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Der Zug, der Frau Markos und ihre jugendliche Erzieherin nach Sankt Sergius führte, kam dort zu jener köstlichen Stunde an, wo die schon nicht mehr beleuchtete Landschaft sich klar und deutlich von dem noch lichten Horizont abhebt. Man konnte nichts Zierlicheres und Anmutigeres sehen, als die Silhouette der Glockentürme und Kuppeln des vornehmen Klosters, wie sie sich auf dem blauen, fast grünlich schimmernden Himmel, an dem schon hie und da ein Stern sichtbar ward, abzeichnete.
Die von Herbstregen durchfeuchteten Wälder spendeten eine herrliche, freilich etwas gefährliche Frische und Kühle, und Agnes beugte sich weit aus dem Fenster, um den Duft des welken Laubes einzuatmen.
»Mein Gott! Wollen Sie uns allen einen Schnupfen anhängen?« rief Frau Markof. »Sie! Fräulein! Machen Sie das, Fenster zu! Zugluft ist mir das Gräßlichste!«
»Und mir das Liebste!« war Agnes versucht zu entgegnen; allein sie besann sich zu rechter Zeit auf ihre abhängige Stellung und schloß das Fenster, ohne ein Wort zu verlieren.
Der Zug hielt. Mit einer Unzahl kleiner Pakete beladen, die Frau Markof ihr ohne Umstände ausgebürdet hatte, stieg Agnes aus und fiel fast in die Arme eines großen jungen Mannes mit rotem Backenbart, auf dessen unglaublich langem Hals ein unwahrscheinlich kleines Köpfchen saß.
»Da, nimm das, und das, und das! Und den Korb! Halt! Warte doch; hier sind ja noch die Shawls – Hast du sie? So, das ist alles ...«
Frau Markof, die selbst keinerlei Paket oder Tasche trug, wandte sich nun zu einer seitwärts wartenden schwerfälligen Kutsche, in der sie erst sich selbst häuslich niederließ und dann sämtliches Handgepäck und so weiter unterbrachte.
»Nun, so steigen Sie doch ein und setzen Sie sich,« sagte sie zu Agnes, die geduldig harrend am Schlag stand und sich überlegte, wie es möglich sein werde, in diesen Wagen zu gelangen, ohne ein halbes Dutzend Gegenstände zu zermalmen.
»Bitte, wohin?« fragte sie ruhig und nachdrücklich.
Frau Markof blickte sie überrascht an, sah aber dann doch ein, daß auf dem Sitz auch nicht das bescheidenste Plätzchen frei war. Eine allgemeine Umwälzung war die Folge dieser Erkenntnis; jedes Paket wurde an einen andern Platz gelegt, was die Sache im wesentlichen jedoch wenig anders machte. Schließlich entstand, nachdem alle weichen Gegenstände zusammengepreßt und alle harten aufeinandergetürmt waren, ein etwa drei Zoll breiter, freier Raum, der Agnes mit Stolz angewiesen wurde, und auf dem sie, dank ihrer Schlankheit und Geschmeidigkeit, Platz fand, wobei sie sich gestattete, einige Pakete, die sich ihr gar zu unangenehm fühlbar machten, stillschweigend wegzuschieben.
»Was kann denn das nur für ein eckiges Ding sein,« dachte sie, sich mühsam von einem besonders scharfen und harten Päckchen befreiend, als plötzlich der junge Mann in weinerlichem Tone fragte: »Ja, Mama, und wohin soll denn ich?«
»Du? Nun natürlich auf den Bock.«
»Da steht ja ein Koffer,« wimmerte das kleine Köpfchen auf dem langen Hals.
»Ein Koffer? Was für ein Koffer? Ich habe keinen ...«
»Es ist der meinige,« sagte Agnes, tief beschämt, ein solche Schwierigkeiten bereitendes Ding wie einen Koffer zu besitzen.
»Ach so, richtig! Nun, Mittia, könntest du denn nicht die Füße auf den Koffer stellen?«
»Das will ich wohl – wenn ich kann,« setzte Mittia vorsichtig hinzu.
Er that in der That sein Bestes und hockte nach kurzer Zeit, mit dem Kinn die Kniee berührend, in Stellung neben dem Kutscher, die zu beschreiben ebenso schwierig wäre, wie darin zu verharren.
»So, nun wäre alles in Ordnung!« erklärte Frau Markos befriedigt. »Vorwärts!« rief sie dem Kutscher zu, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte, und dessen unerschütterliche Ruhe in diesem Durcheinander etwas Wunderbares war.
Daß diese Seelenruhe ihre Ursache in vollständiger Taubheit hatte, erkannte Agnes gleich darauf, denn er nahm von dem Befehl seiner Herrin ebensowenig Notiz, wie von dem vorhergehenden Ein- und Umpacken. Nachdem Mittia ihm aber auf die Schulter geklopft, ergriff er die Zügel, und die Kutsche setzte sich in Bewegung.
Jetzt erst fiel Frau Markos ein, daß sie etwas versäumt hatte, und auf Mittia deutend, der auf seinem äußerst unbequemen Sitz hin und her schwankte, schrie sie Agnes ins Ohr: »Mein Sohn!«
Die Vorstellung mit einem geringeren Aufwand an Stimmmitteln auszuführen, erlaubte das Rasseln des alten Rumpelkastens nicht; Agnes nickte schweigend mit dem Kopf, da unter diesen Umständen eine andre Erwiderung kaum möglich war.
Nach zweieinhalb Stunden ziemlich erträglicher Fahrt hielt die Familienkutsche vor einem kleinen, niedern Haus. Ein schmierig aussehender Diener in einem Rock, dessen Braun selbst bei dem trüben Kerzenlicht einen sehr fragwürdigen Eindruck machte, eilte herbei, machte den Wagenschlag auf und ließ das Trittbrett herunter. Vor allen Dingen mußte nun Mittia aus seiner Lage befreit werden, was nicht ganz leicht war, da seine Gliedmaßen auf Fräulein Titofs Koffer steif geworden waren; dann wurden große und kleine Pakete, eins nach dem andern, zwei Mägden gereicht, welche dieselben mit anerkennenswerter Geschwindigkeit ins Haus beförderten.
Agnes wartete schweigend, was mit ihr geschehen werde. Nachdem Frau Markof sich mehrmals gründlich überzeugt hatte, daß nichts mehr im Wagen war, stieg sie aus und forderte das junge Mädchen auf, ihr zu folgen. Sie traten in ein ziemlich großes, aber sehr niederes Zimmer, in welchem ein alter Herr eine nicht mehr ganz neue russische Revue studierte, während ein halbwüchsiges, mageres, dunkelhaariges Mädchen den Thee bereitete.
»Nun ratet einmal, was ich euch mitgebracht habe?« rief Frau Markof in heiterm Ton, wie jemand, der gewiß ist, den andern eine reizende Ueberraschung bereiten zu können.
»Kleine Kuchen?« fragte der alte Herr.
»Nein, eine neue Gouvernante!«
Sie trat zurück, zog Agnes in den Vordergrund und nahm ihr den Schleier ab.
»Ach, nichts als das?« machte Fräulein Seraphine mit wegwerfender Miene.
Agnes fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg.
»Ich hoffe, Fräulein, daß ich Ihnen in Bälde nicht mehr so unwichtig erscheinen werde,« sagte sie, auf das Kind zutretend.
Seraphine, die sehr wenig Engelhaftes hatte, warf ihr einen hochmütigen Blick zu und widmete sich wieder ihrem Theekessel.
»Seien Sie herzlich willkommen,« sagte der greise Hausherr gütig. »Sie werden müde sein: legen Sie doch Ihre Sachen ab und setzen Sie sich – der Thee wird Ihnen wohlthun.«
Ebenso wohl that ihr der freundliche Ton dieser Aufforderung, der sie schweigend Folge leistete, indem sie sich auf den ihr angewiesenen Stuhl neben den alten Herrn setzte.
»Großer Gott! Wie schön sie ist!« stieß Mittia, der eben ins Zimmer trat, mehr als halblaut hervor.
Seine Mutter machte eine abwehrende Handbewegung, und seine Schwester streckte die Zunge heraus, worauf man sich dann mit Ruhe ans Theetrinken machte.
Geistesabwesend nahm Agnes an der Mahlzeit teil; im stillen wiederholte sie sich immer wieder den Wortlaut der Depesche, die sie vor ihrer Abreise von Moskau nach Surowa hatte abgehen lassen.
»Teure Eltern, gute Stellung gefunden in sehr ehrenwertem Hause. Meinetwegen keine Sorge, werde glücklich sein.«