente der Neuzeit; ja man gab den Kranken schon damals den Extrakt von Tierorganen ein, wenn man auch die wunderlichen Namen Thyreoiden und Oophorin und Spermin noch nicht verwendete. Krankenpflege und Hygiene waren geregelt, es gab Hospitäler und Krankenversicherung; kurz, so abgrundtief unter uns, wie sich der moderne Philister das vorstellt, standen diese Leute nicht. Das wesentliche im Arztberuf, die Wahrheit, daß nur das Leben zu heilen vermag, daß das Leben, das Lebendigsein der eigentliche Arzt ist, war ihnen tiefer ins Herz geschrieben als uns.

Und auch das ist sicher, daß der Arzt sich selbst und seine Zeit verkennt, der unsre Fähigkeit zu helfen nach unsern Kenntnissen beurteilt. Du lieber Gott, so erschreckend groß sind sie wahrhaftig nicht, und wer mit lauter Stimme das Wissen als Fundament des ärztlichen Handelns preist, der beweist nur, daß er dieses Fundament höchstens vom Hörensagen kennt, es aber nie auf seine Festigkeit geprüft hat. Es ist eher umgekehrt, daß das ärztliche Handeln das Fundament der Wissenschaft ist. Die Medizin ist eine ausgesprochen experimentelle Wissenschaft, sie ruht auf den Experimenten, die das Leben uns vormacht und die wir zu deuten und so weit wie möglich nachzuahmen suchen.

Also wäre es nutzlos, Kenntnisse zu haben? Das gewiß nicht, Kinderhände zertrümmern bald eine Uhr, die der Erwachsne jahrzehntelang trägt, ohne daß ihr etwas zustößt. Darum gerade schrieb ich dieses Buch, weil die Menschen allzu unwissend sind. Es ist Zeit, daß sie Wissen erwerben, damit sie nicht kindisch mit dem Leben umgehn. Und erst recht braucht der Arzt Kenntnisse. Aber es wäre sehr schlimm um ihn bestellt, wenn diese Kenntnisse nur medizinisch wären.

Gewiß, er muß in seinem Fache gründlich Bescheid wissen, wie jeder zunächst mit seinem Arbeitsfeld vertraut sein muß. An medizinischen Kenntnissen fehlt es den Ärzten aber nicht; nur leider reicht das zum Arztsein nicht aus. Selbst wenn einer alle Fächer der Medizin von Grund aus beherrschte, aber nur eben die der Medizin, so wäre er doch ein unbrauchbarer Arzt. Der Mechaniker muß alle Einzelheiten einer Maschine kennen, muß genau wissen, wie ein Rad in das andre greift, muß auf Millimeterbreite berechnen können, wie die Teile des Mechanismus zueinander stehn, muß den Gebrauch jeder Schraube mit mathematischer Genauigkeit regeln können. Aber das alles ist nicht das Amt des Arztes; er ist nicht Mechaniker. Es ist ein fundamentaler Irrtum, zu glauben, der Arzt solle oder könne den schadhaft gewordnen Menschen wiederherstellen, ihn wie eine verdorbne Maschine wieder in Gang bringen. Das besorgt das Menschenleben selbst, dieses Leben, das allein die dazu nötigen Kenntnisse und Geschicklichkeiten besitzt, um zu heilen, das Leben, das wahrhaftig ein bessrer Ingenieur ist als irgendeiner. Des Arztes Beruf ist ein ganz andrer, er ist zum Herrschen berufen, zum Lenken der kleinen Welt, die sich Mensch nennt und die sich ihm in den Weg stellt: Hilf mir, denn ich bin krank. Wer eine Gemeinschaft lenkt, eine Stadt oder einen Staat, der braucht nicht alles zu wissen, was in irgendeinem Winkel dieser Stadt oder dieses Staats vor sich geht, aber er muß die Lebensbedingungen abschätzen können, ob sie unentbehrlich sind oder nicht, ob er sie fördern oder unterdrücken soll, er muß die Seele seiner Gemeinde, seines Volks verstehn, die große Richtung, nach der sie hintreibt, und er muß Männer wählen und anstellen, die diese Richtung leiten können. Seinen Gehilfen aber soll er vertraun, wenn er sie einmal gewählt hat, und nicht mit eingebildeter Sachkenntnis ihnen dazwischenpfuschen, nicht danach fragen, wie sie verheiratet sind und ob sie zu Mittag Pellkartoffeln oder Trüffeln essen. So ist der Arzt. Er lenkt die Kräfte des Lebens, und er vertraut dem Leben. Lebenskenntnisse verlangt jeder Augenblick von ihm, ohne die geht es nicht. Reine Wissenschaft? Es muß recht oft ohne die gehn, ganz einfach, weil sie vielfach noch nicht da ist.

Der Arzt soll handeln, das liegt schon in der Bezeichnung: behandelnder Arzt. Er hat eine praktische Tätigkeit, und dazu braucht er gesunden Menschenverstand. Auf den Verstand ist das Behandeln begründet, nur auf den Verstand, auf das Verstehn dessen, was zum Handeln not tut. Gelehrsamkeit und gesunder Menschenverstand gehn nicht immer zusammen, im Gegenteil, der Volksmund nennt gerade die Gelehrten besonders unpraktisch. Der Begriff gesunder Menschenverstand besagt durchaus nicht, daß man unwissend sein darf, aber er hat zum Ziel nicht das Schaffen von Wissen, sondern das Verwenden von Wissen. Es gehört zu seinen Bedingungen, daß man genau so viel Wissen hat, als man in die Tat umsetzen kann. Je ausgebreiteter die Tätigkeit ist, umso umfassender muß das Wissen sein; umfassendes Wissen befähigt aber noch längst nicht zum Handeln. Es kommt auf die Fähigkeit an, wie man sein Wissen verwendet.

Es ist nicht immer ein Segen, wenn man mit allzugroßer Gelehrsamkeit an die praktischen Dinge herantritt. Der Alltag bietet dafür tausend Beispiele, und ich gestatte mir, hier ein besonders auffallendes aus dem Alltag des ärztlichen Lebens anzuführen. Wir besitzen aus den letzten Jahrzehnten ganze Bibliotheken von Abhandlungen über die Blinddarmentzündung, über die Gallensteine und über die Herzneurosen. Es steckt in diesen Arbeiten soviel Fleiß und soviel Nachdenken, daß man denken sollte, der praktische Arzt, der das alles gelesen und in sich aufgenommen hat, müsse Wunder verrichten. In Wahrheit findet er aber darin nicht annähernd so viel Belehrung für sein Handeln, wie er aus einem einzigen aufmerksamen und verständigen Prüfen des Bauchs gewinnen kann, und es ist ihm viel dienlicher, einmal an einer Leiche die Bauchhöhle zu öffnen und in diesem organischen Buche zu lesen, als in den gedruckten.

Was sieht man, wenn man die Bauchhöhle öffnet? Der Dickdarm fällt uns zuerst auf, ein dickes Rohr, das an drei Stellen umgebogen ist, rechts unten das erste Mal, das ist die Stelle des Blinddarms, rechts oben das zweite Mal, das; ist die Stelle, wo der Dickdarm an die Gallenblase grenzt, links oben das dritte Mal, dort liegen Herz und Dickdarm dicht beieinander. Wäre es nicht möglich, daß diese Biegungen des Dickdarms, durch die doch Kot und Gase nicht so glatt hindurchgehn wie in den graden Rohrteilen, etwas mit den Blinddarmentzündungen, den Gallensteinen und den Herzneurosen zu tun haben? Und wäre es nicht verständig, diese Möglichkeit einmal auf ihre Wahrscheinlichkeit zu prüfen und auf ihre Verwendbarkeit für das praktische Handeln des Arztes: Ich sollte es denken.

Ich gehe die drei Biegungsstellen der Reihe nach durch, vielleicht ergeben sich daraus nützliche Betrachtungen.

Da ist zunächst die letzte Biegung. Der Dickdarm liegt hier innerhalb des linken Rippenbogens, nach vorn zu begrenzt ihn also die knöcherne Wand des Brustkorbs, nach oben zu ist das Zwerchfell ausgespannt, dem das Herz aufgelagert ist, hinter dem Darm ist der Magen. Sobald Nahrung in den Magen gebracht wird, wird der Raum durch seine Ausdehnung beengt; ist der Darm in diesem Augenblick leer, so wird er je nach der Menge der Nahrung mehr oder weniger zusammengepreßt. Ausweichen kann er nicht gut, da er vor sich die Brustwand, über sich das Zwerchfell, hinter und unter sich den gespannten Magen hat. Herzbeschwerden entstehn dabei nicht. Ist der Darm dagegen im Moment der Nahrungsaufnahme gefüllt, so läßt er sich nicht zusammendrücken, er muß vielmehr nach der Seite ausweichen, die den geringsten Widerstand bietet, das ist nach oben. Das Zwerchfell und damit das Herz werden nach oben verdrängt. Geschieht das sehr oft, so leidet allmählich die Herztätigkeit darunter, es entsteht nach und nach das, was unter dem Namen Herzneurose bekannt ist. Daß dem so ist, läßt sich sehr oft ohne weitres feststellen. Der linke Rippenbogen ist bei solchen Leuten oft vorgewölbt, ausgedehnt, das Zwerchfell steht nachweisbar hoch, am Rippenrand findet sich ein zierlicher Kranz ausgeweiteter Gefäße, der sechste und siebente linke Zwischenrippennerv sind druckempfindlich. Begünstigt wird der ganze Vorgang dadurch, daß es sich meist um leicht erregbare Menschen handelt, deren sympathisches Nervensystem entweder von Natur oder infolge großer Gemütserschütterungen reizbar ist; bei solchen Menschen ist die Gasbildung im Magen und Darm abnorm gesteigert, so daß zu der Raumbeengung durch Nahrung und Kot noch die durch Flatulenz hinzukommt.

Nun die zweite Stelle rechts oben. Auch da läuft der Darm innerhalb des Brustkorbs, oben und vorn überragt ihn die Leber, nach unten zu ist er verhältnismäßig frei beweglich. Der Kot und die Gase werden von rechts unten den Darm hinaufgetrieben, an der Biegungsstelle wird die Fortbewegung langsamer, und sie hört zeitweise ganz auf, wenn das Darmrohr an der linken Biegungsstelle durch die Füllung des Magens zugedrückt wird, wie ich es eben beschrieb. Da von rechts unten immer neue Massen anrücken, so wird der Darm mehr und mehr angefüllt, und je mehr er sich ausdehnt, umso mehr drückt er direkt oder indirekt auf den Gallengang, der hinter ihm von der Gallenblase herab zum Dünndarm führt. Der Gallenabfluß wird zeitweise ganz unterdrückt, die Galle staut sich in der Blase; die Gelegenheit zur Steinbildung ist damit gegeben. Vielfach weicht der Darm auch unter dem Druck seines aufgehäuften Inhalts nach unten aus, er ist an dieser Stelle dann nicht mehr straff gespannt, sondern hängt wie ein schlaffes Seil. Selbstverständlich wird dadurch die Fortbewegung des Inhalts erheblich erschwert. Ist das aber der Fall, so macht es sich auch an der dritten Biegungsstelle, rechts unten, an der Blinddarmgegend geltend.

Dort sind die Raumverhältnisse besonders interessant. Der Dünndarm mündet da in den Dickdarm, jedoch ist der Dickdarm nicht die gerade Fortsetzung des Dünndarms, vielmehr hängt an ihm wie ein Sack der Blinddarm, ein Darmstück, das blind endet. An dem Grunde dieses Sacks ist dann noch der Wurmfortsatz angebracht, ein enger nach unten hängender Trichter. Es leuchtet ohne weitres ein, daß hier zu Stauungen mit all ihren Folgen von Kreislauf- und Ernährungsstörungen günstige Gelegenheit gegeben ist. Kann nun infolge der häufigen Stockungen an der linken und rechten obern Biegungsstelle der Kot nicht vorwärts, so wird er mit einer gewissen Gewalt in diesen blinden Sack und seinen trichterförmigen Fortsatz, in den Blinddarm und Wurmfortsatz hineingepreßt. Es ist nicht schwer verständlich, warum es unter solchen Verhältnissen zu schweren Erscheinungen kommen kann, und man braucht nicht erst an verschluckte Kirschkerne, Eierschalen oder Gräten zu denken, deren Harmlosigkeit wir doch alle experimentell am eignen Körper ausprobiert haben. Oder sind viele unter meinen Lesern, die als Kinder nicht um die Wette mit den Kameraden Kirschkerne verschluckt haben? Mir sollte es um sie leid tun; sie haben sich um eine kindliche Freude gebracht.

So liegen also die mechanischen Verhältnisse. Ist damit irgend etwas für den Arzt anzufangen? Gewiß; die Behandlung, die vorbeugende so gut wie die zu Genesungszwecken, ergibt sich von selbst. Sie hat dafür zu sorgen, daß die drei Biegungsstellen möglichst wenig und möglichst kurz belastet sind, und weiterhin, daß stets im Bauch freier Spielraum für seinen Inhalt da ist. Selbstverständlich ergeben sich im einzelnen Fall Abweichungen, denen man Rechnung zu tragen hat. Der Typus der Behandlung ist aber so einfach, wie ich es eben sagte.

Und nun darf ich mir wohl die Gegenfrage erlauben, was es uns Ärzten für unsre praktische Tätigkeit nützt, wenn wir wissen, daß die Herzneurosen durch Gemütserregungen verursacht werden. Gar nichts. Denn Gemütserregungen können wir nicht verhindern. Der Rat: Vermeiden Sie alle Aufregungen, ist mir immer etwas kindlich vorgekommen. Wie soll man das wohl machen? Und außerdem ist er schlecht. Er zerstört oft das Leben einer ganzen Familie. Der Kranke fühlt sich, wenn er nicht gar die Verordnung als Rechtfertigung jeder Anmaßung und jeder Trägheit benutzt, oft vernachlässigt, und seine Umgebung empfindet ihn, selbst bei großer Liebe und Nachsicht, doch ab und zu als Last. Und was nützt es uns – vorausgesetzt, daß es überall wahr ist – zu wissen, daß Gallensteine und Blinddarmentzündungen durch Bazillen entstehn. Gar nichts. Die Bazillen können wir nicht aus der Welt schaffen, das könnten wir nachgerade eingesehn haben. Wir können den Menschen höchstens so machen, daß er die Bazillen überwindet und sich nicht von ihnen ruinieren läßt.

Der Mensch soll Vertrauen zu sich selbst haben, er soll der Kraft der menschlichen Natur vertrauen. In ihr liegen gar viele Arzneien und Heilmittel verborgen, ja wenn man die Dinge recht besieht, ist das Kranksein selbst nichts andres als ein Heilprozeß. Wir sprechen von Krankheiten, aber das sollten wir nicht tun, denn der Ausdruck Krankheit bringt es mit sich, daß man dabei an einen Gegner, einen Feind denkt, der den Menschen von außen befällt. Das ist eine kindliche Vorstellung. Kranksein ist nichts andres als leben, als der Versuch des Lebens, sich veränderten Bedingungen anzupassen, es ist nicht ein Kampf des Körpers mit der Krankheit, sondern eine ordnende Tätigkeit, etwa der zu vergleichen, die wir stündlich und tausendfach mit Überlegung ausführen, um unser Tagwerk zu vollbringen. Wir passen uns den Lebensbedingungen an: wenn es kalt ist, tragen wir Mäntel und heizen das Haus, und wenn die Sonne brennt, wählen wir leichte Kleider. Wen hungert, der ißt, und wen dürstet, der trinkt. Und wenn wir nicht Fleisch haben, so essen wir Brot, ja zur Not stillen wir unsern Hunger mit Kartoffelschalen, Rattenfleisch oder Leimsuppen, und wem der Becher fehlt, der trinkt aus der hohlen Hand. In Stadt und Land bauen wir Häuser aus Stein und Holz, aber in den Wüsten des Südpols wird uns der Schnee zum schützenden Dach. Was der Mensch auch tun mag, immer und überall schaut er vor sich und um sich, um Ort und Zeit zu benutzen und die Aufgabe mit den Mitteln zu lösen, die er versteht; sicher, der eine tut es gut, der andre schlecht, je nachdem ihm Gott Verstand verliehn, aber eines jeden Lebenszweck ist nicht der Kampf, der ja ein Chaos ist, sondern den Kampf zu befrieden, das Chaos zu ordnen. Jedem Menschen ward Verstand gegeben, und dieser Verstand zwingt ihn, alles verständig zu benutzen. Die Tätigkeit des Menschen ist im wesentlichen eine ordnende; daß er dazu hie und da den Kampf wählt, ist richtig, aber gewiß ist es falsch, für ihn und für alles Leben und Weltgeschehn, das Rätsel auf den Kampf, gar auf den Kampf ums Dasein zurückzuführen. Schaffend nach bestimmten Zielen wirken, das ist der Inhalt des Menschendaseins, die Umwelt gestalten oder sich der Umwelt anpassen.

Und genauso verfährt das Leben. Es denkt und urteilt und benutzt, was sich ihm bietet, gestaltet und ordnet unablässig, und wo es nicht mit der Gesundheit wirken kann, da wirkt es mit der Krankheit. Aber die Krankheit ist nur ein Mittel des Lebens um zu leben.

In jeder Krankheit ruhen Heilungstendenzen, selbst der Krebs hat sie, selbst im Sterben ordnet das Leben noch, sucht zu heilen und zur Gesundheit zu führen, zu dem bestmöglichen Dasein unter schlechten Bedingungen; es stumpft die Empfindlichkeit des Sterbenden ab. In gleicher Weise aber heilt diese Kraft des Lebendigseins fortwährend.

Man betrachte den Schnupfen, eine Krankheit, die jeder kennt. Was ist es wohl anders als ein Heilungsversuch, ein Sichabmühn des Körpers, schädliche Stoffe von der Schleimhaut wegzuspülen? Wo eine Wunde die Haut zerfetzt hat, schließt das Leben die Wunde oder verstopft sie mit wuchernden Zellen, mit Blutgerinnsel, mit Eiter, wenn es nicht anders geht. Ist der Kreislauf gestört, so wächst die Kraft und die Schlagfolge des Herzens, erblindet das Auge, so schärft sich Gehör und Gefühl, ist Gift im Darm, so entleeren sich Magen und Eingeweide und der Schweiß bricht aus. Und kreisen die Gifte im Körper, so flammt das Feuer empor, das heilende Blut und die Säfte strömen in raschrem Fluß, und der Durst erwacht, um mit Wasser zu verdünnen und wegzuspülen, was die Ordnung stört, was Chaos ist.

Das Leben, mag es nun krank oder gesund sein, ist Ordnen. Wie der Arzt bald mit der Hand, bald mit dem Auge tätig ist, wie er die Lupe gebraucht oder das Mikroskop, wie er das Messer ansetzt und schneidet und wie er mit dem glühenden Eisen brennt, so verfährt das Leben. Und wie der Schreiner jetzt den Hobel ergreift und jetzt die Säge und jetzt den Meißel, so auch das Leben; ordnen sollst du, Mensch, so spricht es unablässig, und wenn du nicht ordnen kannst, weil dir im Innern selbst Chaos ist, so ist hier die Krankheit, die dir das Chaos ordnen soll.

Fürchtet euch nicht, denn ich bin bei euch, dies Wort aus unsrer Kindheit sollte uns begleiten. Das Leben steht neben uns, und es ist wahrlich nicht machtlos. Fürchtet euch nicht. Man schaue doch der Krankheit ins Gesicht. Sie ist der Furcht nicht wert. Denn Leiden ist nicht zum Fürchten. Aus Leiden sprießt Lust, wenn nicht für dich, so für andre. Der Mensch ist nicht Selbstzweck, nur das Leben ist in sich selber Zweck. Ist es denn aber denkbar, daß das Leben selbst, nicht das Leben des Einzelnen, sondern der Menschheit, Chaos wird, Krankheit wird?

Man prüfe einmal die eine einzige Frage der Vererbung. Gewiß, sie ist eine große Macht, durch Generationen tätig, aber sie wird gebändigt vom Leben. Krankheit vererbt sich, so sagt man. Man schaue doch um sich. Tag um Tag, Jahr um Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert steigen neue Menschen aus dem Mutterleib des Lebens hervor, aus diesem Leibe, der unendliche Massen von Krankheitsanlagen in sich birgt und seinen Kindern mitgibt. Aber diese Kinder sind noch nicht von den Erbübeln in ihrem Mark und ihrer Kraft geschädigt, immer stark und immer rein erhebt sich die neugeborne Menschheit, gleich leistungsfähig, gleich leistungshungrig wie die alte, die ins Grab sank. Es ist nicht anders: das Leben, das nicht mit dem Einzelnen rechnet und nicht mit Generationen, sondern mit Jahrtausenden und mit der Gesamtheit, spielt mit dem Gesetz der Vererbung, schüchtert uns ein damit, wie man Kinder mit einem rauhen Wort einschüchtert, aber in Wahrheit benutzt es alle Vererbung, alle Krankheit, allen Tod, um sich zu schmücken und zu vollenden. Es ist nicht anders, im Chaos lebt schon der Drang zur Ordnung, in der Krankheit der Drang zur Genesung.

Und gerade das ist es, was der Mensch wissen muß und was der Arzt wissen muß, daß das Leben heilt. Das ist die wesentliche Kenntnis, die ihm nottut, der feste Grund seines Wissens, Denkens und Handelns. Das Leben ist wie das Feuer: lange ehe irgendwer daran dachte, das Feuer wissenschaftlich zu zerlegen, kannte der Mensch seine wohltätige Kraft, wußte er sie zu bändigen und zu leiten, verstand er es, Metalle zu schmelzen und mit dem brennenden Herde die Heimat zu gründen. Und das Leben läßt sich bändigen wie das Feuer, da ist kein Zweifel.

Wir können den Menschen so leiten, daß er alle Störungen in sich selbst und durch sich selbst überwindet. Das ist der Inhalt und die Begrenzung des ärztlichen Tuns, daß wir das Leben leiten, daß wir es zwingen, den Menschen gesund zu machen, genau wie es ihn krank machte. Nicht wir heilen den Menschen, sondern er heilt sich.

Niemand soll es glauben und niemand darf es glauben, daß ein Arzt den oder jenen geheilt hat. Es steht nicht in seiner Macht. Die Natur heilt, der Arzt behandelt.

Das klingt wie ein Verzicht, ja manch einer könnte denken, es klänge verzagt. Das ist es aber gewiß nicht. Wohl, wir Ärzte staunen das Leben an, mit einer hohen Freude, mit einer unbeschreiblichen Begeisterung und Frommheit sehn wir diesen Meister aller Meister, diesen König und Schöpfer, diesen Künstler aller Künste am Werk, gestern und heut und morgen und all unser Leben lang entdecken wir neue Heilkräfte und neue Heilweisen, die das Genie der Natur gleichsam spielend hervorbringt.

Und unsrer Andacht ist kein Ende und unsrer Dankbarkeit für das, was sie in unserm Namen leistet, erst recht nicht. Aber sind wir darum schlechter, weil wir anerkennen: nicht wir sind die Heilkünstler da, das Leben selbst ist es? O nein, wir erkennen das ruhig an, ruhig und selbstbewußt. Denn wie wir Diener der Natur sind, so sind wir auch ihre Meister. Wir leben und handeln nach dem stolzen Wort des Königs: Ich bin der erste Diener des Staats. Das Leben aber ist größer als der Staat. Und nichts Höheres weiß ich mir in der Welt als Arzt sein.

 

In dem einen aber leben und sterben wir:

 

Natura sanat, medicus curat.


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