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Am nächsten Morgen war der Himmel ziemlich klar, und Plato teilte mit, daß die ganze Familie General Baranins Einladung zum Diner Folge leisten werde.
Ueber Nacht waren die noch kaum von Regen trockenen Blätter gelb geworden und die ganze Landschaft hatte mit einem Schlag die farbenreiche und doch wehmütige Herbstfärbung angenommen. Bald drang die Sonne durch den Nebel und tauchte Park und Wald in hellen Glanz, dem Bild wenigstens für die Jugend, die nicht an ein Morgen und an keinen Winter denkt, fröhliche Stimmung verleihend.
Plato kannte das Leben besser; nachdem er seinen Thee getrunken, trat er nachdenklich auf die Terrasse.
»Schon der Herbst! Und dem wird rasch der Winter folgen, und abermals sinkt ein Jahr hinter uns zurück,« sagte er vor sich hin.
Die Blumen strahlten in unvergleichlicher Farbenpracht; in jenen Tagen, wo Sommer und Herbst ineinander verschmelzen, ist es ja, als wollten uns diese freundlichen, stillen, kleinen Gesellen an Duft und Farbe ihr Bestes geben, noch reichstes Leben atmen vor dem nahen Tod. Der Rasen trägt ein satteres Grün als je; rot, gelb und violett leuchtet's in den Gärten wie ein buntschimmerndes Mosaik, daß einem schier die Augen weh thun – ein einziger Reif, und die ganze fröhliche Herrlichkeit liegt welk auf dem entfärbten Rasen.
»Agnes,« rief Plato, als er seine Tochter durch den Blumengarten gehen sah.
Sie trat schweigend zu ihm.
»Höre mich an, Kind,« begann er. »Deine Mutter ist in ihrem Zimmer, suche sie auf und sag ihr mit ein paar guten Worten, daß dir dein Benehmen leid thut; dann wird diese Mißstimmung, die auf uns allen lastet, wieder gut gemacht sein.«
Agnes sah ihren Vater zweimal an, als ob sie sprechen wollte, wagte es aber nicht.
»Was willst du, Kind?« fragte er gütig.
»Ich – Papa, wenn du es wärest, so weiß ich, daß ich das rechte Wort fände, dein Herz zu rühren; aber ich fürchte, bei meiner Mutter wird mir das nicht gelingen.«
»Und doch mußt du ihr sagen, daß du dein Betragen bereust,« erwiderte Plato mit einem Seufzer.
Agnes schwieg.
»Aber, Kind,« fuhr ihr Vater etwas gereizt fort, »ich hoffe doch, daß du es wirklich bereust?«
Sie schlug die Augen auf und sagte mit Wärme: »Ich bin grenzenlos unglücklich darüber, daß ich dir Kummer bereitet habe.«
»Sag das mit denselben Worten deiner Mutter, mehr verlangt sie nicht von dir.«
Agnes zögerte einen Augenblick, dann sprach sie entschlossen: »Es ist aber doch nicht dasselbe, Papa. Meine Mutter hat mich anders behandelt als du ... Ich will ja nicht sagen, daß ich mein Unrecht nicht einsehe,« setzte sie rasch hinzu, als sie sah, wie des Vaters Miene sich verdüsterte, »allein es wird mir nicht möglich sein, ihr ungeheuchelt dasselbe Gefühl zu zeigen, das ich dir gegenüber so leicht aussprechen kann – dir, mein heißgeliebter Vater« – fügte sie ganz leise hinzu.
Plato war ernstlich bekümmert; offenbar hatte Dosia das Selbstgefühl ihres Kindes aufs tiefste verletzt, und solche Wunden vernarbten bei ihr nicht leicht.
»Willst du es nicht mir zuliebe thun?« fragte er, im Gefühl, damit die rechte Saite im Herzen der ihm so teuern Tochter anzuschlagen.
»O mein Vater! Für dich, für dich kann ich alles thun,« flüsterte Agnes, seine Hand an ihre Lippen drückend.
Sie war besiegt; die Thränen, die ihr in Strömen aus den Augen stürzten, zeigten, daß das Eis um ihr Herz geschmolzen, daß ihr Stolz überwunden war.
Plato küßte sie auf die reine Stirn.
»Komm gleich mit mir; deine Mutter hat schon zu lange gewartet.«
Den Arm um ihre schlanke Gestalt gelegt, zog er sie mit sich zu Dosias Zimmer, in welchem diese eben ihre Toilette vollendete.
»Dosia,« sagte er, »hier ist unser Kind, das dir etwas zu sagen hat.«
Damit zog er sich zurück und schloß leise die Thür hinter sich, um auf die Veranda zurückzukehren, wo er träumerisch in die herbstliche Landschaft hinausblickte, die ihn so mächtig an die Vergänglichkeit unsers Daseins gemahnte.
Auch der größte Stratege kann einen Mißgriff thun. Und ein solcher war es, daß Plato Mutter und Tochter allein gelassen hatte, ohne über die Stimmung seiner Frau Gewißheit zu haben.
Dosia, die ihren Aerger wieder und wieder überdacht und geschürt hatte, war unglückseligerweise gerade in dieser Stunde zu dem Schluß gelangt, daß ihre Langmut nun zu Ende sein müsse, und daß es von nun an ihre Aufgabe sei, mit unerbittlicher Strenge das Kind zu seiner Pflicht zurückzuführen.
Der alte Dämon, der sie einst zu so viel tollen Streichen geführt, war in Dosias Herzen nicht ganz erstorben, die Jahre hatten den angeborenen Freiheitsdrang nicht ganz ertötet, es gab immer noch Augenblicke, wo sie, um ihren Willen durchzusetzen, den Kampf mit der ganzen Menschheit aufgenommen hätte.
Das war die Stimmung nicht, in der Agnes' Entgegenkommen die von ihrem Vater ersehnte Wirkung haben konnte; beim ersten Wort der Mutter fühlte das junge Mädchen das, und ihr Stolz flammte um so höher auf, als er gewaltsam niedergerungen worden war.
»Nun?« machte Dosia, die vor ihrem Ankleidespiegel stand und, zum Ausgehen bereit, eben die Handschuhe anzog.
Der Ton klang nicht sehr ermutigend, doch sagte sich Agnes, daß sie sich ihrem Vater zuliebe noch einmal bezwingen und ihrer Mutter die verlangte Unterwerfung zeigen müsse. Aber Agnes war durch und durch wahr, und wenn das, was sie sagen sollte, ihr nicht voll und ganz von Herzen kam, kostete es eine furchtbare Anstrengung, die Worte über die Lippen zu bringen.
»Mama,« sagte sie mit unsichrer Stimme, »ich fürchte, daß ich dir Verdruß gemacht habe, und ich möchte, daß du mir nicht langer böse sein wolltest.«
Gegen diese sehr unvollständige Abbitte lehnte sich Dosias ganzes Wesen auf.
»Ist das alles, was du mir zu sagen hast?« fragte sie fremd und kalt.
»Ja, Mama,« erwiderte Agnes, sie unerschrocken ansehend.
»Dann kannst du gehen. Du wirst mich entweder in aller Form um Verzeihung bitten für dein ungebührliches Betragen, oder mir nicht mehr vor die Augen kommen.«
Das war weit mehr, als sie hatte sagen wollen, allein sie blieb nicht leicht Herr über sich selbst, und ihr Verlangen nach unbedingter Aufrechthaltung ihrer Autorität war um so größer, als sie selbst sich in ihrer Jugend so gern einer solchen entzogen hatte. Ein Sprichwort bezeichnet solche Wandlungen mehr kräftig als liebenswürdig mit dem Ausdruck: »Wenn der Teufel alt wird, geht er ins Kloster.«
»Dann soll ich nicht mit euch zu General Baranin gehen, Mama?« fragte Agnes.
»Es wird entschieden richtiger sein, du bleibst zu Hause; du hast dann Zeit, über dein Unrecht nachzudenken, und wirst vielleicht zur Vernunft kommen.«
Agnes verabschiedete sich durch einen stummen Gruß und wandte sich zum Gehen; als sie die Thürklinke in die Hand nahm, war es Dosia, als ob sie sie zurückrufen müßte; eine einzige Bewegung hätte genügt, um das Kind in die Arme der Mutter zu führen, aber beide besaßen das nämliche Maß von Stolz, und diese Bewegung unterblieb.
Das junge Mädchen suchte ihren Vater auf, der betroffen stehen blieb, als er ihr bleiches, verstörtes Gesicht wahrnahm.
»Mama hat mir befohlen, hier zu bleiben,« sagte sie leise. »Ich werde nicht mit euch gehen.«
»Also hast du sie abermals beleidigt?« sagte Plato tieftraurig.
»Es war gewiß nicht meine Absicht, Papa, das versichere ich dir,« erwiderte Agnes, »aber ich glaube, Mama ist so aufgebracht gegen mich, daß alles, was ich ihr sagen kann, ihr nicht genügt.«
Man hörte die Pferde ungeduldig stampfen. Plato erhob sich und legte liebevoll seine Hand auf Agnes' Haupt, wie es seine Gewohnheit war.
»Mein Kind,« sagte er, »man muß sich unterwerfen lernen im Leben, auch wenn uns die Strafe unverhältnismäßig groß erscheint für unser Vergehen ...«
»Die Wagen sind vorgefahren,« meldete der Diener.
»Bleibe ruhig zu Hause, Agnes,« fuhr Plato fort, »die Einsamkeit ist oft unser bester Freund und Berater. Sei nicht traurig, aber bedenke alles wohl. Deine Mutter wird bei ihrer Heimkehr vielleicht eher geneigt sein, dir zu verzeihen.«
Wera kam fix und fertig herbeigeeilt.
»Ach, du bist noch gar nicht angezogen? Gehst du nicht mit?« fragte die Schwester.
Agnes beugte sich zu ihr herab und küßte sie liebevoller als sonst. Seit dies Kind die erste, höchst unfreiwillige Veranlassung ihres Herzeleids geworden, war sie ihr weit mehr ans Herz gewachsen.
»Nein, mein Liebling,« sagte sie, »ich bleibe zu Hause.«
Ermil und Nikolas erschienen gleichfalls reisefertig, ihnen folgte Fräulein Titof. Alle wiederholten Weras Frage an Agnes, was ihre Selbstbeherrschung auf eine harte Probe stellte.
Ihre Erklärung, daß sie zu Hause bleibe, stieß auf ungläubiges Lachen, bis endlich, als Frau Surof schweigsam und sichtlich erregt aus ihrem Zimmer kam, in allen eine Ahnung aufstieg, daß es sich hier um etwas sehr Ernstes handle. Man begab sich an die Wagen, Agnes blieb auf der Terrasse.
Plötzlich kam Ermil zurück, eilig, als ob er etwas vergessen hätte.
»Ich beschwöre Sie, Agnes,« sagte er hastig, »verfügen Sie über mich, kann ich irgend etwas für Sie thun? Sie leiden sichtlich ...«
»Ich will Ihr Mitleid und Ihre Hilfe nicht,« versetzte das junge Mädchen hochmütig, »ich hatte Ihnen überhaupt untersagt, wieder in meine Nähe zu kommen! Soll mir denn mein Elternhaus durch die Härte meiner Mutter und Ihre aufgedrungene Liebe vollends ganz unerträglich werden?«
Er wagte es nicht, weiteres zu sagen, und entfernte sich rasch.
Eine Zeitlang lauschte sie noch dem Geräusch der sich entfernenden Wagen, dann verklang allmählich der letzte Ton und tiefes, ernstes Schweigen umgab das einsam gewordene Haus.
Agnes blieb lange Zeit auf dem nämlichen Fleck stehen, die Hände schlaff herunterhängend, starrte sie hinaus auf Park und Wald, ohne etwas von ihrer Umgebung gewahr zu werden. Eine Welt von Kindheitserinnerungen stieg vor ihr auf, aber es waren keine freundlichen Bilder; alle längstvergessene Bitterkeiten, Kränkungen, die sie still in sich überwunden gehabt, Zorn, der keine Gelegenheit gehabt, sich auszutoben, alles, was still und unbewußt in ihrer Seele ruhte, wühlten die wilden Gedanken auf. Die Sonne sank tiefer, alles atmete Ruhe und Frieden, und da stand dies Kind des glücklichen, gesegneten Hauses und fand in sich und um sich keinen Lichtstrahl, keinen tröstlichen Gedanken; trotz der jugendlichen Fröhlichkeit, die gelegentlich zum Durchbruch kam, war sie von Natur düstern, schweren Sinnes, und sie fand eine schmerzliche Freude daran, alle Stürme ihrer freilich nicht wolkenlosen Kindheit wieder an sich vorbeiziehen zu lassen.
Man hatte sie von jeher verkannt. Ihr Vater allein, der verstand sie, aber Agnes war viel zu klug und reif, um nicht voll zu begreifen, daß er sie nicht in Schutz nehmen konnte, wenn die Mutter an ihr zu tadeln fand. Das junge Mädchen hatte einen hohen Begriff von Pflicht und anerkannte als selbstverständlich, daß der Vater der Mutter beistimmen mußte, wenn diese sie strafen wollte. Wie grausam war nicht das Geschick, daß diese zärtlich geliebte, bezaubernde Mutter in ihrer Tochter gerade all das unerträglich fand, was sie meist an sich selbst so verzeihlich gefunden!
Langsam füllten sich des Mädchens Augen mit Thränen, als sie sich so zurückversetzte in ihre erste Kinderzeit.
»Ich habe immer und immer Leid und Schmerzen in mir getragen, und doch ist's mir, als ob ich hätte glücklich sein können!«
Ein leichter flockiger Nebel stieg aus dem Thal auf und hüllte alles ringsum in duftige, bräutliche Schleier, welche die Sonne nur noch schüchtern durchdrang. Dem einsamen Kind ward immer schwerer ums Herz, tiefe Traurigkeit bemächtigte sich ihrer Seele, ach, sie war ja lange nicht so stolz und stark, als sie sich's oft selbst glauben machen wollte.
»Vielleicht ist das alles meine Schuld,« dachte sie in großer Niedergeschlagenheit, »andre könnten glücklich sein an meiner Stelle; ich bin eine unselig angelegte Natur. Mein Vater hat Mama so lieb! Wenn sie nicht gut und edel wäre, könnte er sie so lieben? Ich bin es, die sie nicht verstehen kann. Und so muß ich dahinleben Tage, Wochen, Jahre, ohne denen, die ich liebe, ins Herz blicken, ohne ihnen mein Innerstes zeigen zu können ... Nutzlos und freudelos wird mein Leben sein, das ich so gern gut angewendet haben würde.«
Sie schauerte fröstelnd zusammen und kehrte ins Haus zurück. Ein paar Minuten nachher meldete ihre Jungfer, daß aufgetragen sei, und sie ging in das öde Speisezimmer, wo sie ein paar Bissen zu sich nahm und ein Glas frischen Wassers trank. Dann ordnete sie an, daß man ihr den Thee auf ihr Zimmer bringen sollte.
Nachdem das Zimmermädchen, welches ihr denselben gebracht, hinausgegangen war, nahm Agnes ihre Lampe zur Hand, um sich in Fräulein Titofs kleiner Bibliothek irgend ein interessantes Buch zu suchen. Sie wollte den eignen Gedanken entfliehen und dem inneren Jammer, der ihr Herz mehr und mehr ergriff und marterte.
Hastig durchblätterte sie Band um Band, nichts schien ihr fesselnd und spannend genug, um sich zu betäuben. Plötzlich warf sie durch eine ungeschickte Bewegung ein zusammengefaltetes Blatt Papier auf den Boden, das im Fallen von selbst aufging. Sie hob es auf und warf zufällig einen Blick hinein.
Es war Fräulein Titofs Paß, den sie im Hinblick auf ihre Reise hatte visieren lassen und der zufällig auf der Kommode liegen geblieben war.
Agnes durchlas aufmerksam das halb gedruckte, halb geschriebene Dokument. Man weiß kaum weshalb, aber das Signalement einer bekannten Person zu lesen, hat immer einen gewissen Reiz, und sie studierte das Schriftstück von dem russischen Wappen oben an bis zur unleserlichen Unterschrift des beliebigen Beamten, durch dessen Hände es zuletzt gegangen war.
»Das könnte ebensogut mein Signalement sein,« dachte sie, indem sie die annähernd richtige Personalbeschreibung ihrer Erzieherin noch einmal durchlas. »Merkwürdig, daß man einander so wenig ähnlich sehen und doch das gleiche Signalement haben kann! Bis auf das Alter stimmt alles; sieben Jahre bin ich jünger ... aber ich sehe ja viel älter aus, als ich bin ...«
Sie betrachtete im gegenüberhängenden Spiegel ihre feinen, allerdings durch den kummervollen Ausdruck plötzlich älter erscheinenden Züge.
»Wenn man denkt,« überlegte Agnes weiter, »daß dies armselige Blatt Papier Fräulein Titos das Recht gibt, frei zu sein, ihren Beruf auszuüben, Gutes zu wirken, unabhängig zu sein ... all das enthält dies dünne Blatt!«
Sie starrte auf den Paß, als ob sie von ihm die Lösung aller Rätsel erwarte und ihr künftiges Schicksal von ihm ablesen zu können glaube. Auf dem nämlichen Schränkchen lag, ebenfalls zu den Reisevorbereitungen gehörig, der Fahrplan der Wolgadampfschiffe. Agnes griff danach und fing an, ihn gleichfalls zu studieren.
Mit welchem Schiff gedachte Fräulein Titof wohl zu fahren? Höchst wahrscheinlich mit dem am Sonnabend abgehenden, denn das früheste ging schon heute abend um neun Uhr von der nächstliegenden Station ab. Agnes sah nach der Uhr. Es war halb sieben. In ihrem Kopf nahm ein Gedanke, den sie sich noch nicht einzugestehen wagte und der doch schon sehr mächtig war, immer festere Gestalt an, all ihr Thun und Denken strebte unbewußt diesem Ziele zu. Sie klingelte; die Jungfer trat ein.
»Wo ist denn Fräulein Titofs Koffer?« fragte Agnes. »Er steht nicht an seinem gewohnten Platz.«
»Der Koffer, gnädiges Fräulein, der ist schon seit drei Tagen auf der Dampfschiffstation,« erwiderte das Mädchen; »Fräulein wäre ja heute abgereist, wenn sie anfangs der Woche nicht so furchtbares Kopfweh gehabt hätte.«
»Ach so, schon gut,« bemerkte Agnes.
Wieder saß sie allein vor dem Paß und dem Fahrplan, die eine magische Anziehungskraft auf sie ausübten. Plötzlich stand sie auf, faltete beide zusammen und steckte sie rasch in die Tasche. Dann ging sie in ihr Zimmer und machte die Thür in ihr Ankleidekabinett auf; in einer Reihe hingen ihre sämtlichen Toiletten, ein buntes Durcheinander von Farben. Sie suchte einen weiten, dunkeln Mantel aus, der das bescheidene hellgraue, wollene Kleidchen, das sie zufällig trug, vollständig bedeckte. Ganz in der Nähe befand sich die Hutschachtel mit einer Federntoque, die sie auffetzte und ihren Schleier darüber feststeckte, dann trat sie an ihren Schreibtisch und suchte ihre Portemonnaie und eine kleine Brieftasche.
Eine Menge altvertrauter und ihr besonders werter Gegenstände fielen ihr dabei in die Hand, sie warf alles fast heftig beiseite. Was brauchten die stummen Dinge ihr von dem zu sprechen, was sie gern vergessen hätte? Ihr Schmuckkasten fiel ihr ins Auge, sie schob ihn an seinen Platz zurück und schloß die Schublade. Eine kleine Tasche, in der sie in der Regel Buch und Handarbeit mit in den Wald nahm, war zur Hand, sie steckte eilig etwas Weißzeug und die nötigsten Toilettegegenstände hinein, dann, den Mantel fester um sich ziehend, eilte sie wie in Gewissensangst aus ihrem wohnlichen Stübchen.
Sie trat in ihres Vaters Arbeitszimmer, das von einer sorgsam verhüllten Lampe schwach erhellt wurde; auf dem Schreibtisch lag ein unbeschriebener großer Bogen Papier. Sie griff nach einer Feder und schrieb:
»Mein teurer Vater, ängstige Dich nicht um mich; ich will suchen, mir aus eigner Kraft eine Existenz zu schaffen, und ich werde immer und überall Deiner würdig zu bleiben trachten, denn ich habe Dich sehr lieb.«
Sie fügte ihren Namen bei, drückte das Blatt an ihre Lippen und ging hinaus.
Das Haus war still und verlassen, die Dienerschaft im Wirtschaftsgebäude bei ihrer Mahlzeit. Agnes durchschritt den großen, sonst so strahlenden, fröhlichen Saal, jetzt war er dunkel und einsam, allein der Duft der Treibhauspflanzen, die ihn schmückten, verlieh ihm auch zu dieser Stunde seinen eigenartigen Reiz. Das junge Mädchen öffnete die Thür nach der Veranda und blickte in den Garten hinaus.
Langsam stiegen immer noch die Nebel vom Flusse auf; dichte weiße Flocken schienen das Gehölz auf dem Hügel einhüllen zu wollen, sachte und leise huschten sie hin und her, bald sich verdichtend, in stetigem, fast unmerklichem Auf- und Abwogen. Noch war ein leichter Schimmer von Tageslicht sichtbar, und schon kam der Mond herauf, matt leuchtend wie ein Opal hinter dem weißlichen Dunstschleier, den sein mildes Licht durchstrahlte, ohne denselben seines geheimnisvollen Reizes zu berauben; so tiefe Stille herrschte ringsum, daß man da und dort ein welkes Blatt sich lösen, und auf den Rasen fallen hörte; nur tief unten murmelte der rastlose Bach seine eintönigen Weisen. Dahlien und Astern waren hell beglänzt vom Mondlicht, selbst ihre leuchtenden Farben unterschied man, mild abgetönt hoben sie sich von dem gräulich schimmernden Rasen ab, wie eine farbenprächtige Stickerei von matt schillerndem Samt.
»Wie schön!« sprach Agnes leise.
Ihre Seele trank die ruhige, friedenvolle Schönheit dieser Stunde durstig in sich ein und war jedem andern Eindruck verschlossen; eine seltsame Ruhe und Gefaßtheit war über sie gekommen. Fest und sicher schlug sie den Fußweg nach einem Parkausgang ein, der höchst ursprünglich mit einem kleinen Gatterthor verschlossen war, ohne das leiseste Zögern schob sie mit geübter Hand den Riegel zurück und einen Augenblick später fiel das Thürchen hinter ihr zu ...
Der Weg schlängelte sich an einem niedrigen Hügel entlang, die durchsichtigen Schatten der schon halb entlaubten Bäume zeichneten ihre zierlichen Silhouetten ab, wo nicht der Nebel die klaren Linien verwischte. Die Feuchtigkeit machte sich noch nicht unangenehm fühlbar; der Boden war trocken, und Agnes ging festen Schrittes rasch und sicher ihren Weg. Ihr Thun erschien ihr ganz natürlich und selbstverständlich, die Folgen ihrer Handlungsweise faßte sie nicht ins Auge, ja sie hatte nicht einmal einen Gedanken für dieselben. Es war kein klarer Entschluß, den sie ausführte, sondern sie gehorchte einfach einem fast wilden Drang, der sie ein Haus fliehen ließ, in dem seit zwei Tagen alles sie quälte und verletzte.
Das Dampfschiff legte bei einer kleinen Stadt an, die etwa vier bis fünf Kilometer von Surowa entfernt war, ein einfacher Spaziergang, den Agnes oft gemacht hatte, der ihr aber an diesem Abend endlos lang erschien. Zuweilen war's, als ob sich unter den Bäumen dunkle Höhlen aufthäten, und das junge Mädchen blickte scheu und forschend auf die tiefen Schatten; nicht, daß sie sich gefürchtet hätte, aber sie empfand jenes seltsam gepreßte Gefühl, über das wir nicht Herr werden, sobald wir aus der gewohnten Bahn weichen und etwas Ungewöhnliches ausführen.
Plötzlich drangen aus der Tiefe des Gehölzes kräftig geführte Axtschläge an ihr Ohr.
»Man stiehlt meinem Vater Holz!« dachte sie. Einem angeborenen Rechts- und Ordnungsgefühl gehorchend, war sie im Begriff umzukehren und Leute herbeizuholen, als sie plötzlich innehielt. Wozu das, jetzt, und was hatte schließlich eine Tanne mehr oder weniger zu bedeuten? Die Hauptsache war doch, daß sie sich ihre Freiheit zu nutze machte, deren Bewußtsein sie mehr und mehr erfüllte und ein eigentümliches Gefühl in ihr hervorrief.
Eine weite Kurve, in welcher die Straße den Wald umging, trennte sie noch von der Wolga; in geringer Entfernung vernahm sie das Geräusch eines Wagens. Entsetzen lähmte ihre Schritte. Hatte man ihre Flucht entdeckt? Wenn sie eingeholt und gefangen genommen würde? Eine solche Demütigung zu ertragen, würde undenkbar, das Leben weiter zu schleppen, unerträglich sein.
Aufmerksam lauschte sie hin, entschlossen, sich im Fall einer Verfolgung in das Dickicht zu stürzen, auf die Gefahr hin, die ganze Nacht im Wald zubringen zu müssen ... finden würde man sie dort keinesfalls.
Nun unterschied sie, daß das Fuhrwerk nicht hinter ihr war, sondern ihr entgegen kam.
Neue Furcht überlief sie eisig ...
Wenn ihre Eltern früher als sonst von dem Diner zurückkehrten? Zuweilen fuhr man diesen Weg, der länger, aber weniger steil war ...
Näher und näher rollten die Räder, sie wollte in den Wald treten, allein das Wurzelwerk war dicht und verworren und ihre Schuhe nicht dazu angethan, sie vor derlei Schwierigkeiten zu schützen; zu ihrer Linken, ein paar Schritte entfernt, öffnete sich eine kleine Lichtung im Gebüsch – dort drang sie ein und lauschte, hinter einer Tanne versteckt.
Es war eine einfache, einspännige Telega; ob die Einsamkeit den sie lenkenden Landmann bedrückte, oder ob er ein poetisches Gemüt besaß, kurz, er stimmte plötzlich eines jener langsamen, schwermütigen russischen Volkslieder an. Die Luft war so ruhig, daß jeder Ton weithin getragen wurde; vornahm doch Agnes immer noch die Axtschläge des nächtlichen Waldfrevlers, an dem sie längst vorüber war.
»Einsam und verwaist bin ich,« hieß es in dem Lied; »meine Mutter ist tot und keiner hat sich meines Elends erbarmt.«
Das Pferd ging Schritt, wie eingewiegt von dem schleppenden, traurigen Rhythmus.
Agnes fühlte sich von den Klängen tief ergriffen – war sie denn nicht auch einsam und verwaist, obwohl Vater und Mutter ihr lebten?
Fort, nur weit fort, damit man sie nicht mehr einholen kann!
Sobald das ländliche Fuhrwerk an ihrem Versteck vorbei gefahren war, trat sie aus dem Schatten und fing an zu laufen. Ein Signal in der Ferne machte sie an allen Gliedern zittern – das war das Dampfschiff. Wenn sie zu spät käme, was dann? Zum Glück erinnerte sie sich, daß das Dampfschiff jedesmal in der Nähe einer stromaufwärts von der Stadt gelegenen Landzunge dies Signal gab, und daß sie also noch eine halbe Stunde Zeit hatte.
Das war auch nötig, denn sie mußte den jenseits gelegenen Landungsplatz mit Hilfe einer Fähre erreichen, die für ein paar Kopeken den Verkehr vermittelte. Agnes zitterte aufs neue bei dem Gedanken, sie könnte die Fähre verfehlen.
Endlich war sie am Ufer der Wolga angelangt. Die Fähre lag, zur Abfahrt bereit, mit Pferden, Karren, Schafen und Landleuten beladen, an ihrer Landungsstelle.
»Halt! Halt!« rief Agnes mehrmals.
Sie rief, aber es war ihr, als ob ihre Stimme keinen Klang hätte, sie rannte vorwärts und es war ihr, als ob ihre Füße am Boden wurzelten – ein Gefühl, wie man es im Traum so häufig hat.
Und doch mußte man sie gehört haben, denn die Fährleute, die eben ihre Stangen angesetzt hatten, hielten inne. Mit einem Satz sprang sie über die Landungsbrücke und stand in einer Gruppe von zwölf oder fünfzehn Landleuten, die sich hinten eng zusammendrängten, während das Vieh das Vorderteil des Fahrzeugs einnahm.
»Setze dich, mein Töchterchen,« sagte eine alte Bauersfrau, die bis über die Augen in einen riesigen wollenen Shawl gehüllt war, gutmütig. »Du mußt müde sein nach dem Laufen. Du lieber Himmel, hast du's gut, so junge Beine zu haben.«.
Die Frauen waren zusammengerückt, um Agnes ein kleines Plätzchen einzuräumen, was sie freundlich dankend annahm.
Aristokratischer Hochmut hatte nie zu den Schwächen dieses jungen, eigenwilligen Köpfchens gehört: weit entfernt, sich als ein höheres Wesen zu betrachten, als die geistig so tief unter ihr stehenden Bauern, war sie im Gegenteil geneigt, aus eigenstem Antrieb, nicht in Nachäffung ihr unbekannter moderner Theorieen, in der Einfachheit und Schlichtheit dieser Menschenrasse – das Höchste und Beste zu sehen. Der Geruch der Schafpelze war freilich nicht sehr anziehend, aber sie überwand ihren Widerwillen dagegen aus christlicher Nächstenliebe und nicht ohne Stoicismus.
Die Fähre bewegte sich langsam vorwärts; sie hatte gegen eine sehr starke Strömung anzukämpfen. Es war keine Fähre im eigentlichen Sinn des Wortes, denn sie ward nicht mit Hilfe von Stricken oder Ketten bewegt, sondern ein großes, flaches Boot, das dazu gemacht war, mehr umfangreiche, als eigentlich schwere Ladungen, wie Wagen und Vieh, aufzunehmen.
Die Passagiere schienen mit Ausnahme zweier Bauern, die eine lebhafte Debatte über Marktpreise führten, mehr oder minder schläfrig zu sein. Agnes saß schweigend da und blickte in die Ferne.
Bei einer Biegung des Flusses ward der Dampfer sichtbar; die Entfernung war aber noch so groß, daß man das Geräusch der Räder kaum wie ein undeutliches Echo vernahm, und die Schiffslaternen glitzerten nur hie und da durch den Dunst, der vom Flusse aufstieg.
Trotz all der verschiedensten Empfindungen, die ihr Herz bewegten, konnte Agnes nicht umhin, die wunderbare Schönheit des vor ihr liegenden Bildes in sich aufzunehmen.
Der Nebel, der auf dem Wasser ruhte, war so leicht und hell, daß die stillruhende Wasserflut das Bild des Mondes nur leicht verschleiert wiedergab, wie ein Spiegel, den ein leiser Hauch getrübt.
Die flachen Ufer waren in bald dichtere, bald sich zerstreuende Dunstwolken gehüllt. Die Türme der auf einem steilen Abhang gelegenen Stadt traten klar hervor, und ihre zierlichen, minaretartigen Umrisse hoben sich deutlich von dem nächtlichen Himmel ab. Ein kaum fühlbarer Windhauch trieb den Nebelstreifen dem Fluß entlang, so daß alles zu verschwimmen und dahinzugleiten schien.
»Wie mein Geschick!« dachte Agnes. »Weiß ich, wohin ich getrieben werde?«
Die Fähre legte an und gleich darauf landete der Dampfer. Das Einladen der Güter dauerte lang genug, daß Agnes Zeit hatte, sich in Besitz von Fräulein Titofs Koffer zu setzen und denselben mit sich zu nehmen. Fünf Minuten darauf plätscherten die mächtigen Schaufeln ins Wasser und ihr Getöse weckte das Echo der schlafenden Wälder, und Agnes, welche sich in ein Fräulein Titof verwandelt hatte, schwamm gegen Nischni-Nowgorod hin, von wo sie Moskau mit Leichtigkeit erreichen konnte.