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Gehalten in der öffentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 3. Juli 1851.
Jahrein, jahraus pflegt an allen Akademien in laute Freude ein dumpfer Klageton zu fallen, und dringlich wird ihnen die Lehre vorgeführt, daß Menschen den Menschen Platz machen müssen. Welche frohe Hoffnungen aus dem neuen Zutritt rüstiger und vielbegabter Mitglieder unserer Genossenschaft erwachsen, ist vorhin vernommen worden; gleich der Zukunft tragen doch alle Hoffnungen ihr Ungewisses in sich, desto gewisser sind die schweren Verluste, die uns heuer getroffen haben. Link, der seine Manneskraft noch ins höhere Alter übertrug und fast ungeschwächt des Lebens Gipfel erreichte, Jacobi, dessen Gesundheit zwar längst untergraben schien, aber durch seltne Geistesstärke aufrechterhalten blieb, wurden uns plötzlich entrissen; nicht der geringste Schlag war Lachmanns, dem ein mäßiges, unerschüttertes Leben viel längere Dauer geweissagt haben sollte, unerwarteter, durch ein anfangs wenig bedrohliches, bald aber tückische Gewalt über ihn gewinnendes Übel herbeigeführter Tod.
Während andere Mitglieder sich noch Vorbehalten, Links und Jacobis Andenken in unserm Schoße würdig zu feiern, suche ich, wiewohl durch die heute übriggelassene Zeit beschränkt, der mir auferlegten Pflicht zu genügen und ein Bild der wissenschaftlichen Tätigkeit Lachmanns zu entwerfen, wie mir langjährige Freundschaft und Wahrheitsliebe alle Züge dazu eingeben. Traurig ist es, über einen Freund gleichsam das letzte Wort zu haben; stände er hinter mir, er würde vielleicht einigemal den Kopf schütteln, nicht von meiner Rede sich abwenden. Wenn vorragende Männer allen Völkern angehören, so behauptet doch ihr Vaterland immer den ersten Anspruch auf sie, und die Schweden empfinden am lebendigsten, daß Berzelius ihr Eigentum war; wir wollen unsers Lachmanns gedenken, unser Schmerz ist der frischere.
Für die unvergleichliche Wirkung, welche er hervorbrachte, könnte man versucht sein, schon darin den schlagendsten Ausdruck zu finden, daß ihm, dem von der Philologie Ausgegangnen aus freien Stücken auch die theologische und juristische Doktorwürde zuerkannt wurde. Hätte der Zufall ihn zur Herausgabe eines alten griechischen Arztes geführt, mit gleichem Fug würde die medizinische Fakultät ihren Hut auf sein Haupt gedrückt haben, und wir sehn eigentlich damit die größere Macht der philosophischen über die drei andern, in welche sie leicht einlenkt, ausgesprochen. Viel besser glaube ich aber Lachmanns innerstes Wesen zu bezeichnen dadurch, daß er seine Meisterschaft in der klassischen wie in der neu entstandnen deutschen Philologie, zu deren Festigung er ein Großes beigetragen hat, mit demselben Erfolg bewährte, und daß nun die Wirkungen hinüber und herüber schlugen. Denn die klassische Regel gab seinen Schritten auf dem deutschen Gebiet frühe Stetigkeit und bewahrte sie vor allem Straucheln; aus dem noch jugendlichen, kaum übernächtigen Wachstum und Trieb des deutschen Altertums konnte er wagende Kühnheit schöpfen für jene klassischen, bisher reich, zuweilen einseitig entfalteten, einigemal schon ermüdeten Gesetze. Zwei sonst einander ausschließende oder gar abstoßende Wissenschaften (falls man überhaupt deutsche Philologie für eine Wissenschaft gelten ließ) fanden in ihm einen unerwartet vordringenden, fruchtbaren Vertreter, der sie als etwas Gemeinsames und sogar Nahverwandtes zu handhaben und auszusöhnen verstand. Beide weichen dem Stoff und der Form nach beträchtlich voneinander ab, jede fordert ihr eignes Gerät und Werkzeug, das unverworren und mit besondern Kunstgriffen gebraucht sein will, in deren Besitz sich Lachmann vollständig gesetzt hatte; seine Begeisterung waltete also nach jeder Seite hin, und seine ganze Eigenheit wäre vernichtet, wollte man den von ihm in ununterbrochnem Wechsel erlangten Erfolgen hier oder dort abreißen.
Dies im allgemeinen vorausgesandt, hoffe ich, daß es mir nicht mißlingen werde, ihm auf seiner raschen Laufbahn und in dem, was er sich errungen hat, behutsam nachzugehn, wobei ich doch nur meinen Maßstab anlegen kann; andere mögen ihn anders messen.
Karl Lachmann war am 4. März 1793 geboren, und bald, nachdem er dieses Tages für ihn letzte Wiederkehr schon halb betäubt von der Qual der Krankheit erlebt hatte, führten die nahenden martiae idus auch sein Ende heran. Wie ist unser Leben kurz, und wie schnell rinnt es dahin; wenig Gelehrte dürfen sich rühmen, 35 Jahre hindurch in unausgesetzter Arbeitsamkeit und nie nachlassender, immer aufwärts steigender Kraft vorgetreten zu sein, noch eine kleinere Zahl wirkt ein halbes Jahrhundert hindurch, die es erreichen, daß ihr Andenken ein paar Jahrhunderte dauere.
Es ist schon vieles wert, an einer Stätte das Licht der Welt erblickt zu haben, wo gute Sitte herkömmlich fortgepflanzt wird. Lachmanns Geburtsort war Braunschweig, eine Stadt, die lange Zeit her in ganz Norddeutschland ihren alten Ruhm behauptet, die nicht wenig große Männer in sich erzeugt und genährt, fast immer einen freien Sinn bewahrt hat. Wer in einer solchen jung erwächst, dem müssen wie von selbst, wenn er ihre Straßen durchwandelt, heilsame Gedanken und Entschlüsse aufsteigen.
Noch höher anzuschlagen scheint es, daß der Mensch auch in einer großen Zeit geboren sei, die Gewaltiges ein- und ausatme. Jedwede Zeit hat ihre Taten und Leiden, ihre Vorkämpfer und Zurückdränger; wer aber, edlen Sinns, in den jüngeren Geschlechtern, denen ihre Hoffnungen für das große deutsche Vaterland eine nach der andern gedämpft und genommen werden, dürfte sich messen mit dem aus lastender Schwere des feindlichen Drucks emporgetragnen siegesfrohen und überseligen Enthusiasmus der Jahre 1813, 1814, 1815?
In des erstarkenden Knaben Schuljahre, in des Jünglings erste Studentenzeit mußte noch geheimer Groll über Deutschlands Schmach, dann aber freudige Ahnung fallen, daß sich das Blatt bald gewendet haben werde. Man denkt sich, mit welchem Jubel, in welcher Gesinnung die endlich erschallende Kunde der Befreiung vernommen wurde, zu welchen eignen Taten sie ermunterte. Eben seine erste gelehrte Arbeit entlassend, trat Lachmann als Freiwilliger in die Reihen des Feldzugs von 1815 und erwarb sich von nun an das Recht, ein Preuße zu heißen und zu sein, wie er es bis an sein Lebensende treu geblieben ist. Seine die Vorrede schließenden Worte lauten mutig so: nec mihi otium suppetit, cui eo festinandum est. quo hoc tempore viros omnes, quorum apta armis aetas est, pio ac forti animo properare decet. »und ich habe nicht hinreichende Muße, da ich dahin eilen muß, wohin zu dieser Zeit allen Männern, die in waffenfähigem Alter stehen, mit frommem und tapferm Sinn zu eilen ziemt.«
Seine das ganze Leben hindurch auf die Freiheit des Vaterlands, des Geistes und des Glaubens gerichtete Denkungsart bedürfen meiner Anerkennung und meines Preises nicht. Einige, den meisten unbekannte Zeugnisse dafür könnte ich geltend machen, wenn ich wollte oder das überhaupt hier passend wäre; denn ich gehe darauf aus, seinen wissenschaftlichen Charakter darzustellen, der freilich enge mit seinem öffentlichen und sittlichen Leben zusammenhängt.
Lange, bis es nun zu spät war, hatte ich aufgespart, ihm selbst Näheres über seine Braunschweiger Schulzeit abzufragen, und weiß bloß, daß er unter dem tüchtigen Heusinger mit gründlichen philologischen Kenntnissen ausgestattet, in ihnen früh zu schalten begann und bald reif zur Universität entlassen werden konnte. Mir entgeht auch, ob er bereits daheim zur englischen Sprache geleitet war, von der ein Übergang, vielmehr Rückumweg zu dem uns am nächsten liegenden Studium der Muttersprache manchen erleichtert wird, weil sie starke Anklänge an unser Altertum bewahrt, die uns selbst heute verklungen sind. Auch die italienische muß er früh genau getrieben haben, wie ich aus seiner spätern Belesenheit in ihr und nach ihrem metrischen Gehalt, der ihm zusagte, schließe. Öfter als anderswo mochte in Braunschweig die Rede auf Lessing gefallen und die Erinnerung an ihn lebendig gewesen sein, dessen Werke einmal würdig herauszugeben Lachmann bestimmt war.
Zu Göttingen, wo er anfangs Theologie studieren wollte und studierte, von der aber schon viele ab zur reinen Philologie verlockt worden sind, hörte er eifrig bei Heyne und Dissen; unter aufstrebenden Jünglingen verkehrend mit Lücke, Bunsen und Ernst Schulze, dem Dichter der jetzt beinahe vergessenen »Bezauberten Rose«, an welcher ihm der leichtfließende Versbau sehr behagte. Hervorzuheben ist aber der nachhaltige Eindruck, den ein anderer, nur in engerem Kreise erkannter Lehrer dort auf ihn machte. Benecke, überhaupt der erste, der auf unsern Universitäten eine grammatische Kenntnis altdeutscher Sprache weckte, war es, der in Lachmann den hernach zu lichter Flamme aufschlagenden Funken deutscher Philologie zündete, und mit wahrer Frömmigkeit hing er seinem Lehrer, den er bald überragte, fortwährend an, wie es die Widmung der Auswahl und die Vorrede zur zweiten Ausgabe des Iwein schön kundtun; selbst von Beneckes halbenglischer stolzer Sprödigkeit schien etwas auf ihn übergegangen. Für den Lehrer wie den Schüler erläutert aber jener Fremdherrschaft bleierner Druck die trostreiche Zuflucht zu den vergrabnen Schätzen heimischer Sprache und Dichtung, aus denen fühlbare Frische anwehte und etwas, das in der klassischen, wenn auch überlegnen Literatur nicht aufging, jedenfalls eine angestrengter Forschung werte und bedürftige, uns vom eignen Vaterlande selbst dargereichte Gabe. Vergleichen wir die deutsche Literatur einem kleinen Ort, der nur zwei enge Ausgänge hat, die klassische einer großen Stadt, von der sich aus zehn prächtigen Toren nach allen Seiten vordringen läßt; über ein gewisses Ziel fort wird in die kunstreich gelegte Heerstraße der schmale Steig einlaufen und dann von beiden aus der menschliche Geist in gleich ungemessene Weite geführt werden.
Ein paar altdeutsche Bücher mag Lachmann schon auf französischen Boden mitgenommen haben, um sich die Langeweile des Biwaks zu vertreiben. Unterdessen aber war das Werk, aus dessen Vorrede vorhin eine Stelle gehoben wurde, erschienen und mußte die Augen aller Philologen von Fach auf sich ziehn, weil es, neben einigem Unhaltbaren und wieder fahren zu Lassenden, die Fülle glücklicher Emendationen gewährte und einen schwierigen Text so behandelte, wie es nur auf echt kritischer Grundlage möglich war. Mit großem Geschick, das ihn auch nachher nie verließ, hatte der einundzwanzigjährige Jüngling sich gerade auf den schönsten Teil der ganzen lateinischen Poesie, auf die elegischen Dichter geworfen, und unter ihnen Properz, den geistigsten derselben, und dem am schlimmsten mitgespielt worden war, zuerst auserlesen. Dreizehn Jahr später folgten zwar schon mit größerer Gewandtheit, aber nach gleich scharfer Kritik der liebliche Tibull, der kräftig ausgelassene Katull. Diese Bahn war gebrochen, und des Herausgebers Verfahren hatte sich in der Zwischenzeit auch an einigen der wichtigsten altdeutschen Dichtungen bewährt, es war ihm völlig zu Fleisch und Blut geworden; ich will mich bestreben, die Art und Weise seiner Kritik und worauf sie wesentlich beruhte, darzulegen. Seine zahlreichen Schriften der Reihe nach zu nennen, kann ich dabei überhoben sein, da dies schon von andern umsichtig geschieht oder geschehn ist, und werde mich bloß auf diejenigen darunter beziehn, die jedesmal in meiner Betrachtung hervorstechen. Sie hat es auch nicht mit seinen Lebensverhältnissen zu tun, und wie schon vorhin unerwähnt blieb, daß er ein oder zwei Semester in Berlin studierte, brauche ich mich nicht näher darauf einzulassen, daß er zuerst eine Gymnasiallehrerstelle bekleidete, dann zu Königsberg als Professor auftrat und von da nach Berlin gerufen wurde, wo nun auch unsere Akademie sich seiner bemächtigen konnte. Mich beschäftigt sein innerer Gang, den allerdings diese äußern Lagen seines Lebens vielfach begünstigten.
Man kann alle Philologen, die es zu etwas gebracht haben, in solche teilen, welche die Worte um der Sachen, oder die Sachen um der Worte willen treiben. Lachmann gehörte unverkennbar zu den letztern, und ich übersehe nicht die großen Vorteile seines Standpunkts, wenn ich umgedreht mich lieber zu den erstern halte. Denn jeder wird eingeständig sein, daß die Form mit dem Wesen einer Schrift und gar eines Gedichts innig Zusammenhänge und auf allen Fall der eines großen Teils ihres wahren Gehalts sicher habhaft werde, dem es in diese Form einzudringen gelungen sei, während Rücksicht auf die Sache selbst von der Eigenheit einzelner Werke abzusehn und bienenartig auf den Honig bedacht zu sein pflegt, der aus mehreren zusammengesogen werden soll. Nicht daß es Lachmann an mannigfaltigster Sachkenntnis irgend abging, deren sein außerordentliches Gedächtnis stets für ihn eine Menge bereithielt und die ihm bei ausgedehnter Belesenheit täglich anwuchs; allein seit er seinen wahren, eigentlichen Beruf erkannte (und das muß bereits früh eingetreten sein), haftete bewußt oder unbewußt seine Teilnahme an den Sachen, nur insofern er daraus Regeln und neue Griffe für die Behandlung seiner Texte schöpfen konnte: das übrige blieb als störend und aufhaltend ihm zur Seite liegen. Da nun diese Richtung seines Geistes, durch ihre eignen Erfolge gestärkt, allmählich zunahm, mußten andere Arbeiten oder Tätigkeiten, je mehr sie von ihr abstanden, für ihn gleichgültiger und unerfreuender werden. Von Benecke hörte ich zu Göttingen einigemal behaupten, ein Bibliothekar (und er selbst war ein vortrefflicher) gehe verloren, sobald sich in ihm ausschließliche Neigung für bestimmte Fächer der Wissenschaften erzeuge; in solchem Sinn ließe sich von strengen Philologen sagen, daß sie alle Aufmerksamkeit auf den reinen Text kehrend ihren Geschmack dafür an Sacherklärungen gleichsam sich zu verderben scheuen. Pflicht ist ihnen, das gesicherte Wort aufzustellen, liege nun darin, gehe daraus hervor, was da wolle.
Laut und beifallswert hat sich auch Lachmann darüber ausgesprochen, daß die Doktrin in der Philologie wie in andern Wissenschaften Schaden anrichte, wenn sie immer vor der Zeit fertigmachen wolle und gerade nur so viel wahre und falsche Grundsätze untereinander entfalte, als sie auszusinnen und zu verarbeiten ertrage, da doch die unerschöpften Quellen eine überströmende Ausbeute gewähren, deren man sich vor allem bemächtigen muß, ohne gleich auf alle Fragen zu antworten, ohne jede daraus entspringende Schwierigkeit zu beseitigen. Die Erwartung ist höher gespannt, der Gewinn unabsehbar, wenn das Forschen, auf die Urkunde des Textes gerichtet, langsam und sicher vorschreitet, wenn der Text fortwährend mehr gilt, als was oft nur winziges an ihm geschehn kann. Dem Autor, welchen Lachmann studierte, wollte er nichts hinzubringen, sondern alles aus ihm lernen, nicht flach mit ihm experimentieren, aber seine echte Gestalt von dem Schmutz und der Verderbnis, die sich daran gesetzt hatten, reinigen. Weitgehende Kombinationsgabe war ihm entweder unverliehn, oder er übte sie nicht und verschmähte sie widerwillig, weil ihm alles Ungenaue und Halbe fruchtlos schien und vergeblich.
Selbst grammatische Entdeckungen und Erörterungen, welchen er ansah, daß sie in seine Textkritik nicht einschlagen würden, berührten ihn fast nicht mehr. Der vergleichenden Sprachwissenschaft hat er sich eher abhold als hold erzeigt, weil ihre Ergebnisse ihm zu fern, d. h. ferner gingen, als ein Herausgeber klassischer Werke sie zu wissen nötig hat. Er schritt nicht gern über den Kreis der deutschen, lateinischen und griechischen Sprache, die ihm genau bekannt waren und immer vertrauter wurden. Um der Wörter letzte Gründe war er unbekümmert, nur nicht um ihre bestimmte Gestalt, Kraft und Wirkung für die Zeit der behandelten Quelle, die er mit dem seltensten Talent und der glücklichsten Kühnheit erspähte: wo drei oder vier um die rechte Lesart verlegen waren, fand er sie auf der Stelle und hat unzähligemal immer den Nagel auf den Kopf getroffen.
Unter den Texten waren ihm am liebsten die schwersten und die dem Kritiker die vielseitigsten Handhaben darböten. Zwar fesselten ihn auch Prosadenkmäler, deren Text großen und eigentümlichen, von ihm mutig überwundnen Hindernissen unterliegt, wie des Neuen Testamentes, wofür ihn ohne Zweifel Schleiermacher gewonnen hatte, oder die wiederholte Durchsicht des Gajus, den vieler Augen nicht fertig lasen, und der Agrimensoren oft unheilbare Verworrenheit. Seiner ganzen Natur am meisten zusagend waren aber Gedichte, und eben die Metrik in ihrer Tiefe und Höhe zu erforschen, ihm das Angelegenste. Auch die Prosa hat ihre Gesetze, der allgemeine Sprachgebrauch und umgedreht die an sich unberechenbare Eigenheit eines jeden einzelnen Schriftstellers lassen der Kritik weiten Spielraum; in der Poesie aber wird die Naturgabe oder Nachlässigkeit eines Verfassers noch durch waltende metrische Regeln gezügelt, an denen seine Arbeit geprüft, nach denen sie gereinigt werden kann.
Hatte Lachmann bei einem Autor, was überall das erste ist, die Geschlechter der Handschriften, die einzelnen Abschreiber und ihre Weise ermittelt, so unterließ er nicht, eine etwa noch unbekannte Zerlegung des ganzen Werks in Bücher oder Abschnitte an den Tag zu bringen und dann deren zu verschiedner Zeit erfolgten Ursprung zu bestimmen. Hierzu mußte ihn die Beschäftigung mit den lyrischen und elegischen Gedichten der Griechen und Römer, die begreiflich nicht chronologisch geordnet und der Interpolation am leichtesten ausgesetzt sind, unmittelbar führen; schwieriger macht sich die Annahme, daß ein erzählendes Gedicht seinen eignen Fluß unterbrochen habe und, erst in der Mitte oder gar am Schweif auszuarbeiten begonnen, ihm zuletzt der Kopf angehängt worden sei. Doch ist nicht unwahrscheinlich, daß der Prolog zu Hartmanns Iwein (wie wir noch heute die Vorrede eines Buchs zuletzt schreiben) erst nach Vollendung des Ganzen zugefügt wurde, und ob auch andere einzelne Teile dieses Werks zu verschiedner Zeit gedichtet seien? fragte Lachmann (Iw. S. 542, 543), ohne es nachzuweisen. Des Parzival sechzehn Bücher, die neun des Wilhelm scheinen auf natürliche Weise ganz nacheinander abgefaßt, eine stufenmäßige Zeit der Abfassung ließ bei mehreren des Parzival sich deutlich aufzeigen. Auch für Otfrieds Werk scheint ihm ein Beweis gelungen, daß zuerst das erste, dann das fünfte Buch, zuletzt die mittleren Teile gedichtet sind, und es wird auf einen anfangs nachlässigen, hernach fortschreitenden Versbau geschlossen.
Das sorgfältigste und feinste Studium des verschiednen Versbau trat nun ein, und im Altertum der hochdeutschen Dichtkunst waren noch Nachwirkungen der Quantität auf den herrschenden Grundsatz der Betonung zu spüren, welcher in zwei akademischen Abhandlungen über das Hildebrandslied und althochdeutsche Betonung lichtvoll und eindringlich erläutert wurde, wogegen die mittelhochdeutsche Theorie der Hebungen im Kommentar zu dem Iwein und den Nibelungen etwas schwierig und allzu gedrungen sich erörtert fand. Nächst der mittelhochdeutschen hatte Lachmann vorzugsweise die ihm zumal wohllautende althochdeutsche Sprache angebaut, der älteren und formgewaltigeren gotischen sich minder zugewandt, weil in ihr keine Verse vorhanden, also für sie nur prosodische, keine metrische Regeln zu gewinnen sind, wenigstens weiß ich mir seine mehrmals vorblickende Abneigung, die Überlegenheit der gotischen Formen anzuerkennen, nicht anders auszulegen. Der mittelhochdeutsche Versbau wird aber auch noch durch die Reinheit des Reims gestützt, welchen Lachmann bei jedem genauer behandelten Dichter in fleißigen Registern sammelte und zu triftigen Schlüssen nutzte. Man kann sich denken, daß das Prinzip des Meistersangs in den strophischen Gedichten, hauptsächlich den lyrischen Liedern und Leichen, aber auch der Strophenbau in den Nibelungen, Gudrun, Titurel und sonst seinen Studien bedeutsame Haltpunkte gewährten.
Doch hieran genügte ihm noch nicht. Verse und Strophen hinterlassen auf den Hörer und beim Vortrag im Geleite von Musik oder Gesang deutlich empfundnen Eindruck. Seiner Aufmerksamkeit entschlüpften außerdem andere mehr äußerliche und bisher unbemerkt gebliebne Zahlenverhältnisse nicht, nach welchen ganze Gedichte in bestimmte, dem Ohr unfühlbare Glieder oder Ketten, wenn dieser Ausdruck passend ist, aufgingen. Auch hierbei hatte ihn wohl zuerst eine in der griechischen Dichtkunst gemachte Wahrnehmung geleitet. In zweien seiner frühsten Abhandlungen zerlegte er sinnreich und gelehrt erst die melischen, hernach sogar die szenischen Gedichte der Griechen in Heptaden, ich glaube ohne sich den allgemeinen Beifall der klassischen Philologen zu erringen. Mit größerm Glück wandte er nun eine ähnliche Entdeckung auf unsere mittelhochdeutschen Gedichte an, indem er Wolframs beide größeren Werke in Glieder von dreißig Zeilen sonderte, bald auch den Iwein in dreißig, die Nibelungen und Klage hingegen in achtundzwanzig, folglich auch in Heptaden, so daß die vierzeilige Strophe siebenmal sich wiederholte. Mich verwundert zu sehn, daß in der dritten Ausgabe, deren Erscheinen um ein paar Wochen Lachmann nicht mehr erlebte, die Klage nunmehr nach dreißig, statt vorher nach achtundzwanzig zerteilt ist.
Nicht zu leugnen steht, die dreißig empfangen durch das erste und letzte Glied im Iwein, noch mehr durch die Verzeichnisse der Edelsteine und Ritter im Parzival 791, 770, 772, des Schlusses 827 und durch manches andere hier zu übergehende festen Halt, und man kann nicht umhin, anzunehmen, daß beim Hersagen und Aufzeichnen längerer Gedichte auf solche die Poesie selbst unberührt lassende Gliederungen irgendein uns noch nicht hinlänglich aufgeklärtes Gewicht fiel, folglich die Textkritik ihr Augenmerk dahin zu richten befugt ist. Gleichwohl scheint es dabei nicht ohne Gefahr abzugehn und nicht unmöglich, dem Text eine solche unbeabsichtigte Einteilung gleichsam aufzudrängen. Dividiere man mit dreißig in die Zahl aller Verse eines Gedichts, was übrigbleibend widerstrebt, läßt durch Ausscheiden oder Zutun einzelner Zeilen sich schon vereinbaren.
Außer allen diesen vielfachen Mitteln, aus der Form Athetesen zu gewinnen, verderbte Wörter und Verse zu heilen, ja, sich ganzer und unbeholfner zu entledigen, gibt es aber für das Epos insonderheit noch einen weitführenden Weg der Herstellung aus seinem Inhalt selbst und aus der eignen Art und Weise seines Ursprungs.
Da nämlich die epische Poesie nicht gleich aller übrigen von einzelnen und namhaften Dichtern hervorgegangen, vielmehr unter dem Volk selbst, im Mund des Volks, wie man das nun näher fasse, entsprossen und lange Zeiten fortgetragen worden ist, so darf von vornherein aufgestellt werden, daß sie wechselnden Veränderungen, Zusätzen sowohl als Abkürzungen in ganz anderer Weise ausgesetzt gewesen sein müsse, als was man Kunstpoesie zu nennen berechtigt ist, und großen Reiz wird es haben, durch Ausscheidung der entstellenden Zutaten ihrer echten oder echteren Gestalt wieder auf die Spur zu geraten; wie man andere Gedichte oft schon einem Dach, einem Strom verglichen hat, das Epos ist ein wogendes Meer, das sich in den Küsten bricht und bald hier bald dort schöner spiegelt.
Schon früh, fast bei seinem ersten Auftreten, hatte Lachmann, dem Wolfs Prolegomena lebhaft in Gedanken standen, sich überzeugt, daß die Ansicht vom homerischen Epos volle, ja ausgedehntere Anwendung auf unsere Nibelungen leide, und in einer kleinen, seinem Properz auf dem Fuße gefolgten unvergeßlichen Schrift eine Reihe wohlüberlegter, eindringender, hernach unablässig fortgeführter Untersuchungen über diesen Gegenstand eröffnet. Es begann dadurch ungeahntes Licht auf die ältesten Verhältnisse unserer Poesie zu fallen, und im engsten Band philologischer und sächlicher hier zusammenzielender Aufschlüsse in seinen Ausgaben des Nibelungenlieds und reichen, hinzugetretnen Anmerkungen wurde fruchtbar, meistenteils überzeugend erörtert, wieviel der epischen Urgestalt von ihr fremdartigen Zusätzen zugetreten oder durch Abbruch benommen worden sei. Fester gewachsen in diesen blendenden Ergebnissen kehrte Lachman hernach auch sich wieder zu den Griechen und unterzog vor den Augen unserer Akademie die Ilias einer neuen, ungleich weiter als Wolf beabsichtigte, vorrückenden Prüfung.
Unter den für beiderlei Epos reich aufgetanen Beweisen sind einzelne schlagend und unwiderlegbar, andere verfehlen nicht des Eindrucks. Nur hat es schon an sich etwas Grausames, den Gedichten so ansehnliche in den Handschriften gegebne Stücke abzustreiten, und schwer hält es, epische Schichten, die alle berechtigt sein können, von kunstfertigeren Einschiebseln zu unterscheiden, wie sie auch in den erzählenden Werken höfischer Dichter begegnen. Aus der Masse des Epos flossen, ich sage lieber tropften auch, wie wir wissen, kleinere Volkslieder ab, doch der knappe Romanzenstil war seiner alten, mehr umfassenden, behaglichen Breite fremd, und zwischen den kritisch neuzerlegten Gesängen und solchen wilderen, oft ungeschlachten Romanzen waltet fühlbarer Unterschied. Diese Kritik ist immer raubend und tilgend, nicht verleihend, sie kann die Interpolationen fort-, das weggefallene Echte nimmer herbeischaffen. Hauptsächlich aber muß ich das wider sie einwenden, daß mit Unrecht von einer zu großen Vollkommenheit des ursprünglichen Epos ausgegangen werde, die wahrscheinlich nie vorhanden war, und in ihm alle Flecken zu tilgen, alle wirklichen oder scheinbaren Widersprüche aus ihm zu entfernen seien. Gleich anderm, dem edelsten Menschenwerk wird auch die epische Dichtung ihre Mängel an sich tragen und bei der gewaltigen Wirkung, die sie im ganzen erzeugt, um einige Unebenheiten, die sich in ihr eingefunden haben, unbekümmert sein dürfen. Wie keine völlig gleichmäßig gebildete Sprache je erscheint, alles Licht der Abschattungen bedarf, macht ein homerisches Schlummern oft gefälligeren Eindruck, als ihn der Dichtkunst stets wach erhaltnes Feuer brächte. Wer wollte den Helden vor Troja alle Kampfestage, der Kriemhild ihre Jahre ängstlich nachrechnen? Man läuft Gefahr, durch kritisches Ausscheiden, das gar kein Ende hat, auf der einen Seite zu zerreißen, was auf der andern verbunden wurde; warum soll es hier nicht gesagt werden? Aus Lachmanns zwanzig Liedern ist in der Tat eine Anzahl schöner, ergreifender und kaum zu missender Strophen weggefallen, wie ich auch der Ilias nicht nehmen lassen möchte, was er ihr abspricht. Was ich ihm selbst unverhohlen ließ, von seinem Standpunkt, auf den viele sich entschieden stellen, bin, je länger ich nachsann, ich meinerseits abgekommen und gedenke diesen Gegenstand, welchen angefacht und ins Licht gesetzt zu haben sein Verdienst bleiben wird, einmal ausführlich zu erörtern.
Ich kann aus der angegebnen Ursache den Höhepunkt seiner auf altdeutsche Dichtungen gewandten Kritik nicht in den Nibelungen, vielmehr nur in der kostbaren Ausgabe von Wolframs Werken erblicken, die keiner vor ihm so befriedigend zustand gebracht hätte, ihm so bald keiner nachtun würde. Er wählte sich aus innerm Trieb den an Gedanken und Gemüt reichsten Dichter unserer Vorzeit und hat dessen tiefbegründeten Abstand von Gotfried von Straßburg, welchen Abstand wir zwar mehr in der bekannten Stelle dieses, als in einer uns erhaltnen Wolframs selbst ausdrücklich anerkannt finden, gewissermaßen wieder ausgenommen. Was Anmut, was lebendigen, weichen Fluß der innigsten Poesie angeht, steht Gotfrieds Tristan gewiß höher, als Wolframs dunkler, schwerer Parzival, dessen Inhalt auch lange nicht so lockt und fesselt, wie im Tristan; allein Lachmann widerte schon die Unsittlichkeit der auf Ehebruch und Fälschung eines Gottesurteils mitgegründeten Fabel an, so wenig der lieblichen und aus dem Menschenherz strömenden Dichtung die beschönigenden Vorwände fehlen. Der sprachgewandte Wolfram war aber auch wert, daß gerade an ihm Lachmann die Meisterschaft seiner durchdringenden Sprachkenntnis bewährte; mit welchem Takt er in zahllosen Fällen aus allen Lesarten immer die richtige, gesunde herausgefunden hat, verdient Bewunderung, er ließ damit alles, was für die Herausgabe irgendeines altdeutschen Gedichts bis dahin geleistet war, weit hinter sich, und sein ganzer feinhöriger Text ist ein unerreichbares Muster geworden für alle, die an so Schweres ihre Mühe ansetzen wollen. Nach solchem langsam aber in jedem Schritt sichern Arbeiten stob ihm die Kritik des Iwein, des Gregor und anderes leicht von der Hand.
Aus denselben Gründen zaudere ich nicht, auch sein allerletztes Werk, seinen Lucrez, als ein gelungnes Meisterstück zu preisen, obgleich auf altrömischem Felde ich mir kein gleich sicheres Urteil anmaße, aber auch der Unkundigere findet sich schnell davon überzeugt. Dieser Dichter war wieder seiner ganzen Art und Weise nicht minder angemessen als Wolfram, den ich doch an poetischer Gabe höher stelle, insoweit beide überhaupt sich einander nur vergleichen lassen. Lucrez hatte die Weihe edler, strenger Gedankenfülle empfangen, zuweilen erweicht er sich, und dann fließen ihm anmutige Verse, überall aber läßt er unmittelbar dahinter andere folgen, die in ihrer Wendung wie im Ausdruck bare Prosa sind. Ich wenigstens kann dem von Lachmann hart angefahrnen Ausspruche Berks beistimmen, der den Lucrez ingenio maximum, arte rudem an Geist sehr groß, an Kunst roh. genannt hat, nur muß bei der Kunst man nicht sowohl seinen strengen und gebildeten Versbau, als den Einklang des ganzen Gedichts im Auge haben, der bei Virgil, Horaz, ja bei den Elegikern vorhanden ist und anzieht, ihm aber abgeht. Es war doch kein guter Plan, Epikurs System der Physik, wenn auch geistig erfaßt, und Stellen anderer griechischen Schriftsteller Schritt vor Schritt in Verse überzuführen, so daß die einzelnen Materien, zwar warm überdacht und wiedergegeben, nur aneinandergereiht erscheinen, nicht zu einem gewaltigen Ziele leiten. Wieviel lebendiger und geschickter hat Virgils Gedicht vom Landbau lehrhafte Gegenstände behandelt. Ich habe wohl mit Lachmann darum gestritten und ihm mein Geständnis abgelegt, daß einzelne Zeilen bei Lucrez mich gemahnen wie Verse lateinischer Dichter des Mittelalters, abgesehen von ihrer größeren metrischen Vollendung. Das sei Stil der alten Kunst, meinte er. Gut denn, daß Virgil und Horaz, in deren keinem ich doch ein höchstes Ideal der Poesie anerkenne, dieser Kunst ein Ende gemacht haben. Lachmanns Verdienst um die Herstellung der lucrezischen Schreib- und Ausdrucksweise kann nicht genug gepriesen werden, der lateinischen Grammatik ist damit nach allen Seiten Vorschub geschehn; auf den Gewinn, der für die philosophische Betrachtung aus dieser rerum natura zu ziehn ist, ließ er seinerseits sich nicht ein. Völlig aber, scheint mir doch, gehn des Lucrez Archaismen nicht auf in dem alten Kunststil, da der ältere Ennius sich schon freier bewegte, Plautus überall dichterischer, dem auch unmittelbar die Griechen vorlagen und der doch nicht so über die patrii sermonis egestas Dürftigkeit der heimischen Sprache. klagte. Im ganzen Lucrez wüßte ich nichts so Poetisches, wie zum Beispiel der einzige Prolog des plautinischen Rudens ist.
Ich redete zu lange über Lucretius und darf nicht von seinem Herausgeber ablenken. Wie es Bilder gibt, in die sich die Maler geteilt haben, so daß einer die Landschaft, der andere die Figuren lieferte, so liebte Lachmann es, gemeinschaftlich mit andern Arbeiten zu unternehmen, denn es gelang ihm dadurch, sich streng auf die Herstellung des Textes zu wenden, dem Freunde das übrige zu lassen. Wer sonst über einem geliebten, langerwognen Autor waltet, den würde fremder Anteil an der Ausarbeitung eher stören: ihm war höchst willkommen, was er für sich schon beiseite gelegt hatte, nun von andern Händen ausgerichtet zu sehn oder auch bei einem von andern angelegten Werk daraus vorweg, was ihm behagte, an sich zu ziehn. So hat er im Verein mit Buttmann (dem Sohn) das Neue Testament, mit Rudorff die Agrimensoren herausgegeben und nach Göschen sich auch des vielbehandelten Gajus unterzogen. An seinem Babrius nahmen Meineke und Bekker teil, am Lichtenstein Karajan, Iwein war von ihm zusammen mit Benecke bearbeitet worden, nur zufällig entraten seine Nibelungen Freundes Hilfe, weil dieser das schon auf dem Titel enthaltne Wörterbuch nicht lieferte. Auch Lucrez hätte von dem sächlichen Kommentar, Parzival vom Glossar eines andern begleitet sein können. Wiederholentlich bekannte er mir seine Unfähigkeit zu lexikalischen Arbeiten. Das war keiner Art Säumnis oder Trägheit, o nein, ihm lagen zu jedem altdeutschen Dichter, den er vornahm, bald die mühsamsten Reimregister zur Hand, und von jedem Wort, das er setzte, hätte er Rechenschaft geben können. Seiner Natur widerstritt aber, einen ganzen Vorrat von Wörtern gleichmäßig zu behandeln, über deren einzelne die gewisseste, über andere nur ungenügende Auskunft zu erteilen er vermochte.
Seine Schreibart in beiden Sprachen war streng und sauber, mitunter dünkt mich ungeschmeidig, im Latein störte er ohne Not, nie ohne Grund, durch einige abweichende Orthographien; am Deutschen, wo alle Schreibung schmachvoll im argen liegt, durfte das nicht stören, dennoch enthielt er hier sich mehr der Neuerung, vielleicht um nicht nachzuahmen. Was aber in seiner Darstellung selbst wichtiger ist, er ließ gern Hauptsachen an Nebenstellen erscheinen und liebte es, gleichsam neckisch, einen Teil des Entdeckten zu bergen und zurückzubehalten, den, wer ihm zu folgen verstand, erraten und ergänzen mußte. Das hat der Wirksamkeit seiner Schriften, die es wahrlich keinem leicht machten, Abbruch getan. Aufmerksame Leser haben lieber, daß ihnen zuviel als zuwenig gesagt werde, da sie das Überlaufende leicht abziehn, das Verschwiegne schwer hinzusetzen können.
Er hatte, meine ich, im deutschen Stil wie in Handhabung der Dinge eine gewisse Ähnlichkeit mit Johann Heinrich Voß, dessen Ansicht ihm auch in manchem, mehr dem Grad als dem Endziel nach, unfern stand, mit dem er zugleich neben der klassischen Philologie die Neigung zu Shakespeare und zum heimischen Altertum teilte, in welchem letztern er ihn doch weit übertraf. Auch Lessing hatte die ältere deutsche Dichtung hervorgezogen, ohne doch daß er auf das Beste schon gekommen wäre, und sein geistvolles Vorbild muß auf Lachmann eingewirkt haben. Unmittelbare Muster, denen er glücklich nachstrebte, waren ihm, außer Bentley, unter den Zeitgenossen Gottfried Hermann und Lobeck; mit Buttmann (dem Vater, dessen griechische Grammatik er auch in den späteren Ausgaben pflegte), mit Meineke und Bekker hielt er enge, aufgeweckte Freundschaft. Mächtigen Einfluß auf ihn übten Niebuhr, zumal Schleiermacher, in dessen letzten Lebensjahren er vertraut mit ihm gewesen sein muß, mehrmals erzählte er mir bewegter als gewöhnlich von dem flatternden weißen Haar, in dem Schleiermacher rüstig die Berliner Straßen durchschritten, und wie ihn das gerührt habe: nun ruhn sie beide dicht nebeneinander.
Was von Lachmanns eigner Sinnesart, von seinem Privatleben soll ich hier hervorheben? Wer ihn genauer nicht kannte, dem mochte er herb und verschlossen erscheinen oder abstoßend, er war mildherzig, weich und voll Liebe. Allen Umgang, der seinem ernsten Wissen nicht fruchten konnte, hielt er von sich, und schwer fiel es, die einmal bei ihm verscherzte gute Meinung herzustellen. An Abgeneigtheiten gebrach es bei ihm nicht. Wenn nach hochtrabenden Worten Seichtes oder Abgetanes sich wollte herauslegen, pflegte ihm ein Vorwurf der Absurdität zu entfahren. Im vertrauten Kreise konnte er sich frohster Heiterkeit überlassen und machte einer falschen Deutung seines Namens dann die größte Ehre; es ist ein Zeichen guter Menschen, herzinnig lachen zu können, oft, wenn er so in unhemmbarem Schüttern sich ergoß, mußte ich einer Stelle seines Walthers gedenken, wo es heißt:
friundes lachen sol sîn âne missetât,
süeze als der âbentrôt, der kündet lûter mære.
Aus dem alten Göttingen her waren seinem unfehlbaren Gedächtnis noch ganze Stücke der Vorträge einiger Professoren gegenwärtig, die er in Stimme und Gebärde vortrefflich nachzuahmen wußte, wie seiner Laune eine Auswahl kostbarer, auch wenn sie sich wiederholten, immer frisch bleibender Anekdoten zu Gebot stand. Für geselligen Umgang gemacht und gestimmt, war er in mehreren Vereinen ein wohlgelittner Präses. Allen seinen Freunden getreu und redlich, wußte er gegen sie von keinem Rückhalt und teilte gern und geradeaus sein Wissen mit. An Beifall karg trat er, wo ihm etwas überhaupt mißfiel, in Nebendingen spitz lobend oder tadelnd hervor, so daß man dadurch weder verdrossen noch befriedigt werden konnte, sein volles Zustimmen wog desto schwerer. Von Eigensinn war er nicht frei, durch keine Vorstellung konnte ich ihn bewegen, das seine Ausgaben der Nibelungen verunstaltende Brechen der Langzeilen aufzugeben: es lehrt nichts, was man nicht schon von selbst fühlte, und wer möchte im Hexameter die Zäsur sichtbar hervorheben? Seine Schüler, die sich in ihn fanden und die er mochte, werden seiner liebreichen Lehre unvergessen sein. Daß er unverheiratet geblieben war, wurde in seiner letzten schweren Krankheit wehmütig empfunden, wo ihn keine weichen, sanften Hände einer liebenden Frau pflegen konnten, nicht einmal seine Freunde ihm nahen durften, außer dem von Leipzig herübergefahrnen Moritz Haupt, der Nacht und Tag seiner bis ans Ende wartete. Erst, solange das Übel nichts schien als ein Podagra, das öfter gekommen und gegangen war, hatte man geringe Sorge, ich erlaubte mir sogar damals in unsern Monatsberichten (1851, S. 99-102) von dem Podagra mythisch zu handeln, ihn damit, wenn er's läse, ein wenig zu erheitern. Als aber die Seuche sich in ihrer ganzen Feindesgestalt erzeigte, ward allgemeine schmerzliche Teilnahme in der Stadt um ihn und, nachdem er mutig eine Fußabnahme ausgehalten hatte, Bewunderung rege. Was konnte alles helfen?
Der Glückliche. Im letzten Jahr, das er lebte, war sein Neues Testament vollendet und die Pracht seines Lucrezes aufgegangen, die dritte Ausgabe der Nibelungen bis zum Titelblatt fertiggedruckt. Auch Lucilius lag ausgearbeitet und kann in einigen Wochen die Presse verlassen. Für den Druck bereit steht eine Sammlung der ältesten Minnesänger mit den schönsten Textreinigungen. Ein Otfried, wie ich höre, in Gemeinschaft mit Haupt war vorbedacht, und man hätte nicht lange zu warten gebraucht, so ging's ihm vonstatten. Den Titurel hatte er wohl schon geraume Zeit fahren lassen, den unternommenen Morolt nicht weit geführt. Noch manches andere Willkommene und Wünschenswerte würde er zutage gefördert haben, nichts, bin ich des Glaubens, was seinen Wolfram und Lucrez in Geschmack und Zierde überholt hätte, seines Ruhmes höchste Staffel ist von ihm erklommen worden. Merkwürdig hierzu stimmt eine Äußerung Lachmanns in einem seiner letzten Briefe an Lehrs. Bei den Anmerkungen zu Lucrez sei es ihm gewesen wie bei denen zu Iwein, er sei fertig und wisse nichts weiter zu geben. Er war zum Herausgeber geboren, seinesgleichen hat Deutschland in diesem Jahrhundert noch nicht gesehn. Den Jubiläen, die das Alter unserer Gelehrten mit Langeweile bedrohen, ist er noch großenteils entronnen. Den schlichten, prunklosen Mann mit blondem Haar im blauen Oberrock werden wir lange an unserer Tafel missen, wie schonend, wenn es hätte sein sollen, wäre auch der Krückenträger an ihr gehegt und gehütet worden, der sich dann hätte angewöhnen müssen still zu sitzen, nicht hinter allen Stühlen herumzuwandeln.