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Längst waren die Nachtigallen ausgewandert aus ihren sicheren deutschen Laubverstecken, um sich in Italien braten zu lassen. Die Königinnen des Gesangs flöteten nicht mehr in dem bunten Herbstwald, den das Gezwitscher und Gekreisch der profanen Vögel erfüllte, welche die Sehnsucht nicht nach dem Süden gezogen hatte – und doch klang ein Flötenton über die Waldwiese herüber, bald langgezogen, bald in Nachtigallentrillern und die gefiederten Waldbewohner lauschten den überraschenden Klängen. Das war ja kein Wonnemond mehr, wo aus dem frischen Grün das frische Lied erklingt; das war ja der sanglose und klanglose Herbst mit seinem lügnerischen Purpur, Orangen- und Zitronengelb – lauter Farben des Todes, die ein Blumenleben heucheln.
Und wieder ertönte die Flöte, dort, von dem Rande des Baches her, wo eine Gruppe Erlen beisammenstand, die sich nicht färben und übertünchen ließen von dem Anstreicher Herbst, der mit seinem Pinsel in den Farbenbottich fährt und alles überklext, sondern die sich ihr Frühlingsgrün bewahrten. Die schräge Herbstsonne warf ihre Schatten auf den Rasen 214 und in den Bach und beleuchtete den jungen Flötenspieler, der auf dem erhöhten Uferrande saß.
Freilich, es war kein Hirte, um den herum die Schafe grasten, kein Damon aus einer Schäferidylle, wie sie auf Porzellantassen von Sèvres und Meißen so freundlich anmuten; die dummen Schafe lauschen und der kluge Schäferhund spitzt die Ohren; nein, das Tierreich war hier nicht vertreten. Und doch hatte das Bild im grünen Rahmen des Waldes etwas mit jenen Porzellanbildern gemein; dem Schäfer fehlte hier niemals die Schäferin, dem Damon nie seine Daphne, und so war auch der Flötenspieler nicht allein; neben ihm lagerte ein hübsches Kind, nicht so bebändert wie die Daphnes der Rokokozeit. Nur ein blaues Bändchen war in die aschblonden langherunterfallenden Zöpfe geflochten, und schmucklos war das weiße Kattunkleid mit den rosa Pünktchen, die darüber hingestreut waren, als hätte ein Maler, der kein Bild zustande brachte, seinen Pinsel ausgespritzt. Auf dem lieben Gesichtchen lag's wie ein Schimmer des Glücks; denn er, der so schön die Flöte blies, er blies sie ja für sie, zu ihrer Freude – und er hatte schon so viel, so viel für sie getan.
Die Flöte schwieg.
»Mußt du heute wieder in die Stadt zurück?« fragte Suschen.
»Gewiß, denn morgen in der Frühe muß ich wieder Stunden geben,« erwiderte Kurt.
»Du strengst dich zu sehr an.«
»Meine Mutter kann das Geld jetzt brauchen.«
»Ich schäme mich recht! Sie braucht es ja um meinetwillen!«
»Nein, nein! Da geht nichts darauf, wenn du 215 dein Schnäbelchen in dein Finkennäpfchen tauchst . . . das ist nicht der Rede wert!«
»Ich lebe doch nicht wie eine Elfe vom Tau.«
»Eine Elfe – das bist du in der Tat! Und mir ist zumute, als müßt' ich deine kleinen Freundinnen aus dem Busch klopfen, daß sie mit dir den Reigen tanzen im Mondschein.«
»Dazu bin ich zu ungeschickt! Ich habe gestern erst meine Füßchen im Bach gebadet; mir kamen sie ganz niedlich vor, doch wenn eine Elfe sie gesehen hätte . . ., sie hätte gewiß die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wie man tanzen will mit solchen Ungetümen.«
Kurt summte eine Melodie aus dem Sommernachtstraum; dann begann er in seinem lehrhaften Ton:
»Merk dir's, Suschen, Mendelssohn heißt der Komponist, dem wir die schönsten Elfenlieder und Elfenmärsche verdanken. Auf Elfenfüßchen laufen seine Töne. Das taucht hinunter in die Blumenkelche, das wiegt sich in den Lüften, das perlt wie Tau.«
»Doch hat noch niemand eine Elfe gesehen.«
»O ja, das heißt, auf der Bühne, und nur Mendelssohnsche Elfen! Doch das sind meistens robuste Frauenzimmer und wenn sie auftreten, dröhnt das Podium. Du wärst wenigstens ein Elfchen, das sich sehen lassen kann, mit den blauen Äuglein und dem aschblonden Haar und den wie aus Elfenbein geschnitzten Gliedern.«
»Pfui, Kurt, davon spricht man nicht.«
»Man hat's doch einmal und was man hat, davon kann man auch sprechen. Sieh, Suschen, das 216 ist der Fortschritt des Jahrhunderts! Es gibt keine Duckmäuser mehr . . . lauter aufgeweckte Leute, die alles beim rechten Namen nennen; ja, es gibt auch keine bloßen Menschen mehr; wir sind Übermenschen geworden. Das hat mir mein Freund Dietrich gesagt, der immer die Nase in die Bücher steckt.«
»Ach, Kurt . . . wenn du nur nicht zu gelehrt würdest! Ich vertrüg's nicht; du bist ja jetzt schon so sehr gescheit.«
»Komm, komm . . . ich muß fort – sonst komm' ich zu spät zur Bahn.«
»O wie schade, immer wenn es am schönsten wird, wenn der Mond so vorkommt und sich durchaus im Bach begucken will. Doch das geben die schwarzen Erlen nicht zu; sie stehen dazwischen und fangen seine Strahlen auf und putzen sich, wie mit silbernen Bändern. Ich war neulich mit deiner Mama hier . . . die liebt auch den Mondschein im Walde. Da sitzt sie dort auf dem Baumstumpf, und träumt, wie's einer Witwe geziemt, von ihrem seligen Manne, deinem Vater, mit dem sie oft hinausgegangen in die Nacht, wo es ein anderes Getier gibt als bei Tage! Da kann man der Eule in die großen Augen sehen und Nachtschmetterlinge hängen an den Stämmen.«
»Komm, komm, wir verplaudern uns.«
Suschen stand auf und glättete ihr Kleid.
»Gib mir die Flöte, Kurt! Ich trage sie so gern. Es ist doch etwas von dir darin, solch ein Stückchen Seele; das wird zum Ton, wenn deine Lippen daran rühren.«
»Hier hast du sie! Ehe wir aus dem Wald kommen, sage ich dir noch etwas von meiner Flöte!«
»Deine Mama freut sich immer, wenn du sie 217 spielst. O das ist eine kluge Frau . . . und die kennt den Wald wie ihre Küche, als hätte sie ihn alle Tage gescheuert. Sie kennt alle die Flechten, die unter unseren Tritten knistern, wenn wir mittags nach Hause gehen; am Morgen aber gleiten wir darüber hin, wie über ein Polster. Wenn wir jung sind, wie ich, meint die Mama, da schmiegen wir uns an; wenn wir alt sind, da werden wir spröde und zerbrechen.«
»Nun, Suschen, wir wollen ewig jung bleiben.«
»Und dann kennt sie auch die Moose alle, auch das Purpurmoos, das sich über ganze Waldblößen hinzieht. Und die Blumen, die letzten, die jetzt noch blühen, die Herbstzeitlose, mit der Giftblume auf dem kahlen Stengel, und alle die drolligen Käuze, die Pilze mit den breiten Mönchshüten und den buntkarrierten Leibern. Darunter gibt's auch giftige Gesellen. Mama nennt sie alle bei Namen, wie ein Schulmeister seine Jungen: das ist eine Freude, mit Mama spazieren zu gehen.«
»Sie ist eine gute und kluge Frau – und du bist bei ihr aufs beste aufgehoben. Doch sieh, da ist schon die alte Eiche, die am Waldrand Wache hält und der Blick geht schon hinaus ins Freie und da guckt auch schon der Schornstein des Försterhäuschens aus dem Buschwerk. Du gehst dort links hinein, ich werde zur Rechten rasch nach der Station eilen, doch gib mir die Flöte! Was ich sagen wollte . . .« ^
Suschen sah ihm fragend ins Gesicht . . .
»Ja, jetzt, wo wir noch im Walde sind, denn es hat eine Nutzanwendung! Man muß immer praktisch sein, sonst kommt man nicht weit! Was nützt der ganze Generalbaß, wenn man nichts komponiert? 218 Sieh, wir sind so oft im Walde und mutterseelenallein. Gibt es schönere Verstecke in der Welt?«
»Doch wir brauchen uns nicht zu verstecken, Kurt.«
»Laß mich ausreden, Suschen; wir kennen uns doch schon recht lange, seitdem ich dir im Prinzenhof etwas vormusizierte – lange, nun, ja, dafür gibt das Studium eines Konservatoristen nicht das Maß, das leider Gottes kein Ende nimmt, ich meine nur, es ist schon recht lange für unsere Freundschaft. Andere sehen sich nur einmal, zweimal . . . und dann ist's so weit!«
»Wie weit denn, Kurt?«
»Laß mich ausreden, Suschen! Ich habe dich da fortgebracht; die Frau Miecke wurde zu unangenehm, als das Geld ausblieb; ich habe dich meiner Mama zugeführt, die dich freudig aufnahm, ich besuche dich . . . ich arbeite für dich.«
»O du bist herzensgut, Kurt!«
»Und da mein' ich doch . . . wir sind ja auch im Walde, und niemand sieht es. Wenn ich hier mit meinen Lippen diese Flöte berühre, da empfind' ich eine solche Freude und im ganzen Wald hallt sie wieder – und da mein' ich, wenn ich mit meinen Lippen die deinen berühre . . . da wird's in mir jubeln! Der erste Kuß . . . Jetzt fass' ich mir ein Herz und nehm' ihn mir.«
»Aber Kurt!« – rief Suschen; doch sie ließ sich küssen und herzen.
»Nun, ja, wir sind noch im Wald,« sagte sie dann, zu ihrer eignen Beruhigung, indem sie sich schüchtern umsah, »doch nun wird's Zeit, daß wir aus dem Wald herauskommen.«
Suschen sah ins Abendrot, das um die fernen 219 Türme der Stadt glomm; doch das Rot auf ihren Wangen war nicht sein Wiederschein.
»Das wollt' ich dir noch sagen, Kurt, das war nur mein Dank für alles, was du für mich getan. Das war ich dir schuldig, doch weiter hat es nichts zu sagen.«
Am nächsten Kreuzweg trennten sie sich . . .
»Auf morgen« – das war stets das Abschiedswort.
Kurt ging nach der Station, über welche die Rauchwolken der kommenden und gehenden Lokomotiven schwebten; Suse begab sich in das Försterhäuschen, wo die kluge Mutter wohnte. Der Förster, ein Revierförster, war gestorben; aber der Besitzer der Wälder und des Gutes, der Kommerzienrat Sauber, hatte dem neuen Revierförster ein stattliches, besser gelegenes Wohnhaus gebaut, mehr im Herzen der Wälder und der Witwe seines Vorgängers verstattet, in dem Häuschen, das ihm sonst wertlos schien, wohnen zu bleiben.
Und das grünumrankte Forsthaus außer Diensten hatte ein niedliches Giebelstübchen, in welchem sonst Kurt wohnte, wenn er bei der Mutter weilte, und in welchem jetzt Suschen ein Asyl gefunden.
Frau Miecke war sehr unliebenswürdig gegen ihre Mitbewohnerin geworden; sie wollte die Besuche Kurts bei ihr nicht dulden, und da die Gelder ausblieben und das Verdienst Suschens nicht ausreichend war, so beschloß diese, mit Kurts Hilfe, aus dem traurigen Prinzenhof zu entfliehen. Kurt opferte seine Ersparnisse, um diese Flucht zu ermöglichen; auch wurde Frau Miecke alles zurückgelassen, was sie zu fordern hatte. Suschen schrieb ihr nur einige 220 Zeilen, sie nahm nicht Abschied von ihr. Der junge Flötist hatte ihr bei seiner Mutter eine Stätte bereitet und gab dann in der Stadt Lektionen, um der Mutter die Unkosten der Bewirtung zurückzuzahlen. So oft er konnte, kam er hinaus ins Forsthaus. Suschen fand den Aufenthalt entzückend, sie erholte sich in der würzigen Waldluft; doch sie wollte nicht lange müßig sitzen; sie wollte bald in die Stadt zurück, um zu arbeiten, und neue Kundschaft zu suchen.
Herr Sauber gab eine große Jagd; er war zwar nichts weniger als ein Nimrod, wenn er auch die Flinte auf die Schulter nahm und mutig den Jägern in seinen Wald vorausschritt. Dann begnügte er sich damit, irgendwo auf dem Anstand zu stehen, und dann gelegentlich danebenzuschießen. Der kleine, dicke Vizevorsitzende der Handelskammer brauchte ihm in bezug auf Treffsicherheit keine Points vorzugeben; ja, er hatte sogar eine schwarze Tat auf seinem Gewissen; er hatte aus Versehen einen Foxterrier erschossen und einem Treiber einige Schrotkörner auf den Pelz gebrannt. Im übrigen war die ganze Tafelrunde der Frau Geheimrätin geladen, Leutnant von Pommelwitz und seine Kameraden, Baron von Perling, der braune Vetter; nur der Professor der Literaturgeschichte nicht, der sich besonders mit dem Mittelalter beschäftigte, wo das Pulver noch nicht erfunden war. Von Lefaucheux und seinen Hinterladungsgewehren hatte er keine Ahnung; das Knallen war ihm eine unangenehme Nervenerschütterung, und mit dem Jagdspieß, wie der selige Siegfried und der unselige Hagen und andere Helden seiner mittelhochdeutschen Dichtungen konnte er doch nicht auf die Jagd gehen. Wohl aber waren die beiden jungen 221 Doktoren, Guttmann und Biesner, geladen; es war hier neutrales Gebiet, und sie zögerten nicht, der Einladung zu folgen. Der Kommerzienrat war ihnen ganz sympathisch. Mit sehr gemischten Gefühlen erfuhr Edgar, daß die Frau Geheimrat die wirtschaftlichen Zurichtungen übernahm und bei der Jagdtafel den Vorsitz führen werde, so lange wenigstens als die Herren Jäger noch nicht allzu vielen Flaschen die Hälse gebrochen. Es war ihm nicht lieb, jener feindseligen Dame zu begegnen, doch er hoffte, für früher bewiesene Freundlichkeiten mit einer höflichen Verbeugung hinlänglich quittieren zu können. Er glaubte indes, die Mutter werde nicht ohne die Töchter kommen, und daß er hier Ella wiedersehen und vielleicht sprechen würde, das hatte alle seine Bedenken überwunden. So hatte er auch seinen Freund, der sich ungern von seinen philosophischen Büchern trennte und die Jagd als ein Vergnügen ansah, das sich mehr für die wilden Völkerschaften eignete, bewogen, die Einladung anzunehmen und ihn zu begleiten. Doch seine Hoffnung wurde bald zu schanden; denn er erfuhr, daß Ella die Mutter nicht begleiten werde, sondern nur Berta. Vielleicht hätte sie als mutige Fuchsjägerin mit den englischen Rotjacken den wilden Ritt über Stock und Stein, über Gräben und Hecken gewagt; doch dies bequeme Losknattern auf zusammengetriebenes Wild, dies gefahrlose Morden, bei dem sie selbst nichts einsetzte, nicht Kraft und Mut, nicht ihre Glieder und ihr Leben, hatte keinen Reiz für sie; es entfesselte nur die Roheit der Gemüter, wie alles Blutvergießen in Krieg und Frieden. Diese Aufklärung erhielt Edgar von dem Herrn Kommerzienrat selbst, welcher für die Ansichten seiner Nichte 222 nur ein leises Achselzucken hatte. »So ganz unrecht hat sie nicht,« fügte er hinzu, »bei unsern Jagdessen herrscht oft ein fataler Ton, und wenn erst die Anekdotenjäger zu Worte kommen, so muß die keusche Diana – ich habe ein reizendes Bild von ihr und ihren Nymphen – ihr Angesicht verhüllen. Doch Ella ist ein hochsinniges Mädchen – das können Sie mir glauben, Herr Doktor, sie hat einen feinen Geist und ein tiefes Gemüt, und muß geschützt werden vor jeder rauhen Berührung. Es gibt so viele zottige Bären in der Welt; ich hoffe, Sie sehen sich in meiner Jagdgesellschaft nicht danach um!«
Edgar hatte seinen Stand nicht weit vom Försterhäuschen; er hatte Muße, seinen Gedanken nachzuhängen. Es war ein sonniger Herbstmorgen, der aus den Frühnebeln aufgetaucht war – wie schön wäre der Tag geworden, wenn er hätte Ella begrüßen und sprechen können! Die Festtafel im Jagdsalon, der mit lauter Halalibildern geschmückt war, wäre dann eine entzückende Belohnung für des Tages Mühen gewesen. Jetzt war die Aussicht wenig verlockend, mit verschiedenen Sonntagsjägern und einigen ihm mißliebigen Nimrods zusammenzusitzen. Er stand in Gedanken versunken, als ihn ein weißes Kleid, das sich gerade in seiner Schußlinie bewegte, aus seinen Träumereien weckte.
»Fort, mein Kind!« rief er ihm zu, »fort! Du läufst Gefahr, erschossen zu werden.«
Das Mädchen verschwand, bald aber rauschte es neben ihm durch die Büsche.
»Ich danke, mein Herr! Ich hatte einen Morgenspaziergang gemacht, weit in den Wald hinaus, und dachte nicht, daß die Jagd hierherkommen würde.«
223 »Verlassen Sie jetzt den Wald; er gehört heute den Jägern, und alle anderen sind in Gefahr. Wohnen Sie denn hier in der Nähe?«
»Ganz in der Nähe – im Forsthäuschen da drüben!«
»So sind Sie ein Försterskind?«
»Nein, ich bin bloß Gast bei der Försterswitwe –«
»Und da gefällt es Ihnen?«
»Ich war ein wenig angegriffen von der Näharbeit in der Stadt; hier erhol' ich mich; es ist eine köstliche Luft – und da drüben ist's so muffig. Mir fehlt bloß die gewohnte Tätigkeit; mir ist erst wieder wohl, wenn ich mit meiner Nähnadel herumfechten kann.«
Edgar wurde aufmerksam.
»Und Sie sind in der Stadt zu Hause?«
»Nein, auf dem Dorfe.«
»Und das Dorf – –«
»O es ist nichts Berühmtes, es ist eben ein Kirchdorf, und der Pfarrer ist ein herrlicher Mann; er war mein Lehrer, das Dorf heißt Oberammersheim – und ich habe meine ganze Kindheit da verlebt!«
»Und dann?«
»Dann bin ich in die Stadt gezogen, um mir etwas zu verdienen!«
»Und da haben Sie im Prinzenhof gewohnt?«
»Gewiß – doch wer in aller Welt sagt Ihnen das?«
»Und dann heißen Sie wohl Suschen Miecke?«
Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an.
»So heiß' ich, ja; doch woher wissen Sie das?«
»Geben Sie mir die Hand, mein liebes, herziges 224 Mädchen! Ich danke dem Zufall, der Sie mir zugeführt; ich habe Sie überall gesucht, wie eine verlorene Stecknadel.«
Suschen lächelte.
»Das hätt' ich mir nicht träumen lassen, daß ich gesucht würde von irgendjemand – und noch dazu von einem so vornehmen Herrn.«
»Ich hatte Aufträge für Sie, mein Kind, man wird auch ferner für Sie sorgen!«
Und Edgar blickte in das frische, muntere Gesichtchen und es kam über ihn ein Gefühl der Rührung. In seinen Schutz mußte er das verlassene Mädchen nehmen; er hatte keine Schwester; sie sollte seine Schwester sein. Und sie war es ja auch, wenn schon das Standesamt nichts davon wußte – und auch sie durfte nichts davon wissen.
»Hier mit dem Jagdgewehr in der Hand kann ich mich nicht näher aussprechen –«
»Ich habe eine kleine Bitte an Sie. Da ich einmal hier ins Schießen geraten bin, möchte ich doch gern sehen, wie das zugeht. Ich fürchte mich nicht, ich erschrecke auch nicht, wenn's knallt; ich habe keine Nerven, wie die Leute sagen, und es ist auch gut so, sonst käme man aus dem Weinen nicht heraus. Ich möchte einmal gern in der Nähe mit dabei sein, und auch zusehen, wie man das Zeug hineinstopft, das nachher solchen Lärm macht.«
»Mich stören Sie nicht, mein Kind! Setzen Sie sich dort auf den Eichenklotz; nur sprechen dürfen Sie nicht, sonst verscheuchen Sie das Wild.«
»Ich danke,« sagte Suschen, und nahm Platz auf dem ungehobelten, unbequemen Sitz; sie verhielt sich mäuschenstill wie in der Kirche, doch sah sie 225 den fremden Herrn, der es so gut mit ihr meinte, ganz andächtig an.
Da hatte er das Gewehr angelegt . . . ein Knall – und ein Häschen, das gerade über die Schneuse lief, wälzte sich in seinem Blute.
»Ach Gott, das arme Tier!« rief Suschen; dann sprang sie aber auf und stellte sich dicht in Edgars Nähe, um mitanzusehen, wie er das Gewehr lud.
In diesem Augenblick ging hinter ihnen auf dem Waldwege Baron Perling vorüber, der seinen Stand wechselte, weil, wie er meinte, dort kein Wild vorübergetrieben würde, wo er zuerst Posto gefaßt hatte. Ein Waldläufer begleitete ihn, der ihm einen neuen besseren Standort anweisen sollte.
Perling bemerkte mit Vergnügen, daß sich der junge Doktor in einer angenehmen und recht auffälligen Gesellschaft befand. Er rief ihm im Vorübergehen einen flüchtigen Gruß zu.
»Gute Verrichtung – doch . . . ich will nicht stören.«
Und als er sich von Edgars Stand genügend entfernt hatte, fragte er den Waldläufer:
»Kennen Sie das Mädchen?«
»Wie man's nimmt – ich weiß nicht, wer's ist . . . und was man so sieht, das kann man sich ja gefallen lassen. Es ist eben ein Stadtmädchen und läuft im Wald herum, als ob ein solcher Wald Wunder was wäre.«
»Ein Stadtmädchen. Was sucht sie hier?«
»Sie wohnt hier bei der Försterswitwe Meining, einer sehr braven Frau. Er war ein etwas gestrenger Herr; ich kannte ihn, er hatte seine Grillen; doch sie ist sanft und gut. Mag sein, daß es jetzt knapp 226 bei ihr hergeht. Sie hat einen Sohn, der ist Musikant, und die Musikanten, das sind teure Leute; die brauchen viel Spiritus, man sieht's ja bei Hochzeiten und Kirchweihfesten. Sie sind meistens die letzten auf dem Platze, und bleiben auch oft auf dem Platze. Und da mag der Herr Sohn in der Stadt recht viel Geld kosten. Da bringt sie's gewiß wieder ein, indem sie an Stadtleute ein oder zwei Zimmerchen vermietet.«
Perling zog ein Goldstück hervor:
»Das hier können Sie sich mit leichter Mühe verdienen.«
Der Waldläufer machte große Augen.
»Wenn's geht . . . mit Vergnügen.«
»Haben Sie ein Auge auf das Mädchen; geben Sie besonders acht, ob der Herr dort, Herr Doktor Guttmann, öfter mit ihm zusammenkommt, und berichten Sie es mir; hier ist meine Karte!«
»Soweit es der Dienst erlaubt . . . und es wird schon gehen. Er führt mich öfters in diese Gegend; auch kann ich ja die Frau Försterin besuchen; ich habe von früher bei ihr einen Stein im Brett. Und die erzählt mir alles; die hat's Herz auf der Zunge.«
»Von Ihnen aber verlange ich Schweigen; Sie sprechen mit niemand von unserer Abmachung. Sie können sich auch noch mehr verdienen, wenn Ihre Mitteilungen meinen Wünschen entsprechen.«
»Das hoff' ich sehr! Mein Name ist Schaßler. Sie können sich beim Herrn Kommerzienrat nach mir erkundigen. Ich habe besonders ein scharfes Auge für alles Schädliche, für alles Ungeziefer, das sich in den Wald hineinfressen will – das entdeck' ich 227 immer beizeiten. Die Herren Förster sehen oft darüber hinweg; die haben immer große Dinge im Kopf; aber unsereins kommt immer mit einer Lupe zur Welt. Das Allerkleinste entgeht uns nicht.«
»Nun, da sind Sie der rechte Mann. Begucken Sie mir nur die Mamsell mit Ihrer Lupe und auch den jungen Herrn da, und berichten Sie mir genau alles, was Sie beobachtet haben.«
Während der Baron sich so in seinem Begleiter einen Bundesgenossen eroberte, unterrichtete Edgar das kleine Mädchen in den Anfangsgründen der mörderischen Kunst, welcher die Tiere des Waldes zum Opfer fallen, und die gelegentlich auch unter den Menschen aufräumt; er lehrte sie laden, zielen und abdrücken, und sie hatte sogar die stolze Genugtuung, einem Hasen das Lebenslicht ausgeblasen zu haben. Nach dieser Heldentat nahm sie Abschied von ihrem neugewonnenen Freunde, der nächstens sie zu besuchen versprach, um mit ihr über wichtige Angelegenheiten zu sprechen. Ihr einziger Gedanke auf dem Heimweg war, was Kurt wohl dazu sagen würde! Sie war ihrer Sache nicht recht sicher; der junge Flötenspieler hatte seine Marotten, und es war ihm gewiß nicht angenehm, daß sich da ein Dritter in Dinge mischte, die ihn nichts angingen.
Bei dem Jagdessen machte die Frau Geheimrat Schweiger die Honneurs, sie hatte sich wie eine Jägerin kostümiert, obschon sie nicht mit ins Feuer ging. Am liebsten wäre sie hochgeschürzt gegangen wie Diana; doch das mythologische Kostüm paßt nur für Tapeten.
Dafür hatte sie etwas einem Bilde abgesehen, wo die Burgherrin auf die Jagd zieht zur 228 Falkenbeize. Das dunkelgrüne Gewand schnürte ein goldener Gürtel zusammen, in welchem ein paar Pistolen steckten, harmlose Theaterrequisiten; doch wenn diese niemanden ein Leid taten, so ließ sich nicht dasselbe sagen von der stattlichen Büste, die über der schlanken Taille so herausfordernd hervortrat. Mancher Jägersmann hatte darüber seine Gedanken, welche die Zensur an seinem häuslichen Herde nicht passiert haben würden. Neben ihr saß auf der einen Seite der Bruder, der sie oft zärtlich und vergnügt ansah, und stolz auf seine schöne Schwester war. Auf ihrer anderen Seite saß Baron Perling, nicht weniger stolz auf seine Nachbarin, in der er eine künftige Schwiegermutter zu finden hoffte, während er bis auf weiteres ihr gegenüber die Galanterie eines begünstigten Liebhabers zeigte. Ob ihre Füße nicht unter dem Tisch zärtlich miteinander karambolierten, darüber kann die Chronik nichts berichten; denn nur die Klopfgeister machen sich unter dem Tisch bemerkbar.
Einige benachbarte Gutsbesitzer saßen bei Tische, welche den Herrn Kommerzienrat ihrerseits wieder zu ihren Jagden einluden, der viel zu bescheiden war, um irgend eine Jagdbeute für sich in Anspruch zu nehmen. In gleicher Lage befanden sich mehrere Herren der haute finance, welche von Börsenkrisen und Börsenkrachen sprachen, und nur, wenn das Gespräch auf eine Balletteuse kam, verständigten sie sich mit den Agrariern, und sacs und parchemins gaben ein Bild schönster Eintracht. Auch der berühmte Schachmatador befand sich unter den Jagdgästen; doch er machte während der Jagdzeit harmlose Spaziergänge, wobei er über eine neue Eröffnung des Königsgambits nachsann, die ihm im Geiste aufgegangen 229 war und seinen Namen im großen Bilguer verewigen sollte.
Fast wäre auch er in die Schußlinien gekommen und nahm Reißaus mit einem Hasen um die Wette, der glücklich über die Lichtung entkommen war. Auch der braune Vetter, dessen Anwesenheit bei allen Familienfesten unerläßlich war, ging spazieren; er war zu kurzsichtig, um das Wild zu erkennen, über das er nicht gerade stolperte. Berta saß neben dem Onkel in der Nähe der Mutter. Jagdessen sind immer gefährlich; da verwandelt sich mancher Philister in einen wilden Jäger. Auch blieben die Damen nur bis zum Dessert; sie vermieden den Nachtisch, wo die Gäste, des süßen Weines voll, mit feurigen Zungen zu sprechen begannen; sie gingen in den Park, frische Luft zu schöpfen. Der Handelskammerpräsident, der fleißigste Festredner, hatte ihnen vorher einen Toast gewidmet, in welchem er einige mythologische Bilder aus der Prima der ersten Realschule mit einigen Redewendungen verknüpfte, die er beim Vorsitz der Handelskammer anzubringen pflegte; die Damen hatten ihren Ruhmeskranz erhalten und konnten befriedigt von der Tafel aufstehen.
Ein Jagdessen dauert kommentmäßig bis tief in die Nacht hinein, und bisweilen schließt sich auch ein kleines Jeu daran, denn alles Jagdglück ist ja Hazard, wie alles Spielerglück – und wenn man näher hinsieht, ist das ganze Leben ein Hazardspiel. Das dachte wenigstens Baron Perling, der sich zuerst, bald nach dem Aufbruch der Damen, von der Umklammerung der Jagdtafel loslöste, um seine Jagdgöttin aufzusuchen, die ihm ein seltenes Wild ins Garn jagen sollte. Und fast gleichzeitig erhob sich am unteren 230 Ende der Tafel der junge Pessimist Doktor Biesner, dessen Pessimismus neuerdings einen nicht unbedenklichen Stoß erlitten. Die muntere Berta hatte es ihm angetan; er hatte während der ganzen Tafel sie nicht aus den Augen verloren. Er wehrte sich gegen den Gedanken, daß etwas wie Liebe in sein Herz eingezogen sei und wenn er jetzt so töricht war, dem Mädchen nachzulaufen, so rechtfertigte er diese Torheit damit, daß er im Interesse seines Freundes mit ihr Rücksprache nehmen müßte; denn sie sollte aus der Schule plaudern, wie es mit Ella und ihrem Herzen stehe.
Mutter und Tochter hatten sich auf eine Bank gesetzt, die den Blick über Blumenterrassen in die Ferne gestattete. Dort brauten über den Wiesen die Herbstnebel; zur Seite kroch über die stillen Parkwipfel der gelbe Mond herauf. Es war frisch und kühl, die Damen hatten ihre Umschlagtücher umgenommen. Die Frau Geheimrat wußte, daß Perling ihr nachkommen würde; sie sah verdrießlich auf Berta, denn diese war ihr im Wege. Berta stand auf und ging die Blumenterrassen trillernd und singend auf und nieder; was sollte sie der mürrischen Mutter Gesellschaft leisten? Sie hatte recht fleißig vom Champagner genippt, und war in einer ganz vergnüglichen Stimmung. Sie war gerade unten auf der Terrasse bei des Herbstes letzten Rosen, deren Schicksal sie nicht weiter rührte, mochten sie noch so verwelkt und entblättert sein, als oben Perling bei ihrer Mutter erschien und mit ihr dann auf einem Seitenweg lustwandelte; dem unternehmungslustigen Baron waren doch die Dinge über den Kopf gewachsen; seine Schulden, die gefährliche Sophie Lobach mit ihren 231 Heiratsanträgen, wie konnte ihn diese oft zügellose Dame kompromittieren, wie konnte sie alle seine Aussichten vernichten, wenn er sein Ziel nicht bald erreichte!
»Liebe Freundin,« sagte er mit einem hastigen sich überstürzenden Ton, der ihm sonst nicht eigen war, »wir müssen jetzt mit aller Entschiedenheit vorgehn, um Ella zu beweisen, daß sie ihre Liebe einem Unwürdigen geschenkt hat. Das Fräulein aus Bordighera wird morgen hier eintreffen; dann werde ich nähere Mitteilungen über des Doktors Mutter und seine ganze zerrüttete Familie erhalten. Ein Mädchen von so vornehmem Sinn, wie Ella, wird nicht in ein Haus heiraten wollen, in welchem seit langer Zeit der Skandal heimisch ist.«
»Liebe macht blind,« versetzte Sidonie, »solange es sich nur um andere Leute handelt, mögen sie dem Geliebten noch so nahe stehen . . .«
»Doch es handelt sich auch um ihn selbst, den jungen Herrn! Ich bin ihm auf der Spur.«
»Was hat er denn verbrochen?«
»Er hat irgend ein Liebesabenteuer, hinter das ich in diesen Tagen kommen werde!«
»Das ist etwas anderes, das vertragen wir Frauen nicht!«
»Und es ist auch etwas Empörendes, um die Hand von Ella zu werben und dabei irgend ein ins Gebüsch verflogenes Waldvöglein zu haschen. Ich bin nicht gerade streng in meinen moralischen Grundsätzen . . .«
Frau Sidonie stimmte lächelnd bei.
»Aber man muß doch Farbe halten, und wenn wir ein edles schönes Mädchen aus den höheren 232 Kreisen der Gesellschaft lieben, nicht zugleich Jagd auf niederes Wild machen. Verzeihen Sie mir das Jägerlatein an einem Tage wie der heutige . . .«
»Nun, du bist ein großer Jäger vor dem Herrn, wie's in der Schrift heißt, und hast in deinem Leben viel Edelwild und Raubwild gejagt. Doch wenn du heiratest, da mußt du die Büchse in den Schrank stellen.«
Perling sah sie mit einem fragenden Blick und vielsagendem Lächeln an.
»Gewiß – dann hab' ich ja im eigenen Hause, was mein Herz begehrt. Doch was ist dieser Doktor Guttmann? Ein junger Gelehrter, der auf dem Kopf den Doktorhut hat, aber noch an die Pforte der alma mater klopft, um als Privatdozent zugelassen zu werden. Und nicht jeder Privatdozent wird Professor. Nicht aus jeder Puppe wird ein Schmetterling, manche fressen die Vögel vorher. Und ein außerordentlicher Professor . . . du lieber Gott! Doch du weißt ja besser damit Bescheid als ich! Du hast ja diese Herren lange Zeit an deiner Krippe mitgefüttert! Und was hat dieser Doktor Guttmann? Nichts, ich höre, er ist so gut wie enterbt; es sind ja Familienverhältnisse, die jeder Beschreibung spotten.«
»Da ist Baron Perling doch ein anderer Mann. Das willst du mir wohl sagen.«
»In der Tat, ich habe Adel und Rang und Orden und Güter; ich müßte es mir verbitten, mich in eine Linie zu stellen mit diesem Herrn, der mir in gesellschaftlicher Hinsicht nicht entfernt ebenbürtig ist. Ich führe meine Braut auf eines meiner Schlösser . . . weiß Gott, in welche Mansarde der Herr Doktor die seinige führen würde!«
233 »Du unterschätzest doch die Miete, die meine Tochter zahlen kann.«
»Freilich, ein armer Mann, der sich von einer reichen Frau ernähren läßt . . . das ist doch nicht viel besser als ein Schürzenstipendium! Darum hat es doch viel für sich, wenn sich gleich und gleich gesellt und in der Ehe zwei große Vermögen zusammenkommen.«
»Gib mir alle die Beweise . . . ich werde den Doktor in Anklagezustand versetzen bei meiner Tochter und ich hoffe bestimmt, daß das Waldvöglein, von dem du sprachst, ihr die Liebe aus dem Herzen picken wird, doch dann . . .«
»Nun, ein neues Bedenken . . .«
»Wenn es auch heißt: Le roi est mort, vive le roi! wirst du dann der neue Herzenskönig sein?«
»Ich hoffe; ich bin an Siege gewöhnt! Nur meine Nebenbuhler müssen aus dem Felde geschlagen sein. Und du selbst zweifelst an meinem Erfolg? Ist Ella nicht deine Tochter? Und die Töchter erben zwar die Intelligenz vom Vater, aber den Charakter von der Mutter! Und da darf man wohl annehmen, was der Mutter gefällt, wird auch den Töchtern gefallen. Und daß die Mutter mit mir zufrieden ist, dafür habe ich ja überzeugende Beweise.«
Sidonie lächelte wieder zustimmend, was ihr sehr reizend stand – und wohl um diese Beweise zu vermehren, schlugen sie den Weg ein, der in die noch nicht vom Herbststurm gelichteten Parkgebüsche führte.
Auch ihre Tochter Berta schien jetzt ihre Mutter ganz vergessen zu haben. Sie hatte das Stelldichein zwischen der Mutter und Baron Perling an der Bank oben mit feindseligen Blicken beobachtet. Die gute 234 Mama ließ sich von dem Baron betören, der zwar ein eleganter Kavalier, aber ein verabscheuungswürdiger Mensch sei! Denn das war in ihren Augen ein Ehespekulant – und sie traute ihm das Schlimmste zu. Oft schien es ihr, als schwankte er, ob er ihr Schwager oder ihr Stiefvater werden sollte – und sie wußte nicht, was ihr widerwärtiger gewesen wäre. War ihr Perling der unangenehmste Sterbliche, so hatte sie nicht nur die Genugtuung, daß er oben von der Bildfläche verschwand, sondern auch die Freude, daß gleich darauf der angenehmste aller Sterblichen, der sich unbemerkt genähert hatte, an ihrer Seite stand, Edgars Busenfreund, der Doktor Max Biesner.
»Wie freue ich mich, daß ich Sie noch getroffen habe,« sagte er, »ich bin Ihnen gleich nachgeeilt, ich habe mit Ihnen zu sprechen!«
»Das sagen Sie in einem Ton, als wenn es sich um ein Kolloquium handelte. Für gelehrte Dinge bin ich nicht zu haben, am wenigsten jetzt, wo ich einen kleinen Schwips habe; ich vertrage einmal den Champagner nicht.«
»Von gelehrten Dingen ist nicht die Rede!«
»Das wundert mich, denn Sie kümmern sich ja nicht um die anderen geringfügigen Dinge dieser Welt. Und Sie sind nicht bloß ein Gelehrter, denn es gibt auch praktische Leute darunter, welche über die beste Baum- und Tierzucht, die besten Düngemittel, sogar über uns Frauen dicke Bücher schreiben und uns nicht bloß in Kollegienheften, sondern in großen Kliniken mit vielen Stockwerken verarbeiten; doch Sie sind keiner von ihnen; Sie sind ein Philosoph, kennen alle Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen 235 sich unsere Dummheit nichts träumen läßt, und was uns Frauen betrifft, so sehen Sie uns gewiß mit den Augen Schopenhauers an. Was dieser über uns denkt, das hat mir Ella neulich vorgelesen – und das ist Gott sei Dank, das einzige, was ich von Schopenhauer kenne.«
»Sie tun mir Unrecht, mein Fräulein! Ich sehe mit meinen eigenen Augen und denke mit meinem eigenen Verstand. Was andere Denker sagen, regt mich nur an zur Prüfung, zur Zustimmung oder Ablehnung. Und Schopenhauer hat seine Marotten. Das muß ich freilich sagen, daß ich den Parfüm der himmlischen Rosen, welche die Frauen ins irdische Leben flechten, bisher nicht genossen habe, und daß ich nicht recht an den Himmelsgarten glaube, aus dem diese Rosen stammen sollen. Auch muß ich bekennen, daß ich keiner Schönen, keinem nächtlichen Liebesabenteuer nachlaufen würde.«
»Da tun Sie wohl daran. Bei den Rosen gerät man oft in die Dornen. Ihr Bekenntnis gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, als wenn ich den Panzer der Jeanne d'Arc angetan hätte. Doch da bleibt mir noch immer die Frage übrig, was verschafft mir die Ehre, von Ihnen in einer Stunde aufgesucht zu werden, wo sonst nur die Gespenster umgehn, und wo ein Mädchen nur dann einem Manne mit Anstand gegenübertreten kann, wenn es dekolletiert im Ballsaal erscheint, nicht aber hier unter freiem Himmel, wo ihr der kalte Herbstwind in die Röcke fährt?«
»In der Tat, ein Romeo wäre töricht, der in solchen klimatischen Verhältnissen um eine Julia freien würde.«
»Doch die Liebe hat ihr eigenes Thermometer, das 236 weiß die Welt, und man könnte doch glauben, daß ein echter Romeo sich nicht um die vier Jahreszeiten kümmert. Deshalb muß man auch den Schein vermeiden.«
»Der Schein ist mir gleichgültig!«
»Da haben wir den Herrn der Schöpfung; er denkt nur an sich, nicht an andere. Wie aber, wenn mir der Schein nicht gleichgültig wäre? Wir Mädchen sind ja nur, was wir scheinen, und wenn man Sie jetzt zur Nachtzeit hier bei mir sähe, man würde Sie für meinen Liebhaber halten, und wenn Sie sich auf den Kopf stellten!«
»Das würde mir leid tun um Ihretwillen!«
»Und mir würden Sie leid tun, wenn Sie es in Wahrheit sein wollten.«
»Fürchten Sie nichts, mein Fräulein! Doch da Ihnen die Situation bedenklich erscheint, obgleich die Jäger nach der Motion der Jagd wie festgenagelt auf ihren Stühlen sitzen, so wollen wir rasch zur Sache kommen.«
»Gott sei Dank, daß es eine solche Sache gibt! Da brauche ich ja keine Liebeserklärung zu erwarten.«
»Da würden Sie freilich schmerzlich enttäuscht werden, denn ich bin ein Analphabet in der Liebe und könnte nicht die drei üblichen Worte zusammen buchstabieren. Nein, ich wende mich an Sie als Ellas Schwester, und was mich zu Ihnen führt, ist meine Freundschaft für Doktor Guttmann.«
»Da ich selbst aus dem Spiele bleibe, so will ich Ihnen ein geneigtes Ohr schenken. Doch darf die Sache nicht zu verwickelt sein; denn ich habe einmal einen kleinen Schwips. Die ganze Welt erscheint mir rosenrot . . . wovon Sie auch etwas profitieren, Herr 237 Doktor; aber nachdenken . . . nachdenken kann ich nicht.«
»Mein Freund Edgar liebt Ihre Schwester.«
»Er sagt es vielleicht nur, es ist nicht allzuweit her mit dieser Liebe.«
»Sie irren! Das ist keine blöde Jugendeselei! Ich begreife es zwar nicht, wie einer als Naturforscher, der die ganze Welt gesehen hat, sein Herz an ein einziges Mädchen hängen kann, obschon es deren so viele in der Welt gibt.«
»O ja,« sagte Berta, »die Sorte ist sehr verbreitet, Sie haben recht . . . und wem es nicht weiter auf die einzelnen Exemplare ankommt, der braucht bloß zuzugreifen. Hinterdrein kann es ihm freilich passieren, wie dem Mephistopheles in der klassischen Walpurgisnacht, daß sich die verführerische Lamie in einen Besen verwandelt.«
»Nun, Edgar ist ja nicht der erste Weltreisende, der sich solcher Verliebtheit schuldig macht. Der berühmte oder berüchtigte Doktor Förster hatte ja gleich, nachdem er die Reise um die Erde zurückgelegt, die Göttinger Professorentochter Therese Heyne in sein Herz geschlossen und als Gattin heimgeführt, was ihm nachher nicht gerade zum Segen gereichte. Gleichviel, Edgar liebt Ihre Schwester, und da er mein Busenfreund ist, so ist es mein innigster Wunsch, daß er wiedergeliebt wird.«
»Hoffen wir das Beste!«
»Nein, mein Fräulein, damit entschlüpfen Sie mir nicht; ich möchte von Ihnen vertrauliche Auskunft erhalten, ob er hoffen darf.«
»Das Siegel des Beichtgeheimnisses darf man nicht lösen.«
238 »Sie haben doch keine Tonsur!«
»Und wie kommen Sie dazu, sich mit dieser Frage an mich zu wenden! Hab' ich Sie irgendwie ermutigt?«
»Nein, gewiß nicht! Doch ich habe einmal Vertrauen zu Ihnen.«
»Ein Pessimist darf zu nichts in der Welt Vertrauen haben, am wenigsten zu seinen Mitmenschen; sonst verliert er ja seine Leibfarbe und für solche Herren gibt es keine Mohrenwäsche.«
»Wir haben aber auch unsere schwachen Augenblicke, wo uns das Leben nicht so pechkohlrabenschwarz erscheint, und wir uns einer Ketzerei schuldig machen, wofür wir im Feuer büßen müssen. Erwidern Sie mein Vertrauen, und sagen Sie mir, was Edgar hoffen darf!«
»Mein Herr Philosoph! Die Seelenkunde ist eine sehr schwierige Wissenschaft, und ich bin gewiß nicht allzuweit in derselben vorgedrungen! Das kommt daher, weil mir meine eigene Seele wenig Schwierigkeiten bietet. Die hat keine Abgründe, keine Falten; die ist so glatt, als wenn sie eben gebügelt worden wäre. Bei meiner Schwester ist das etwas ganz anderes; da nistet allerlei in den Verstecken. Und gebeichtet hat sie mir nicht . . . das ist nicht ihre Art. Trösten kann ich sie auch nicht; denn ich verstehe nichts von der Liebe.«
»Ganz wie ich! Wir haben doch mehr Verwandtes, als man glauben sollte.«
»Ich lehne jede Verwandtschaft mit einem solchen Schwarzseher ab. Was Ella betrifft, so hat ihr Gefühl doch einige Schwankungen durchgemacht. Nach jenen Vorgängen bei unserer Tischgesellschaft, da hat 239 sie, um mich recht prosaisch auszudrücken, einige Löcher zurückgesteckt. Da billigte ihr Verstand manches nicht und da mußte auch eine Zeitlang das Herz Ordre parieren.«
»Und jetzt?«
»Ich kann nicht von Bekenntnissen sprechen, nur von Beobachtungen. Wenn der Name Edgar Guttmann genannt wird, errötet sie. Das ist etwas kindisch für eine so gelehrte Dame; dann aber liest sie wieder Tag und Nacht; die Schrift Ihres Freundes liegt immer aufgeschlagen auf ihrem Tische. Sie hat sich eine Menge naturwissenschaftliche Werke angeschafft; sie vergleicht, was darin über die Parasiten gesagt ist; das kann ein Zeichen von Wißbegierde sein, aber auch ein Zeichen von Verliebtheit.«
»Ich halt' es für ein gutes Zeichen.«
»Sie hat sich auch ein Bild des Herrn Doktor Guttmann verschafft. Man kann es sich kaufen. Der Photograph spekuliert damit; denn ein Weltreisender ist ja etwas Berühmtes. Ich habe auch schon daran gedacht, die Reise um die Erde zu machen; vielleicht komme ich dann auch in die Photographiekästen.«
»Das wäre schön, dann könnte man auch ein Bild von Ihnen kaufen.«
»Das wäre auch nötig, denn ich verschenke meine Bilder nicht.«
»Und wie steht's mit dem Baron Perling?«
»Ella findet ihn sehr geistreich und unterhält sich gern mit ihm. Und dahinter steht die Mama mit dem Segen in der Anhängetasche . . . ich hasse ihn. Er ist ein Schmarotzer schlimmster Sorte, und geht der Mama in einer Weise um den Bart, die mich 240 ärgert. Ich wünschte, sie hätte einen, da würde diese Schmarotzerei weniger auffällig sein. Er macht gelegentliche Anspielungen auf Edgar, er droht mit Enthüllungen. Das deutet er alles nur an, wenn er mit Ella spricht, vorsichtig, ganz von ferne, doch er hat etwas im Hinterhalt. Er ist immer da, immer galant, immer liebenswürdig; doch wo steckt der andere?«
»Sie begreifen seine Zurückhaltung nach allem was vorgefallen.«
»Ich begreife gar nichts – ist das ein Liebhaber! Wo bleiben die duftigen Billetts, die duftigen Sträußchen, die Besuche, auch ohne Mamas Erlaubnis, wenn es sein muß? Dieser Liebhaber verschwindet in der Schattenwelt. Man liebt doch nur, was man sehen, hören, mit Händen greifen kann.«
»Da haben Sie recht! Die Liebe hat mehr mit den fünf Sinnen zu tun, als mit dem Kopf und dem Herzen der Menschen. Da müssen wir doch sehen, die beiden wieder zusammenzubringen.«
»Das ist auch mein Gedanke.«
»So sind wir Bundesgenossen – geben Sie mir Ihre Hand, Fräulein Berta!«
»Wozu? Wir sind nicht auf dem Rütli und ich gebe meine Hand nicht so leicht fort. Doch ich will dafür sorgen, daß eine solche Zusammenkunft möglich wird. Ella werde ich schon dafür gewinnen; denn es ist ein stiller Herzenswunsch von ihr. Das habe ich längst erraten, doch so leicht ist es nicht; es bedarf einiger Zeit.«
»Doch dann kommt der Winter heran!«
»Liebende frieren doch nicht . . . und dann gibt es Pelzhandschuhe für zwei Hände, die sich drücken 241 wollen. Wenn Onkels Wirtschafterin abgeht, dann werden wir hier herauskommen, um nach dem Rechten zu sehen – wir Schwestern! Mama sieht niemals nach dem Rechten . . . das ist nicht ihre Art, und dann kann hier die Begegnung stattfinden; ich will das schon arrangieren.«
»Dann müssen Sie mir schreiben.«
»Das ist das Fatalste bei der Sache. Ich soll an einen jungen Herrn schreiben und ich verstehe mich nicht auf die Chiffreschrift. Sind Sie diskret, mein Herr? Verbrennen Sie diese Zeilen sogleich?«
»Ich schwöre!«
»Dann ist es abgemacht!«
»Und darf ich mitkommen?«
»Es ist kein Duell, Edgar braucht keinen Sekundanten!«
»Doch wenn sich die Herrschaften von Liebe unterhalten, da kann auch der Diener mit der Zofe plaudern.«
»Nun, ich schicke Ihnen die Nannette, wenn Sie durchaus kommen wollen.«
»Sie sind ein schlimmes Mädchen; doch wir sind jetzt zwei Verschworene.«
»Im Dunkel der Nacht . . . und blutig wird es tagen. Ganz wie in der Operette, doch der Vorhang fällt jetzt!«
Biesner ging in den Saal zurück; und es war hohe Zeit, denn oben auf der Terrasse erschien die Frau Geheimrat, und jetzt hielt sie es für angebracht, laut nach ihrer Tochter zu rufen. Perling war nicht mehr in Sicht.
»Ich werde anspannen lassen, mein Kind! Wir haben das Unsrige getan. Die zerbrochenen Gläser 242 mag die Wirtschafterin registrieren. Wenn sie sich nur nicht die Flaschen an den Kopf werfen . . . bei einem solchen Jagdessen ist kein Ding unmöglich!«