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Ich traf ihn im Hafen von Odessa. Seine kräftige, stämmige Figur und sein von einem hübschen Bärtchen umrahmtes Gesicht von kaukasischem Typus zogen schon seit drei Tagen meine Aufmerksamkeit auf sich. Er tauchte immer wieder vor mir auf: ich sah, wie er stundenlang auf dem Granit der Mole stand, den Griff seines Stockes im Munde haltend und mit seinen schwarzen, mandelförmigen Augen traurig das trübe Wasser des Hafens betrachtend; zehnmal am Tage kam er im Schritt eines Flaneurs an mir vorbei. Wer mag er wohl sein? Ich begann ihn zu beobachten. Wie um mich zu necken, kam er mir immer öfter vor die Augen, und schließlich gewöhnte ich mich daran, seinen modernen karierten hellen Anzug, seinen schwarzen Künstlerhut, seinen trägen Gang und selbst seinen stumpfen, gelangweilten Blick schon aus der Ferne zu erkennen. Er war absolut unverständlich hier im Hafen, beim Pfeifen der Dampfschiffe und Lokomotiven, beim Rasseln der Ketten, bei den Schreien der Arbeiter, in diesem tollen und nervösen Getriebe des Hafens, das den Menschen von allen Seiten erfaßt und seinen Verstand und seine Nerven abstumpft. Alle Menschen im Hafen waren von den riesenhaften Mechanismen geknechtet, die von ihnen die wachsamste Aufmerksamkeit und unermüdliche Arbeit erforderten; alle machten sich an den Dampfern und Eisenbahnwagen zu schaffen und waren mit dem Ausladen und Einladen beschäftigt . . . Alle waren erregt und ermüdet, alle liefen hin und her, schrien und fluchten im Staube und Schweiß, und mitten in diesem Arbeitsgetriebe spazierte langsam die seltsame Gestalt mit dem zu Tode gelangweilten Gesicht, gleichgültig gegen alles . . .
Endlich, am vierten Tage, als ich um die Mittagstunde auf ihn stieß, entschloß ich mich, um jeden Preis zu erfahren, wer er sei. Ich setzte mich nicht weit von ihm mit einer Wassermelone und einem Brot hin, verzehrte mein Mittagessen, betrachtete ihn und überlegte mir, wie ich auf eine möglichst diskrete Weise ein Gespräch mit ihm beginnen könnte.
Er stand an einen Berg von Teekisten gelehnt, blickte ziellos um sich und trommelte mit den Fingern auf seinen Stock, als betätigte er die Klappen einer Flöte.
Es fiel mir, der ich als Barfüßler gekleidet war, den Gurt des Verladers am Buckel trug und mit Kohlenstaub beschmutzt war, schwer, ihn, den eleganten Herrn, in ein Gespräch zu ziehen. Aber zu meinem Erstaunen sah ich, daß er die Augen nicht von mir wandte und daß in ihnen ein unangenehmes, gieriges, tierisches Feuer brannte. Ich begriff, daß das Objekt meiner Beobachtung Hunger hatte, und fragte ihn leise: »Wollen Sie essen?«
Er fuhr zusammen, fletschte gierig wohl an die hundert kräftige gesunde Zahne und blickte sich gleichfalls ängstlich um.
Niemand beobachtete uns. Nun schob ich ihm eine halbe Melone und ein Stück Weizenbrot hin. Er packte beides und verschwand, indem er sich hinter einem Berg von Waren hinhockte. Ab und zu blickte von dort sein Kopf mit dem in den Nacken geschobenen Hut, der die dunkle, schweißbedeckte Stirne freiließ, hervor. Sein Gesicht erstrahlte in einem breiten Lächeln, und er blinzelte mir aus irgendeinem Grunde fortwährend zu, ohne auch nur für eine Sekunde mit dem Kauen aufzuhören. Ich winkte ihm zu, daß er auf mich warten solle, lief fort, kaufte Fleisch, gab es ihm und stellte mich neben den Kisten so hin, daß ich den armen Gecken vollständig vor fremden Blicken schützte. Bis dahin hatte er während des Essens immer gierig um sich geschaut, als fürchtete er, daß man ihm das Stück wieder wegnehmen würde; nun fing er an, ruhiger zu essen, aber noch immer hastig und gierig, so daß es mir weh tat, einen so ausgehungerten Menschen zu sehen, und ich ihm den Rücken kehrte.
»Ich danke! Ich danke sehr!« sagte er mit kaukasischem Akzent und schüttelte meine Schulter. Dann packte er meine Hand, drückte sie und fing an, sie ganz erbarmungslos zu schütteln.
Nach fünf Minuten erzählte er mir schon, wer er sei.
Er war Georgier, Fürst Schakro Ptadse, der einzige Sohn seines Vaters, eines reichen Gutsbesitzers aus Kutaïß; er war als Kontorist an einer der Stationen der transkaukasischen Eisenbahn angestellt gewesen und hatte dort mit einem Kollegen zusammengewohnt. Dieser Kollege war plötzlich verschwunden und hatte das Geld und alle Wertsachen des Fürsten Schakro mitgenommen; der Fürst war nun aufgebrochen, ihn zu verfolgen. Zufällig hatte er erfahren, daß sein Kollege eine Fahrkarte nach Batum gelöst hatte, und er begab sich dorthin. In Batum erfuhr er aber, daß sein Kollege nach Odessa gefahren sei. Nun nahm Schakro von seinem Freunde, einem gewissen Wano Swanidse, einem Friseur, der mit ihm im gleichen Alter stand, aber ein ganz anderes Signalement hatte, dessen Paß und begab sich nach Odessa. Hier meldete er der Polizei den Diebstahl, und man versprach ihm, den Dieb zu finden; er wartete zwei Wochen, verzehrte sein ganzes Geld und hatte nun seit drei Tagen nichts im Munde gehabt.
Ich hörte seinen Bericht, der aufrichtig klang und mit Flüchen vermischt war, sah ihn an, glaubte ihm, und der Junge tat mir leid. Er war fast noch ein Knabe, kaum zwanzigjährig; seiner Naivität nach könnte man ihn sogar für noch jünger halten. Er sprach oft und mit tiefer Empörung von der großen Freundschaft, die ihn mit seinem diebischen Kollegen verband; dieser hatte ihm ja so wertvolle Sachen gestohlen, daß der strenge Vater Schakros seinen Sohn ganz gewiß »mit einem Dolch erstechen« würde, wenn er das Gestohlene nicht wiederfände. Ich dachte mir, daß, wenn ich diesem Burschen nicht hülfe, die gierige Stadt ihn ganz gewiß verschlingen würde. Ich wußte, wie Menschen oft durch die unbedeutendsten Zufälle in die Klasse der Barfüßler geraten; Fürst Schakro hatte aber alle Chancen, in diese ehrenwerte, doch wenig geachtete Gemeinschaft zu kommen. Ich wollte ihm gerne helfen. Mein Verdienst reichte aber für ein Billett nach Batum nicht aus; darum ging ich in die Dampfschiffbüros, um eine Freikarte für Schakro zu erbetteln. Ich wies den Leuten mit zwingenden Gründen die Notwendigkeit der Hilfe nach, sie aber schlugen mir die Hilfe mit ebenso zwingenden Gründen ab. Ich machte Schakro den Vorschlag, zum Polizeimeister zu gehen und sich von ihm eine Fahrkarte geben zu lassen; er aber wurde verlegen und erklärte, daß er nicht hingehen würde. Warum? Es stellte sich heraus, daß er dem Besitzer der Herberge, in der er wohnte, Geld schuldete und, als man von ihm die Bezahlung forderte, jemand geschlagen hatte; dann hatte er sich aus dem Staube gemacht und war nun mit Recht der Ansicht, daß die Polizei ihm für die Nichtbezahlung der Schuld und für den Schlag keinen Dank sagen würde; übrigens wußte er nicht mehr genau, ob er nur einen Schlag, oder zwei, drei oder vier Schläge verabreicht hatte. Die Lage wurde kompliziert. Ich entschloß mich, so lange zu arbeiten, bis ich genügend Geld für eine Fahrkarte bis Batum verdient haben würde; doch leider zeigte es sich, daß dies nicht so bald eintreten würde, denn der ausgehungerte Schakro aß für drei und sogar noch mehr. Um jene Zeit standen infolge des Andranges von Leuten aus den von der Hungersnot betroffenen Gouvernements die Tageslöhne im Hafen sehr niedrig, und von den achtzig Kopeken, die ich am Tage verdiente, verzehrten wir beide sechzig. Außerdem hatte ich noch vor der Begegnung mit dem Fürsten beschlossen, in die Krim zu gehen, und wollte nicht lange in Odessa bleiben. Nun machte ich dem Fürsten Schakro den Vorschlag, mit mir zu Fuß mitzukommen, und zwar unter folgenden Bedingungen: wenn ich ihm keinen Weggenossen bis Tiflis finde, so werde ich ihn selbst dorthin bringen; wenn ich einen finde, so werden wir uns trennen.
Der Fürst blickte auf seine eleganten Schuhe, auf seinen Hut und auf seine Hose, strich über seinen Rock, sann eine Weile nach, seufzte einigemal und erklärte sich schließlich einverstanden. Und so brachen wir beide zu Fuß aus Odessa nach Tiflis auf.