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Fünftes Kapitel. Herzeleid

Am folgenden Morgen waren aller Mienen kummervoll und alle Herzen schwer. Agnes' Benehmen war nicht dazu angethan, ihre Mutter zu versöhnen; sie hatte nie hochmütiger und selbstbewußter dreingeschaut als heute. Auch das Wetter trug das Seinige dazu bei, die allgemeine Mißstimmung zu erhöhen, wie ein dichter Vorhang schied grauer, endloser Regen das Haus von der übrigen Welt ab; kaum daß man von der Veranda aus noch unterscheiden konnte, daß die dunkle Masse gegenüber der Wald war, mehr jedoch vermochte auch das schärfste Auge nicht von der Außenwelt wahrzunehmen.

An solch einem Tage fühlt man sich entweder besonders wohl, bei einander zu sein und näher und herzlicher verbunden als sonst, oder aber wird das gezwungene Beisammensein unerträglich, und dieser letzte Fall trat hier ein. Obwohl Fräulein Titof sich bedeutend wohler fühlte, war sie doch noch nicht im stande, ihr Zimmer zu verlassen; Wera saß am Schreibtisch und kritzelte längst hintangesetzte Aufgaben, wobei sie dermaßen über ihr Heft hereinhing, daß von Zeit zu Zeit ihre Flechten ihr über die Schultern fielen und ihr Geschreibsel durch große Tintenstreifen und wolkenartige Gebilde belebten. Ermil und Nikolas studierten in ihrem Zimmer mit dem Feuereifer, der sich häufig nach unangenehmen Erlebnissen einstellt, wenn man das Gefühl hat, sich in seiner eignen Achtung wieder heben zu müssen.

So verlief der ganze Tag, einzig durch trübselige Mahlzeiten unterbrochen, bei denen jedes nur so viel sprach, als die Höflichkeit unumgänglich gebot. Dosia war sich bewußt, hart gewesen zu sein, aber es war ihr nicht möglich, auf die Vorfälle des gestrigen Abends zurückzukommen. Plato erwartete gepreßten Herzens eine Wandlung im Gemüt seines Kindes, die es ihm möglich machen würde, ernst und mild mit ihr zu sprechen, wozu er bei jedem wichtigen Anlaß so sehr den richtigen Ton zu treffen wußte. Allein er kannte Agnes zu gut, um nicht zu wissen, daß jetzt noch jeder Versuch, ihr das begangene Unrecht klar zu machen, vergebens und der väterlichen Autorität nur gefahrbringend sein würde.

Die Dämmerung sank hernieder, die Dämmerung eines regnerischen Herbsttages, die alle während der strahlenden Sommermonate angesammelte Trübseligkeit über die Erde auszugießen schien. Agnes trat auf eine lange, glasgedeckte Galerie, die zu den in der Regel nicht bewohnten Zimmern führte und selten benützt wurde. Das schwächer werdende graue Tageslicht drang hier noch voll herein und ließ die wenigen darin vorhandenen Dinge noch staubiger und unerfreulicher erscheinen; überzählige Gartenstühle und Tische, kränkelnde Topfpflanzen und Spielgeräte, das man hier, vor dem Regen gesichert, verwahrte, bildeten ein ödes Durcheinander, und der kahle, verwahrloste Raum sah noch kahler und trauriger aus in dem fahlen Licht und bei dem einförmigen Geräusch des Regens. Aber gerade deshalb hatte ihn Agnes aufgesucht, hier stimmte alles zu dem, was in ihr vorging. Sie durchschritt die Galerie von einem Ende zum andern wieder und wieder mit hastigen Schritten, und dabei belebten sich ihre Gedanken und ihr ganzes Wesen, das von der Regungslosigkeit dieses langen, trübseligen Tages ordentlich gelähmt gewesen.

Nach und nach löste sich der Bann, der auf ihr lag, an die Stelle der herben, hochmütigen Kälte trat eine tiefe Traurigkeit.

»Ich bin ein unglückseliges Geschöpf,« sagte sie sich, und ihre auf die grauen Nebelmassen gehefteten Augen füllten sich mit Thränen. »Alles, was ich thue, wird mir zum Unglück! Ich kann weder denken, noch fühlen, noch handeln wie andre, es ist, als ob ein dunkles Geschick auf mir laste und mir die Herzen aller, die ich lieb habe, entfremde. O meine Mutter! Wenn sie nur wüßte, wie mein Herz an ihr hängt! Wenn sie mich verstehen wollte und mich kennen würde ...«

Die Thränen liefen über ihre glühenden Wangen, ohne daß sie daran gedacht hätte, sie abzutrocknen; sie fand eine unendliche Wonne darin, sich zu sagen, wie unglücklich sie sei, und diesen Stachel immer tiefer in ihr wehes Herz zu drücken.

»Muß man denn eine Alltagsnatur sein, um verstanden zu werden?« philosophierte sie. »Findet beim nichts, was nicht das Allerweltsgepräge trägt, Gnade vor den Augen selbst der guten und hochstehenden Menschen? Weil ich die Huldigungen eines Dummkopfes von mir weise, mißhandelt man mich, und dieser Dummkopf findet Mittel und Wege, seine Gegenwart und seine Redensarten meinem Vater und meiner Mutter willkommen zu machen, die doch beide so unendlich über der Mittelmäßigkeit stehen. Muß man denn sein wie dieser, um glücklich zu werden? – O Mutter, du hast auf deinem Lebensweg meinen Vater gefunden, der dich geliebt und geleitet hat, werde denn ich keinen Freund und keinen Führer finden, der Licht und Freude in dies Herz bringen könnte?«

Undeutlich ward am Ende der Galerie ein Schatten sichtbar; es war schon so dunkel, daß man nur die Umrisse einer Gestalt unterscheiden konnte, die unbeweglich stehen blieb, bis Agnes näher kam.

»Ermil!« sagte sie mit weicher, thränenerstickter Stimme. In ihrem trostlosen Gefühl des Verlassenseins war ihr die Nähe einer jedenfalls mitfühlenden Seele wohlthuend.

Sofort stand er neben ihr.

»Ich störe Sie?« fragte er schüchtern.

»Nein, bleiben Sie!« erwiderte Agnes.

Schweigend gesellte er sich zu ihr; ihr Schritt war nicht mehr heftig wie zuvor, sondern es lag etwas Schwankendes, Mattes in ihrem Gang.

»Sie leiden,« fing er leise an. »Ich würde, weiß nicht was, darum geben, wenn dieser unselige Scherz unterblieben wäre!«

»Der Einfall kam von mir,« versetzte sie. »Ach, und was liegt überhaupt jetzt daran

»Wenn Sie wüßten, wie bekümmert ich gewesen bin – ich fühlte, wie traurig Sie waren.«

»Ach! Sie wissen ja nicht, was man mir gesagt hat! Ich weiß überhaupt nicht mehr, ob meine Mutter mich liebt.«

Ein leidenschaftliches Schluchzen machte das junge Mädchen erbeben.

»Ihre Mutter? O liebe Agnes, Sie wissen nur nicht, mit welch unaussprechlicher Innigkeit! Aber sie sieht die Dinge mit andern Augen an als wir, das ist ja ganz natürlich – in ihrem Alter ...«

»Und daß man in meinem Alter anders denkt, ist ebenfalls ganz natürlich!« fiel ihm Agnes mit einem Anflug ihres gewohnten Hochmuts ins Wort.

»Gewiß!« stimmte Ermil eifrig bei. »Aber es handelt sich jetzt weniger um die Ursachen des Uebels, als um ein Mittel, alles wieder gutzumachen ...«

»Ach, das sind Illusionen!« versetzte sie bitter. »Das Uebel ist zu alt, Ermil, es ist ein Mißverständnis, das schon vorhanden war, ehe ich zur Welt kam. Ich habe viel nachgedacht in diesen letzten Tagen, und es sind mir plötzlich Dinge klar geworden, die bisher unbegreiflich für mich waren. Sehen Sie, meine Mutter, die zu ihrer Zeit ein sogenanntes enfant terrible gewesen ist, fürchtet nichts so sehr, als diese Anlage sich in ihren Kindern wiederholen zu sehen. Sie hätte in uns nur Ebenbilder unsres Vaters sehen mögen; deshalb hat sie Nikolas viel lieber, als Wera und mich; sie ist sich dessen nicht bewußt, und doch ist es nur zu fühlbar. Vor mir hat sie beinahe Angst, Ermil, weil ich nicht leicht zu lenken bin ...«

Sie schwieg und ging ein paar Schritte weiter.

»Nun ja, es ist wahr! Ich bin schwer zu behandeln,« fuhr sie dann mit unterdrückter Heftigkeit fort. »Ich gebe das zu, und ich schäme mich nicht daran: aber ich weiß auch, was Gutes in mir ist, wie vieles in mir erstickt wird ... Ihr findet, daß ich am Aeußerlichen, an leeren Formen hänge, daß ich pedantisch bin ... Ach, seid ihr denn nie daraus gekommen, daß ich mir den Zwang freiwillig auferlegt, um mich selbst zu beherrschen? Daß ich mir Schranken geschaffen aus Furcht, ich könnte die wirklich vorhandenen überschreiten, wenn ich mich nicht daran gewöhne, mich weder Träumen noch Launen hinzugeben?«

»So ganz unverstanden sind Sie nicht! Ich habe mir mehr als einmal gesagt, daß dem so sein müsse,« erwiderte er, »Sie wären sonst nicht im Einklang gewesen mit Ihrer innersten Natur.«

»Glauben Sie denn, daß nicht schon einiges Verdienst darin liegt, daß ein Mädchen, das, wie ich, vom Ueberfluß umgeben im Elternhaus aufwächst, überhaupt sich selbst mißtraut? Daß es viel heißen will, wenn sie immer kämpft und ringt, sei es auch um eine leere Illusion, wenn sie sich freiwillig Gesetze auferlegt, seien es auch nur äußere Formen? Das alles habe ich gethan, und beweist das nicht, daß in mir eine Kraft ist, mit der man zuweilen rechnen sollte?«

»Das ist das richtige Wort,« fiel Ermil lebhaft ein. »Daß man Sie ernsthaft nehmen, mit Ihnen rechnen soll, das ist es, was Sie fordern und was Ihre Eltern nicht gewähren und Ihnen nicht zugestehen. Unabhängig wird man mit den Jahren oder durch Verheiratung ...«

»In diesem Fall, heißt das, wechselt man einfach den Gebieter.«

»Nicht immer,« versetzte der junge Mann mit seltsam ernster Stimme. »Es gibt Männer, die vernünftig genug sind, in ihrer Frau die ebenbürtige Gefährtin zu schätzen – wenn dieselbe dessen würdig ist.«

Agnes machte eine wegwerfende Bewegung.

»Wonach ich mich sehne,« sagte sie, »ist, eine Möglichkeit, meine Kraft und meine Fähigkeiten zu gebrauchen, solange ich in ihrem vollen Besitz bin; etwas vollbringen und leisten – nicht für mich, sondern für die andern.«

»An Aufgaben dieser Art fehlt es wahrhaftig bei uns nicht; in unserm Rußland ist noch viel zu thun. Ich kenne einen jungen Mann ohne großes Vermögen; er hatte sich in seiner Vaterstadt als Advokat niedergelassen und war mit einem Schlag in Besitz einer glänzenden Praxis gekommen, als er eines Tages horte, daß sich für ein sehr entlegenes Dorf in einer Sumpfgegend – durchaus kein Schullehrer auftreiben lasse ... Können Sie sich vorstellen, daß es an einem ganz gewöhnlichen Volksschullehrer fehlen kann?«

»Und Ihr Freund?« drängte Agnes voller Ungeduld.

»Er hat seine Klienten im Stich gelassen und ist in die Sümpfe gezogen, wo er die Bauernkinder lesen und schreiben lehrt, vorausgesetzt, daß er nicht seither am Fieber gestorben ...«

Agnes preßte ihre beiden Hände gewaltsam auseinander.

»Das ist schön!« rief sie. »Solche Menschen muß man ehren. Und ich – ich nichts! Nicht einmal mein eignes Brot bin ich zu verdienen im stande!«

»Das wissen Sie ja gar nicht,« bemerkte Ermil lächelnd. »Ich glaube, daß Sie großes pädagogisches Talent haben.«

Sie lächelte flüchtig, dann sich rasch zu ihm wendend, fragte sie: »Und Sie? Was möchten Sie thun und vollbringen?«

»Ich werde meine Bauern lehren, die Früchte ihrer sauern Arbeit nicht durch Nachlässigkeit, Unwissenheit oder Dummheit aufs Spiel zu setzen, das ist alles, was ich zu leisten vermag. Ich bin kein Held,« setzte er demütig hinzu, »und fühle nicht das Zeug zu heroischen Thaten in mir: sterben könnte ich für meine Pflicht, mir romantische Pflichten erfinden, kann ich nicht.«

»Erfinden! Gibt es erfundene Pflichten?«

»Ich glaube, ja,« erwiderte er mit der nämlichen Demut und Ruhe.

»Ist es auch eine erdichtete Pflicht, sein Wort zu halten?«

»Gewiß nicht, allein sich die Ausführung unmöglicher Dinge geloben, das heißt vielleicht Pflichten erdichten. Ich weiß es nicht – Agnes, ich bin ein ehrlicher Mensch, aber kein Paladin.«

»Ich habe Sie gesehen, im Feuer ...«

»O, das war ja eine ganz natürliche, selbstverständliche Sache; was ich sagen wollte, ist, daß es mir gänzlich an Poesie und Phantasie fehlt – ich bin ein einfacher, gar zu einfacher Mensch.«

Es war, als ob er sie für diese Einfachheit um Verzeihung bitten wollte. Sie sah ihn einen Augenblick verblüfft an, ganz geneigt, seinen Ausspruch buchstäblich zu nehmen, und doch mit dem unbewußten Gefühl, daß diese Bescheidenheit an und für sich schon aus Außergewöhnliches deute.

»Wenn man sein Wort gegeben hat, muß man es halten,« sprach sie mit der ihr eignen stolzen Entschiedenheit. »Ob das eine wirkliche oder eine erdichtete Pflicht ist, weiß ich nicht – aber Pflicht ist es für einen Mann von Ehre – von dieser Ueberzeugung kann ich nicht abgehen ...«

Unterwürfig, wenn auch nicht überzeugt, senkte er das Haupt. Etwas in ihm lehnte sich auf gegen dies Urteil, er hätte sich aussprechen, sich rechtfertigen mögen, aber gegen die formell richtige Behauptung aus Agnes' Munde fand er keine Waffen.

»Ueberdies,« setzte sie mit einem Seufzer hinzu, »sind das alles nur Theorieen, die Schwierigkeit ist, wie sich aus der wirklichen Not ziehen.«

Er hätte ihr gern gesagt, daß diese Theorieen beträchtlich dazu beigetragen haben, die Not zu schaffen, über die sie klagte, aber er wagte es nicht aus Furcht, sie zu verstimmen. Sie litt, ja; aber tausendmal bittrer war der Schmerz für ihn, ihr nicht die einzig wahre Heilung für ihr wundes Herz bieten zu dürfen: seine unnennbare Liebe, seine Hingebung, Opferwilligkeit und Selbstverleugnung. Und sie selbst hatte sich unbedacht und thöricht des Trostes beraubt, solche Worte zu hören, und ihn der Wonne, sie aussprechen zu dürfen!

»Ermil,« sagte sie plötzlich, »dies Haus lastet schwer auf mir. Ich habe mir alle entfremdet, keins hat mich mehr lieb ...«

O das undankbare Kind – aber konnte er ihr das sagen?

»Ich leide namenlos. Ich möchte fort von hier, weit fort, so weit, daß nichts mich an die Vergangenheit erinnern würde ...«

»Nichts – Agnes? Und nie?« fragte er mit erstickter Stimme.

»Nie? Das weiß ich nicht – vielleicht später – aber jetzt, jetzt thut mir alles weh und macht mich elend,« seufzte sie, trostlos die Hände ringend. »Achtzehn Jahre alt bin ich, das nennt man die schönste Zeit des Lebens, und ich bin so grenzenlos unglücklich – ach, Ermil, lassen Sie mich allein, es ist besser für mich.«

Aber statt ihr zu gehorchen, trat er näher.

»Ja, Sie sind unglücklich, Agnes, aber wenn Sie nur wollten, so wäre alles Leid und Weh zu Ende ...«

»Ich weiß, ich weiß es ja: ich soll es machen wie die andern, soll sein wie die ganze Welt?« sagte sie mit herbem Spott.

»Ja,« erklärte er kühn. »Zur trivialen Alltäglichkeit herabsinken werden Sie nie, aber Sie sollten versuchen, sich allgültigen Gesetzen zu beugen, allgemeine Pflichten ...«

»Mir die Flügel stutzen lassen?«

»Lieber, als in der Irre umherflattern.«

Verblüfft über diese Kühnheit, starrte sie ihn an, mehr überrascht und neugierig als zornig.

»Verstehen Sie mich recht, Agnes; ich liebe Sie mehr, als Worte sagen können, und mein Leben gäbe ich drum, Ihre Thränen trocknen zu dürfen; aber wenn ich sehe, wie Sie wissentlich sich in so großen Irrtum hineinsteigern, so ist es meine Pflicht, Ihnen das zu sagen. Ihre Eltern vergöttern Sie und wünschen auf der Welt nichts andres, als Ihr Glück, dafür wollen Sie blind sein; im innersten Herzen wissen Sie wohl, daß ich recht habe, aber Ihr Stolz läßt nicht zu, daß Sie es eingestehen. Sie gefallen sich in der Rolle der Mißverstandenen, Verkannten, denn sobald Sie aufhören, eine solche zu spielen, müssen Sie sich wieder allen Gesetzen unterwerfen, die Sie jetzt nach Herzenslust schmähen können. Ich beleidige Sie, Agnes, das weiß ich, und doch ist meine Liebe zu keiner Stunde wahrer und mächtiger gewesen, als in diesem Moment. Vielleicht werden Sie mir nie verzeihen, und ich setze mein Lebensglück aufs Spiel, indem ich Sie ein letztes Mal warne ... Noch ist es Zeit, geben Sie die unklaren Träume und Ideen auf, wollen Sie nichts mehr sein als gut, wie Sie es sein können, wie Sie es gewesen sind an jenem Tag, als sie das arme Kind aus den Flammen gerettet haben ...«

Sie schwieg; leise, aber mit bebender, zum Herzen dringender Stimme fuhr er fort: »Liebste Agnes – dies Haus lastet auf Ihnen, das meine steht offen, Sie zu empfangen. Wir haben beide den heißen Drang, unserm Lande, unsrer Zeit etwas zu nützen; Ihre Entschlossenheit und Festigkeit wird meine Schwäche beleben und überwinden, wir werden uns gegenseitig ergänzen und glücklich sein. Und dann, Agnes, ich habe Sie ja so lieb, so lieb, daß die ganze Welt ohne Sie mir nichts ist. Wir wollen vor Ihre Eltern treten und ihnen sagen, daß wir einander angehören, und alles Leid wird sich in Freude wandeln ...«

Er hatte ihre beiden Hände ergriffen und sah ihr mit tiefer, inniger Hingebung in die Augen ...

Es drängte sie, ja zu sagen. Sie wußte, wie gut, wie edel, wie fest er war, und mehr und mehr fühlte sie eine weiche, selige Regung in sich mächtig werden. Sie wußte, daß sie frei und unberührt von Gefahren und kleinen, niedrigen Sorgen durchs Leben gehen würde, wenn diese kraftvolle Hand sie führte, ein Sehnen nach Liebe und Zärtlichkeit durchbebte ihre Seele; schon widerstrebte sie nicht mehr seinem Arm, der sie sanft an sich zog, schon war sie bereit, ihr Köpfchen an dies edle, starke Herz zu schmiegen – da plötzlich bäumte sich ihr unseliger Stolz auf, sie riß hastig ihre zitternden Hände aus Ermils und drängte ihn von sich.

»Sie hatten mir geschworen, nie mehr von Ihrer Liebe zu sprechen,« sagte sie bebend. »Sie haben Ihr Wort gebrochen.«

Tief erschüttert wich er zurück. Freilich hatte er ihn vergessen, den seiner Schwachheit abgerungenen Eid!

»Sie haben von nun an meine Gegenwart zu meiden, ich verbiete Ihnen, mir wieder vor Augen zu kommen!« fuhr Agnes mit Härte fort; sie kämpfte ja nun nicht mehr allein gegen ihren Stolz, sondern auch gegen die neue Empfindung, die sie ergriffen hatte.

Er sah ihr voll ins Gesicht.

»Was Sie jetzt thun, Agnes, ist schlecht,« sprach er, bleich vor Erregung.

»Ich gebe Ihnen nicht das Recht, mich zu beurteilen,« versetzte sie.

»Und können es mir dadurch auch nicht entziehen.«

»Indem ich Sie aus meiner Nähe verbanne, wird Ihr Thun und Denken sehr unwesentlich für mich. Ich wiederhole Ihnen, daß ich Sie nicht mehr sehen, Ihnen nicht mehr begegnen will, und wenn Sie den andern gegenüber keinen Vorwand finden, unser Haus zu meiden, so werde ich dasselbe verlassen.«

Er verbeugte sich tief.

»Es bleibt mir nichts übrig, als zu gehorchen,« sagte er, »aber Sie handeln grausam, unrecht und unklug. Sie werden es bereuen.«

»Drohungen?«

»Nein, nur tiefer Schmerz. Leben Sie wohl, Agnes!«

»Leben Sie wohl!«

Er verließ die Galerie. Die Nacht war nun völlig angebrochen und man sah draußen nichts mehr, als eine dichte, dunkle Nebelmasse, die wie ein graues Tuch an den Fenstern zu haften schien. Agnes eilte in ihr Zimmer und warf sich auf ihr Bett.

»Ich will ihn nicht lieben, ich will nicht!« wiederholte sie leidenschaftlich. »Diesen Menschen, der mich verspottet, verurteilt – lieben! Wenn du so lächerlich und erbärmlich sein könntest, mein Herz, so werde ich dich zur Vernunft bringen! Wenn ich ihn nicht lieben will, so werde ich wohl Herr darüber werden – man kann alles, wenn man will.«

Trotz dieser erhabenen Wahrheit weinte das arme Kind in dieser Nacht viel heiße Thränen. Zu all den eingebildeten Kümmernissen trat nun ein echter, wahrer Schmerz; sie liebte Ermil, und sie hatte ihn für immer von sich gestoßen. Von jener Koketterie, die abstößt, um anzuziehen, ahnte sie ja nichts; sie hatte den jungen Mann abgewiesen in der felsenfesten Ueberzeugung, daß es damit für alle Zeiten zwischen ihnen zu Ende sei, und sie hatte geglaubt, dadurch einen Beweis von großem Heroismus gegeben zu haben. Curtius war in den Abgrund gesprungen, Scävola hatte seine Hand in die Glut gelegt, weshalb sollte Agnes Surof nicht ihr eigen Herz ersticken können?


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