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Als Herr Gryce diesen Bericht Sweetwaters entgegengenommen hatte, sprach er ihm für seine Leistungen die vollste Anerkennung aus.
Sie brauchen, sagte er sodann, dem Inspektor nichts von Ihrer Reise zu melden, Sweetwater! Ich werde alles übrige besorgen.
Kaum hatte Sweetwater das Zimmer verlassen, als er sich mit jugendlicher Elastizität erhob und sich an seinem Schreibtische niederließ. Behaglich schmunzelnd verfaßte er nun folgenden lakonischen Brief:
»Lieber Herr Inspektor!
Ich ziehe mich von der Untersuchung zurück. Finden Sie sich morgen mittag im Hotel der verdächtigen englischen Persönlichkeit ein.«
Als er diese Worte niedergeschrieben hatte, versank er in tiefes Nachdenken. Endlich schienen seine Ueberlegungen zu einem bestimmten Ergebnis geführt zu haben. Er ergriff wieder die Feder und beendigte das Schreiben mit folgenden Sätzen:
... »Wenn Sie im zweiten Speisezimmer Ihren Lunch einnehmen, wird sich Ihnen das Geheimnis enthüllen.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ihr
E. Gryce.«
»Das wird den guten Inspektor wieder in bessere Laune versetzen,« murmelte er vor sich hin, während er das Briefchen in einen Umschlag steckte. »Er ist ja in seiner Untersuchung nicht einen Schritt weiter gekommen.«
Alsdann begab sich Herr Gryce – er hat mir diesen Umstand später erzählt – in fröhlichster Stimmung zum nächsten Briefkasten, wo er diesen Brief aufgab. Die Mitteilung, die mich wegen der Anweisung, ich solle den Versuch mit dem Stilett sofort anstellen, so sehr verwirrt hatte, übergab er erst am Abend dieses Tages der Post. –
Ich kehre nunmehr zur Erzählung der Ereignisse zurück, die sich an die in diesem Briefe von Herrn Gryce enthaltenen Anordnungen anschlossen.
Endlich war die Stunde gekommen, wo Herr Grey zum Lunch hinabzugehen pflegte. Er war die Pünktlichkeit selbst, und unter gewöhnlichen Umständen konnte ich mich darauf verlassen, daß er das Zimmer innerhalb der fünf Minuten, die dem Stundenschlag nachfolgten, verlassen würde. Aber würde er auch heute so pünktlich sein? War er in der Stimmung, etwas zu sich zu nehmen? Würde er überhaupt sich nach unten begeben? Aengstlich lauschte ich. Jawohl. Ich hörte, wie er sich der Türe zum Zimmer seiner Tochter näherte, um einen letzten Blick hereinzuwerfen, und es gelang mir, gerade noch rechtzeitig hinauszueilen, um das Stilett zu holen und das Zimmer unten vor ihm zu erreichen.
Es blieb mir nicht viel Zeit übrig. Aber ein Augenblick genügte mir, um zweierlei zu beachten: erstens war sein Gedeck und Stuhl nicht mehr am gleichen Platze wie früher, sondern so aufgestellt, daß er den Rücken der Türe zuwandte, die in das anstoßende Zimmer führte, und zweitens war diese Türe nicht geschlossen, sondern nur angelehnt. Der Kellner war schon im Zimmer und zeigte über mein Erscheinen kein Erstaunen, da ich vorsichtigerweise hatte sagen lassen, daß Fräulein Grey – damit es ihr besser schmecke – ihre Suppe vom Tische ihres Vaters und von ihm selbst ausgeschöpft erhalten sollte, und daß ich sie dort abholen würde.
Herr Grey kommt sofort, sagte ich, indem ich mich dem Kellner näherte und ihm das Stilett überreichte, das in Seidenpapier gewickelt war. Wollen Sie so freundlich sein, das Päckchen da auf Herrn Greys Teller zu legen, gerade so wie es ist? Man hat es mir für Herrn Grey übergeben und mich angewiesen, es auf seinen Platz zu legen. –
Der Kellner tat ohne Argwohn wie geheißen, und ich hatte kaum Zeit, das mit Speisen besetzte Brett von dem Serviertisch zu nehmen, da erschien Herr Grey und setzte sich.
Die Suppe war noch nicht aufgetragen, aber ich näherte mich mit meinem Brett und wartete, gerade so weit von ihm entfernt, daß mich mein heftiges Herzklopfen nicht verraten konnte. Währenddessen verschwand der Kellner und ließ die Türe hinter uns offen stehen. Trotzdem Herr Grey das Päckchen erblickt hatte und er es erstaunt betrachtete, wagte ich es, einen Blick in das Nebenzimmer zu werfen, und sah, daß zwei Tische darin standen. An einem derselben saß der Inspektor Dalzell mit einem Herrn, den ich nicht kannte; sie nahmen ihr Essen ein; am andern bemerkte ich einen Mann, der uns allen den Rücken zukehrte und der, wie es schien, von der tragischen Bedeutung des Augenblicks keine Ahnung hatte. Alles das erkannte ich mit einem einzigen Blicke; dann wandte ich meine Aufmerksamkeit Herrn Greys Miene zu.
Er hatte die Hand nach dem Päckchen ausgestreckt, und seine Züge verrieten eine Aufregung, die mir unverständlich war.
Was ist das? murmelte er und betastete es neugierig, ja beinahe beklommen. Plötzlich riß er das Papier auseinander. Das Herz stand mir vor Erwartung still. Wenn er erschrecken würde, – – und wie konnte es anders sein, wenn er wirklich schuldig war? –, welcher Zweifel wäre mir von der eigenen Brust genommen, welche Hindernisse für das Eingreifen der Polizei wären aus dem Wege geräumt! Aber er bebte nicht; er murmelte lediglich ein paar unverständliche Worte in ärgerlichem Tone vor sich hin und legte die Waffe auf den Tisch, ohne sie auch nur zuzudecken. Ich glaube, sein Murmeln war eine Verwünschung gewesen, aber jedenfalls lag keine Furcht darin, keine Spur von Furcht.
Meine Enttäuschung war so groß, meine Scham so grenzenlos, daß ich mich in meinem Elend vergaß, zurücktaumelte und das Servierbrett mit allem, was darauf stand, meinen Händen entgleiten ließ. Der Lärm, den diese Ungeschicklichkeit verursachte, veranlaßte Herrn Grey, der sich eben erheben wollte, sitzen zu bleiben. Aber er zog noch eine andere Folge nach sich. Im Nebenzimmer ertönte ein Schrei, den ich nie vergessen werde. Während wir beide zusammenfuhren und uns umwandten, um zu sehen, von wem der markerschütternde Schrei ausgestoßen worden war, kam ein Mann in das Zimmer herein und auf uns zugetaumelt, der seine Hände vor die Augen geschlagen hatte, und von dessen Lippen der wilde Schrei erklang:
Margarete, Margarete! –
Es war der Name Frau Fairbrothers.