Maxim Gorki
Meister-Erzählungen
Maxim Gorki

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Jemeljan Pilay

»Es bleibt weiter nichts übrig, als nach der Saline zu gehen! Das ist zwar die allerverfluchteste Arbeit, aber man muß sie ergreifen, weil man sonst noch vor Hunger krepiert.«

Indem er dies sagte, zog mein Gefährte Jemeljan Pilay zum zehnten Male seinen Tabaksbeutel aus der Tasche, seufzte, als er sich überzeugt hatte, daß derselbe ebenso leer war wie gestern, spie aus und fing an zu pfeifen, indem er sich auf den Rücken warf und den wolkenlosen, schwüleatmenden Himmel ansah. Wir lagen auf einer sandigen Landzunge etwa drei Werst von Odessa, das wir verlassen hatten, weil wir keine Arbeit fanden, und da uns hungerte, erörterten wir jetzt die Frage, wohin gehen. Jemeljan streckte sich auf dem Sande aus, den Kopf nach der Steppe, die Füße nach dem Meere, und die auf das Ufer laufenden, leise rauschenden Wellen wuschen seine nackten und schmutzigen Füße. Vor der Sonne blinzelnd, dehnte er sich bald wie eine Katze, bald wälzte er sich tiefer ins Meer, und da rollte eine Welle fast bis an seine Schultern. Das behagte ihm, denn es versetzte ihn in eine träg-melancholische Stimmung.

Ich blickte nach dem Hafen, wo sich ein dichter Mastenwald erhob, von schweren, schwarzgrauen Rauchwolken eingehüllt, und von wo über das Meer das disharmonische Geräusch der Ankerketten tönte, das Pfeifen der Lokomotiven, welche das Frachtgut heranschafften, und die lebhaften Stimmen der Arbeiter, welche die Schiffe beluden, Ich erblickte dort nichts, das unsere erloschene Hoffnung auf Erwerb neu belebt hätte, und sagte aufstehend zu Jemeljan:

»Nu, wohlan, gehen wir nach der Saline!«

»So . . . geh! . . . Wirst du's denn zustande bringen?« fragte er gedehnt, ohne mich anzusehen.

»Das werden wir dort sehen.«

»So gehen wir also?« wiederholte Jemeljan, ohne ein Glied zu rühren.

»Nu, natürlich!«

»Aha! Nu, recht so . . . gehen wir denn! Und dies verfluchte Odessa – der Teufel hol's – bleibt, wo's ist. Hafenstadt! Daß dich die Erde verschlänge!«

»Schon gut, steh auf und laß uns gehen; Schimpfen hilft nicht.«

»Wo gehen wir hin? Nach der Saline . . . So. Aber, du wirst sehen, Brüderchen, daß doch nichts dabei herauskommt, wenn wir auch hingehen.«

»Aber du hast doch gesagt, wir müßten hingehen.«

»Das ist wahr, ich hab's gesagt. Was ich gesagt habe, hab' ich gesagt; meine Worte verleugne ich nicht. Aber daß nichts dabei herauskommen wird, ist auch wahr.«

»Warum denn?«

»Warum? Glaubst du denn, daß man dort auf uns wartet, daß es heißen wird: Bitte sehr, Herr Jemeljan und Herr Maxim, seid so gut, rackert euch ab und empfangt unsere Groschen. Nu nein, so pflegt es nicht zu sein. So steht die Sache: jetzt sind wir beide voll und ganz Herren unserer Haut.«

»Nu, schon gut, genug! Wir wollen gehen!«

»Warte! Sollen wir nun zu dem Herrn Salinenverwalter gehen und mit aller Ehrerbietung zu ihm sagen: Geehrter Herr, hochverehrter Schinder und Blutsauger, hier sind wir, Ihnen unsere Haut anzubieten, ob es Ihnen nicht gefällig ist, sie für sechzig Kopeken den Tag abzuschinden! Und dann folgt . . .«

»Wohlan, steh auf und laß uns gehen. Bis zum Abend kommen wir nach der Fischerei, wir helfen das Netz herausziehen und – bekommen vielleicht Abendbrot.«

»Abendbrot? Das ist wahr. Die Fischer geben zu essen; sie sind ein gutes Volk. Gehen wir, gehen wir . . . Aber was Vernünftiges machen wir beide doch nicht ausfindig, Brüderchen, denn – schon die ganze Woche hat sich nichts für uns getroffen, und so wird's bleiben.«

Ganz durchnäßt stand er auf, reckte sich und steckte die Hände in die Taschen seiner Hosen, die er aus zwei Mehlsäcken genäht hatte, stöberte darin umher und besah humoristisch seine leeren Hände, nachdem er sie herausgezogen hatte und vor's Gesicht hielt.

»Nichts! . . . Vier Tage such' ich schon und immer nichts! Das sind Sachen, Brüderchen.«

Wir gingen am Ufer entlang, hin und wieder Bemerkungen austauschend. Die Füße sanken in den nassen Sand ein, der mit Muscheln vermengt war, die unter den sanften Schlägen der auflaufenden Wellen ein melodisches Geräusch hervorbrachten. Hier und da fanden sich, von den Wellen ausgeworfen, gallertartige Medusen, Fischchen, schwarze, durchfeuchtete Holzstückchen von seltsamen Formen. Ein prächtiger frischer Wind kam vom Meere her, fächelte uns Kühlung zu und flog, kleine Sandstaubwirbel erhebend, in die Steppe.

Der immer lustige Jemeljan ließ sichtlich den Kopf hängen, und ich suchte ihn zu zerstreuen, als ich es bemerkte:

»Nu, Jemeljan, erzähle etwas, vielleicht aus deinem Leben!«

»Ich möchte schon erzählen, Brüderchen, aber mit dem Reden geht's schwach, weil – der Magen leer ist. Das Wichtigste am Menschen ist – der Magen, und was für Krüppel man auch findet – ohne Magen ist keiner! Ist der Magen befriedigt, dann ist auch der Geist munter; jede menschliche Tätigkeit hat im Magen ihren Ursprung . . . nu, das weißt du ja auch selbst.«

Er schwieg.

»Ach, Bruder, wenn mir jetzt das Meer – bums! – tausend Rubel zuwürfe! Gleich würde ich eine Schenke aufmachen, du solltest mein Gehilfe werden, und ich selbst machte mir mein Bett unter dem Ladentisch und leitete ein Rohr aus dem Fäßchen gerade in den Mund. Wenn ich dann Lust bekäme, am Quell der Freude und Heiterkeit zu trinken, würde ich gleich kommandieren: Maxim, dreh den Kran auf! – und . . . gluck-gluck-gluck . . . direkt in den Hals! Schluck, Jemeljan! Hol' mich der Teufel, das wäre schö-ön. Den Bauern aber, den Herrn der schwarzen Erde – ach du! . . . schinde . . . zieh's Fell ab! den kehr' um und um. Kommt er, sich nach dem Rausch zu stärken – ›Jemeljan Pawlitsch, gib mir ein Gläschen auf Borg.‹ Ah? . . . Was? . . . Auf Borg?! Ich gebe nichts auf Borg! – ›Sei barmherzig, Jemeljan Pawlitsch!‹ – Meinetwegen, ich tu's: bring deinen Wagen her, dann kriegst du ein Maß. Ha-ha-ha! Durchbohren würd' ich den dickwanstigen Teufel!«

»Nu, was bist du aber grausam! Der Bauer hungert auch, sag' ich dir.«

»Wieso? Er hungert? . . . Das ist gut! Das ist recht! Hungere ich denn nicht? Brüderchen, vom Tage meiner Geburt an hungere ich, und das steht nicht im Gesetz geschrieben. N-ja! Er hungert . . . warum . . . warum? Mißernte. Das ist zweifelhaft. Mißernte ist zuerst in seinem Schädel und dann erst auf dem Felde, siehst du! Warum gibt's in anderen Reichen keine Mißernte?! Weil den Leuten dort die Köpfe nicht angewachsen sind, um sich im Nacken zu kratzen; dort wird gedacht, das ist's, Bruder, dort kann man den Regen auf morgen verschieben, wenn er heut nicht gebraucht wird, und die Sonne fortrücken, wenn sie es zu gut meint. Und was für Vorkehrungen haben wir? Gar keine, Brüderchen . . . Nein, das ist ja alles Spaß! Aber wenn man wirklich tausend Rubel und eine Schenke hätte, das wäre Ernst . . .«

Er schwieg und suchte nach seiner Gewohnheit nach seinem Tabaksbeutel, zog ihn heraus, kehrte ihn um, besah ihn und warf ihn, ärgerlich ausspuckend, ins Meer.

Eine Welle ergriff den schmutzigen Beutel und wollte ihn schon vom Ufer forttragen, nachdem sie aber das Geschenk besehen, warf sie es unwillig wieder ans Ufer.

»Du nimmst es nicht? Du lügst, du nimmst es doch!« und den nassen Beutel aufhebend, steckte Jemeljan einen Stein hinein und warf ihn, ausholend, weit ins Meer.

Ich fing an zu lachen.

»Nu, was fletschst du die Zähne? . . . Das sind mir Leute! Liest Bücher, trägt sie sogar bei sich und kann einen nicht mal verstehen! Vieräugiges Gespenst!«

Das bezog sich auf mich, und ich schloß daraus, daß Jemeljan mich ein vieräugiges Gespenst nannte, auf seine hochgradige Empfindlichkeit gegen mich, denn nur in Momenten heftigen Grolles und Hasses auf alles, was existierte, erlaubte er sich, über meine Brille zu spotten; im allgemeinen verlieh mir dieser unfreiwillige Schmuck in seinen Augen so viel Ansehen und Bedeutung, daß er mich in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft nicht anders als mit »Sie« anredete und in achtungsvollem Tone, obwohl ich mit ihm zusammen Kohlen auf einen rumänischen Dampfer lud und, wie er, ganz zerlumpt, zerschunden und schwarz wie der Satan war.

Ich bat ihn um Entschuldigung, und da ich ihn einigermaßen zu beruhigen wünschte, fing ich von ausländischen Staaten zu erzählen an und versuchte ihm zu erklären, daß sich seine Nachrichten von der Herrschaft über Sonne und Wolken auf das Reich der Mythe bezogen.

»Sieh an! So also! Nu! . . . So, so . . .« schaltete er dann und wann ein; aber ich fühlte, daß sein Interesse für ausländische Staaten und den Gang des Lebens in ihnen gegen seine Gewohnheit nicht groß war, und daß er mir fast gar nicht zuhörte, sondern starr vor sich hin in die Ferne blickte.

»Das ist wohl so, lieber Bruder«, unterbrach er mich mit einer unbestimmten Handbewegung. »Aber was ich dich fragen will: wenn uns jetzt ein Mensch mit Geld begegnete, mit vielem Gelde,« unterstrich er, nachdem er von der Seite flüchtig unter meine Brille geschielt hatte, »würdest du ihm, um dich mit allen Attributen zu versehen, den Garaus machen?«

Ich fuhr zusammen.

»Natürlich nein«, antwortete ich. »Keiner hat das Recht, um den Preis eines anderen Menschenlebens sein Glück zu erkaufen.«

»Uhu! Ja . . . So steht es sehr gescheit in den Büchern, aber nur des Gewissens wegen, in Wirklichkeit aber würde derselbe Herr, der sich diese Worte zuerst ausgedacht hat, ginge es ihm schlecht, heißt das, – um seiner Erhaltung willen ganz sicher bei passender Gelegenheit jemand umbringen. Rechte! Da hast du sie, diese Rechte!« und Jemeljans nervige Faust paradierte vor meiner Nase. »Und jeder Mensch richtet sich, nur in verschiedener Weise, stets nach diesem Recht. Das sind auch Rechte!«

Jemeljan runzelte die Stirn, und seine Augen versteckten sich tief unter den langen, verblichenen Brauen.

Ich schwieg, denn ich wußte aus Erfahrung, daß Einwendungen nichts nützten, wenn er böse war. –

Er schleuderte ein Stück Holz, das ihm unter die Füße geraten war, ins Meer und sagte seufzend:

»Wenn man jetzt rauchen könnte . . .«

Rechts in die Steppe hinausblickend, bemerkte ich zwei Schafhirten, die auf der Erde lagen und nach uns hinsahen.

»Guten Tag, Herren!« rief Jemeljan sie an, »habt ihr nicht Tabak?«

Einer der Hirten wandte den Kopf nach dem andern, spie ein zerkautes Hälmchen aus und sagte träge:

»Sie wollen Tabak, eh, Michail?«

Michail sah den Himmel an, als wolle er von ihm die Erlaubnis erbitten, mit uns zu sprechen, und drehte sich nach uns um.

»Guten Tag!« sagte er, »wo geht ihr denn hin?«

»Nach Otschakow, in die Saline.«

»Aha! Seid ihr denn aufgefordert worden?«

Wir schwiegen, indem wir uns neben sie auf die Erde hinstreckten.

»Ah nu, Nikita, nimm den Beutel auf, daß ihn die Krähen nicht aufpicken.«

Nikita schmunzelte sich listig in den Bart und nahm den Beutel auf.

Jemeljan knirschte mit den Zähnen.

»Ihr braucht also Tabak?«

»Wir haben lange nicht geraucht«, sagte ich; von dem Empfange betroffen, konnte ich mich nicht entschließen, offen zu reden.

»Wieso denn? Raucht doch!«

»He du, Teufel! Sei still! Gib, wenn du geben willst, aber mach' dich nicht lustig! Unmensch! Beim Umhertreiben in der Steppe hast du wohl das Herz verloren. Ich komm' dir auf den Kopf, und du muckst nicht mehr!« brüllte Jemeljan mit rollenden Augen.

Die Schafhirten fuhren zusammen und sprangen auf, indem sie ihre langen Stöcke ergriffen und sich dicht nebeneinander stellten.

»Oho, Brüder! so bittet ihr! . . . ah nu, wohlan, kommt! . . .«

Die Teufelskerle wollten raufen, das unterlag bei mir nicht dem geringsten Zweifel. Den geballten Fäusten und in wildem Feuer brennenden Augen nach war auch Jemeljan einer Rauferei nicht abgeneigt. Ich hatte weder Kraft noch Lust, an der Schlacht teilzunehmen, und versuchte, die Parteien zu versöhnen.

»Halt, Brüder! Der Gefährte hat sich ereifert – das ist doch nicht so schlimm. Wißt ihr was, gebt uns Tabak, wenn es euch nicht leid darum ist, und wir gehen unseres Weges.«

Michail sah Nikita an, Nikita – Michail, und beide schmunzelten.

»So hättet ihr gleich sagen sollen!«

Darnach fuhr Michail in die Tasche seines Kittels, zog einen umfangreichen Beutel daraus hervor und reichte ihn mir.

»Ah nu, nimm dir Tabak!«

Nikita steckte die Hand in den Quersack und streckte sie mir dann mit einem großen Brot und einem reichlich mit Salz bestreuten Stück Speck hin. Ich nahm es. Michail schmunzelte und schüttete mir noch Tabak dazu. Nikita knurrte: »Lebt wohl!« Ich dankte.

Jemeljan ließ sich mit finsterer Miene auf die Erde nieder und zischte ziemlich laut: »Teufelsschweine!«

Die Hirten gingen mit schwerem, lässigem Schritt tiefer in die Steppe hinein, indem sie sich häufig nach uns umsahen. Wir setzten uns auf die Erde, ohne sie weiter zu beachten, und aßen das schmackhafte, halbweiße Brot mit Speck. Jemeljan schmatzte laut, summte vor sich hin und wich geflissentlich meinen Blicken aus.

Es wurde Abend. Fern über dem Meere stieg die Finsternis empor und zog darüber hin, die leicht bewegte See mit einem dünnen, bläulichen Flor bedeckend. Es war, als erhöbe sich ebendaselbst vom Meeresgrunde eine Reihe gelblila Wolken, von rötlichem Golde umrandet, und zöge, das Dunkel noch verdichtend, in die Steppe. Und dort in der Steppe, weit – weit an ihrem Rande, breitete sich ein riesiger Purpurfächer aus den Strahlen der untergehenden Sonne aus und färbte Himmel und Erde so sanft und zart. Immerfort schlugen die Wellen ans Ufer, und das Meer – hier rosig, dort tiefblau – war wunderbar schön und machtvoll.

»Jetzt rauchen wir! Zum Henker mit euch, ihr Teufel!« und Jemeljan, der jetzt mit den Schafhirten endgültig abgeschlossen hatte, atmete sichtlich erleichtert auf. »Wollen wir weitergehen oder hier übernachten?«

Ich war zu faul, um weiterzugehen.

»Wir wollen übernachten!« entschied ich.

»Übernachten wir denn!« und er streckte sich auf der Erde aus und betrachtete den Himmel.

Es herrschte Schweigen – Jemeljan rauchte und spie aus; ich blickte rund um mich und genoß schweigend das wundervolle Abendbild. Durch die Steppe tönte das einförmige Plätschern der Wellen am Ufer.

»Einem Geldmenschen eins über den Schädel geben ist doch angenehm – sag', was du willst; besonders, wenn man es verstanden hat, die Sache einzurichten –«, sagte Jemeljan unerwartet.

»Laß das Schwatzen«, bemerkte ich erzürnt.

»Schwatzen?! Was heißt hier schwatzen! Das wird getan glaube mir! Ich bin 47 Jahre alt, und an 20 Jahre zerbreche ich mir um diese Operation den Kopf. Was hab' ich für ein Leben? Ein Hundeleben. Keine Hütte und nichts zu beißen – schlimmer als ein Hund! Bin ich denn ein Mensch? Nein, Bruder, kein Mensch, sondern schlechter als ein Wurm und ein wildes Tier! Wer kann mich verstehen? Niemand kann es! Und wenn ich weiß, daß Menschen gut leben können, warum soll denn ich nicht leben? He? Hol' euch der Henker, ihr Teufel!«

Er drehte mir plötzlich das Gesicht zu und sagte schnell:

»Weißt du, einmal hätte ich es beinahe . . . aber eine Kleinigkeit schlug fehl . . . verflucht sei ich, ich war ein Narr, ich bekam Mitleid. Soll ich's dir erzählen?«

Ich gab schnell meine Zustimmung zu erkennen, und Jemeljan fing an, nachdem er einige Züge geraucht hatte:

»Es war in Poltawa, Bruder . . . vor etwa acht Jahren. Ich war Gehilfe bei einem Holzhändler. Ein Jahr etwa ging es ganz gut, dann ergab ich mich plötzlich dem Trunke und vertrank an sechshundert Rubel von meines Herrn Geld. Ich kam vor Gericht, wurde auf drei Monate in die Arrestantenrotte gesteckt und alles übrige – nach Befund. Ich kam heraus, nachdem ich meine Zeit abgesessen hatte – wohin jetzt? In der Stadt wußte man es; in eine andere überzusiedeln, fehlte es mir an allem Nötigen. Ich ging zu einem bekannten Dunkelmann, der eine Schenke hielt und als Hehler verschiedener schwerer Jungen und ihrer kleinen Angelegenheiten Diebsgeschäfte ausführte. Er war ein guter Bursch, merkwürdig ehrlich und ein kluger Kopf. Ein großer Bücherfreund war er, hatte vielerlei gelesen und war sehr erfahren. Ich ging also zu ihm: ›Ah nu‹, sag' ich, ›Pawel Petroff, hilf mir!‹ – ›Nu,‹ sagt er, ›das kann ich! Der Mensch soll dem Menschen helfen, wenn sie von gleicher Farbe sind. Lebe, trink, iß, gib gut acht!‹ Dieser Pawel Petroff war ein kluger Kopf, Bruder! Ich hatte große Achtung vor ihm, und er liebte mich auch sehr. Tags saß er oft hinter dem Ladentisch und las aus einem Buche von französischen Räubern vor . . . alle seine Bücher handelten von Räubern, und ich hörte zu . . . wunderbare Burschen waren es und vollbrachten wunderbare Taten – und immer fielen sie gehörig hinein. Gleich ging's um Kopf und Kragen – o weh! – und am Ende des Buches plötzlich – erwischt! vor Gericht und basta! und alles war vorbei! –

Einen Monat und den anderen bringe ich bei diesem Pawel Petroff zu, höre sein Lesen und verschiedene Gespräche mit an, sehe – dunkle Burschen kommen und bringen glänzende Sachen: Uhren, Armbänder und dgl., und ich finde, daß in all ihren Operationen für keinen Heller Verstand ist. Haben sie etwas gestohlen, und Pawel Petroff gibt dafür die Hälfte des Wertes – er bezahlte ehrlich, Bruder – gleich, heda! gib her! . . . Schmausen, Zechen, Lärmen und – nichts bleibt übrig! Ein lumpiges Geschäft, Bruder. Bald wird der eine abgefaßt, und bald der andere . . .

Aus welchen wichtigen Gründen? Sie waren eines Einbruchs verdächtig, bei dem für hundert Rubel gestohlen worden war! – Hundert Rubel! Gilt denn ein Menschenleben hundert Rubel? – Dummköpfe! . . . Da sage ich denn zu Pawel Petroff: ›Das ist alles dumm, Pawel Petroff, und nicht wert, daß man die Hand anlegt‹ – ›Hm! wie soll ich dir sagen?‹ erwidert er. ›Einerseits,‹ sagt er, ›das Hühnchen pickt ja ein Körnchen auf, aber andererseits – in allem liegt wirklich keine Selbstachtung; das ist es eben! Wird denn ein Mensch, der seinen eigenen Wert kennt, seine Hände um einen Zweigroschendiebstahl mit einem Einbruch beflecken? Niemals. Würde denn zum Beispiel ich, ein Mensch, dessen Verstand europäische Bildung berührt hat, mich für hundert Rubel verkaufen?‹ sagt er und fängt an Beispielen mir zu zeigen an, wie ein Mensch handeln muß, der Selbstbewußtsein hat. Lange redeten wir in dieser Weise. Dann sage ich zu ihm: ›Mir liegt es schon lange im Sinn, mein Glück auf diesem Wege zu versuchen. Sie sind ein erfahrener Mensch, stehen Sie mir mit Ihrem Rate bei, das heißt, wie und was?‹ ›Hm!‹ sagte er, ›das kann ich! Möchtest du nicht ein Geschäftchen auf eigene Gefahr und Rechnung machen, ohne Hilfe? Zum Beispiel so . . . am Ersten kommt Obojmoff mit Trabern über die Worskla von seinem Stapelplatz zurück; er hat immer tüchtig Geld bei sich, wie du weißt, und auf dem Holzplatze gibt ihm der Gehilfe noch den Erlös, den Wochenerlös, und sie verkaufen täglich für dreihundert Rubel und mehr. Was meinst du dazu?« Ich überlegte. Obojmoff war derselbe Kaufmann, bei dem ich Gehilfe gewesen war. Die Sache war zwiefach gut: ich konnte mich für sein Verfahren gegen mich rächen und einen schmackhaften Bissen einheimsen. ›Das muß überlegt werden‹, sagte ich. ›Ohne das geht's nicht‹, antwortet Pawel Petroff.«

Er schwieg und drehte langsam eine Zigarette. Das Abendrot war beinahe erloschen, nur ein schmaler, immer mehr verblassender, rosiger Streifen färbte leise den Saum einer flaumigen Wolke, die wie ermattet regungslos an dem sich verfinsternden Himmel verharrte. So still und traurig war es in der Steppe, und das unaufhörlich vom Meere herübertönende, tosende Plätschern der Wellen verlieh mit seinem einförmigen, sanften Klange dieser Stille und Trauer noch einen tieferen Ton. Von allen Seiten erhoben sich seltsame, lange, graue Schatten und glitten über die ebene, von der Tagesschwüle erschöpfte, fest schlafende Steppe lautlos zu uns hin. Und über dem Meere flammten eins nach dem andern hell die Sternlein auf, so klar und so neu, als wären sie erst gestern zur Zierde dieses tiefen, samtenen südlichen Himmels gemacht worden.

»N–ja, ich überlegte mir die Sache, und in derselben Nacht lag ich an der Worskla im Gebüsch und hatte einen eisernen Spannagel von zwölf Pfund Gewicht bei mir. Ich weiß es noch, es war Ende Oktober und die Nacht sehr passend: es war dunkel, wie in einer Menschenseele . . . Eine bessere Stelle konnte ich mir nicht wünschen. Dicht daneben war eine Brücke, und am Abfahrtsende fehlten einige Bretter – das heißt, es mußte Schritt gefahren werden. Ich liege und warte. Bruder, so voller Groll war ich damals, daß es für zehn Kaufleute gereicht hätte. Und so einfach stellte ich mir die Sache vor, wie es einfacher nicht sein kann: Bums! – und basta! . . .«

Jemeljan stand auf.

»N–ja! . . . So liege ich denn, weißt du, und halte alles bereit. Einen Schlag – und ich habe das Geld. So geht's, Bums! und es ist geschehen! Vielleicht denkst du, daß der Mensch in sich frei ist? Larifari, Bruder! Sag' mir doch, was du morgen tun wirst? Unsinn! Du kannst schlechterdings nicht sagen, ob du morgen rechts oder links gehen wirst. N–ja! . . . So lag ich und wartete auf einen, und es kam doch ganz anders. Etwas ganz Entgegengesetztes geschah!

Ich sehe: es kommt wer aus der Stadt, schwankend, wie ein Betrunkener . . . einen Stock in den Händen. Er murmelt etwas; murmelt unzusammenhängend und weint . . . ich höre – Schluchzen . . . Er kommt näher, und ich sehe – ein Weib! Zum Kuckuck, verdammtes Weib! Du kriegst eins ins Genick, denke ich, komm nur heran. Und sie geht gerade auf die Brücke zu, und plötzlich schreit sie auf: ›Liebster, warum?!‹ Ach, Bruder, wie sie schrie! – Ich fuhr so zusammen. Was soll das heißen? denke ich. Aber sie kommt gerade auf mich zu. Ich liege, drücke mich an die Erde und zittere am ganzen Leibe . . . wohin war mein Groll! Sie kommt schon heran, gleich muß sie mich mit dem Fuß treten! Da fängt sie wieder laut zu jammern an: ›Warum?! warum?! . . .‹ und wie sie steht, wirft sie sich plötzlich auf die Erde, fast neben mir. Und da fängt sie an zu weinen, Bruder, so, daß ich es dir nicht sagen kann – das Zuhören zerriß mir's Herz. Ich liege aber und gebe keinen Laut von mir. Und sie weint. Mir wurde so bange. Ich laufe fort, denke ich bei mir. Aber da trat der Mond aus den Wolken – über die Maßen hell und klar. Ich richtete mich ein wenig auf und sah sie an . . . Und da, Bruder, war's mit allem vorbei, und alle meine Pläne gingen zum Teufel! Ich sehe – und das Herz zuckte: ein kleines Mädchen, fast noch ein Kind . . . so weiß, Löckchen um das Gesichtchen, und so große Augen . . . und die Schultern beben und beben . . . und aus den Augen rinnen große Tränen, eine nach der andern.

Bruder, mich ergriff Mitleid. Ich hustete: kche! kche! kche! Wie sie da rief: ›Wer ist da? Wer? Wer ist hier?!‹ Sie war erschrocken, hieß das . . . Nu, ich stand gleich auf und sagte: Ich bin's. ›Wer sind Sie?‹ fragte sie. Und wie wurden ihre Augen, und sie zitterte wie vor Frost. ›Wer sind Sie?‹ sagte sie.«

Ich fing an zu lachen.

»Wer ich bin? Vor allen Dingen haben Sie keine Angst vor mir, Fräulein, – ich tue Ihnen nichts Böses. Ich bin ein ganz leidlicher Mensch, vom Barfüßerregiment, sage ich. Ja. Ich log ihr etwas vor, heißt das; du wunderlicher Mensch, ich konnte ihr doch nicht sagen, daß ich hier lag, um einen Kaufmann totzuschlagen. Und sie gab mir zur Antwort: ›Mir ist alles gleich, ich wollte mich hier ertränken.‹ Und das sagte sie so, daß mich fröstelte – mit solchem Ernst. Nu, was war hier zu tun?«

Jemeljan fuchelte zerknirscht mit den Händen und sah mich an, breit und gutmütig lächelnd.

»Da fing ich plötzlich an zu reden, Bruder. Was ich redete – weiß ich nicht; aber ich redete so, daß ich mich selbst daran nicht satt hören konnte, am meisten davon, daß sie so jung und schön war. Und schön war sie – sehr schön. Ach, Bruder mein! Nu, genug! Und Lisa hieß sie. Ich redete also, aber was – wer weiß – was? Das Herz sprach. Ja! Und sie sieht mich immerfort an, so ernst und unverwandt, und plötzlich lächelt sie! . . .« rief Jemeljan laut über die ganze Steppe, mit Tränen in der Stimme und in den Augen, seine geballten Fäuste in der Luft schüttelnd.

»Als sie lächelte, schmolz ich ganz; ich warf mich ihr zu Füßen: Fräulein, sagte ich, Fräulein! . . . und immerfort so! Bruder, und sie umfaßt mit ihren Händen meinen Kopf, sieht mir ins Gesicht und lächelt, wie ein Bild; sie bewegt die Lippen – sie will etwas sagen; dann ermannt sie sich und sagt: ›Mein Lieber, Sie sind auch unglücklich, wie ich! Ja? Sagen Sie, mein Guter!‹ N-ja, mein Freund, so war's! Und das war noch nicht alles – sie küßte mich hier auf die Stirn, Bruder . . . Ahnst du's! Wahrhaftig! Ach du, Täubchen! Weißt du, besser als dies war nichts in meinem Leben, in allen 47 Jahren! Ah?! Ja, ja! Und worauf war ich ausgegangen? Ach du, Leben! . . .«

Er schwieg, indem er den Kopf in die Hände legte. Von der Seltsamkeit der Erzählung bedrückt, schwieg auch ich und blickte auf das wunderbar bewegte Meer, das, einer Riesenbrust gleich, ruhig und tief in festem Schlafe atmete.

»Nu, dann stand sie auf und sagte zu mir: ›Begleiten Sie mich nach Hause.‹ Wir gingen. Ich fühlte meine Füße nicht unter mir, und sie erzählte mir alles, was und wie. Ihre Eltern, weißt du, waren Kaufleute, sie – die einzige, verwöhnte Tochter; dann war ein Student hingekommen, hatte ihr Unterricht gegeben, und sie verliebten sich ineinander. Er fuhr dann fort, und sie wartete auf ihn; wenn er mit seinem Studium fertig sein würde, wollte er kommen, um sich mit ihr trauen zu lassen; so war es abgemacht. Aber er kam nicht, sondern schickte ihr einen Brief, darin stand: Du bist keine passende Frau für mich. Das hatte das Mädchen natürlich gekränkt. Deshalb also hatte sie das tun wollen. Nu, das erzählte sie mir, und so komme ich mit bis an das Haus, wo sie wohnte. ›Nun, leben Sie wohl, Täubchen,‹ sagte sie zu mir. ›Morgen fahre ich von hier fort. Vielleicht brauchen Sie Geld? Sagen Sie es, genieren Sie sich nicht!‹ – ›Nein, Fräulein‹ sage ich, ›ich brauche nichts, ich danke Ihnen.‹ – ›Nun, mein Guter, genieren Sie sich nicht, sagen Sie, nehmen Sie!‹ ließ sie nicht nach mit Bitten. Ich war so abgerissen, aber ich sagte doch: ›Ich brauche nichts, Fräulein.‹ Weißt du, Bruder, nicht darum ging es mir, nicht ums Geld. Wir nahmen Abschied. Sie sagte so freundlich: ›Niemals werde ich dich vergessen, du bist mir sozusagen ein ganz fremder Mensch, und mir doch so . . .‹ Nu, das hat nichts zu sagen –« brach Jemeljan ab, indem er wieder zu rauchen anfing.

»Sie ging. Ich setzte mich auf eine Bank an der Pforte. Mir wurde so traurig zumute. Der Nachtwächter kam. ›Was sitzst du denn hier, du willst wohl stehlen?‹ Die Worte griffen mir tüchtig ans Herz. Ich – ihm eins in die Schnauze! Geschrei, ein Pfiff . . . Auf die Wache! Nu, wohlan, also auf die Wache! Meinetwegen – mir ist alles gleich; ich gab ihm noch eins. Ich setzte mich auf ein Bänkchen und wollte gar nicht ausrücken. Ich blieb über Nacht da; am Morgen wurde ich hinausgelassen. Ich gehe zu Pawel Petroff. ›Wo hast du dich denn umhergetrieben?‹ fragt er und schmunzelt. Ich sah ihn an, er war derselbe, wie gestern; aber es war mir, als sähe ich etwas Neues. Nu, natürlich erzählte ich ihm alles, wie und was. Er hörte ernsthaft zu und sagte dann: ›Sie sind ein Narr und Dummkopf, Jemeljan Nikititsch; wollen Sie sich gefälligst packen!‹ Nu – wie denn?! Hatte er denn nicht recht? Ich ging, und dabei blieb es. Das war die Geschichte, Brüderchen!«

Er schwieg und streckte sich auf der Erde aus, die Hände unter den Kopf gelegt, und sah den samtenen, sternklaren Himmel an. Ringsum lag alles in Schweigen. Das Rauschen der Brandung wurde noch leiser und linder und tönte zu uns hin wie schwaches, verschlafenes Seufzen.


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