Jeremias Gotthelf
Die Wassernot im Emmental
Jeremias Gotthelf

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Aber noch hinter diesen Alten, die vorwärts strebten und nicht vorwärts kamen, nicht einmal Atem fanden zu gegenseitigem Jammer, wankte eine jugendliche Gestalt ohne Stock, aber mit gebrochener Kraft; auch sie hatte keinen Atem zum Gehen, keinen zu Worten, nur zum Weinen, und um auch den zu finden, mußte sie alle Augenblicke niedersitzen an des Weges Rand. Wie naß der Boden sei, merkte sie nicht. Es war ein Bäbi, das seinen Hans nur zu liebgehabt hatte im Obergädeli am letzten Signaumarkt im Mai, dem nun die Angst das Herz zusammendrückte, ob Hans nicht treulos es verlassen werde, da es nichts mehr besitze als die Fetzlein an seinem Leibe.

Als Bäbeli so saß in nassem Jammer und im nassen Grase, da fragte es eine Stimme: »He, bist dus, Bäbi; was hockisch da und tuest so nötli?« Es war Hans. Aber Bäbi konnte ihm nicht antworten, es schluchzte, daß es ihns über und über erschütterte. »Tu doch nicht so wüst!« tröstete Hans, »z'pläre trägt dir nichts ab; komm du gleich zu uns, wir haben dir z'werche und z'esse, und verkünden können wir dann ja lassen, sobald es uns anständig ist.« Da wohlete es Bäbi auf einmal, seine Augen glänzten, die Beine wurden ihm wieder leicht, der Atem kam wieder zum Reden; es gab Hans die Hand und sagte: »Ih ha glaubt, du sygisch o son e wüste Hung wie mängen angere u layisch mih hocke, wil ih nüt meh ha, u das het mr fast welle ds Herz abdrücke.« »Du bisch geng e Göhl!« sagte Hans; »wed selligs von mr glaubt hesch, warum hesch mih de ychegla?« »Zürn doch recht nüt!« sagte Bäbi, »aber es machts jetzt afe gar mänge eso, es isch gar e bösi Welt, es isch afe nüt meh drbyzsy.« Glücklich und leicht, Hand in Hand zogen beide den andern nach, und man sah es Bäbi gar nicht an, daß es ihm übel ergangen.

Vereinzelt kamen die Unglücklichen herab zum Grabe ihrer Habe. Der Mann stund trostlos bei dem zerstörten Land, an dessen Verbesserung er jahrelang gearbeitet hatte, bei dem untergrabenen, verschlammten Hause, das erst neu unterzogen oder zurechtgemacht worden war; das Weib sah zu Türe und Fenster hinein nach ihrem Hausgeräte, dem Bette, das erst mit neuen Federn gefüllt, mit neuen Fassenen geziert worden war. Der Anblick wollte ihnen fast das Herz zerreißen. Da hörte der Mann oder das Weib hinter sich ein »Gottlob, daß du da bist!« Es war die Stimme des Vermißten. Und siehe, aus dem Herzen war schon der halbe Jammer gewichen, und ein Plätzchen war frei geworden für den Trost, daß es doch vielleicht nicht so gräßlich kommen werde, als man es sich gedacht, daß Gott wohl noch alles zum Besten leiten werde, da er ja bereits so Teures wiedergegeben, das man verloren geglaubt. Andere stunden da, lautlos, zerschlagen, nur eines Gedankens voll. Gestern waren sie gesessen in diesem Hause, es war ganz gewesen, sie hatten Hausgerät gehabt, Vorräte, fruchtbringendes Land, muntere Kinder; sie waren da gesessen, waren aber nicht zufrieden gewesen, hatten gemurrt und geklagt über mancherlei, hatten geglaubt, der liebe Gott hätte allen gegeben, nur ihnen genommen, hatten das gering geschätzt, was sie empfangen, über das sich gehärmt, was sie nicht hatten; so hatten sie geredet gesunden Leibes, der zu essen und werchen sattsam hatte. Mitten in diesem Grollen hatten die Wasser sie aufgejagt und in die Flucht – und jetzt, wie fanden sie ihr Besitztum wieder, als sie wiederkamen? Da gedachten sie der am gestrigen Tage geführten Reden. Ach, in den Boden hinein hätten sie sinken mögen über derselben Vermessenheit; ach, wie gerne wären sie jetzt zufrieden gewesen mit ihrem gestrigen Zustande, wie gerne wollten sie jetzt Gott danken für seine Güte, wenn es noch wäre wie gestern! Aber er war dahin, dieser Zustand, den sie mit so undankbarem Herzen genossen hatten, und Gott hatte ihnen einen andern gegeben, um an demselben sie Dankbarkeit zu lehren, denn wer im Glücke sie nicht lernt, den unterrichtet Gott durch Unglück. Der verlorne Sohn war bei seinem Vater auch nicht zufrieden; erst als er mit den Schweinen ihre Treber teilte, wußte er, wie gut er es vorher bei seinem Vater gehabt. Tausenden von Menschen, denen der Geier der Unzufriedenheit, der Ungenügsamkeit am Herzen frißt, deren Mund beständig von Klagen überströmt, möchte ich dieses Beispiel vor Augen aufrichten und daran schreiben: »Wer die Gegenwart unzufrieden verachtet, dem kommen selten Tage des Friedens; jeder kommende Tag macht den vergangenen gut, nimmt einen Teil des Glückes, das man nicht geschätzt, bringt eine neue Last, an die man nicht gedacht, und wo das Leben eitel Jammer war, da ist das Ende der größte.« Und an die Rückseite möchte ich schreiben: »Aus dem Herzen kömmt nicht nur alles Böse, sondern auch alles Elend, für welches der Mensch keinen Trost bei Gott sucht oder keinen bei ihm findet.« Am traurigsten aber gestaltete das Unglück sich, wo Unfriede unter der Familie war; hier gab man sich auch in der Not nicht freundliche Blicke. Gerne hätte das eine das andere schuld gegeben an dem ganzen Ereignis, nun ärgerte man sich wenigstens durch gegenseitige Vorwürfe, daß nicht mehr gerettet worden; und neben dem Gram nistete sich der Groll noch tiefer in die Herzen hinein.

Wo aber Friede war in den Gemütern, Friede mit Gott und Friede untereinander, da fand sich auch der Mut wieder und das Vertrauen, vielleicht noch am gleichen Tage, und der Sinn breitete sich in ihren Herzen aus, der zu dem Beten führt: »Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt!« Aber man kann sich nicht vorstellen, wie schwer ein armes Weib hat, zu diesem Sinn zu kommen, ein armes Weib, das mit sechs Kindern zHus war und jetzt mit blutendem Jammer das Stücklein Erdäpfel sucht, welches es im Frühjahr mit so saurem Schweiß bepflanzt hatte, das Stücklein, welches ihm alles in allem war, seine Kuh, seine Schweine, seine Schaal, sein Kornfeld, sein Kabisplätz, sein ganzer Wintertrost. In einem Stübchen wohnt es mit seinen Kindern, um den Hauszins dient oder taunet der Mann, und wenig bleibt von seinem Lohn für die sogenannten Hauskosten; wenn er noch gehörig für die Kleider sorgen kann und für etwas Brot, so stellt er sich schon wacker.

Und so ein arm Weib, das Geld für die Haushaltung aus seiner Kunkel ziehen, die Kinder warten, speisen und lehren muß, das bei anbrechendem Tage hinausmuß, seinen Erdäpfelplätz zu säubern, die Erdäpfel zu setzen, zu putzen, welches das ganze Jahr hindurch zu jedem Hämpfeli Mist Sorge getragen hat wie zu Zuckerbröcklene, die Zeit dazu kaum seinem Rade, seiner Haushaltung abstehlen konnte, den ganzen Sommer durch rechnete, ob es wohl genug Erdäpfel erhalten werde und ob auch gute, denn sie sind ja sein alles in allem, Voressen, Bratis und Dessert – ach, so ein armes Weib, was muß das fühlen, wenn all sein Schweiß, seine Not umsonst war, wenn es seine sechs Kinder sieht und keine Erdäpfel!

Und so ein altes, schitteres Mutterli, das nichts auf Erden mehr hat als ein Bett, ein Rad, sieben Bohnenstauden, sechs Kabislöcher und zwanzig Zeilen Erdäpfel, dem die Gemeinde den Hauszins zahlt, wie muß dem sein, wenn es vor seinem nahen Tode sein Bett, sein Rad, seine Plätzchen verliert! Sein Bett war sein Trost, sein Rad der einzige Freund, die Plätzlein sein Brotkorb, seine Freude; wenn es diese alle verliert und nun gar nichts mehr hat auf Erden, wie muß wohl dem armen Mutterli sein ums Herz? Kann sich wohl eine junge Frau mit Rosen im Gesichte, Gold um den Hals, Seide am Leibe und ringsum die Hülle und Fülle, vorstellen, wie es ihr wäre, wenn Rosen, Gold und Seide verschwunden, sie nichts mehr hätte als um einen schittern Leib einen bösen Kittel, ein Bett, ein Rad, sieben Bohnenstauden, sechs Kabislöcher und zwanzig kurze Zeilen Erdäpfel, und wie ihr dann wäre, wenn noch Bett, Rad, Plätzlein dahingingen? Die junge Frau kann vielleicht dunkel ahnen, wie ihr wäre, wenn Rosen, Gold und Seide schwänden, aber das zweite vermag sie nicht zu fühlen. Sie meint vielleicht, wenn sie nicht mehr hätte als ein Bett, ein Rad und sechs Kabislöcher, so wäre ihr dieser Verlust gleichgültig und würde mit dem andern gehen. Sie irrt, die junge Frau, das kann sie nicht fassen, wie lieb man am Ende das gewinnt, was man einzig noch besitzt – wohl ihr, wenn sie es nie erfassen muß!

So stund Gruppe um Gruppe im wüsten Tale, ratlos, mutlos alle die ersten Stunden. So ungeheuer schien die Verwüstung, so maßlos der Schade, daß niemand zur Arbeit Mut faßte, weil niemand durch Arbeit dem Greuel zu Boden zu kommen hoffte, kein Ende, keinen Nutzen der Arbeit sah. Es waren furchtbare Stunden, und die Sonne schien nicht ins Tal, darum sah es noch grauenvoller in demselben aus, darum waren noch mutloser die Menschen; denn Unendliches vermag die Sonne über die Erde und über die Gemüter, und die, welche am meisten an der Sonne sind, kennen den letzten Teil ihrer Macht am wenigsten.

Von Eggiwyl das Tal nieder sah es ebenfalls traurig und verschlammt aus. Häuser waren beschädigt, Pflanzungen verdorben und mühsam errungenes Vermögen, die Frucht vieljähriger Arbeit, hart mitgenommen in der Holzmatt. Seltener sah man hier das Land mit Steinen überführt, sah Steine meist nur da, wo kein Holz, Unterholz und stämmiges, auf und hinter den Schwellen stund, an welchem der Stoß der Emme sich brach. Wo sie ungehindert floß, in Zug kommen konnte, da riß sie Steine hinein; wo aber Holz die Strömung hemmte, schwebte sie nur und ließ bloß Sand fallen und Schlamm. Lebholz an der Emme und besonders auf den Wehren, wo dessen Wurzeln die stärksten Bänder werden, ist der beste Schutz; wo kein Holz ist, da taugen auch die sonst so nützlichen Tentsche wenig, denn in die Länge vermöchten sie den ungebrochenen Anprall nicht auszuhalten.

Da oben waren freilich keine Tentsche wie unten im Lande, da oben lebte man vertraulicher mit der Emme oder traute mehr auf Gott, ich weiß nicht, welches von beiden. Aber die Emme mißbrauchte furchtbar das leichtsinnige Vertrauen, und Gott zeigte, daß man auf ihn nicht trauen dürfe, wo der Mensch sich selbsten helfen kann. Nun werden die Menschen wohl klug werden und Tentsche bauen; in frechem Mutwillen hat ihnen die Emme selbst das Material dazu freigebig geliefert.

Auch hier sah man Gruppen jammern und Verlornes suchen, sah sie die Stellen suchen, wo ihr Korn gestanden, und wo aus dem Schlamme hie und da eine Ähre trübselig mit versandeten Augen aufblickte, sah sie an Zäunen und an Bäumen weggeschwemmtes Korn suchen, sah sie dort zusammenlesen Flachs und Hanf, die auf der Spreite weggespült worden.

Flachs und Hanf, so mühselig gepflanzt, so sehnsüchtig erwartet, um ein Zinslein daraus zu berichtigen, um aus Kuder und Knöpfen Leintücher machen zu lassen am Platz der alten, verlöcherten, wo bald der Mann der Frau, bald die Frau dem Mann des Morgens helfen mußte, die in die Löcher geratenen Beine ohne Schaden für die Tücher ins Freie zu bringen; Korn, auf das man sich so gefreut hatte, um doch einmal selbst in die Mühle geben, einmal selbst backen, einmal aus eigenem Mehl einen Weißbrei machen zu können an einem Sonntage – nun war das meiste verschwunden oder verdorben.

Wohl las man zusammen, was man an Hängen und Bäumen fand, riß aus dem Schlamm, was man konnte, oder schnitt bloß die Ähren ab, wusch mühselig in Bächen und Brunnen Korn und Hafer, Hanf und Flachs, aber bei aller unendlichen Mühe trug es doch wenig ab. Was so ein arm Mannli fühlen mochte, während es am Bache sein verdorbenes Korn wusch! Der Ertrag eines Jahres verloren, verloren alle gehabte Mühe und Arbeit; neue Arbeit, neue Mühen vor Augen, nur um später mit Mühe wieder säen zu können; ob auch ernten? Das eben frug es mit bitterem Gemüte. Das arme Mannli hatte jahrelang bösgehabt, hatte am letzten Neujahr keinen Wein gehabt über Tisch, seit langem, langem keinen Schoppen getrunken, um einige Neutaler zu erübrigen, weil es sein Stallwerk neu mußte machen lassen, wenn es nicht einfallen, sein Kühlein nicht erfrieren sollte. Oder es wollte einige Kronen abzahlen, die es in der teuren Zeit hatte aufnehmen müssen und seither noch nicht erschwingen konnte. Oder es sollte Bodenzinse und Zehnten abkaufen helfen und entlehnte nicht gerne Geld dazu auf wucherischen Zins. Dafür hatte es geraggeret und gedarbt, und jetzt alles dahin und es zurückgeschlagen für viele Jahre, vielleicht für sein ganzes Leben! Wie mühselig geht es einem solchen Mannli nicht, bis es zum nötigen Kreuzer kömmt, geschweige denn zu einem übrigen; wie beengt ist ihm sein Weg dazu! Es muß ihn herausschlagen aus magerm Lande, dessen Verbesserung ihm über Verstand und Kräfte geht, auf zufälligen Nebenverdienst kann es nicht rechnen, ist abhängig von jeglichem Wetter, ist ausgesetzt einer Menge Unglück und Mißgeschick; sein Kuhli ist sterblich, seine Ziege vergänglich.


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