Rudolf von Gottschall
Parasiten
Rudolf von Gottschall

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Erstes Buch

Erstes Kapitel

Draußen der Sonnenschein auf den abgeernteten Feldern – noch standen überall die Ährenschober wie Termitenhügel des ländlichen Ameisenfleißes – und welke Feldblumen, dunkelroter Mohn und blaue Cyanen blickten kläglich zwischen den Kornähren hervor. Wie schimmerte der Fluß, der zwischen Weidenstumpfen auf dem einen Ufer und einer stattlichen Allee von Silberpappeln auf dem anderen mit seiner stillen Flut dahinzog – und über den Wipfeln des fernen Waldes lag's wie in einem Lichtgewölk gesammelter Sonnenschein. Die Fenster des Gutshofs auf der Höhe funkelten und die Fenster des Dorfes im Tal blieben die Antwort nicht schuldig – es war wie eine Illumination zu Ehren des Hochsommers, der über diese Felder und über die schwer mit Obst beladenen Bäume sein Füllhorn ausgeschüttet.

Draußen der Sonnenschein – doch im Gutshof selbst herrschte böses Wetter. Wolken lagen auf der Stirn der Herrin und Gebieterin und schwer ruhte ihre Hand auf den Knechten und Mägden. Alle duckten sich und krochen in die Winkel, selbst der Hofhund, mit den Ketten rasselnd, versteckte sich in der Hundehütte; 4 die Tauben guckten verschüchtert aus dem Taubenschlag hervor – nur der Stier brüllte im Stall, froh seiner schwer zu bändigenden Kraft, fremder Tyrannei trotzig die breite, mit den Hörnern bewaffnete Stirn bietend und der Truthahn ließ seine Eicheln und Runkelrübenblätter im Stich, blähte sich auf, sträubte sein Gefieder und spazierte hinter der zornigen und scheltenden Herrin einher wie ein dienstbarer Vasall, der ihr Mienen und Gebärden abgeguckt hat und sie nachahmt, soweit es in seinen Kräften steht.

Und sie war die Herrin des Gutshofs, diese Maria Magdalene Wandow, nicht nach den Büchern des Grundbesitzes und der Landschaft, nicht als eheliche Gemahlin des Gutsherrn, sondern als seine Wirtschafterin, die aber ihre Herrschaftsrechte durch jahrelangen Besitz erworben und gefestigt hatte.

Neben der hochgewachsenen und breitschultrigen Gebieterin verschwand die kleine Dore mit dem zierlichen Lacertenleib und dem kecken Stumpfnäschen, die an ihrer Seite stand. Sie allein durfte sich bisweilen etwas herausnehmen ihr gegenüber und wußte sogar ihren Zorn zu besänftigen. Es gibt eben unerklärliche Sympathien und Maria Magdalene empfand für Dore etwas wie zärtliche Zuneigung. Sie hatte jene großen Augen, welche der alte Homer als Ochsenaugen der erhabenen Gattin des Zeus andichtete – und diese Augen waren wenig geeignet für den Ausdruck zarter Empfindung: doch glaubte man dergleichen bisweilen in ihnen schimmern zu sehen, wenn sie sich der kleinen beweglichen Dore zuwandte, die viel Mutterwitz und Naseweisheit besaß und sich auch sehr geschickt einzuschmeicheln verstand. Freilich durfte sie diese Waffen nicht gegen ihre Beschützerin 5 kehren, sonst traf sie ein Zornesblick der junonischen Alten.

»Soll ich das Haustor mit einer Girlande umkränzen? Der Gärtnerbursche hat zwei bis drei zurecht gemacht – und so tölpelhaft er sonst ist – auf grünes Unkraut und bunte Blumen versteht er sich!«

»Wer hat ihm geheißen, solche Girlanden zu winden?«

»Ich, Frau Wandow.«

»Du hast hier nichts zu sagen!«

»Ich habe auch nicht befohlen. Doch der Hans tut alles, was er mir an den Augen absieht – es nützt ihm freilich nichts! Ich sagte nur so beiläufig, da der junge Herr nach großen Reisen jetzt nach Hause zurückkehre, so müsse man doch für seinen Empfang etwas vorbereiten. Und da hat er denn gleich aus seinem Unkraut eine solche lange Bummel zurecht gemacht. Darf ich die nicht am Haustor festnageln?«

»Nein, sage ich!«

»Oder wenigstens an der Tür der Stube, wo er wohnen wird?«

»Nein, alberne Dirne! Du kümmerst dich um Dinge, die dich nichts angehen. Er gehört nicht mehr hierher, der junge Herr! Er hat sich schon jahrelang vor seiner Abreise nicht hier sehen lassen und hat nicht einmal Abschied von hier genommen. Was will er denn jetzt hier? Gleichviel – doch er kommt als ein Fremder und man bekränzt seinetwegen nicht das Haus! Mag der Hans die Girlanden fürs Erntefest aufheben. Jetzt scher' dich auf den Obstboden und suche etwas Lagerobst aus – wenn er auch nur als Gast kommt, man muß ihm doch etwas vorsetzen. Die Obstbäume, die er selbst als Junge aus seinen 6 Kirschkernen gezogen, sind glücklicherweise eingegangen; alles was er in die Hand nimmt, geht ja gleich zugrunde – hol' nur unser Lagerobst herbei; das hat sich gut gehalten. Fort, tummle dich!«

Dore verschwand alsbald im Hausflur. Maria Magdalene stieg mit mißvergnügten schweren Schritten die Kellertreppe hinab, nachdem sie einen Knecht herbeigewinkt, der mit einer riesigen Mistgabel den Düngerhaufen im Hofe in die vorschriftsmäßige Ordnung brachte.

»Hierher, Fritz! Doch wasch' dich erst am Brunnen – freilich, solch ein Stinkfritz wäre mir heute als aufwartender Lakai ganz angenehm!«

Sie hielt auf der Kellertreppe inne, während Fritz gewissenhafte Reinigungsversuche machte.

»Genug, genug! Setz' nur dein Gestell in Bewegung, langer Bursche!«

Und Fritz stolperte ihr nach die Kellertreppe hinunter.

»Nimm hier den Henkelkorb, der im Winkel steht. Was krabbelst du denn dort bei den schweren Weinen herum? Das ist nur für die Gutsnachbarn. Hier in den Korb mit den leichten Moselweinen – das ist gesund und wohlfeil.«

Als Maria Magdalene wieder die Kellertreppe emporgestiegen, wurde sie von dem Inspektor bemerkt, der gerade über den Hof ging. Sofort salutierte er, schritt auf sie zu und stand dienstbereit neben ihr, wie ein Adjutant neben seinem General. Sie war sehr leutselig gegen den jungen Mann, dessen Intelligenz sie nicht sehr hoch anschlug; doch sie war auch ganz überflüssig; denn über die Intelligenz, die zur 7 Bewirtschaftung des Gutes nötig war, verfügte ja ausschließlich Maria Magdalene. Dafür hatte aber Thomas Wickel große körperliche Vorzüge. Er war eine Kraftnatur; sein von Wind und Wetter und auch vom Alkohol rot angestrichenes Gesicht hatte etwas verquollene Züge; es war wie ein schlechtes Aushängeschild für den stattlichen Körper; denn sein Stierkopf saß auf einem herkulischen Bau und in seinen Sporenstiefeln steckten ein Paar kraftstrotzende Beine. Und so stand er neben Maria Magdalene, wie Herkules neben seiner Gebieterin Omphale, die vielleicht nicht einmal so stattlich war wie jene, die aber doch der Kraftmensch um Kopfeslänge überragte. Sie schlug indes gegen ihn wieder den herablassenden Ton an, in den eine gewisse Vertraulichkeit mit hineinspielte.

»Tom, wir erhalten heute Besuch, aber keinen sonderlich angenehmen! Das Essen würde auch Ihnen in der Gesellschaft nicht schmecken. Ich schicke Ihnen das Beste auf Ihr Zimmer – auch zwei Flaschen Zeltinger dazu! Sie sollen sich gütlich tun und auf mein Wohl trinken.«

»Weiß schon – es kommt der junge Herr – habe nicht die Ehre, ihn zu kennen.«

»Sie sind erst zu kurze Zeit hier, noch das reine Kind in unserer Wirtschaft! Nun, er versteht gar nichts davon, er weiß unsere Verdienste nicht zu würdigen. Sie gehen ihm am besten aus dem Wege; ich freilich muß standhalten, doch ich bin ja liebenswürdig genug, um ihn zu verzaubern. Finden Sie nicht, Tom?«

Tom fand es sofort und drückte durch ein Kopfnicken und ein breites Lächeln seine Zufriedenheit aus.

»Wohl ausgesöhnt mit Vater, der junge Herr?«

8 »Das gerade nicht! Er will sich vielleicht aussöhnen, wer weiß! Nun, wir werden's ja sehen!«

Der Adjutant erkannte, daß er entlassen sei. Er machte Kehrt und schlug dabei mit den Hacken aneinander, wie er's als Reserve-Unteroffizier gelernt und ging im Marschschritt nach dem Pferdestall zu, um sich seinen Braunen satteln zu lassen.

Maria Magdalene schritt noch einmal über den Hof in den Kuhstall. Der Milchertrag war heute sehr hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben und sie wollte die Kuhmägde darüber zur Rede setzen. Sie tat dies in heftiger, gebieterischer Weise und da sie ihrer üblen Laune heute freies Spiel ließ, so ging sie, was ihr noch nie eingefallen, so weit, die Toilette dieser Dienerinnen niedrigsten Ranges zu bemängeln. Ein verdrießlicher Hofmarschall wird selbst den Unterrocksaum seiner Hoffräulein rügen, der wie eine schüchterne Andeutung unten an den Kleidern eine weißliche Linie zieht. So erschwert wurde es der Wirtschafterin nicht, daß sie solche kleine Verstöße gegen die Hofordnung ihrer Sklavinnen hätte aufmutzen müssen; doch sie tadelte die schamlose Offenherzigkeit der um die Büste herumhängenden Kleider und die schmutzigen Gehapparate, die unter den aufgeschürzten Röcken bis zu den Knien sichtbar waren und an denen alles hängen blieb, was dem Stallbesen zu beseitigen nicht gelungen war. Eine dralle Magd wagte einigen Widerspruch, das bringe die Arbeit mit sich und sie könnten doch nicht vor aller Welt in den Teich steigen, um sich zu baden. Doch Maria Magdalene hatte kein Erbarmen; ins Gemuhe der Kühe, ins Gerassel der Halsketten drang ihr zorniges Gepolter und eine Gerte nehmend, die der Reitknecht bei einem verliebten Rendezvous in 9 der Höhle dieses untergeordneten Tierreiches vergessen zu haben schien, schlug sie auf die rebellische Magd los, die gegen solche Attentate keinen Eisenpanzer trug und deren Nacken, Brust und Waden sich mit Striemen bedeckten. Als die gezüchtigte Sklavin in ein lautes Zetermordio ausbrach, verließ die Herrin den Stall mit dem Gefühl einer wohltuenden Befriedigung und es wurde ihr nach dieser Entladung ihrer Galle leichter, dem Hausherrn mit einem freundlichen Gesicht gegenüberzutreten.

Er saß an seinem Schreibtisch in einem buntseidenen Schlafrock und war damit beschäftigt, Marken in ein umfangreiches Album einzukleben; ein anderes, auf welchem ein Stoß von Ansichtskarten lag, wurde an seiner rechten Seite sichtbar und auf den Repositorien rechts und links lagen dicke Quartos und Folios, die man für Wirtschafts- und Kassenbücher hätte halten können, wenn nicht ihr Einband den kunstgewerblichen Fleiß verraten hätte. Ja das war nicht das schlichte Gewand des Nützlichen; da zeigte sich die Schönheit, die mit Kontobüchern nichts zu tun hat. Diese mußte man auf dem Schreibtisch der Maria Magdalene suchen.

Herr Guttmann war von je ein Sammler gewesen. Schon als Knabe hatte er sich eine Schmetterlings- und eine Käfersammlung angelegt und auch später noch hin und wieder ein seltenes Exemplar denselben eingefügt. Auch ein Herbarium hatte er in späteren Jahren sich eingerichtet. Das war in der ersten Zeit seiner Ehe; seine Frau erfreute sich an den schönen Feldblumen, die er nach Hause brachte, immer andere im Frühling, Sommer und Herbst. Dann erging es ihnen wie der ehelichen Liebe: sie trockneten ein, nur 10 daß er sie noch im gepreßten Zustande aufbewahrte, während jene leider längst im blauen Duft der Ferne entschwunden war. Das Sammeln war ihm die Hauptsache, was er sammelte, gleichgültig. Er kam auf kostspielige Passionen – eine Dosen-, eine Tabatièren-Sammlung, reizende Rokokobilder auf den Deckeln, hier und dort auch funkelnde Edelsteine. Gegen die Schmetterlinge und Blumen hatte Maria Magdalene nichts einzuwenden; aber die Dosen – das ging über den Etat und sie sorgte dafür, daß die ganze Sammlung verkauft wurde, wobei sie von dem Käufer einige ansehnliche Prozente erhielt. Merkwürdigerweise trennte sich Herr Guttmann leicht von seinem schönen Besitz. Obschon er nicht rauchte, legte er sich jetzt eine Pfeifensammlung an, Pfeifenköpfe mit allen möglichen lächelnden Schönen in fragwürdiger Toilette, ja sogar mit einigen Nymphen in klassischem Kostüm, worüber indes Maria Magdalene gnädig hinwegsah, da diese Demimonde auf dem Porzellan nicht allzu teuer war. Da kam aber die Reichspost und der Weltpostverein – große Errungenschaften – und nun galt es Briefmarken zu sammeln und dann folgten die Ansichtskarten, und der Sammler befand sich auf der Höhe der neuesten Kulturfortschritte. Er korrespondierte, er schnitt aus, er klebte ein – er hatte eine fruchtbringende Tätigkeit.

Wie er so dasaß mit der Glatze, um die nur spärliches Haupthaar keimte, sah Maria Magdalene mit einem gewissen Siegsgefühl auf ihn herab – war dieser vielbeschäftigte Gutsherr doch ganz in ihren Händen. Er war ja wie Wachs so weich, sie formte ihn nach ihrem Belieben. Mit diesen kleinen, gutmütig blinzelnden Augen, mit diesem sanften Flötenton der 11 Stimme war er zur Sklaverei geschaffen und sie hatte ganz freies Spiel – nur daß bisweilen ein unerklärlicher Rest von Eigensinn sich irgendwo in seinem Gehirn versteckte, so daß er zäh daran festhielt wie an einer fixen Idee und daß dann seine ganze schwammige Existenz sich gleichsam damit vollgesogen hatte. Dann mußte man sich hüten ihn zu reizen; doch da gab es einige Warnungszeichen, welche die treue Wirtschafterin wohl kannte und dann einen anderen Kurs einschlug. Sie setzte sich an ihre Spindel in der Fensternische; es war ihre Lieblingsbeschäftigung, beim schnurrenden Rädchen hatte sie ihre besten Gedanken. Ein kundiger Thebaner, der Nachbar Hiltberg, der in seiner Jugend eine wissenschaftliche Bildung erhalten, verglich sie einmal mit einer Norne, welche das Schicksal des Hauses Guttmann spinne – und der Ausdruck gefiel ihr, obschon sie sich nichts Bestimmtes dabei denken konnte und in einem traulichen Plauderstündchen mit dem Kraftmenschen Wickel sagte sie bisweilen scherzend:

»Denken Sie sich, Tom, ich bin eine Norne.« – Worauf dieser sein Gesicht zu einem breiten Lachen verzog. Das mußte doch etwas Besonderes sein und wenn es ihr Vergnügen machte, konnte sie sein was sie wollte; er würde immer damit zufrieden sein.

»Wieviel Uhr ist's?« fragte Herr Guttmann, indem er eine Peruanerin neben das springende Silberroß Venezuelas klebte.

Die Schwarzwälder Uhr war so freundlich, die Antwort zu erteilen, indem sie zwölf Uhr losschnurrte und losrasselte.

»Sie hören's, Herr Guttmann, es ist Mittag!«

»Und wann kommt der Zug?«

»Um diese Stunde!«

12 »Ist Martin rechtzeitig mit der Kutsche hingefahren?«

»Er ist jetzt jedenfalls dort!«

»Nun, noch eine gute Stunde bis zum Mittagessen!«

Guttmann erhob sich, er war groß und schlank, doch er hatte etwas Schlaffes in seinen Bewegungen. Er ging ungeduldig hin und her, die Hände auf dem Rücken. »Brasilien fehlt mir noch und Kolumbien. Ich habe die Marken bestellt, doch sie bleiben lange aus. Ich werde erst ruhig sein, wenn ich Südamerika ganz austapeziert habe. Und dann der Edgar – es geht mir doch sehr im Kopfe herum, daß er jetzt zurückkommt. Es ist immerhin eine Aufregung und die Aufregungen sind mir ein Greuel. Auch meint der Arzt, daß ich mich davor hüten muß! Was will er nun eigentlich hier?«

»Wir werden's bald erfahren,« sagte die Spinnerin, das Werg auseinanderfasernd.

»Mich wiedersehen – ganz schön! Ich kann mir's denken; ich freue mich doch auch, den Jungen wiederzusehen! Freilich, keine ungetrübte Freude! Wie hat er sich gegen mich benommen, ehe er die Reise antrat! Da ist er nicht gekommen, nur Briefe, oft fatale Briefe; mit Anklagen gegen mich, auch gegen Sie . . . besonders gegen Sie!«

»Ich weiß es wohl,« – meinte Magdalene und begann ein Liedchen zu trällern zum Beweise ihrer vollständigen Gleichgültigkeit gegen solche Beschuldigungen.

»Nun, dem sei wie ihm wolle! Wenn Edgar jetzt zurückkehrt –«

13 »Der verlorene Sohn! Schlachten Sie ihm doch ein Kalb, Herr Guttmann!« sagte Magdalene hohnlachend und trat auf das Rädchen, daß es fast in Stücke brach.

»Verloren . . . da muß ich doch bitten, Frau Wandow! Ein verlorener Sohn ist Edgar nicht. Er ärgert mich, er kränkt mich; aber verloren – nein! Er ist tüchtig in seinem Fach.«

»Doch es bringt ihm nichts ein! Hätte ihn nicht der gelehrte Professor als Adjunkt auf seine Weltreise mitgenommen, so hätten wir auch das letzte Jahr wieder für ihn sorgen müssen. Nun sind seine Taschen leer, und da klopft er wieder bei uns an. Sie müssen ihm den Brotkorb höher hängen, Herr Guttmann!«

Guttmann runzelte die Stirn; er ging unruhig im Zimmer hin und her. Die Norne bemerkte, daß sie sein Mißvergnügen erregt und suchte ihn zu begütigen. Sie erhob sich vom Spinnrad, ging auf ihn zu, streichelte ihn vertraulich:

»Nun, Alterchen, ich will Ihnen die Freude des Wiedersehens nicht verderben, wenn's für Sie eben eine Freude ist – das ist ja Ihre Sache. Was er mir angetan hat, das vergess' ich gern, und ist bei Ihnen heiterer Himmel, so soll's bei mir nicht wettern. Doch vorsichtig müssen wir sein, wir alten Leute, daß uns die Jugend nicht über den Haufen rennt. Wir haben ja genug Sorgen, und müssen nicht zu viel auf uns nehmen!«

Sie glättete die paar Haarlocken, die ihm auf den Nacken fielen; sie wußte, daß ihm das ein besonderes angenehmes Gefühl war; es gemahnte ihn daran, daß er sein früheres volles Haar nicht ganz verloren 14 – ein wehmütiger Rest allerdings, aber er verhinderte doch, daß sein Kopf einem Schädelpräparat im Zimmer des Anatomen allzu ähnlich sah.

Er war dankbar für diese zarte Aufmerksamkeit, drehte sich um, lächelte und blinzelte die Norne freundlich an, die ihre großen Augen gönnerhaft auf ihm ruhen ließ.

»Ich werde meine Pflicht tun, Herr Guttmann, und in die Küche gehen, um dafür zu sorgen, daß Herr Edgar etwas Gutes zu essen bekommt. Weiß Gott, was er draußen unter den Kannibalen gegessen hat – vielleicht Menschenfleisch!«

Guttmann zuckte lächelnd mit den Achseln.

»Nun, verhungerte Schiffbrüchige haben einander ja schon aufgefressen. Das hab' ich gelesen und da dacht' ich immer an Herrn Edgar. Ich freue mich, daß er selbst nicht geschlachtet worden ist – davon werden wir uns ja heute überzeugen, doch die deutsche Suppe soll ihm wieder gut schmecken.«

Und Magdalene verließ das Zimmer mit einem wohlwollenden Lächeln, das aber alsbald erloschen war, sobald sie die Türe hinter sich zugemacht.

Guttmann setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, nachdenklich, aufgeregt. Die bevorstehende Ankunft des Sohnes hatte den regelmäßigen Tiktakgang seines Lebens gestört; es war ein Ereignis in der jahrelangen ländlichen Stille; zerstreut blickte er auf die Ansichtskarten, machte das Briefmarkenalbum auf und zu – nichts vermochte ihn zu fesseln, was sonst sein Stolz, seine Freude war. Er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, zu der er längere Zeit den Schlüssel nicht finden konnte; er hatte ihn so lange 15 Zeit nicht benutzt. Da kam eine Reihe von Bildern zum Vorschein – Edgar als Knabe, als Gymnasiast, als Rekrut. Der Vater vertiefte sich in den Anblick – wie würde er jetzt aussehen? Die hellen schönen Augen mit dem durchdringenden Blick, – sie mußten ihm immer bleiben, mochte ihm nun ein zarter Flaum ums Kinn sprossen oder ein üppiger Vollbart das Gesicht umrahmen, mochte ihn die Tropensonne gebräunt oder lange Mühsale und Beschwerden Falten und Furchen ins Gesicht gezeichnet haben und dann – ganz aus dem Hintergrunde der Schublade, in Florpapier gehüllt, wie aus einem ängstlichen Versteck hervorgeholt, tauchte ein anderes Bild auf, das er nur ängstlich sich umschauend zu betrachten wagte. Es war das Bild einer Frau – sanft und lieblich, etwas zerflossen und schwärmerisch in Blick und Ausdruck – eines jener Gesichter, die sogleich Teilnahme erwecken, die aber auf ein Gemüt deuten, das rascher Hingebung fähig ist.

Es war das Bild seiner Frau.

Er hatte es lange nicht hervorgesucht – jetzt vertiefte er sich in ihre Züge. Ein eigentümliches Gefühl kam über ihn, er glaubte sanfte Harmonikaklänge zu hören, der Duft der Heliotropen, des Parfüms, das sie bevorzugte, schien ihm entgegenzuatmen – und dies glatte dichte goldblonde Haar schien sich nach seiner Hand zu sehnen, die es liebevoll gestreichelt.

Und wie der Traumgeist der Nacht einen Blitzzug von Bildern an unserer Seele vorüberjagt, so ging auch an dem geistigen Auge des Wachenden wie ein Traum sein ganzes Leben vorüber – Bild an Bild, eins ins andere hinübergleitend; nichts ließ sich festhalten und bleibend war nur der wehmütige 16 Eindruck des Vergänglichen und eine tiefe dumpfe Leere nach dem Verschwinden der farbigen und duftigen Ringe des Lichtscheins, der in die Seele gefallen.

Es war eine Einkehr ins Innere; doch sie war scheu und furchtsam. Wenn sich Schritte auf dem Gange hören ließen, packte er schnell das Bild in das raschelnde Papier; denn es war ein feindlicher Geist im Hause, vor dem er seine Gefühle verbergen mußte. Und sie waren ihm selbst so fremd geworden, daß er darüber erstaunte, fast erschrak. Da erklang die dröhnende Stimme der Magdalene draußen im Flur. Eilends packte er die Bilder ein, schob den Schub zu, blieb aber nachdenklich sitzen, so daß die eintretende Magdalene die Achseln zuckte über den versteinerten Gast, in den sich auf einmal der Herr des Rittergutes Schönheim verwandelt hatte.

 


 


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