Maxim Gorki
Ein Verbrechen
Maxim Gorki

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Sechstes Kapitel

Sie waren schon fünf Werst gefahren, als der Köhler endlich mit seinem Nachbarn ein Gespräch anfing:

»Du – was bist du eigentlich für einer?«

»Ein Mensch!« sagte Salakin zwischen den Zähnen durch.

Es war bitter kalt beim Fahren, Salakin fror es, daß ihm die Schauer ununterbrochen den Rücken hinunterliefen. Das Schneetreiben hatte fast ganz aufgehört, aber es blies ein scharfer Wind. Zweimal schon war Salakin aus dem Schlitten gesprungen und ein Stück auf der Straße nebenher gelaufen, in der Hoffnung, davon warm zu werden. Aber das Laufen in dem tiefen, lockeren Schnee wurde ihm schwer, bald war er müde und machte sich wieder in den Schlitten hinein, um nur noch mehr zu frieren, als zuvor. Und jedesmal, wenn er aus dem Schlitten gesprungen war, hatte der Köhler, der in einen dicken Pelz gehüllt war, aus seinem Ärmel einen kurzen Knittel gezogen, an dessen Ende eine Kette hing, und am Ende der Kette ein Pfundgewicht. Salakin wußte, daß ein solches Instrument Totschläger genannt wird und fühlte, daß eine Wut, ebenso heftig, wie die Kälte, sein Herz zusammenzog.

»Ein Mensch – das ist jeder!« sagte der Köhler, »ich frage dich ja, was du bist?«

»Ich – nichts! Ein Heimatloser, ich . . .« erwiderte Salakin und rief dann nach dem vorderen Schlitten hinüber: »Wanja! – Lebst du noch?«

»Ich lebe schon noch,« antwortete Wanjuschka nicht sehr laut.

»Tüchtig durchgefroren?«

»Ja . . .«

»Ich brauche euch nur anzuschauen,« sagte der Köhler brummend, »ihr seid arme Teufel. Beides abgerissene Lumpen . . . Was ihr für welche seid . . .? Faulpelze, das ist ja ganz klar . . .«

Salakin saß in sich zusammengezogen und biß die Zähne fest aufeinander, damit sie nicht klapperten.

Er blickte rückwärts und sah durch die jetzt nur noch vereinzelt fallenden Flocken eine öde, bläuliche Fläche. Sie hauchte ihm Kälte und Gram ins Gesicht. Und in ihr war nichts, an das der Blick sich hätte heften können . . .

»Siehst du, wir Sjemakins, – drei Brüder sind wir. Wir brennen Kohlen, mußt du wissen, und führen sie zur Stadt, in die Spritfabrik . . . ja. Wir leben in Frieden und gemeinsamer Arbeit. Wir haben Essen, Kleider und Schuh . . . alles, wie sich's gehört, Gott sei Dank! Wer zu arbeiten versteht und nicht faulenzt und nicht herumtrödelt, der hat immer ein gutes Leben . . . Meine älteren Brüder sind verheiratet . . . Und ich heirate jetzt, nach den Feiertagen, auch . . . So ist das! Wer arbeiten kann, der hat ein leichtes Leben . . .«

Das Pferd konnte kaum laufen, so schwer es sich in Kummet legte. Der Schlitten schleuderte, und Salakin schwankte, wie eine Nuß, die man auf der flachen Hand tanzen läßt.

Die langweiligen, dumpfen, schweren Worte des Köhlers legten sich ihm auf die Brust wie kalte Ziegelsteine, sie drückten ihn, und ihm wurde weh und übel von der dumpfen Stimme dieses Menschen.

»Wanjuschka!« schrie er.

»Was?«

»Du solltest ein Stückchen laufen . . .«

»Wozu?« fragte Kusin mit schwacher Stimme.

»Erfriere nur nicht . . .«

»Ach nein . . .«

Der Köhler seufzte, dann lachte er auf, wischte sich mit dem Ärmel die Nase und begann wieder:

»Diese Leute, diese Leute! Und was habt ihr für ein Leben? Kälte, Hunger . . . Ist das ein Leben für einen Menschen? Gut muß man leben . . .«

»Teil' dein Geld mit mir, dann werd' ich schon gut leben!« sagte Salakin wütend.

»Was?«

»Teil' mit mir, sag ich . . .«

»Ich werd' dir was teilen! Kennst du das?«

Vor Salakins Augen schaukelte sich an seiner Kette das Gewicht. Er sah die höhnisch gefletschten Zähne in dem Gesicht des Köhlers, das schwarz war, wie bei einem Teufel. Und auf einmal war es, als ob ein Feuer Salakin erfaßt hätte, es war, als zerrisse sein Herz in der Brust und eine Flamme bräche hervor, und diese Flamme schlug in seinen Kopf hinauf und färbte alles vor seinen Augen mit einem blutigen Rot. Aus aller Kraft schlug er mit der Rechten rückwärts aus und traf den Köhler mit dem Ellbogen ins Gesicht, daß er auf den Rücken fiel. Im selben Augenblick schmetterte das Gewicht zwischen seine Schulterblätter nieder, ein heftiger Schmerz fraß sich in seinen Körper und verschlug ihm den Atem.

»Hilfe! . . . Mörder! . . .« schrie der Köhler gellend auf.

Aber Salakin warf sich mit seinem ganzen Gewicht über ihn, umkrallte mit den Fingern den Hals des Köhlers, den er fest zusammendrückte, stieß ihn mit den Knieen in den Bauch und brüllte aus vollem Halse:

»Na! Sag noch was! Schrei doch! Sag noch was! . . .«

Der Köhler knirschte, verbiß sich mit den Zähnen in die Kleider auf Salakins Schulter, wand sich unter ihm, wie ein Fisch unter dem Wasser, und suchte mit den Händen gleichfalls an seinen Hals zu kommen. Der Totschläger war ihm aus den Fingern geglitten, hing aber mit einem Riemen an seinem Handgelenk. Und so berührte er Salakins Körper, und jede Berührung ließ dessen Angst wachsen, wenn sie auch keinen Schmerz machte.

»Wanjuschka! Zu Hilfe!« schrie Salakin mit wilder Stimme.

Wanjuschka lag, vor Kälte ganz zusammengezogen, unter die leeren Kohlensäcke vergraben, und als er den Schrei des Köhlers gehört hatte, hatte ihn das Entsetzen gepackt. Mit einem Schlage, instinktiv, erriet er, was dort geschah, und versteckte seinen Kopf noch tiefer unter den Säcken . . . Ich werde sagen – ich habe geschlafen . . . ich habe nichts gehört . . . überlegte er schnell. Aber als der Hilferuf seines Genossen ertönte, erzitterte er am ganzen Leibe und sprang aus dem Schlitten, wie ein Schneeklumpen von einem Pferdehuf emporgeschleudert wird. Wie ein Funken war in seinem Hirn der Gedanke aufgeblitzt, daß der Köhler, wenn er Salakin bezwungen hätte, auch ihn, Wanjuschka, totschlagen würde. Und als er neben diesen zwei menschlichen Gestalten war, die, in einen einzigen Riesenknoten verschlungen, sich wanden, als er das blutüberströmte, aber dennoch schwarze Gesicht des Köhlers erblickte und den Totschläger, der an seiner Rechten baumelte und nach dem er mit zitternden schwarzen Fingern tastete, – da ergriff Wanjuschka diese Hand und begann an ihr zu brechen, sie zu biegen, sie aus dem Gelenk zu drehen . . .

Das kleine, zottige Pferdchen mit den traurigen Augen ging nickenden Kopfes ruhig seines Weges, irgend einem Ziel zu in der kalten, toten Ferne, und zog die drei Menschen, die sich zähneknirschend und wie unsinnig in dem Schlitten wälzten. Und das andere Pferd, als hätte es Furcht, die Fäuste und Füße dieser Menschen könnten bald auch über sein Fell geraten, begann langsam in schnelleren Trab zu fallen und den Abstand zwischen sich und seinem Stallgefährten immer größer werden zu lassen.

 


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