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Zweites Kapitel

Ich muß einige Zeit bewußtlos dagelegen haben. Denn als ich wieder mein volles Bewußtsein erlangte, sah ich, daß der Speisesaal verlassen war. Die zweihundert Gäste, die ich vor kurzem noch an den Tischen dort hatte sitzen sehen, standen jetzt in erregten Gruppen in der Vorhalle herum. Dies war meine erste Beobachtung; erst hernach wurde ich meiner eigentlichen Lage inne. Ich lag auf einem Polster in einem abgelegenen Winkel der gleichen Halle, und neben mir stand, ohne mich indes anzublicken, Herr Durand.

Wie er dazu gekommen, von meinem Ohnmachtsanfall zu hören, und mich in der allgemeinen Verwirrung aufzufinden, fragte ich nicht. In diesem Augenblicke genügte es mir, aufzusehen und ihn in meiner Nähe zu wissen. Meine Erleichterung war so groß, das Bewußtsein seines Schutzes so belebend für mich, daß ich unbewußt meine Hand nach ihm ausstreckte, um ihm meine Dankbarkeit darzutun. Aber da ich seine Aufmerksamkeit auf diese Weise nicht erregte, ließ ich meine Füße zu Boden gleiten und trat neben ihn. Nunmehr erwachte er aus seinen Gedanken. Er warf mir einen Blick zu, der mir sehr zur Beruhigung gereichte, trotz der prickelnden Neugier, die seine ungewöhnlich blasse Gesichtsfarbe und eine gewisse eigenartige Befangenheit in seinem Benehmen, die ich an ihm gar nicht kannte, hervorrief.

Mittlerweile bahnten sich einige Worte, die in unserer Nähe geäußert wurden, ihren Weg zu meinem verwirrten Verstand. Der Kellner, der den ersten Alarm geschlagen hatte, versuchte einer ungeduldigen Gruppe von Gästen gerade vor uns zu beschreiben, was er in jenem Mordgemache entdeckt hatte.

Ich bot eben Eis in der Halle an, berichtete er. Da sah ich die Dame dort sitzen und ging daher hinauf. Ich hatte erwartet, das Zimmer voller Herren zu finden, aber die Dame war allein darin und bewegte sich nicht, als ich über ihre lange Schleppe hinwegschritt. Im nächsten Moment hatte ich Eis und Servierbrett und alles fallen lassen: ich war vor sie hingetreten, und als ich sie anschaute, merkte ich, daß sie tot sei. Sie war erdolcht und beraubt worden. Auf ihrer Brust war kein Diamant mehr zu sehen, aber dafür Blut!

Ein Gewirr von ungeordneten Sätzen, von Ausrufen des Entsetzens unterbrochen, folgte dieser einfachen Beschreibung. Dann bewegte sich alles in der Richtung auf den Alkoven zu; währenddessen trat Herr Durand nahe zu mir heran und flüsterte mir ins Ohr:

Wir müssen uns von hier entfernen. Du bist nicht stark genug, um eine solche Aufregung auszuhalten. Glaubst du nicht, wir könnten durch diese Glastüre da entkommen?

Was, ohne Mantel und bei einem solchen Schneesturm? protestierte ich. Außerdem wird mich Onkel abholen. Du weißt ja, daß er mich auch herbegleitet hat. Ein Ausdruck der Unruhe (oder war es des Erstaunens?) überzog Herrn Durands Gesicht; er machte eine Bewegung, als wolle er sich entfernen.

Ich muß gehen, begann er, aber als er meinen überraschten Blick bemerkte, hielt er inne, und sein Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an, der ihm bedeutend besser stand als der frühere. Entschuldige mich, mein liebes Kind! Ich werde dich deinem Onkel übergeben. Dieses – dieses schreckliche Drama, das ein so fröhliches Fest unterbrach, hat mich ganz aus der Fassung gebracht. Ich habe niemals Blut sehen können, und schon der Geruch von Blut, ja die bloße Erwähnung des Wortes verursachte mir Uebelkeit.

Ich war ja selbst empfindlich, aber nicht bis zu einem Punkte, der fast an Feigheit grenzte. Aber dann mußte ich mir sagen, daß ich auch nicht, wie er, geradenwegs von einer Unterhaltung mit der Ermordeten herkam. Ihre Blicke, ihr Lächeln, das Spiel ihrer Augen standen mir nicht mehr so frisch im Gedächtnis wie ihm. Ich mußte natürlich Rücksicht auf den Schlag nehmen, unter dem er noch zu leiden schien. Doch konnte ich es nicht über mich bringen, die wichtigste Frage bei mir zu behalten. Daher fragte ich ihn:

Wer hat es getan? Du hast es doch gewiß gehört.

Ich habe nichts gehört, gab er mir ein wenig stolz zur Antwort. Dann, als ich eine Bewegung machte, fuhr er fort:

Wie? Du wirst doch nicht den Leuten dorthin folgen wollen?

Nein, erwiderte ich, ich möchte meinen Onkel suchen, und der ist bei jenen Leuten dort.

Darauf gab Herr Durand keine Erwiderung. Zusammen durchschritten wir die Halle. Ein seltsames Gefühl hielt mich in seinem Banne. Statt dem Wunsche, dieses Schauspiel zu fliehen, das unter gewöhnlichen Bedingungen mich mit dem äußersten Widerwillen erfüllt haben würde, verspürte ich eine Neigung, alles zu sehen und zu hören. Nicht aus Neugierde, wie sie die meisten Leute um mich anstachelte, sondern aus irgend einem starken Instinkt, der mich vorwärts trieb, und den ich nicht verstehen konnte; als ob mein eignes Herz durchbohrt worden wäre und es sich um mein eignes Geschick handelte.

Infolgedessen kamen wir in die vorderste Reihe der Leute, die weitere Einzelheiten besprachen, wie sie unter den aufgeregten Gästen umgingen. Niemand kannte den Täter, noch fand man irgend welche Umstände, die auf seine Person ein Licht hätten werfen können. Der plötzliche Tod dieses schönen Weibes mitten im Getriebe des Festes wäre viel eher als Selbstmord gedeutet worden, hätte nicht das Juwel, das sie zuvor auf der Brust trug, gefehlt, und wäre das Mordwerkzeug aufgefunden worden. Bis jetzt hatte die in aller Eile zusammengestellte Untersuchungskommission keine Spur davon ermitteln können; aber die Polizei sollte in Kürze eintreffen, und dann würde gewiß etwas geschehen. Was den Weg anbetraf, auf dem der Mörder Einlaß erlangt hatte, schien die allgemeine Ansicht nicht geteilt zu sein. Der Alkoven hatte eine Fenstertüre, die auf einen kleinen Balkon hinausführte. Auf diesem Wege war der Mörder ohne Zweifel eingedrungen und wieder entwichen. Die langen Plüschvorhänge, die den ganzen Abend über etwas zurückgeschlagen gewesen waren, fanden sich bei der Entdeckung des Verbrechens völlig zugezogen. Dies war gewiß ein verdächtiger Umstand. Aber die Frage mußte sich mit Leichtigkeit aufklären. Wenn jemand über den Balkon in den Alkoven gelangt war, mußten sich im Schnee draußen Spuren zeigen. Herr Ramsdell hatte sich hinausbegeben, um darnach zu sehen. Er mußte in Bälde zurückkehren.

Hältst du diese Erklärung des Verbrechens für wahrscheinlich? fragte ich nunmehr Herrn Durand. Wenn ich mich recht erinnere, ist dieses Fenster schon von der Einfahrt aus zu sehen. Es muß daher vom Tor aus deutlich sichtbar sein, durch das diesen Abend reichlich dreihundert Gäste hereingefahren sind. Wie hat jemand zu einer solchen Höhe emporklimmen, das Fenster hinaufziehen und eindringen können, ohne bemerkt zu werden?

Du vergißt das Dach über der Türe. – Er sprach rasch und mit unerwarteter Lebhaftigkeit. Es reicht bis ganz nahe an dieses Fenster heran und verdeckt den Gästen beim Aussteigen die Aussicht auf das Fenster vollständig. Nur die Kutscher können es beim Abfahren sehen, wenn sie zufällig rückwärts schauen. Aber bei einem solchen Gewimmel blicken sie gewöhnlich auf ihre Pferde. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß einer von ihnen aufgesehen hat. – Seine Stirne hatte sich wieder geklärt; eine schwere Last schien von seinem Gemüt genommen zu sein. – Als ich in den Alkoven ging, um Frau Fairbrother zu sprechen, fuhr er fort, saß sie auf einem Stuhle nahe beim Fenster und blickte hinaus. Ich erinnere mich, welch glänzenden Eindruck ihre Gestalt machte, die sich von der Dunkelheit draußen abhob. Der rote Samt – das sanfte Grün der Vorhänge auf beiden Seiten – ihre Brillanten – und als Hintergrund der Schnee! Sicher kam der Mörder von dort her. Ihre Gestalt war für jemand, der draußen stand, völlig sichtbar, besonders wenn sie sich bewegte und der Diamant funkelte. – Siehst du nicht ein, wieviel für diese Theorie spricht? Es muß für einen entschlossenen Menschen schon möglich sein, den Balkon zu erreichen. Ich glaube –

Wie eifrig er redete und mit welchem Blick er sich umwandte, als sich die Kunde bis zu uns verbreitete, daß man wohl im Schnee Fußspuren gefunden habe, die genau in der Richtung auf den Balkon zu verlaufen, aber daß auf dem Balkon selbst nichts von Spuren zu sehen sei! Dies beweise, wie jedermann einsehe, daß der Anfall nicht von außen her erfolgt sei, da niemand durchs Fenster den Alkoven betreten könne, ohne den Balkon zu berühren.

Herr Durand muß seine eigenen Verdachtsgründe haben, sagte ich mir schließlich entschlossen. Er traf irgend jemand, der – als er den Raum verließ – hineinging. Soll ich ihn darüber und über den Namen dieses Jemand befragen?

Nein, ich hatte nicht den Mut dazu, wenigstens nicht, so lange sein Gesicht einen so ernsten Ausdruck trug, und so lange er sich so entschlossen von mir abkehrte.

Die nächste Aufregung wurde uns durch eine Bitte von Herrn Ramsdell bereitet, wir möchten uns alle in den großen Salon bemühen. Dies führte zu verschiedenen Ausrufen aus empfindlichen Lippen: »Wir werden durchsucht werden!« »Er glaubt, der Räuber und Mörder sei immer noch im Hause! Sehen Sie den Diamanten an mir?« »Warum beschränkt man nicht den Verdacht auf die paar Auserwählten, die zum Alkoven zugelassen wurden?«

Man wird es tun, bemerkte jemand in meiner allernächsten Nähe.

Aber so schnell ich mich umwandte, konnte ich doch nicht ausfindig machen, von wem die Erklärung herkam. Möglicherweise von einer reichlich mit Blumen und Edelsteinen geschmückten älteren Dame, die ihre Blicke durchdringend auf Herrn Durands abgewendetes Gesicht geheftet hielt. Auf jeden Fall traf sie aus meinen Augen ein Strahl der Verachtung, den sie, wie ich glaube, nicht so schnell vergessen hat.

Leider war es nicht der einzige forschende – um nicht so sagen argwöhnische – Blick in seiner Richtung, den ich entdeckte, als wir zusammen auf eine Stelle zugingen, wo uns – wie ich sah – mein Onkel, der aus einer kleinen Nebenhalle kam, zu treffen sich bemühte. Offenbar hatte man herumgeflüstert, Herr Durand sei der letzte gewesen, der sich vor der Katastrophe mit Frau Fairbrother unterhalten hatte.

Es gelang mir, zu meinem Onkel zu stoßen. Er war offenkundig sehr erleichtert, mich wieder bei sich zu haben. Ermutigt durch sein freundliches Lächeln, stellte ich ihm Herrn Durand vor. Mein gedrücktes Benehmen muß ihm zum Bewußtsein gekommen sein; denn er warf einen unruhigen fragenden Blick auf meinen Begleiter, legte dann entschlossen meinen Arm in seinen eigenen, und sagte:

Wir werden alle wahrscheinlich Unannehmlichkeiten haben. Ich glaube nicht, daß die Polizei irgend jemandem erlaubt, wegzugehen, ehe sie nach dem Diamanten gesucht hat. Viele glauben, der Mörder befinde sich unter den Gästen.

Ich glaube es auch, bemerkte ich. –

Der Grund für meine Ansicht oder für die heftige Kundgebung derselben ist mir bis auf heute noch nicht klar geworden.

Mein Onkel blickte überrascht auf.

Es wäre weiser, keinerlei Ansichten auszusprechen, riet er. Ein Mädchen, wie du, sollte über eine so schreckliche Geschichte überhaupt keine Ansicht haben. Ich werde es mein Leben lang bereuen, daß ich dich heute nacht hierhergeführt habe. Ich werde die erste Gelegenheit benutzen, dich nach Hause zu bringen. Zunächst aber sollen wir noch abwarten, was unser Gastgeber mit uns beginnen wird.

Er kann doch nicht all diese Leute lange hier behalten, bemerkte ich.

Nein, die meisten von uns werden bald erlöst sein. Wäre es vielleicht nicht besser, wenn du deinen Mantel holen würdest?

Ich würde lieber erst einen Blick auf die Leute im Salon werfen, gab ich zur Antwort. Ich weiß nicht, warum ich sie sehen möchte, aber ich täte es so gerne. Und dann, Onkel, verrate ich dir am besten gleich jetzt, daß ich mich heute abend mit Herrn Durand verlobt habe. Es ist der Herr, der bei mir war, als wir zusammentrafen.

Du hast dich mit – mit diesem Herrn – wie? – habe ich recht gehört? – verlobt? –

Ich nickte und warf rasch einen Blick hinter mich, um zu sehen, ob Herr Durand nahe genug bei uns sei, um uns zu hören. Es war nicht der Fall; meine Begeisterung entriß mir rasch noch ein paar erläuternde Worte.

Er hat mich zu seiner Frau bestimmt, sagte ich, mich, das uninteressanteste, anspruchsloseste Mädchen in der ganzen Stadt! – Mein Onkel lächelte. – Und ich glaube auch, er liebt mich; auf jeden Fall weiß ich bestimmt, daß ich ihn liebe.

Mein Onkel stieß einen Seufzer aus und warf mir einen herzlichen Blick zu.

Es ist ein Jammer, daß ihr euch gerade heute nacht verlobt habt, sagte er, er gehörte zu den Bekannten der Ermordeten, und ich muß dir eröffnen, daß du dich hier von ihm verabschieden mußt, wenn wir abfahren. Alle diejenigen, von denen man weiß, daß sie heute nacht den Alkoven betreten haben, werden notwendigerweise hier zurückgehalten werden müssen, bis der Koroner In England und Amerika der Beamte, der bei verdächtigen Todesfällen die sofortige Untersuchung mit Hilfe der Jury zu führen hat. erscheint! –

Dann begab ich mich in Begleitung meines Onkels langsam zum großen Saale. Auf dem Wege dorthin kamen wir durch die Bibliothek, in der sich nur eine einzige Person aufhielt, der Engländer. Er saß an einem Tische und sah so zurückhaltend aus, als wolle er eine Annäherung von vornherein unmöglich machen. In seinem Blick lag eine Starre, über seiner mächtigen Stirne ein Netz von Runzeln, das auf eine ungewöhnlich erregte Stimmung bei ihm schließen ließ. Es war nicht meine Sache, diese Stimmung aufzuklären, so sehr sie mich interessierte, und so ging ich vorüber, plaudernd, als hätte ich nicht die geringste Neigung, mich aufzuhalten.

Es ist mir nicht möglich, zu sagen, wie lange es dauerte, bis mich mein Onkel am Arm zupfte und mir die Bemerkung zuflüsterte:

Die Polizei ist offenbar schon in voller Stärke aufgezogen. Vor einer Minute habe ich einen Detektiv in Zivil hier hereinblicken sehen. Es sah aus, als fasse er dich ins Auge. Da ist er wieder. Was kann er denn wollen? Nein, bleibe ruhig da, er ist schon wieder weg.

Erschreckt wie nie zuvor in meinem Leben, bemühte ich mich, mein Haupt aufrecht zu tragen und unbefangen auszusehen. Was konnte denn ein Detektiv von mir wollen? Ich war doch an dem Verbrechen nicht beteiligt; nicht im entferntesten konnte ich mir irgend eine Verbindung damit denken; warum hatte dann die Polizei ein Auge auf mich? Ueberall forschte mein Blick nach Herrn Durand. Er hatte mich verlassen, als mein Onkel erschienen war, aber er war, wie ich annahm, in unserer Nähe geblieben. Doch in diesem Augenblicke war er nirgends zu sehen. Erschreckte mich diese Erkenntnis? Unmöglich; und doch –

Glücklicherweise hörte ich eben in diesem Momente, die Polizei habe bestimmt, daß mit Ausnahme derjenigen, die ersucht worden seien, dazubleiben, um Auskunft auf gewisse Fragen zu geben, den Gästen im allgemeinen anheimgestellt sei, sich nach Hause zu begeben, wenn sie die Absicht dazu hätten.

Nunmehr war die Zeit gekommen, einen Entschluß zu fassen. Und zum offensichtlichen Kummer meines Onkels teilte ich ihm mit, daß ich das Haus nicht eher verlassen wollte, als bis ich keinen Vorwand für weiteres Verbleiben mehr finden könnte.

Im Augenblick meiner Erklärung selber sagte er nichts, aber als das Rollen der abfahrenden Wagen allmählich nachließ, und die große Halle und die Salons sich immer mehr geleert hatten, brummte er gutmütig:

Du hast mehr Courage, Rita, als ich geglaubt hätte. Hältst du es für weise, so lange hier zu bleiben? Werden sich die Leute nicht einbilden, daß du dazu aufgefordert worden bist? Sieh nur, wie die Diener dort an den Gängen herumstehen und hierher blicken. Geh und hole deine Sachen! Herr Durand wird sicher noch bei uns vorsprechen, sobald man ihn freiläßt. Ich erlaube dir gern, aufzubleiben und ihn zu erwarten, wenn du willst; nur laß uns dieses Haus verlassen – bevor jener unverschämte kleine Mann es wieder wagt, hereinzublicken, setzte er listig hinzu.

Aber ich ließ mich von meinem Vorsatze nicht abbringen, trotzdem sein Schlußsatz mich nicht wenig einschüchterte. Und da ich selbst ein kleiner Trotzkopf war, wenigstens ihm gegenüber, trug ich den Sieg davon.

Plötzlich verdichteten sich meine Aengstlichkeit und mein Unbehagen zum jähen Schrecken. Eine kleine Gruppe von Herren, unter denen ich Herrn Durand erblickte, erschien am Ende der Halle, geführt von einer sehr kleinen, aber selbstbewußten Persönlichkeit, in der mein Onkel augenblicklich den Detektiv erkannte, der sich zweimal in der Türe gezeigt hatte, in deren Nähe ich stand. Als dieser Mann zu uns aufblickte und bemerkte, daß ich immer noch an meinem Platze stand, klärte ein Schein der Erleichterung sein Gesicht auf. Er wechselte mit einem andern Fremden, der offenbar ein Vorgesetzter von ihm war, ein paar Worte, verließ seine Begleiter und näherte sich uns. In ziemlich respektvollem Tone begann er, indem er meinen Onkel, dessen schlechte Laune er zweifellos erkannte, mit einem Blick um Entschuldigung zu bitten schien.

Sie sind Fräulein Van Arsdale, wenn ich mich nicht irre?

Ich nickte nur, da ich zu sehr empört war, um antworten zu können.

Es tut mir leid, gnädiges Fräulein, Ihnen sagen zu müssen, falls Sie die Absicht hatten, sich nach Hause zu begeben, daß der Inspektor Dalzell eingetroffen ist und Sie um eine kurze Unterredung ersucht. Wollen Sie sich in eines dieser Zimmer bemühen? Nicht in die Bibliothek, sondern lieber in ein anderes Zimmer, wenn ich bitten darf. Er wird Sie dort so bald als es ihm möglich ist, aufsuchen.

Ich gab mir Mühe, seine Aufforderung gefaßt entgegenzunehmen, als erblicke ich darin nichts Sonderbares oder Aufregendes. Aber dies gelang mir nur, indem ich meinen bebenden Blick von ihm weg auf die Gruppe von Leuten richtete, aus der er sich eben losgelöst hatte. Unter diesen bemerkte ich mehrere Herren, die ich früh am Abend im Gefolge Frau Fairbrothers gesehen hatte, und einige Freunde, von denen zwei Offiziersuniform trugen; bei den ersten befand sich Herr Durand. Der Ausdruck seines Gesichts war nicht geeignet, mich zu ermutigen.

Die Geschichte ist sehr ernst, schloß der Detektiv, als er sich entfernte. Wollen Sie das als Entschuldigung für die Mühe annehmen, die wir Ihnen bereiten müssen?

Ich klammerte mich an den Arm meines Onkels.

Wo sollen wir hingehen? fragte ich ihn. Der Hauptsalon ist zu groß. In dieser Halle kann ich meine Blicke nicht von dem Alkoven wegwenden. Weißt du nicht, wo sich ein kleines Zimmer befindet? Oh, was kann er denn von mir wollen?

Nichts Wichtiges, nichts von Bedeutung, suchte mich mein guter Onkel zu trösten. Irgend eine Kleinigkeit, die du in einem Augenblick beantworten kannst. Ein kleines Zimmer? Gewiß, ich weiß eins – da, unter der Treppe. Komm, ich will vorausgehen und dir den Weg zeigen. Warum sind wir auch auf diesen unglückseligen Ball geraten?

Ich wußte ihm keine Antwort auf seine Frage. Warum, ja warum?

Mein Onkel, der ein sehr geduldiger Mensch ist, führte mich zu dem Orte, den er mir vorgeschlagen hatte, ohne ein Wort zu dem Ausrufe hinzuzufügen, den ihm seine Ungeduld eben entlockt hatte. Erst als wir dem Bereich der forschenden Augen und lauschenden Ohren entrückt waren, ließ er einen Seufzer hören, der dem ganzen Schmerz seines erregten Herzens Ausdruck gab.

Mein liebes Kind, begann er und machte dann eine Pause. Ich habe das Gefühl – hier hielt er wieder einen Augenblick stockend inne – daß du wissen solltest –

Was? fragte ich in gepreßtem Tone.

Daß ich kein Freund von Herrn Durand bin und – und – daß auch andere ihn nicht sehr gut leiden mögen.

Rührt das aus einem Grunde her, der dir schon vor heute nacht bekannt war?

Er antwortete nicht. –

Oder weil man bemerkt hat, daß er, wie viele andere Herren, mit dieser Dame sich einige Zeit unterhielt, bevor – eine geraume Zeit, bevor – bevor sie ihres Diamantes beraubt und ermordet wurde?

Entschuldige, meine Liebe, entgegnete er, aber er war der letzte, den man mit ihr hat plaudern sehen. Vielleicht wird sich noch jemand finden lassen, der den Alkoven betrat, nachdem er ihn verlassen. Aber bis jetzt gilt er als der letzte. Herr Ramsdell hat mir das selber erzählt.

Das ist mir gleichgültig, rief ich aus, mit der ganzen Wärme meiner nun lange genug bekämpften Erregung. Ich bin gewillt, mein Leben für seine Unschuld und Ehre hinzugeben. Kein Mensch könnte so mit mir reden, wie er es diesen Abend tat, wenn er schlechte Absichten in seinem Innern erwogen hätte. Er interessierte sich, zweifellos, wie viele andere, für eine Person, die bekannt dafür war, ein bezauberndes Weib zu sein, aber –

Ich stockte, von plötzlicher Bestürzung erfaßt. Mein Onkel hatte mir mit den Augen ein Zeichen gegeben, daß wir nicht mehr allein seien. Wer konnte so geräuschlos eingetreten sein? Einigermaßen verwirrt wandte ich mich um, um es zu erfahren. Ein Herr stand in der Türe und lächelte, als ich ihn anblickte.

Habe ich die Ehre, Fräulein Van Arsdale zu sprechen? fragte er.

Augenblicklich kehrte meine Sicherheit wieder, die ich im Begriff gewesen war zu verlieren; ich lächelte ebenfalls.

Gewiß, sagte ich. Sind Sie der Inspektor?

Inspektor Dalzell ist mein Name, stellte er sich vor, indem er sich verbeugte.

Dann schloß er die Türe.

Hoffentlich habe ich Sie nicht erschreckt, fuhr er fort, indem er mit weltmännischer Gewandtheit näher trat. – Es hat sich ein kleines Ereignis zugetragen, über das ich mit völliger Offenheit mit Ihnen reden möchte. Möglicherweise ist dieser Umstand von gar keiner Bedeutung; wenn dies der Fall sein sollte, bitte ich Sie, zu entschuldigen, wenn ich Sie deshalb bemüht habe. Sie kennen Herrn Durand, nicht wahr?

Ich bin mit ihm verlobt, erklärte ich, ehe mein armer Onkel seinen warnenden Finger erheben konnte.

Sie sind mit ihm verlobt? So? Gut. Das erschwert mir meine Aufgabe, und doch, in mancher Beziehung macht mir das eine gewisse Frage leichter.

Mir schien es, als habe es ihm seine Aufgabe mehr erschwert, denn erleichtert; er stellte seine Frage nämlich nicht sogleich, sondern fuhr fort:

Sie wissen, daß Herr Durand Frau Fairbrother im Alkoven kurze Zeit, bevor sie verschied, besucht hat?

Man hat mir das gesagt, antwortete ich.

Man hat ihn hineingehen sehen, aber bis jetzt habe ich noch niemand gefunden, der ihn wieder herauskommen sah. Infolgedessen ist es uns nicht möglich gewesen, genau die Minute festzustellen, um welche Zeit das Verbrechen geschehen ist. Was meinen Sie, Fräulein Van Arsdale? Sie wollten etwas sagen?

Nein, nein, beteuerte ich, da mich mein erster Impuls reute. Dann, als ich seinem Blick begegnete, setzte ich hinzu: Er wird Ihnen das wahrscheinlich selbst sagen können. Ich bin überzeugt davon, daß er nicht zögern wird, es zu tun.

Wir werden ihn später darüber befragen, gab der Inspektor zur Antwort. Mittlerweile sind Sie bereit, mich zu versichern, daß er Ihnen inzwischen nicht einen kleinen Gegenstand zum Aufbewahren anvertraut hat? – nein, nein, ich meine nicht den Diamant, fiel er in offenkundiger Verzweiflung ein, als ich in unverhehlter Erregung von ihm zurücktrat. – Der Diamant – nun, darnach werden wir später schauen; es handelt sich um einen andern Gegenstand, den wir jetzt suchen, einen Gegenstand, den Herr Durand sehr leicht in die Hand genommen haben kann, ohne zu wissen, was er tat. Da es für uns von großer Wichtigkeit ist, diesen Gegenstand zu finden, und da er Ihnen denselben sehr gut überreicht haben kann, als er in der Halle bemerkte, daß er ihn in der Hand hielt, habe ich Sie nur darnach fragen wollen, um zu prüfen, ob meine Annahme richtig ist.

Sie ist es nicht, erwiderte ich kalt, zufrieden, daß ich frei von der Leber weg sprechen durfte. – Er hat mir nichts zum Aufbewahren gegeben. Er würde auch nicht –

Was bedeutete dieser eigentümliche Blick des Inspektors? Warum griff er nach einem Stuhle und bat mich, Platz zu nehmen, ehe er auf meinen unterbrochenen Satz einging und ihn beendete?

Wurde Ihnen auch nicht etwas zum Aufbewahren gegeben, das einer andern Frau gehörte? Fräulein Van Arsdale, Sie kennen die Männer nicht. Die Männer tun manches mit einem jungen vertrauensvollen Mädchen, wie Sie eins sind, das sie kaum von ihrer Seite erwarten würden.

Nicht Herr Durand, beharrte ich fest.

Vielleicht nicht; hoffentlich nicht. – Dann verbeugte er sich, indem er plötzlich sein Benehmen wechselte, vor mir, warf meinem Onkel einen Seitenblick zu, deutete auf meine Handschuhe und bemerkte: Sie tragen Handschuhe. Brauchen Sie denn zwei Paare, daß Sie noch ein anderes Paar in dem niedlichen Täschchen an Ihrem Arme haben?

Erstaunt blickte ich auf das Täschchen und nahm es zur Hand. Der weiße Finger eines Handschuhes ragte daraus hervor. Jedermann konnte ihn sehen, viele hatten ihn wahrscheinlich wirklich gesehen. Was bedeutete das? Ich hatte doch kein zweites Paar mitgebracht!

Der gehört nicht mir, begann ich und verfiel in Schweigen, als ich bemerkte, wie mein Onkel Kehrt machte und einen oder zwei Schritte wegtrat.

.

Der Gegenstand, den wir suchen, fuhr der Inspektor fort, ist ein Paar langer weißer Handschuhe, die wahrscheinlich von Frau Fairbrother getragen wurden, als sie den Alkoven betrat. Gestatten Sie mir, die da anzusehen, von denen hier ein Finger herausschaut?

Ich reichte ihm das Täschchen. Das Zimmer und alle Gegenstände, die sich darin befanden, drehten sich um mich. Aber als ich sah, wie unbeholfen seine dicken Finger sich abmühten, das Täschchen vollends zu öffnen, kam mir das Bewußtsein wieder. Ich griff nach dem Täschchen, drückte es auf und riß die Handschuhe heraus. Sie waren flüchtig zusammengerollt worden, und mehrere der Finger schauten unordentlich aus dem Päckchen heraus.

Darf ich Sie darum bitten? fragte er. –

Mit wehem Herzen und bebenden Fingern übergab ich ihm die Handschuhe. –

Frau Fairbrother hatte keine kleinen Hände, bemerkte er, als er sie langsam auseinanderrollte. Ihre Hand ist dagegen niedlich. Wir können uns sehr schnell überzeugen – Aber dieser Satz wurde nicht beendet. Als die Handschuhe offen auf seiner Handfläche lagen, ließ er plötzlich einen scharfen Ausruf und einen gedämpften Schrei hören. Ein Gegenstand von leuchtendem Glanze rollte zu Boden. Es war der Edelstein, von dem man sagte, er sei so viel wert, wie das Lösegeld für einen König, der Edelstein, der, wie wir alle wußten, eben einem Menschen das Leben gekostet hatte – der Diamant Frau Fairbrothers.


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