Maxim Gorki
Mein Weggenosse und andere Erzählungen
Maxim Gorki

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5

Als der Abend kam, entschloß ich mich aus Ärger über meine Mißerfolge und über die ganze Welt zu einem etwas riskanten Streich, den ich bei Einbruch, der Nacht auch zur Ausführung brachte. In der Nacht schlich ich mich mit Schakro leise zur Zollwache heran, neben der drei Schaluppen lagen, mit Ketten an Ringe befestigt, die in die steinerne Mauer des Hafendamms festgeschraubt waren. Es war finster, der Wind wehte, die Schaluppen stießen gegeneinander, die Ketten rasselten . . . Und so konnte ich leicht und bequem einen der Ringe lockern und aus dem Stein herausziehen.

Über uns, in einer Höhe von etwa fünf Arschin, ging ein Soldat von der Zollwache auf und ab und pfiff durch die Zähne. Wenn er dicht über uns stehenblieb, unterbrach ich die Arbeit, aber das war eine überflüssige Vorsicht: er konnte doch nicht annehmen, daß ein Mensch bis an den Hals im Wasser sitzt und dabei riskiert, von einer Welle weggerissen zu werden. Außerdem rasselten die Ketten ununterbrochen auch ohne meine Hilfe. Schakro hatte sich schon auf den Boden einer Schaluppe ausgestreckt und flüsterte mir etwas zu, was ich beim Rauschen der Wellen nicht verstehen konnte. Da hatte ich schon den Ring in meinen Händen . . . Eine Welle ergriff das Boot und schleuderte es im Nu etwa fünf Klafter vom Ufer weg. Ich hielt mich an der Kette fest und schwamm neben dem Boot, dann stieg ich hinein. Wir rissen zwei Bodenplanken heraus, befestigten sie in den Ruderhaken statt der Ruder und fuhren davon . . .

Über uns flogen die Wolken, unter uns tobten die Wellen, und Schakro, der am Steuer saß, verschwand mir bald aus den Augen, indem er zugleich mit dem Hinterteil des Bootes in einen Wasserabgrund stürzte, stieg bald hoch über mir empor und fiel schreiend beinahe auf mich herab. Ich riet ihm, seine Beine an die Bank festzubinden, was ich selbst schon getan hatte, und nicht zu schreien, wenn er nicht wolle, daß der Wachtposten ihn höre. Nun wurde er still. Ich sah einen weißen Fleck an Stelle seines Gesichts. Er hielt die ganze Zeit das Steuer. Wir hatten keine Zeit, unsere Rollen zu tausehen, auch fürchteten wir, im Boote herumzugehen. Ich schrie ihm zu, wie er steuern solle, und er verstand mich sofort und machte alles so schnell, als ob er als Seemann geboren wäre. Die Planken, die uns die Ruder ersetzten, nützten mir wenig und rieben mir nur Schwielen an die Hände. Der Wind wehte uns gerade ins Steuer; ich kümmerte mich wenig darum, wohin es uns trieb, und war nur darauf bedacht, daß das Boot quer zur Meerenge liege. Die Richtung war leicht festzustellen, da wir noch die Lichter von Kertsch sehen konnten. Die Wellen blickten zu uns über Bord herein und rauschten zornig, wenn sie aneinanderprallten; je weiter wir in die Meerenge kamen, um so stärker und lärmender wurden sie. Wir hörten schon ein Brüllen, das den Verstand und die Seele hypnotisierte . . . Das Boot trieb aber immer schneller und schneller, und es wurde sehr schwer, den Kurs einzuhalten. Wir versanken fortwährend in tiefe Abgründe und flogen auf Wasserberge hinauf, die Nacht wurde aber immer finsterer, und die Wolken senkten sich immer tiefer. Die Lichter hinter dem Steuer verschwanden im Finstern, und nun wurde es ganz grauenhaft. Das zornige Wasser schien keine Grenzen mehr zu haben. Es war nichts zu sehen außer den Wellen, die aus der Finsternis dem Boote entgegenflogen. Sie schlugen mir mit Krachen die eine Planke aus der Hand, ich warf die andere selbst auf den Boden des Bootes und hielt mich mit beiden Händen an den Borden fest. Schakro heulte mit wilder Stimme, sooft das Boot in die Höhe sprang. Ich fühlte mich hilflos und ohnmächtig in dieser Finsternis, vom wütenden Elemente umgeben und von seinem Tosen betäubt. Ich blickte mit stumpfer und kalter Verzweiflung um mich und sah ringsum ein schreckliches Einerlei. Überall nichts als diese Wellen mit den weißlichen Kämmen, und die schweren, zerrissenen Wolken über mir glichen gleichfalls den Wellen . . . Ich verstand nur das eine: alles, was um mich geschieht, kann noch unermeßlich stärker und schrecklicher sein, und ich fühlte mich gekränkt, daß es sich zusammennahm und nicht so sein wollte. Dem Tode kann man nicht entrinnen, aber man muß doch dieses leidenschaftslose, alles nivellierende Gesetz irgendwie verschönen, denn sonst ist es gar zu schwer und zu roh. Wenn es mir bevorstünde, im Feuer zu verbrennen oder in einem Sumpfe zu versinken, würde ich mich bemühen, das erste zu wählen, da es doch immerhin anständiger ist . . .

 

»Wollen wir ein Segel aufstellen!« schrie mir Schakro zu.

»Wo ist es?« fragte ich.

»Aus meinem Mantel . . .!«

»Wirf ihn her! Laß das Steuer nicht los . . .!«

Schakro machte sich schweigend an seinem Ende zu schaffen.

»Fang auf . . .!«

Er warf mir seinen Mantel zu. Ich rutschte auf dem Boden des Bootes herum, riß noch eine Planke heraus, zog den einen Ärmel des festen Kleidungsstückes über sie, stellte sie an die Bank, stemmte die Beine gegen sie, und kaum hatte ich den anderen Ärmel und den Schoß des Mantels in die Hände genommen, als etwas Unerwartetes geschah . . . Das Boot sprang ungewöhnlich hoch hinauf, stürzte dann herunter, und ich befand mich plötzlich im Wasser, in der einen Hand den Mantel haltend und mich mit der anderen Hand an den Strick klammernd, der an der Außenseite des Bootes gespannt war. Die Wellen sprangen rauschend über meinen Kopf, und ich schluckte das salzig-bittere Wasser. Es drang mir in die Ohren, in den Mund, in die Nase . . . Ich hielt mich mit beiden Händen am Stricke fest, hob und senkte mich im Wasser und schlug mit dem Kopfe gegen die Bootswand. Ich warf den Mantel ins Innere des Bootes und bemühte mich, selbst hineinzuspringen. Eine von meinen zehn Bemühungen hatte Erfolg; ich setzte mich rittlings auf das Boot und sah im selben Augenblick Schakro im Wasser zappeln; er hielt sich mit beiden Händen an den gleichen Stricken fest, die ich soeben losgelassen hatte. Wie es sich herausstellte, liefen sie um das ganze Boot durch eiserne Ringe, die in die Wandungen eingeschraubt waren.

»Ich lebe!« schrie ich ihm zu.

In diesem Augenblick sprang er hoch über das Wasser empor und stürzte auf den Boden des Bootes. Ich fing ihn auf, und wir befanden uns plötzlich Angesicht zu Angesicht einander gegenüber. Ich saß auf dem Boote wie auf einem Reitpferde, die Füße in den Stricken wie in Steigbügeln, aber das war recht unsicher: jede beliebige Welle hätte mich leicht aus dem Sattel werfen können. Schakro hatte sich mit den Händen an meine Knie festgeklammert und den Kopf mir an die Brust gedrückt. Er zitterte am ganzen Leibe, und ich fühlte, wie seine Kinnbacken bebten. Ich mußte etwas tun. Der Boden des Bootes war schlüpfrig, wie mit Butter bestrichen. Ich sagte Schakro, er solle wieder ins Wasser steigen und sich an den Stricken an dem einen Borde festhalten; ich würde mich an der anderen Seite ebenso einrichten. Statt zu antworten, fing er an, mich mit dem Kopfe vor die Brust zu stoßen. Die Wellen sprangen in wildem Tanze fortwährend über uns, und wir konnten uns kaum festhalten; ein Strick schnitt sich mir schmerzhaft ins Bein. Überall, so weit der Blick reichte, entstanden hohe Wasserberge, um dann brausend wieder zu verschwinden.

Ich wiederholte Schakro das Gesagte, schon im Tone eines Befehles. Er fing an, mich noch stärker mit dem Kopf vor die Brust zu stoßen. Ich durfte nicht zögern. Ich riß seine Hände eine nach der anderen von mir los und fing an, ihn ins Wasser zu stoßen, wobei ich darauf achtete, daß er mit den Händen die Stricke packte. Da geschah etwas, was mich mehr als alles andere in dieser Nacht erschreckte.

»Du ertränkst mich?« flüsterte Schakro und blickte mir ins Gesicht.

Es war wirklich schrecklich! Schrecklich war seine Frage, noch schrecklicher der Ton der Frage, aus dem ein scheues Sichschicken in die Tatsache, ein demütiges Flehen um Gnade und der letzte Seufzer eines Menschen, der jede Hoffnung, einem bösen Ende zu entrinnen, aufgegeben hat, herausklangen. – Noch schrecklicher aber waren seine Augen im totenblassen, nassen Gesicht . . .!

Ich rief ihm zu: »Halt dich fester!« und stieg selbst, mich am Stricke festhaltend, ins Wasser. Ich stieß auf etwas mit dem Fuße und konnte im ersten Moment vor Schmerz nichts begreifen. Aber später begriff ich es. Etwas Heißes stieg in mir auf, ich war berauscht und fühlte mich so stark wie noch nie. »Land!« schrie ich.

Vielleicht riefen die großen Seefahrer, die neue Länder entdeckten, dieses Wort mit größerem Gefühl als ich, aber ich zweifle, daß sie es lauter als ich schreien konnten. Schakro heulte auf, und wir beide sprangen ins Wasser. Unsere Freude wurde aber gleich abgekühlt; das Wasser reichte uns bis über die Brust, und nirgends waren sichere Zeichen eines trockenen Ufers zu sehen. Die Wellen waren hier schwächer und sprangen nicht mehr so, sondern rollten träge über uns weg. Zum Glück hatte ich die Schaluppe noch nicht losgelassen. Schakro und ich stellten uns nun an beide Bordseiten, hielten uns an den Rettungsstricken fest und gingen vorsichtig weiter, das Boot, das wir wieder in seine natürliche Lage gebracht hatten, hinter uns nachziehend. Schakro murmelte etwas und lachte. Ich sah mich besorgt um. Es war dunkel. Hinter uns und rechts war das Rauschen der Wellen viel stärker, vor uns und links schwächer; wir gingen nach links. Der Boden war hart und sandig, aber voller Löcher; stellenweise erreichten wir nicht den Boden und ruderten mit den Füßen und der einen Hand, während wir uns mit der anderen am Boote festhielten; stellenweise ging uns aber das Wasser nur bis ans Knie. An den tiefen Stellen heulte Schakro, und ich zitterte vor Angst. Und plötzlich die Rettung: vor uns leuchtete ein Feuer auf . . .

Schakro brüllte, was er konnte; ich vergaß aber für keinen Augenblick, daß das Boot dem Staate gehörte, und brachte das sogleich auch ihm in Erinnerung. Er verstummte, fing aber nach einigen Minuten zu schluchzen an. Ich konnte ihn nicht beruhigen: ich wußte nicht, womit.

Das Wasser wurde immer seichter . . . es reichte uns bis ans Knie . . . bis an die Knöchel . . . Nun ist schon gar kein Wasser mehr da! Wir hatten das Staatseigentum noch immer mitgeschleppt; nun hatten wir aber keine Kraft mehr dazu und ließen das Boot liegen. Quer über unseren Weg lag eine schwarze Baumwurzel. Wir sprangen über sie hinüber und gerieten mit unseren bloßen Füßen in ein stachliges Gras. Es tat weh und war seitens der Erde gar nicht gastlich, wir schenkten dem aber keine Beachtung und liefen auf das Feuer zu. Es brannte etwa eine Werst von uns entfernt und schien uns, lustig flackernd, entgegenzulachen, aber ringsum wogte schrecklich die Finsternis . . .


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