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Ich hob vorhin als bemerkenswert hervor, daß das Kanalsystem des menschlichen Körpers fortwährend hin- und hergetragen wird, daß seine Röhren jeden Augenblick gebogen, gedrückt, gezerrt werden, ohne daß seine Arbeit dadurch gestört wird. Viel seltsamer noch, ja entscheidend für alle Lebensvorgänge ist es jedoch, daß diese Röhren imstande sind, sich zu erweitern und zu verengern, je nachdem es die Verhältnisse erfordern. Jetzt lassen sie in bestimmten Gebieten das Blut langsamer fließen, so daß alle seine wirksamen Bestandteile gemächlich und gründlich auf die umgebenden Gewebe einwirken können, und im Moment darauf machen sie denselben Bezirk fast blutleer. Hier in diesem Zellgebiet verdoppeln und vervierfachen sie den Druck, die mechanische Kraft des Wassers, und einen Finger breit daneben sinkt dieser Druck auf ihr Gebot bis zur äußersten Grenze; und das alles geschieht im höchsten Grade zweckmäßig, in kaum faßbarer Geschwindigkeit, mit einer Sicherheit der Ausführung, die den peinlichsten Anforderungen gewachsen ist. Das ist die Technik der Natur, des Lebens. Man sieht, wie stümperhaft unser Werk dagegen ist, man erkennt aber auch, daß es nicht einmal möglich ist, die Leistungen des Kreislaufs zu berechnen, und daß das auch nie möglich sein wird. Ja, vorläufig stehn wir der Ergründung dieser Dinge noch so fern, daß wir wohl allenfalls der Natur diesen oder jenen Kunstgriff ablauschen und für unsre ärztlichen Zwecke verwerten können, aber ohne die Vorgänge zu übersehn, die wir mit diesen Kunstgriffen auslösen.
Um die Wahrheit dieses Satzes begreiflich zu machen, muß ich einen Gegenstand besprechen, den ich bisher vermieden habe, der flüchtig betrachtet manches Rätsel zu lösen scheint, in Wahrheit aber erst zeigt, wie tief das Geheimnis des Lebens ist.
Bei der Besprechung des Muskelsystems erwähnte ich außer den quergestreiften, willkürlichen Muskeln die glatte Muskulatur, die nicht dem Willen unterworfen ist, sondern eignen Gesetzen folgt. Diese glatte Muskulatur, wie sie sich in den Eingeweiden, den Gefäßen, kurz überall dort findet, wo Bewegung statthat, ohne dem Gedanken und Willen zu gehorchen, hat auch ihr eignes Nervensystem, das seinerseits vollkommen der Herrschaft unsres bewußten Willens entzogen ist, aber nichtsdestoweniger recht eigentlich in alles Leben und alles Tun eingreift, es bedingt, das uns überhaupt erst Denken, Empfinden, Wahrnehmen, Wollen und Handeln ermöglicht. Man nennt dieses Nervensystem das sympathische Nervensystem, das mitleidende Nervensystem, ein Name, der schicklich seine Grundeigenschaften bezeichnet. Denn diese Nerven sind es hauptsächlich, die das Leben des Organismus einheitlich gestalten, die es ermöglichen, daß das Ganze des Menschen an jeder Tätigkeit und jedem Eindruck der einzelnen Körpergebiete teilnimmt, die es unmöglich machen, daß auch nur der kleinste Vorgang im entferntesten Winkel des Menschen geschieht, ohne daß der ganze Mensch diese Vorgänge miterlebt.
Diese sympathischen Nerven sind nun nicht etwa, wie die motorischen und sensiblen Nerven, zu einzelnen Strängen, zu Nervenstämmen zusammengefaßt, vielmehr verläuft das einzelne Nervenfädchen für sich, so daß man beim Zergliedern des menschlichen Körpers, bald hier, bald da auf dergleichen Fasern stößt. Dem Auge bietet sich auf diese Weise ein kaum zu lösendes Gewirr solcher Nerven. In Wahrheit ist aber jedem kleinen Nerv sein regelrechter Platz gegeben, ebenso wie ein jeder seine eigne festbestimmte Funktion hat. All diese Fäden, die überall, wo ihre Herrschaft gilt, sich in Menge finden, stehn miteinander in Zusammenhang, zum Teil erst in dem Gebiet des Zentralnervensystems, in dem Innern des Gehirns und Rückenmarks, zum Teil aber, und das ist ihr besondres Merkmal, auch untereinander dadurch, daß sie sich miteinander verflechten. Man spricht deshalb auch gern von sympathischen Nervengeflechten. An Stellen, wo sie dicht zusammengehäuft sind – etwa in der Darmwand oder an besonders lebenswichtigen Plätzen wie in dem Bereich der Zeugungsorgane im Becken oder in der Nachbarschaft des Herzens, des Magens und der großen Verdauungsdrüsen, Leber, Bauchspeicheldrüse –, an solchen Stellen machen sie geradezu den Eindruck eines feinen Netzes, wie es etwa Frauen über ihren Haaren tragen. Die Nerven vereinigen sich dann in Knoten, ähnlich wie sich die Netzfäden kreuzen. Ein bedeutender Unterschied besteht allerdings: während beim Netz die Fäden im Knoten nur verschlungen sind, auf der andern Seite des Knotens aber unverändert weiterlaufen, verlieren sich die Nerven in ihren Knoten, wenigstens für unser Auge. Diese Knoten, Ganglien genannt, sind in gewissem Sinne Zentralorgane, kleine Hilfsgehirne, die massenhaft im Körper verstreut sind, die fähig sind, aus eigner Machtvollkommenheit bestimmte Funktionen der Organe in Betrieb zu setzen und so Tätigkeiten zu regeln, ohne das Bewußtsein damit zu belasten, wie etwa die Verdauung oder die Veränderungen der Blutgefäße und des Herzens; denn auch das Herz ist, trotzdem es eine Art quergestreifter Muskeln besitzt, dem sympathischen Nervensystem unterworfen, auch in ihm finden sich Ganglien, Hilfsgehirne.
Ich muß auch noch andre Nervenfasern erwähnen, die gewöhnlich getrennt von dem sympathischen Nervensystem behandelt werden, teils weil ihre Funktionen andre sind, teils weil sie vielfach in den Bahnen des willkürlichen Nervensystems verlaufen, das sind die trophischen, die Ernährungsnerven und die Sekretions-, die Absonderungsnerven. Ich füge sie lieber hier an die Besprechung des sympathischen Nervengeflechts an; das entspricht besser dem Zweck, den ich gerade im Auge habe. Ihre Funktionen ergeben sich aus ihrer Benennung; die einen beherrschen gewisse Teile der innern Ernährungsvorgänge in den Geweben, die andern Ausscheidungsprozesse der Drüsen. Über den Einfluß der Ernährungsfasern sind wir nur sehr oberflächlich unterrichtet. Die Rolle der Absonderungsnerven ist noch nicht annähernd geklärt, man kann sich bei ihnen aber wenigstens eine Vorstellung davon machen, welche umfassende Bedeutung sie für den Körper und sein gesundes oder krankes Leben haben. Es handelt sich ja dabei nicht nur darum, daß sie die Ausscheidung aller im Körper gebildeten oder irgendwie in den Körper hineingeratnen Gifte mit regeln, die Urinausscheidung durch die Nieren, die Schweißabsonderung der Haut, vielleicht auch die Kohlensäureabgabe der Lungen; auch die gesamte Verdauung steht unter ihrem Einfluß, da sie die verschiednen Säfte und Fermente, die zur Zersetzung der Speisen notwendig sind, in geeigneten Mengen aus den Drüsen fließen lassen.
Und nicht genug damit: ich erwähnte schon früher, daß eine Reihe innrer Organe Stoffe absondern, die für Wachstum, Ernährung, Gedeihen des Organismus ausschlaggebend sind, ja die in gewissem Sinne auch das Gedanken- und Gefühlsleben des Menschen bestimmen. Auch sie stehn unter dem Einfluß dieser Nerven. Dahin gehören zum Beispiel die männlichen und weiblichen Zeugungsorgane, Hoden und Eierstöcke, dahin auch die Schilddrüse, die Zirbeldrüse, die Nebennieren und so weiter. Unsre Kenntnisse all dieser überaus wichtigen Vorgänge sind noch unbestimmt, fast nebelhaft, da man sich erst seit wenigen Jahren damit befaßt. Gewisse Krankheitsformen, wie die bekannte Glotzaugenkrankheit, der sogenannte Basedow, oder das Myxödem mit seiner seltsamen Entartung der Gewebe und der Verblödung, die es mit sich bringt, der Kretinismus, all das sind Beweise für die Bedeutung der Schilddrüsensekretion. Ebenso lassen sich Wachstumsstörungen, besondre Arten der Fettsucht, seltsame Hauterkrankungen auf fehlerhafte Absonderung innrer Organe zurückführen; ja eine Reihe dieser Absonderungsstoffe haben eine weitgehende, gar nicht abzuschätzende Wirkung auf das Leben des Alltags, das sind die Einflüsse, die Eierstock- und Hodensekretion ausüben. Man ist geneigt, diese Organe nur als Werkzeuge der Fortpflanzung zu betrachten; sie sondern aber nicht nur Eier und Samentierchen ab, sondern merkwürdige Stoffe, die das Leben des einzelnen im tiefsten günstig oder ungünstig bedingen.
Die Beschäftigung damit, ja schon das bloße Nachdenken darüber lehrt uns, welch eine Bedeutung das unbewußte Leben für den Menschen hat, wie wenig er mit seinem Verstände auszurichten vermag, wie vielmehr dieser Verstand in hohem Maße von seltsam verwickelten Lebensprozessen unbekannter Art abhängig ist. Der Glaube, daß wir den Menschen kannten, ist eben ein Irrtum, und das Aburteilen über Fehler in seinem Bau, wie es einem hie und da in der Praxis bei überklugen Patienten begegnet, ist eine Anmaßung, die man zurückweisen soll.
Vergegenwärtigt man sich die Leistungen all dieser Nerven, die ich der Kürze halber unter der Benennung: sympathisches Nervensystem zusammenfasse, so steht man plötzlich vor einer überwältigenden Masse verschlungner Eindrücke, daß man kaum einen Ausweg aus dem verwirrenden Ansturm findet. Man sieht gleichsam das Leben am Werk, sieht das Hin- und Herschießen der Ereignisse, glaubt dort etwas zu verstehn, hier eine Ursache zu fassen, Zusammenhänge zu begreifen, aber überall drängt sich neues Geschehn zwischen die Beobachtungen, neue Verbindungen, so daß dem Geist bald schwindelt und er mutlos von dem Unterfangen absteht, wirklich zu erkennen, und sich mit ein paar Bruchstücken begnügt, die allenfalls Staunen erregen, aber nie und nimmer uns dem Lebensrätsel näherbringen.
Man greife irgendeinen Lebensvorgang heraus, etwa das kraftvolle Ballen der Faust: man sieht sofort, daß bestimmte Stellen der Finger blaß, andre hellrot werden; der Blutkreislauf hat sich verändert, andre Ernährungsbedingungen sind eingetreten. Drückt man die Fingerkuppen gegen den Tisch, so treten ähnliche Erscheinungen, aber an andern Stellen ein. Drückt man den Nagel gegen den Tisch, so sieht man wieder andre Kreislaufgebiete verändert; und wenn man die ganze Hand mit gestreckten Fingern nach dem Handrücken zu umbiegt, noch andre; ja, wenn man eine empfindliche Haut beobachtet, sieht man schon bei leisen Fingerbewegungen einen lebhaften Wechsel zwischen hellrot und blaß auftreten. Das bedeutet, daß jede Bewegung des Fingers den sympathischen Nerv, den Blutgefäßnerv erregt, daß sie eine Schwankung in dem Kreislauf herbeiführt und damit eine Änderung in den Verbrennungsprozessen, ja in den gesamten Lebensvorgängen des betreffenden Zellgebiets. Versucht man es, die Faust längere Zeit, etwa zwei Minuten lang, stark geballt zu halten, so werden die roten Stellen dunkelrot, das heißt, eine örtliche Kohlensäurestauung entsteht, es tritt sehr bald ein unbehagliches Gefühl, eine Schwere, nach und nach sogar Schmerz ein; die Kreislaufstörung hat zur merkbaren Ernährungsstörung geführt.
Noch deutlicher tritt das bei jeder größern Kraftleistung hervor. Die Adern schwellen dann an, das Gesicht wird blaurot, die Augen blutunterlaufen, der Schweiß bricht aus, das Herz arbeitet mühsam. Das Gebiet des Sympathikus ist erheblich in Anspruch genommen. Sobald die Muskelarbeit eine gewisse Grenze überschreitet, treten weitgehende Störungen auf.
Ein andres Beispiel: man verletzt durch irgendeine Bemerkung ein junges Mädchen; das Blut schießt ihr in die Wangen, sie wird abwechselnd rot und blaß. Dauert die Kränkung an, so brechen Tränen hervor, und schließlich kommt es zu heftigen Kopfschmerzen. Das bedeutet, daß die Gemütserregung die sympathischen Gefäßnerven erregt und eine Kreislauferkrankung hervorruft, die mit der Zeit zur Ernährungsstörung, ja selbst zur Erkrankung führt.
Ein Kind lügt; sofort verändert sich der Blick, er wird flackernd, unsicher; das Herz klopft hörbar und das Gesicht ist blaß und zuckt. Ein großer Teil des sympathischen Nervensystems ist in Mitleidenschaft gezogen, nicht nur die Gefäßnerven, sondern ebenso die des Auges und des Herzens.
Nun, Erwachsene pflegen weder rot zu werden, noch Herzklopfen beim Lügen zu bekommen; ihr Sympathikus ist für diese Reize abgestumpft. Aber Erwachsne haben Angst; und siehe da, die Angst macht das Herz klopfen, treibt den Schweiß hervor, läßt die Gänsehaut über den Körper gehn, sie lastet sich auf die Magengrube, die obern Darmpartien schwellen an, ja es kommt nicht selten zu Durchfällen. Ähnlich ist es mit dem Zorn, mit dem Gewissensbiß, mit der Sorge, mit der Trauer und Freude. Sobald die Gemütsbewegung ein gewisses Maß überschreitet, führt sie zu erheblichen Störungen im Kreislauf, ja in allen Gebieten des Sympathikus.
Oder wieder etwas andres, du streckst den Arm aus und hältst ihn waagrecht in die Luft. Nach einer halben, nach einer Minute wird er dir schwer, ein Kribbeln, eine Taubheit tritt ein, die Blutadern schwellen auf zu Stricken, die Hand, der Arm wird blau, und schließlich sinkt er kraftlos nieder. Eine Störung im Kreislauf war eingetreten, der Sympathikus in seiner Tätigkeit beeinträchtigt. Oder du bückst dich, dein Gesicht wird rot, vielleicht wird dir schwindlig. Du legst dich nieder, und dein Herz arbeitet anders. Du schläfst, und wilde, böse Träume ängstigen dich, denn dein Kreislauf ward verändert, dein nimmer schlafendes Nervensystem ist irgendwie erregt, vielleicht durch den Druck von Gasen auf das Sonnengeflecht, vielleicht nur durch die Änderung der Lage.
Weiter: Man sieht, daß irgendwer einen Schlag in das Gesicht bekommt; die Stelle, die getroffen ist, wird blaß, gleich darauf feuerrot, sie schwillt an, sie brennt. Vielleicht brechen auch wieder Tränen hervor, möglicherweise kommt es zur Ohnmacht oder zu Kopfschmerzen und Erbrechen. Der Reiz der einen Stelle pflanzt sich durch Vermitteilung des sympathischen Nervs auf andre Lebensäußerungen fort.
Eine Freundeshand, vielleicht die des Weibes oder der Mutter berührt unser Haar. Ein wunderbares Gefühl der Ruhe geht durch den Körper, ein Gefühl der Weichheit, des Losseins von allen Sorgen. Hat man nicht recht, dieses machtvolle Geflecht der Nerven sympathisch zu nennen? Es empfindet in Wahrheit jedes Geschehnis des Lebens; Liebe und Lust, Freundschaft, Leid, Trauer und Arbeit, Essen und Trinken, Liegen und Gehn, an allem nimmt dieses Netz feiner Fäden, das unsern Körper durchzieht, teil. Man sieht, und was man sieht, haftet nicht nur im Auge, nicht nur im Gehirn, es durchströmt den Körper und die Seele, sie sehn mit. Man hört, und das Ohr fängt den Schall, das Gehirn vernimmt ihn, aber zugleich hört der ganze Mensch, der Laut klingt in ihm bis zu den äußersten Fingerspitzen. Man sagt, daß sich zwei Hände berühren, aber in Wahrheit rinnt dieser Händedruck durch zwei Menschenkörper hindurch, nicht die Hände, die Menschen berühren sich.
Ich bin mir bewußt, daß ich da etwas niederschreibe, was vielen erdichtet, phantastisch vorkommen wird. Aber ich erdichte nichts. Wahrheiten klingen phantastisch, solange sie nicht in klare Worte gefaßt sind, solange der Gedanke sie nicht klar erfassen kann. Aber weder mein noch irgendeines Menschen Denken reicht aus, um diese Phänomene zu begreifen, und noch weniger vermag irgendein Wort sie auszudrücken. Die kleine Welt des Menschen ist unsrer Erkenntnis ebenso verschlossen wie das Weltall selbst. Wir tasten daran herum, fassen hier zu oder da, aber je öfter wir zugreifen, umso tiefer empfinden wir unsre Machtlosigkeit, irgendein Problem wirklich zu lösen. Der Deutungsversuch bleibt immer ein grobes Zupacken, bei dem die Fäden reißen, statt sich zu entwirren. Wenn ich es trotzdem unternehme, nicht etwa einen Beweis für meine Behauptungen aufzustellen – sie beweisen sich selbst für jeden, der sich nicht absichtlich den Lebenserscheinungen des Alltags verschließt –, nein nur den Weg zu zeigen, auf dem ich persönlich auf diese Ideen gekommen bin, so geschieht es, weil dieser Weg auf dem einzig sichern Boden der Menschenkunde sich gründet, auf der Anatomie.
Die Muskulatur der Blutgefäße nämlich wird von Fasern des sympathischen Nervs beherrscht. Diese in das Innre ihrer Muskulatur eintretenden Fäden führen die Erweiterung oder Verengung der Gefäße herbei. Außerdem sind die Adern in ihrem Verlauf von einem dichten Gespinst solcher Nerven umgeben, in das hie und da Ganglien eingestreut sind, das aber mit sämtlichen andern Gefäßnerven in ununterbrochnem Zusammenhang steht, ja mit sämtlichen sympathischen Nerven überhaupt. Was geschieht nun mit diesen Gefäßen und den in sie eintretenden und sie umspinnenden Nerven in dem Moment, wo eine Bewegung im Bereich des Körpers eintritt, sei es der Gliedmaßen beim Gehn oder Greifen, sei es im Darm beim Fortbewegen des Speisebreis, sei es in den Lungen bei der Atmung oder im Herzen beim Schlag?
Diese Blutgefäße und mit ihnen ihre Nerven müssen bei jeder Bewegung irgendwie ihre Lage verändern, und wäre es nur um eines Millimeters Breite oder noch weniger. Das genügt aber vollständig, um von dem Nerv wahrgenommen und mit einer Veränderung der Gefäßweite beantwortet zu werden. Meist, wenn nicht immer, wird die einfache Lageveränderung des Gefäßes nicht einmal ausreichen, sondern es wird selbst bei kleinen Bewegungen gedehnt oder zusammengepreßt werden, bei ausgiebigen Bewegungen läßt sich das mit dem bloßen Auge verfolgen. Die Möglichkeit für das Gefäß ist gegeben, weil es eine große Elastizität besitzt und, sobald der Zug oder Druck nachläßt, in seine alte Form zurückschnellt. Beidemal aber, bei der Dehnung sowohl wie bei dem Zusammenziehn zur alten Gestalt, werden die sympathischen Nerven gereizt, sie antworten mit Zusammenziehung oder Ausdehnung der Gefäßwände, mit einer schnelleren oder langsameren Blutströmung, mit höherem oder niedrigerem Blutdruck, mit größrer oder geringrer Wasser- und Sauerstoffülle im Gebiet des Reizes. Das muß so sein und das ist so, wenn auch unsre Untersuchungsmethoden nur bei groben Vorfällen es festzustellen vermögen.
Damit ist es aber nicht abgetan. Die eben ausgelöste Zusammenziehung oder Ausdehnung der Gefäßwand gibt einen neuen Reiz der Gefäßnerven, der den ersten der Dehnung entweder verstärkt oder vermindert. Es entsteht dadurch eine unendliche Menge von Abstufungen, die im einzelnen zu übersehn niemand imstande ist, die uns aber begreiflich macht, wie der Organismus sich genau und augenblicklich jedem Ereignis des Lebens anpaßt.
Es bleibt auch nicht bei der örtlichen Schwankung des Kreislaufs. Je nach der Größe des Nervenreizes, je nach der Lage des Gefäßes, ob es in der Nachbarschaft zahlreicher und bedeutender Ganglienhaufen liegt oder nicht, je nach der Dauer der Gefäßveränderung pflanzt sich die Kreislaufschwankung über engere oder weitere Gebiete des Organismus fort, so daß unter Umständen umfassende Folgen daraus entstehn.
Ich kann es mir nicht versagen, hier nochmals auf einige Eigentümlichkeiten des Lebens hinzuweisen, die ich teilweise schon erwähnt habe, die aber jetzt erst eine ausreichende Beleuchtung erfahren haben. Da ist die seltsame Tatsache, daß die Verdauungssäfte immer genau in den Mengen abgesondert werden, die der Art und Masse der eingeführten Nahrungsstoffe entspricht; es handelt sich dabei um Tätigkeiten des sympathischen Nervensystems. Ebenso ist die sorgfältige Arbeit des Herzens, das sich sofort auf jede Veränderung der Aufgaben einrichtet, im wesentlichen auf die Ganglien seiner Wand zurückzuführen. Ich erwähnte weiter den Kunstgriff der Natur, durch das Saugen des Kindes an der Mutterbrust Zusammenziehungen der Gebärmutter zustandezubringen und diese so auf ihre frühern Größenmaße zurückzubringen.
Jedes Organ des Menschen wird vom Leben vielseitig benutzt, es besitzt Funktionen nach verschiednen Richtungen hin, ist zum mindesten stets auch Werkzeug des Kreislaufs und des Nervensystems. So beschränkt sich die Leistung der weiblichen Brust durchaus nicht auf die Milchbildung. Auf geheimnisvolle Weise beeinflußt sie das gesamte Geschlechtsleben des Menschen, und das Stillen dient nicht etwa nur zur Ernährung des Kindes, sondern weckt in seltsamem Zwang, wenn wenige Wochen nach der Entbindung die Gebärmutter, nicht zum wenigsten durch die Sympathie mit dem Saugakt, zur Aufnahme eines neuen Kindes bereit ist, im Weibe den Trieb nach Vereinigung mit dem Manne. Die weibliche Brust steht in inniger Verbindung mit der geschlechtlichen Erregung. Das Leben schaut weit voraus und, so gleichgültig es anscheinend mit dem einzelnen Menschen verfährt, so sorgfältig ist es, die Art zu erhalten. Wir Menschen sind geneigt, alles auf unsern freien Entschluß, auf unsre persönlichen Empfindungen zurückzuführen, wir stehn aber unter den Naturgesetzen.
Eine eigentümliche Beleuchtung erhalten die Wachstums- und Altersvorgänge von diesem Standpunkt aus. Die Neubildung der Gefäße und Nerven, noch mehr ihr Untergang gehn mit einer mehr oder weniger großen Erregung des Gefäßsystems einher. Eine Menge der Kinderkrankheiten, besonders auch der häufigen Hautausschläge, der Infektionskrankheiten, der Krämpfe und Zuckungen stehn damit im Zusammenhang. Am deutlichsten tritt das in der Pubertät und dem Klimakterium hervor, nicht nur in Hinsicht auf die Psyche, die ja dann ihre besondern Eigentümlichkeiten aufweist, sondern gerade in dem Entstehn der gefürchteten Pickel und Furunkel, die Knaben und Mädchen die Freuden ihres Alters verbittern. Am meisten hat das weibliche Geschlecht unter diesen Kreislaufstörungen durch Wachstum und Untergang von Gefäßen zu leiden, da beides bei ihnen in regelmäßigen Perioden ihr ganzes Frauenleben hindurch wiederkehrt; die Menstruation ist ja rein äußerlich betrachtet Zerstörung von Blutgefäßen in einer Gegend, in der Sympathikusfasern massenhaft angehäuft sind.
Daß schließlich mit zunehmendem Alter bei jedem Menschen, Mann oder Frau, sich die Empfindlichkeit der Gefäßnerven abstumpft, ist ein natürlicher Vorgang. Die Arterienverkalkung, von der jetzt wieder ein kaum erträglicher Lärm gemacht wird, ist ein völlig normaler Vorgang, der auch in sich keine Gefahren birgt, sondern nur das Leben des Alters schwerfälliger und stumpfer macht. Gefährlich wird er nur dann, wenn die Verkalkung sehr ungleichmäßig vor sich geht, das heißt, wenn in ein und demselben Blutgefäß alt und starr gewordne Stellen mit jung gebliebnen abwechseln; dann bilden sich dort, wo beide Parteien zusammenstoßen, Zirkulationshindernisse, die nicht in der Absicht des Lebens liegen, es kommt zu Ausbuchtungen, zum Zerreißen der Ader. Und das kann, wenn es im Gehirn stattfindet, böse Folgen haben. Daß Herzbeschwerden durch Verkalkung der Herzgefäße herbeigeführt werden, ist selten. Meist handelt es sich bei diesen sogenannten Verkalkungen um eine fehlerhafte Atmung und um einen stark vernachlässigten Bauch; beides ist durch das beliebte Jodkaligeben gewiß nicht zu beseitigen, vielmehr wird das Leiden dadurch nur verschlimmert. Den Organen sind gleichzeitig eine Reihe von Funktionen zuerteilt. Deutlich tritt das bei der Atmung hervor. Schon seit einem halben Jahrhundert ist es bekannt, daß die Lungen bei ihrer Tätigkeit, die den Körper mit Sauerstoff versorgt, als Zirkulationsorgan dienen, gewissermaßen als ein zweites, ein Blutaderherz. Sie saugen bei ihrer Ausdehnung nicht nur die Luft ein, sondern auch das langsam fließende Kohlensäureblut der Venen. Sie beeinflussen aber außerdem die Herztätigkeit selbst, wie sich leicht durch die Aufzeichnung der Herzschläge nachweisen läßt. Ebenso jedoch, und das ist weniger bekannt, üben sie mit jedem Atemzug eine Wirkung auf die sympathischen Nerven aus, besonders die Gefäßnerven; die werden bei jeder Dehnung und Zusammenziehung des Brustkastens gedehnt, und die Veränderung der Gefäß weiten, die dadurch herbeigeführt wird, ist für die Druckwirkungen und die Ernährungstätigkeit des Kreislaufs um so wichtiger, weil sie in regelmäßigen Zwischenräumen das ganze Leben hindurch stattfindet.
Ganz ähnlich wirkt der Pulsschlag selbst. Die Welle, die in jeder Sekunde durch sämtliche Schlagadern des Körpers hindurch schlägt, übt einen stetig wiederkehrenden, taktmäßigen Reiz auf die Nerven der Gefäßwände aus, der nicht unterschätzt werden darf. Man sieht, daß die Zirkulationsverhältnisse und damit die Möglichkeiten der mechanischen und chemischen Arbeit der Körpergewebe mit einer erstaunlichen Sorgfalt geregelt sind, die ihrer Leistungsfähigkeit entspricht. Denn was ich eben von Atmung und Pulsschlag sagte, das gilt ganz ebenso von den Gewohnheiten des Tages, die sich das Leben für den Betrieb seiner Blut- und Flüssigkeitsverteilung dienstbar macht. Die Regelmäßigkeit der Nahrungsaufnahme und der Entleerungen mit ihrer Belastung und Entlastung des sympathischen Nerven Systems, der Wechsel zwischen senkrechter Stellung am Tage und waagerechter der Nacht, die Tätigkeit und der Schlaf, alles wird zu bestimmten Zwecken der Kreislaufregelung mit benutzt.
Allerdings darf man bei alledem nicht vergessen, daß unter Umständen die Lebensgewohnheiten auch nach der falschen Richtung hin Kreislauf und Organismus beeinflussen. Alles, was ich früher über die schlechte Atmung, die Überfüllung des Bauchs mit Speise und Trank, den mangelhaften Gebrauch der Gliedmaßen und des Rumpfs, die andauernd aufrechte Stellung, den Druck der Kleider und Schuhe und so weiter gesagt habe, gewinnt durch die Erwägung der Rückwirkung auf Kreislauf und Ernährung erst tiefre Bedeutung. Es ist jetzt nicht mehr schwierig herauszufinden, warum ein Zusammenhang zwischen Korsetttragen und Migräne besteht, warum der hohe Stehkragen für Leute mit Augen- oder Gehirnleiden solche Wichtigkeit hat, warum die Gefahr des Schlaganfalls durch Vorsicht immer größer wird, warum der schlechtgebaute Schuh, mit seinem beständigen Druck auf die Gefäße der Zehen, Ernährungsstörungen und Gicht herbeiführt. Es werden da Reize des sympathischen Nervensystems in den Alltag eingefügt, die in entgegengesetzter Richtung zu den ursprünglichen Absichten des Lebens stehn, die gerade durch ihre gewohnheitsmäßige Wiederholung nach und nach schädlich wirken, deren Beseitigung aber oft genug ausreicht, um alle bedrohlichen Erscheinungen wie durch Zauber verschwinden zu lassen.
Je deutlicher man sich all diese Verhältnisse vorzustellen vermag, umso eher wird man ein Verständnis dafür gewinnen, was eigentlich der Kreislauf für das Gedeihen des Menschen bedeutet, und daß in ihm wahrhafte Heilkräfte verborgen sind, die in jedem Augenblick von der Natur verwendet werden. Man begreift jetzt auch, worauf es ankommt, wenn man Diener der Natur sein will. Freilich irgendwie den feinen Mechanismus so geradezu wieder ordnen, wenn er gestört ist, das vermögen wir nicht. Es ist auch nicht nötig, denn das ist ja das Großartige des Lebens, daß seine Mechanismen sich selbst regulieren und Störungen überwinden, reparieren, falls man sie gewähren läßt, sie nicht stillstellt und ihnen Zeit zu ihren Reparaturarbeiten gibt. Hier wie überall entscheidet über die Tauglichkeit des Arztes seine Geduld, seine Fähigkeit, selbst warten zu können und den Kranken auf dem einmal eingeschlagnen Wege festzuhalten. Alle Wege führen nach Rom, aber einen muß man von Anfang an bis zu Ende gehn, sonst läuft man in die Irre.
Der aufmerksame Diener der Natur ist aber auch imstande, dem Leben wenigstens das Gröbste abzulauschen und mit diesen Mitteln, selbst wenn er ihre Wirkung nur teilweise versteht, zum Heil der Kranken zu arbeiten. Wenn die Natur die Atmung benutzt, um Zirkulation und Gewebsernährung zu regeln, wer hindert uns, es ihr durch Atemgymnastik nachzutun? Wenn sie den Wechsel des Stromgefälles bei aufrechter und liegender Stellung verwendet, warum sollen wir Ärzte es nicht tun, durch Tieflagern des Kopfs, durch Lagern auf den Bauch, durch Hochlegen der Füße, durch einen häufigen Wechsel der Position? Wenn das Leben die Gewohnheiten von Essen und Trinken, von Füllungsschwankungen im Bauch für die Zirkulation, für die Erregung der Bauch- und Darmganglien, des ganzen sympathischen Systems gebraucht, niemand verbietet uns, ihr das nachzuahmen, durch Veränderung der Trink- und Eßmengen und Zeiten, durch Auspressen der Bauchflüssigkeil: mit Hilfe unsrer Hände. Wie der Körper selbst aus jeder Muskelbewegung, aus jeder Gemütswallung, aus jedem Sinneseindruck Mittel zu seinen Zwecken macht, so können wir es tun. Wir können genau wie der Alltag die Flüssigkeiten irgendwo stauen oder sie lebhafter fließen lassen, wir können Kälte und Hitze verwenden, wir können die Gefäße dehnen, wie ich es früher bei der Nervendehnung beschrieb, und wir werden reiche Frucht davon ernten, wenn wir es nur lange genug fortsetzen, es immer und immer wiederholen. Ja, wir können aus dem unermeßlichen Schatz der ärztlichen Erfahrung, Kunst und Wissenschaft immer neue Hilfsmittel herbeischaffen.
Man begreift nicht, wie jemals ein Arzt auf den kleinmütigen Gedanken kommen kann, daß alle Mittel erschöpft seien; das ist ja nicht möglich, das kann nicht sein. Man kann, um das Bild des Kampfs zu brauchen, von den Gewalten des Lebens und Sterbens besiegt werden, aber daß man keine Waffen mehr zu haben glaubt, daß man verzweifelt und den Kampf aufgibt, ist eine Verirrung des Verstandes. Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung, und wo keine Hoffnung mehr ist, da ist noch Pflicht. Man glaube es doch, die heilige, edle, große Arbeit des Arztes fängt bei der Hoffnungslosigkeit erst an, bei den Unheilbaren, bei den Sterbenden. Wir lassen die Toren spotten, die uns unsre Toten vorhalten; wir wissen, daß dem Tode zu dienen das schwerste und höchste ist, was ein Mensch leisten kann, und niemals stehn wir so hoch über dem Wahn der Menschen, als wenn wir den Tod linde und sanft leiten.
Es gibt Menschen, die des Glaubens sind, der Arzt gewöhne sich an den Tod, stehe ihm ziemlich gefühllos gegenüber. Wer das denkt, kennt weder den Tod noch den Arzt. Die Größe des Todes kennt niemand besser als eben der Arzt, bei jedem neuen Sterben wächst seine Ehrfurcht, seine wahrhaft heilige Scheu vor diesem Freunde des Menschen. Der Arzt fürchtet den Tod nicht; was wäre das wohl für ein Arzt, der Furcht hätte. Wie sollte er den Menschen von ihrem schwersten Leiden, eben der Furcht helfen, wenn er nicht ein Herr der Angst wäre? Aber wir achten den Tod und wir bewundern im Sterben die lindernde Kraft des Lebens. Man spricht viel von den Schrecken des Todes, vom Todeskampf, und gewiß, es kommt vor, daß der Mensch im Sterben mehr leidet als je zuvor. Aber das ist selten, und es gibt Mittel, Todesschmerzen zu lindern. Das, was die Menschen mit Entsetzen erfüllt, der Todeskampf, ist meist kein Leiden.
Leise und langsam umnebelt das Leben die Empfindlichkeit und Aufnahmefähigkeit des Sterbenden schon durch Wochen und Monde hindurch, es reift ihn zum Tode. Das ist das Seltsame, daß das Leben selbst dem Todkranken die Fähigkeit nimmt, die Welt und das Leben richtig zu schätzen. Nur selten reißt der Tod den Gesunden hin. Meist stirbt schon längst vor allem andern die gesunde Urteilskraft, so daß für die letzten Zeiten nur noch der Wunsch zu leben und die Hoffnung auf Leben da ist. Schließlich breitet die Natur für ihre letzte Tat tiefe Bewußtlosigkeit über den Menschen. Das weiß der Arzt, denn er hat es vielmals gesehn, er weiß auch, was Bewußtlosigkeit ist, da er oft genug dem Freunde Tod seine milde Kunst in der Narkose nachgeahmt hat. Das aber, daß der Arzt ruhig bleibt in dem Moment, wo alles um ihn her verzweifelt, daß er nicht erschrickt, sondern nur staunt, das mag ihm wohl den Ruf der Fühllosigkeit und Kälte eingetragen haben. Was aber geht das ihn an? Er zählt nicht auf den Dank der Menschen und rechnet nicht mit ihrer Bewunderung. Er steht auf eignen Füßen und läßt sich am Danke seiner Kunst genügen.
Ein rechter Arzt kommt nie ans Ende seiner Kunst, denn der Möglichkeiten der Behandlung sind gar viele. Das will nicht sagen, daß er blindlings jeden Kranken auch wirklich behandelt. Zwischen Arzt und Kranken besteht ein seltsames Geheimnis, ein Sichverstehn ohne Worte, eine Sympathie, die nicht zu greifen und zu fassen ist. Wo dieses Sichverstehn fehlt, tut er wohl besser, dem Kranken offen zu sagen, daß er, er persönlich, nicht helfen kann. Das ist nicht grausam, sondern Pflicht. Es gibt genug Ärzte in der Welt, und ein jeder findet den Arzt, den er braucht. Deshalb ist es auch ein seltsames Ding mit dem Ruf, daß man ein guter Arzt sei. Man ist es immer nur für eine beschränkte Zahl von Kranken. Herauszufinden, wem man helfen kann, wem nicht, ist mit das schwerste der ärztlichen Kunst. Und man darf nicht vergessen, daß auch der Arzt den Gewalten des Lebens verfallen ist, daß bei ihm so gut wie bei andern Zeiten der Leistungsfähigkeit mit Zeiten der Dürre und Kraftlosigkeit wechseln, und daß die Zeit der unfruchtbaren Jahre lang anhalten kann, um dann wieder neuer Blüte zu weichen. Jeder Mann hat ja sein kritisches Alter, genau wie die Frau, nur daß bei ihm die Krise im tiefsten Innern vor sich geht, während sie beim Weibe sich nach außen austoben kann. Auch der Arzt ist Mann, auch er versteckt, was seine Seele zerreißt. Unser Beruf bringt der Konflikte gar viele mit sich, und mit der schwerste ist es wohl, den Mut in solchen Zeiten des wankenden Selbstvertrauens nicht zu verlieren, sondern in Geduld auszuharren, bis uns das Göttergeschenk der Selbstbeschränkung und des Kraftbewußtseins in selbstgewählten Grenzen beschert wird.
Man macht sich falsche Vorstellungen von dem, was unsern Beruf so schwer macht. Das Gefühl der Machtlosigkeit ist es nicht, denn wir sind niemals machtlos; auch nicht der Anblick des Elends, wir sehen zu oft mitten im Elend die Größe des Menschen. Es ist durchaus unwahr, daß wir Menschenverächter werden, im Gegenteil, wir lernen die Kleinmütigkeit des Menschen verstehn und wir bewundern seinen Heroismus, wo er uns entgegentritt. Das schwerste sind zwei Dinge: einmal die Frage, die wir uns fort und fort selbst stellen und auch nur selbst beantworten können, da alle andern vom Erfolg oder Mißerfolg irregeführt werden: Tatest du alles, was du tun konntest? Und diese Frage müssen wir uns oft genug, selbst bei den größten Erfolgen, verneinen. Ein solches Nein ist schwer zu verhindern, denn wir wissen das Arztsein zu schätzen, diese Ehre, die nur in uns selbst ruht, nur von uns selbst uns gegeben und genommen werden kann, dieses Amt, das uns weit außerhalb aller menschlichen Schranken stellt und uns in der Einsamkeit unsres Innenlebens und der Verantwortung vor uns selbst ein Gefühl fast übermenschlicher Kraft gibt.
Die zweite Last ist jener ersten gleich. All unser Leben hindurch begleitet uns eine schwere Sorge, die uns fragt: Warum halfst du diesem hier oder jenem dort, von dem du doch weißt, daß er das Unheil der Seinen ist, vielleicht ein Teufel, unter dessen Schlechtigkeit tausend bessre Leben zusammenbrechen? Deine Pflicht ist zu helfen, so hilf denn den Tausenden und laß den einen verkommen. Wer es nicht kennt, der weiß nicht, was es bedeutet, in solchen Augenblicken – und sie sind häufig – nur Arzt zu bleiben und nicht Richter zu werden, da man Gewalt dazu hat.
Und doch, trotz allem Schweren, wo sind die Ärzte, die nicht am Ende ihres Lebens aus wahrem Herzen wiederholen: Wohlan, noch einmal! Es ist ein süßes Ding, bewundern zu können, das Leben anzubeten und zu heiligen. Uns aber zwingt das Arztsein in diese Heiligung des Menschen und des Alls hinein, wir können nicht anders als bewundern, und an die Stelle des Verachtens tritt bei uns das Verstehn. Wir stehn in uns selbst und brauchen nichts andres als Menschen, denen wir Arzt sein können, und selbst dann, wenn das Leben uns zerbrochen hat, uns unsern Beruf des Helfens so oder so abringt, die Anbetung bleibt uns, solange wir denken. Uns genügt ja zur Not das Erinnern an die Menschenhand mit all ihren Wundern, an den Bau des Haares, des Knochens, des Auges.