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Einige Tage nach seiner Ernennung zum Privatdozenten in einer der Provinzuniversitäten erhielt Ippolit Sergejewitsch Polkanoff ein Telegramm von seiner Schwester, die auf ihrem Gute in einem entlegenen Waldgouvernement an der Wolga wohnte.
Das Telegramm berichtete kurz:
»Mann gestorben, komme um Gottes willen sofort, mir zu helfen – Elisawetta.«
Diese beunruhigende Aufforderung berührte ihn sehr unangenehm; sie zerstörte ihm alle seine Pläne und Stimmungen.
Er hatte sich vorgenommen, diesen Sommer in einem Dorfe bei einem seiner Freunde zuzubringen und dort viel zu arbeiten, um seine bevorstehenden Vorlesungen in Ehren abzuhalten; nun mußte er sich über 1000 Werst von Petersburg und seinem Bestimmungsorte entfernen, um eine Frau zu trösten, die ihren Mann verloren hatte . . . Und ihren Briefen nach zu urteilen, hatte sie nicht einmal allzu glücklich mit ihm gelebt.
Vor etwa vier Jahren hatte er seine Schwester zum letztenmal gesehen; sie schrieben sich nur selten, und es bestand zwischen ihnen schon lange jenes offizielle Verhältnis, wie es sich zwischen Verwandten zu entwickeln pflegt, die durch große Entfernung und verschiedene Lebensinteressen getrennt sind.
Das Telegramm erweckte in ihm die Erinnerung an den Mann seiner Schwester. Es war ein gutmütiger, dicker Mann, der gut zu essen und zu trinken liebte. Sein Gesicht war rund und von einem Netze roter Adern bedeckt; die Augen klein und lustig; er pflegte schelmisch mit dem linken Auge zu zwinkern und lächelte süß, wenn er in einem unmöglichen Französisch das Liedchen:
»regadez par ci, regardez par là«
sang.
Ippolit Sergejewitsch war es unangenehm, zu glauben, daß so ein lustiger Kerl tot dalag – banale Menschen leben gewöhnlich lange.
Die Schwester zeigte den Schwächen dieses Mannes gegenüber verächtliche Nachgiebigkeit. Als kluge Frau verstand sie, »daß auf Steine zu schießen, nur Pfeile verlieren heißt«, und es war kaum anzunehmen, daß sie durch den Tod ihres Mannes betrübt sei. – Dennoch wäre es unangenehm, ihr die Bitte abzuschlagen. – Schließlich – arbeiten konnte man bei ihr doch ebensogut wie anderswo.
Nachdem er noch eine Weile hin und her überlegt hatte, entschloß er sich, zu fahren; und zwei Wochen später, an einem warmen Juniabend, saß er, müde von einer vierzigwerstigen Reise, die er vom Hafen nach dem Dorfe zu Pferde hatte zurücklegen müssen, auf der Terrasse seiner Schwester gegenüber und trank eine Tasse guten schmackhaften Tee.
An dem Geländer der Terrasse, von der aus man einen Blick in den Park hatte, blühten üppige Büsche von Flieder und Akazien; schräge Sonnenstrahlen zuckten durch das dichte Laub und durchwebten die Luft mit seinen, goldenen Bändern. Phantastische Schattenbilder huschten auf dem Tische, der mit Delikatessen der ländlichen Kochkunst bedeckt war. Die Luft war durchdrungen von dem Duft der feuchten, sonnendurchwärmten Erde, von Lindenblüten und Flieder. Im Parke zwitscherten laut die Vögel; hie und da flog eine Bremse oder eine Biene heran und summte emsig besorgt um den Tisch; dann schlug Elisawetta Sergejewna mit ihrer Serviette in die Luft und verscheuchte die Kühne in den Park hinaus.
Ippolit Sergejewitsch hatte sich schon überzeugt, daß seine Schwester nicht besonders durch den Tod ihres Mannes überrascht war, daß sie ihn, den Bruder, prüfend und forschend beobachtete und ihm etwas verheimlichte. Er war gewohnt, sie sich als eine Frau vorzustellen, die ganz aufging in ihren häuslichen Sorgen und von dem Wirrwarr ihres Ehelebens gebrochen war. Er erwartete, sie nervös, bleich und übermüdet zu finden. Aber jetzt, als er ihr ovales, eingebranntes, gesundes Gesicht sah, das ruhig und selbstbewußt war und durch den Glanz der klugen und großen, hellen Augen belebt wurde, fühlte er sich angenehm enttäuscht, und er suchte ihren Worten abzulauschen, was sie ihm verschwieg.
»Ich war darauf vorbereitet«, – sagte sie mit einem hohen und ruhigen Kontraalt, und ihre Stimme vibrierte schön in den hohen Registertönen, – »nach dem zweiten Schlaganfall klagte er beinahe täglich über Herzstiche, Pulsstörungen und Schlaflosigkeit . . . Aber doch, als man ihn vom Felde hereintrug, versagten mir meine Füße. Man sagte, er hätte sich dort sehr aufgeregt und geschrien . . . und am Abend vorher war er zu Olessoff gefahren; – das ist ein Gutsbesitzer, ein Hauptmann außer Dienst, ein Trunkenbold und Zyniker, der vom Podagra gelähmt ist . . . à propos, er hat eine Tochter, das ist 'n nettes Mädchen, sag' ich dir . . . na, du wirst sie schon kennenlernen.«
»Wenn das nicht zu vermeiden ist«, unterbrach sie Ippolit Sergejewitsch und sah lächelnd zu seiner Schwester auf.
»Es geht nicht, sie kommt oft hierher . . . und jetzt wird sie noch öfter kommen«, – antwortete sie ihm, ebenfalls lächelnd.
»Sucht Heiratslustige? Ich tauge nicht zu solch einer Rolle!« –
Die Schwester schaute ihm scharf ins Gesicht – ein ovales, mageres Gesicht mit schwarzem Spitzbärtchen und einer hohen, weißen Stirn. – »Weshalb taugst du nicht dazu? Ich meine natürlich nur im allgemeinen, ohne jeden Hintergedanken an die Olessowa, das wirst du schon begreifen, wenn du sie gesehen hast . . . Aber du denkst doch ans Heiraten?«
»Einstweilen noch nicht«, antwortete er kurz, indem er seine hellgrauen, mit trockenem Glanze leuchtenden Augen vom Teeglas erhob.
»Ja,« sagte Elisawetta Sergejewna nachdenkend, »mit dreißig Jahren ist dieser Schritt für einen Mann zu spät und zu früh.« – Es war ihm angenehm, daß sie das Gespräch über den Tod ihres Mannes abgebrochen hatte; aber weshalb rief sie ihn denn eigentlich so dringend zu sich? – »Männer müssen entweder mit zwanzig oder mit vierzig Jahren heiraten,« sagte sie nachdenklich, »dann ist weniger Gefahr, sich und einen andern Menschen zu betrügen . . . und sollte dieser Betrug doch stattfinden, so erkauft man es im ersten Falle durch die jugendliche Frische des Gefühls, im zweiten – schlechtweg durch die gesicherte Lebensstellung, die ein Mann in den Vierzigern doch eigentlich immer einnimmt.«
Ihm schien, als wenn sie das mehr zu sich selbst als zu ihm sagte, und er unterbrach sie nicht, lehnte sich bequem in den Stuhl zurück und atmete mit Vergnügen die würzige Luft ein.
»– Er war, wie ich dir ja schon gesagt habe, am Abend vor seinem Tode bei Olessows, und wie gewöhnlich trank er reichlich . . . Nun und so«, Elisawetta Sergejewna schüttelte traurig den Kopf, »bin ich jetzt allein . . . ich war zwar schon nach den ersten drei Jahren meiner Ehe innerlich vereinsamt; aber jetzt bin ich in so einer sonderbaren Lage! Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, ich habe nicht gelebt; ich war nur die Fürsorgerin für meinen Mann und meine Kinder . . . die Kinder sind tot; und ich, was bin ich jetzt? Was soll ich machen, und wie soll ich leben? Ich hätte dieses Gut verkauft und mich ins Ausland begeben; aber sein Bruder erhebt Ansprüche auf die Erbschaft – ein Prozeß ist nicht ausgeschlossen. Ich will nichts von meinem Eigentum abgeben ohne gesetzliche Gründe, und die sehe ich nicht in den Forderungen seines Bruders. Was meinst du dazu?«
»Du weißt, ich bin kein Jurist,« sagte Ippolit Sergejewitsch, »aber . . . erzähl mir mal die Geschichte . . . wir wollen sehen . . . dieser Bruder . . . hat er dir geschrieben?«
»Ja, und ziemlich grob sogar. Er ist ein Kartenspieler, ein ganz ruinierter, verkommener Mensch . . . mein Mann liebte ihn nicht sehr, obwohl sie vieles gemein hatten.«
»Wir wollen sehen«, sagte Ippolit Sergejewitsch und rieb sich vergnügt die Hände. Es war ihm angenehm, zu erfahren, weshalb seine Schwester ihn nötig hatte; er liebte nichts Unklares, nichts Ungewisses. Er war vor allem um die Erhaltung seines inneren Gleichgewichts besorgt, und wenn irgend etwas Ungewisses dieses Gleichgewicht störte, so erfaßte ihn eine unerklärliche Unruhe und Gereiztheit, welche ihn rastlos drängte, sich dieses Unverständliche zu erklären, um es möglichst schnell in den Rahmen seiner Weltanschauung hineinzubringen und es zu vergessen.
»Offen gesagt, hatten mich diese unsinnigen Ansprüche erschreckt«, sagte Elisawetta Sergejewna leise, ohne ihren Bruder anzusehen; »ich bin so müde, Ippolit, ich möchte so gerne ausruhen . . . nun geht da wieder etwas los« . . .
Sie seufzte tief, und indem sie sein Teeglas nahm, fügte sie mit einer traurigen Stimme, die die Nerven ihres Bruders unangenehm erregte, hinzu: »Acht Jahre mit so einem Menschen, wie mein Mann war, gelebt zu haben, gibt mir doch wohl das Recht, auszuruhen. Eine andere an meiner Stelle, eine Frau mit weniger entwickeltem Pflichtgefühl und von geringerer Rechtschaffenheit, hätte längst die schweren Ketten gesprengt; aber ich trug sie, ungeachtet, daß ich unter ihrem Drucke erlag . . . Und der Tod der Kinder . . . ach, Ippolit, wenn du nur wüßtest, wie ich litt, als ich sie verlor!«
Er schaute ihr ins Gesicht mit dem Ausdrucke des Mitleids, aber ihre Klagen rührten ihn nicht. Die Art und Weise, wie sie sprach, gefiel ihm nicht; es war eine Büchersprache, wie sie tief fühlenden Menschen nicht eigen ist; und ihre hellen Augen irrten so sonderbar umher und blieben nur selten auf irgendeinem Gegenstand haften. Ihre Gesten waren weich und vorsichtig, und von ihrer schlanken Gestalt wehte eine innere Kälte.
Auf das Geländer der Terrasse setzte sich ein kleines Vögelchen, hüpfte zwitschernd umher und huschte davon. Bruder und Schwester begleiteten es mit ihren Blicken und schwiegen einige Sekunden.
»Kommt manchmal jemand zu dir? Liest du?« fragte der Bruder, sich eine Zigarette anzündend; er dachte, wie gut es wäre, an diesem schönen, ruhigen Abend zu schweigen und hier auf der Terrasse in einem bequemen Lehnstuhl zurückgelehnt, dem leisen Flüstern der Blätter zu lauschen und die Nacht zu erwarten, die kommen wird, die Klänge der Natur einzuschlummern und die Sterne zu erwecken . . .
»Warenjka besucht mich; dann kommt manchmal die Banarzewa . . . erinnerst du dich ihrer? Ludmila Wassiljewna . . . sie lebt auch schlecht mit ihrem Mann . . . aber sie versteht sich einzurichten. Bei meinem Manne haben viele Herren verkehrt, aber interessant war – keiner! Ich habe tatsächlich niemanden, mit dem ich ein paar Worte wechseln könnte . . . Wirtschaft, Jagd, Zwistigkeiten aus der Landschaftsversammlung, Klatschereien, das ist alles, worüber sie sprechen . . . Doch einer ist da . . . der Assessor Benkowskij! Wart' mal, er fährt, glaube ich, gerade vor!« – –
»Wer denn? . . . dieser Benkowskij?« fragte Ippolit Sergejewitsch.
Seine Frage machte sie aus irgendeinem Grunde lachen; lachend stand sie vom Stuhl auf und sagte mit veränderter Stimme:
»Warenjka!«
»Ah!«
»Wollen sehen, was du zu ihr sagen wirst . . . hier hat sie alle erobert. Aber was für ein geistiger Krüppel das ist! . . . Na, übrigens wirst du ja selbst sehen.«
»Hab' gar keine Lust«, erklärte er gleichgültig, sich im Lehnstuhl reckend.
»Ich komme sofort zurück«, sagte Elisawetta Sergejewna im Hinausgehen.
»Und sie wird in deiner Abwesenheit hereinkommen?« fragte er beunruhigt, »geh nicht, bitte – lieber werde ich gehen!«
»Ich komme gleich wieder!« rief ihm die Schwester aus dem Zimmer zurück.
Er runzelte die Stirn, blieb sitzen und schaute in den Park hinaus. Irgendwoher ließ sich Pferdegetrappel hören und das Knirschen der Räder im Sande.
Vor Ippolit Sergejewitsch' Augen dehnte sich eine Reihe alter, knorriger Pappeln, Eichen und Ahornbäume aus, in Abenddämmerung gehüllt. Ihre knorrigen Äste verflochten sich, ein dichtes Gewölbe duftenden Grüns bildend, und alle diese greisen Bäume mit rissiger Rinde, mit abgebrochenen Ästen schienen lebende, befreundete Wesen, die sich zusammenfanden in dem Bestreben, nach oben, dem Lichte entgegen sich zu strecken. Aber ihre Rinde war über und über mit einer gelben Haut von Schimmel bedeckt; aus ihren Wurzeln wuchsen viele junge Sprosse, und daher hatten die alten mächtigen Bäume viele vertrocknete Äste, die wie Skelette in der Luft hingen.
Ippolit Sergejewitsch betrachtete sie und empfand den Wunsch, unter dem Atem des alten Parkes einzuschlafen. Zwischen den Stämmen und Zweigen der Bäume leuchteten blutrote Flecke am Horizont, und auf diesem Hintergrunde sahen die Bäume noch düsterer und hagerer aus. Auf der Allee, die sich von der Terrasse aus in die neblige Ferne verlor, bewegten sich dichte Schatten, und mit jedem Augenblicke wuchs die Stille, mystische Phantasiebilder heraufbeschwörend. Dem Abendzauber sich hingebend, zeichnete ihm die Phantasie in den Abendschatten die Silhouette einer ihm bekannten Frau und ihn selber – sie gingen die Allee entlang, weit hinaus in die Ferne; sie schmiegte sich an ihn, und er fühlte die Wärme ihres Körpers.
»Guten Abend!« ertönte eine volle Bruststimme.
Er sprang auf und wandte sich um, ein wenig verlegen. Vor ihm stand ein Mädchen von mittlerer Größe in einem grauen Kleide. Auf dem Kopfe hatte sie etwas Weißes und Luftiges, das wie ein Brautschleier aussah. – Das war alles, was er im ersten Augenblick bemerkte.
Sie streckte ihm die Hand entgegen:
»– Ippolit Sergejewitsch, ja? – Olessowa . . . ich wußte schon, daß Sie heute kommen würden, und ich kam, um zu sehen, was für ein Mensch Sie sind. Habe nie Gelehrte gesehen und wußte nicht, daß sie so aussehen können.«
Ein kräftiges, heißes, kleines Händchen drückte seine Hand, und ein wenig verlegen über diese unerwartete Attacke verbeugte er sich mehrere Male schweigend; er ärgerte sich selbst über seine Verlegenheit. Er erwartete eine offene und grobe Koketterie zu erblicken, wenn er in ihr Gesicht schauen würde; aber als er aufschaute, sah er große, dunkle Augen, die treuherzig und liebkosend lächelten und ein schönes Gesicht beleuchteten. Er erinnerte sich, ebenso ein von gesunder Schönheit stolzes Gesicht einst auf einem alten, italienischen Bilde gesehen zu haben, ebenso einen kleinen Mund mit vollen Lippen, solche hohe, gewölbte Stirn und so große Augen.
»Erlauben Sie . . . ich werde Bescheid sagen, daß man Licht bringt . . . Bitte, setzen Sie sich.«
»Aber bitte, bemühen Sie sich nicht; ich bin hier so gut wie zu Hause«, erwiderte sie, auf seinem Stuhle Platz nehmend.
Er trat an den Tisch ihr gegenüber und betrachtete sie, obwohl er fühlte, daß es unschicklich sei, und daß er sprechen müsse; aber sie sprach selbst, ohne unter seinem fixierenden Blicke verlegen zu werden. Sie fragte ihn, wie er angekommen sei, ob ihm das Dorf gefalle, ob er lange zu bleiben gedenke; er antwortete einsilbig; seinen Kopf durchschwirrten abgehackte Gedanken; er war wie vom Schlage betäubt, und sein sonst so klarer Verstand verwirrte sich unter der Macht der plötzlich und wirr erregten Gefühle. Das Entzücken über sie kämpfte in ihm mit der Gereiztheit gegen sich und die Neugierde – mit etwas, das nahe an Furcht grenzte. Und dieses blühende, gesunde Mädchen saß ihm gegenüber im Stuhle zurückgeworfen, stramm in den Stoff ihres Kleides gehüllt, das die üppigen Formen ihrer Schulter, ihrer Brust und ihres Körpers erkennen ließ; und mit klangvoller Stimme, in der viel Gebieterisches lag, sprach sie zu ihm von bedeutungslosen Dingen, wie sie das Gesprächsthema bei der ersten Begegnung fremder Menschen zu bilden pflegen. Ihr dunkelbraunes Haar wellte sich schön, und die Augen und Brauen waren noch dunkler als das Haar. Auf ihrem braunen Halse, neben dem rosigen, durchschimmernden Ohre bebte die Haut und verriet den schnellen Kreislauf ihres Blutes; auf dem Kinn bildete sich ein Grübchen, so oft ein Lächeln ihre kleinen, weißen Zähne sehen ließ, und von jeder Falte ihres Kleides wehte es verführerisch erregend. Es lag etwas Blutdürstiges in den Wölbungen ihrer Nase und in den kleinen Zähnen, die hinter ihren saftigen Lippen leuchteten; und die Pose voll ungezwungenen Reizes erinnerte an die Grazie satter und verhätschelter Katzen.
Ippolit Sergejewitsch hatte die Empfindung, als wenn er sich in zwei Hälften teilte: die eine Hälfte seines Wesens war von dieser sinnlichen Schönheit berauscht und in sklavischer Betrachtung derselben versunken, die andere – konstatierte mechanisch den Zustand der ersten und fühlte, daß sie die Macht über sie verloren hatte. Er erwiderte die Fragen des Mädchens und richtete selbst Fragen an sie, ohne imstande zu sein, seine Augen von ihrer verführerischen Gestalt zu wenden. Er charakterisierte sie schon im stillen als ein prachtvolles Exemplar eines Zuchtweibchens, lächelte innerlich verschmitzt über sich; aber das zerstörte nicht den Zwiespalt in ihm.
So dauerte es fort, bis seine Schwester auf der Terrasse erschien mit dem Ausrufe:
»Sagen Sie!. . . Wie geschickt! Ich suche sie dort und sie ist schon . . .«
»Ich bin durch den Park gegangen.«
»Na, seid bekannt geworden?«
»O ja! . . . ich hatte mir gedacht, daß Ippolit Sergejewitsch mindestens schon eine Glatze hätte.«
»Soll ich dir Tee einschenken?«
»Meinetwegen, bitte.«
Ippolit Sergejewitsch ging von ihnen fort und trat an die Treppe, die in den Park hinunterführte. Er strich sich mit der Hand über das Gesicht und mit den Fingern über die Augen, als wolle er den Staub von ihnen abwischen. Er schämte sich vor sich selbst, daß er einem plötzlichen Gefühlsausbruche unterliegen konnte, und die Scham hierüber wich bald einer Gereiztheit gegen das Mädchen. Er nannte die Szene mit ihr eine Kosakenattacke auf Bräutigame, und er wollte ihr zeigen, daß er völlig gleichgültig zu ihrer berauschenden Schönheit wäre.
»Ich übernachte bei dir und werde auch morgen den ganzen Tag hierbleiben« . . . sagte sie zu seiner Schwester.
»Und was wird mit Wassilij Stepanowitsch werden?« fragte die Schwester erstaunt.
»Die Tante Lutschizkaja ist bei uns zu Besuch; sie wird sich mit ihm abgeben . . . du weißt, Papa liebt sie sehr« . . .
»Verzeihen Sie,« sagte Ippolit Sergejewitsch trocken, »ich bin sehr müde, und ich gehe, um mich auszuruhen« . . . Er verbeugte sich und ging, und hinter ihm erscholl der wohlwollende Ausruf Warenjkas:
»Sie hätten es längst tun müssen!« . . .
Im Tone ihrer Worte hörte er nur Gutmütigkeit, aber er bezeichnete diese Gutmütigkeit als einschmeichelnd und falsch.
Das Zimmer, das für ihn eingerichtet war, hatte früher als Arbeitszimmer des Mannes seiner Schwester gedient. In der Mitte des Zimmers stand ein großer, plumper Tisch und vor demselben ein Eichenstuhl; die eine Wand füllte beinahe in ihrer ganzen Länge ein breiter, zerfetzter Diwan aus, die andere – ein Harmonium und zwei Schränke mit Büchern. Einige große weiche Stühle, ein Rauchtischchen beim Diwan und ein Schachtischchen am Fenster ergänzten die Einrichtung des Zimmers. Die Decke war niedrig und verraucht, von den Wänden schauten Bilder und Kupferstiche in groben, vergoldeten Rahmen wie dunkle Flecke herab. Alles war schwer und alt und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Auf dem Tische stand eine große Lampe mit einer blauen Kuppel, und das Licht von ihr fiel auf den Boden.
Ippolit Sergejewitsch blieb auf dem Rande dieses Kreises stehen; und mit dem Gefühle einer unerklärlichen Unruhe schaute er auf die Fenster des Zimmers. Hinter den beiden Fenstern in der Dämmerung der hereinbrechenden Nacht hoben sich die dunklen Silhouetten der Bäume ab. Er ging und öffnete beide Fenster. Das Zimmer füllte sich mit dem Duft der Lindenblüten, und zugleich mit ihm drang der Schall eines lustigen Lachens herein.
Auf dem Diwan war sein Bett bereitet, es nahm etwas mehr als die Hälfte desselben ein. Er betrachtete es und begann seine Krawatte aufzubinden. Aber plötzlich stieß er mit einer schroffen Bewegung den Stuhl ans Fenster und setzte sich stirnrunzelnd nieder.
Das Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst bemächtigte sich seiner nur selten, und wenn es ihn heimsuchte, so packte es ihn nicht stark und nicht lange; er verstand es, schnell damit fertig zu werden. Er war überzeugt, der Mensch könne und müsse seine Gemütsbewegungen verstehen und sie entweder entwickeln oder unterdrücken; und wenn man von der geheimnisvollen Kompliziertheit des psychischen Lebens eines Menschen sprach, lächelte er ironisch und nannte solche Anschauungen – Metaphysik. Um so peinlicher war für ihn die Empfindung, daß er jetzt selbst jenen Kreis der unerklärlichen Aufregungen betrat.
Er fragte sich: Ist es möglich, daß eine Begegnung mit diesem gesunden und schönen – offenbar sehr sinnlichen und dummen Mädchen so sonderbar auf ihn wirken konnte? Und sorgfältig die Reihenfolge der Eindrücke dieses Tages prüfend, mußte er zustimmen. Ja, es ist so, weil sie seinen Geist plötzlich überrumpelte, weil er sehr ermüdet war von der Reise und im Momente ihres Erscheinens sich in einer ihm ungewohnten Stimmung des Träumens befand.
Dieses Nachdenken beruhigte ihn ein wenig, und sofort erschien sie wieder vor seinen Augen in ihrer üppigen, jungfräulichen Schönheit. Er betrachtete sie, schloß die Augen und schluckte nervös den Rauch seiner Zigarette. Aber betrachtend kritisierte er:
Im Grunde genommen – dachte er – ist sie vulgär: zu viel Blut und Muskeln in ihrem gesunden, schlanken Körper und wenig Nerven. Ihr naives Gesicht ist nicht intelligent, und der Stolz, der in dem offenen Blicke ihrer tiefen, dunkeln Augen leuchtet, ist der Stolz einer Frau, die von ihrer Schönheit überzeugt und durch die Bewunderung der Männer verwöhnt ist. Die Schwester sprach davon, daß diese Warenjka alle erobert . . . gewiß wird sie versuchen, auch ihn zu erobern. Aber er ist hierhergekommen, um zu arbeiten und nicht um Dummheiten zu treiben, und das würde sie bald begreifen.
Aber denke ich nicht allzuviel an sie für die erste Begegnung? durchzuckte es seinen Kopf.
Der Mond, riesengroß, blutrot, erhob sich irgendwo weit hinter den Bäumen des Parkes; er schaute aus der Finsternis heraus, wie das Auge eines Ungeheuers, das sie selbst geboren hatte. Undeutliche Töne klangen vom Dorfe herüber; unter den Fenstern im Grase hörte man bisweilen ein Geräusch: es war wohl ein Maulwurf oder ein Igel, die auf Jagd gingen. Irgendwo sang eine Nachtigall; und der Mond stieg am Himmel empor, langsam, als ob ihm die verhängnisvolle Notwendigkeit seines Laufes verständlich sei und ihn ermüde.
Ippolit Sergejewitsch warf seine ausgebrannte Zigarette aus dem Fenster, entkleidete sich und löschte die Lampe aus. Die Dunkelheit drang ins Zimmer, und die Bäume rückten näher hinter den Fenstern heran, als ob sie hineinschauen wollten. Auf den Boden des Zimmers legten sich zwei Streifen von Mondlicht, die noch schwach und trübe waren. Die Springfedern des Diwans knarrten unter dem Gewichte Ippolit Sergejewitschs, und durchdrungen von der angenehmen Frische der Leinwandwäsche, streckte er sich aus und blieb regungslos auf dem Rücken liegen.
Bald begann er zu schlummern und hörte unter seinem Fenster vorsichtige Schritte und ein tiefes Flüstern:
»Marja . . . bist du hier? He?« . . . lächelnd schlief er ein.
Als er am Morgen in dem grellen Sonnenschein, der das Zimmer erfüllte, aufwachte, lächelte er wieder in der Erinnerung an den gestrigen Abend und an das Mädchen. Zum Tee erschien er sorgfältig gekleidet, trocken und ernst, wie es sich für einen Gelehrten schickt. Als er aber nur seine Schwester am Tische sah, entfielen ihm unwillkürlich die Worte:
»Und wo ist . . .«
Das schelmische Lächeln seiner Schwester hielt ihn, noch bevor er seine Frage beendet hatte, zurück, und schweigend setzte er sich an den Tisch. Elisawetta Sergejewna musterte sorgfältig seinen Anzug, ohne das Lächeln zu unterlassen und ohne auf seine zusammengezogenen Brauen Rücksicht zu nehmen. Ihn ärgerte dieses vielsagende Lächeln.
»Sie ist schon längst aufgestanden, wir gingen zusammen baden, und jetzt ist sie wahrscheinlich im Park«, erklärte Elisawetta Sergejewna.
»Wie du ausführlich berichtest,« sagte er ironisch lächelnd, »bitte laß sofort nach dem Tee meine Koffer öffnen.«
»Und auch die Sachen herausnehmen?«
»Nein, nein, das ist nicht nötig; ich werde es selbst tun, sonst wühlt man mir nur alles durcheinander . . . da sind auch Bonbons für dich und Bücher.«
»Danke! Das ist nett . . . ah, da ist auch Warenjka!«
Sie erschien in der Tür in einem leichten, weißen Kleide, das in üppigen Falten von den Schultern zu den Füßen herabfiel. Ihre Kleidung hatte viel Ähnlichkeit mit einer Kinderbluse, und sie sah selbst darin wie ein Kind aus. Sie blieb eine Sekunde in der Tür stehen und fragte:
»Habt ihr denn auf mich gewartet?« Und geräuschlos, wie eine Wolke, trat sie an den Tisch.
Ippolit Sergejewitsch verbeugte sich schweigend, und als er ihre Hand drückte, sog er den zarten Veilchenduft ein, den sie um sich verbreitete. »Gott, hast du dich parfümiert!« rief Elisawetta Sergejewna.
»Etwa mehr als sonst? Lieben Sie Parfüm, Ippolit Sergejewitsch? – ich – schrecklich! Wenn es Veilchen gibt, pflücke ich sie jeden Morgen nach dem Baden und zerreibe sie in der Hand; das habe ich noch im Gymnasium gelernt . . . und Ihnen gefallen Veilchen?«
Er trank Tee und schaute sie nicht an; aber er fühlte, wie ihre Augen auf seinem Gesicht hafteten.
»Ich habe wirklich nie darüber nachgedacht, ob sie mir gefallen oder nicht«, erwiderte er trocken, indem er mit den Schultern zuckte. Zu ihr aufblickend aber lächelte er unwillkürlich.
Gehoben durch den schneeweißen Stoff ihres Kleides, leuchtete ihr Gesicht in üppiger Röte, und die tiefen Augen strahlten in heller Freude. Gesundheit, Frische, unbewußtes Glück strömten von ihr aus. Sie war schön, wie ein leuchtender Maientag im Norden.
»Dachten nicht?« rief sie aus. »Aber wie ist das möglich – Sie sind doch Botaniker!«
»Aber kein Blumenzüchter«, erklärte er kurz – und dachte unzufrieden, daß es vielleicht grob sei, und wandte seine Augen von ihrem Gesichte ab.
»Ist denn Botanik und Blumenzüchterei nicht dasselbe?« fragte sie nach einem Augenblick des Schweigens.
Seine Schwester lachte, ohne sich zu genieren, laut auf. Er fühlte plötzlich, daß ihn dieses Lachen unangenehm berühre, und mit Bedauern gestand er sich: ja, sie ist dumm. Aber später, als er ihr den Unterschied zwischen Botanik und Blumenzüchterei erklärt hatte, milderte er sein Urteil dahin, daß sie nur unwissend sei. Sie hörte seiner ernsten und gründlichen Rede zu und schaute ihn mit den Augen einer aufmerksamen Schülerin an – und das gefiel ihm. Während er sprach, ließ er seine Augen oft von ihrem Gesichte auf das seiner Schwester gleiten, und in ihrem Blicke, der regungslos auf dem Gesichte Warenjkas haftete, las er einen durstigen Neid. Das störte ihn zu sprechen; es erweckte in ihm ein Gefühl, das einer Verachtung sehr nahe kam.
»Ja–a!« sagte gedehnt das Mädchen, »so ist die Sache! Und was? Ist die Botanik eine interessante Wissenschaft?«
»Hm! Sehen Sie, die Wissenschaften muß man von dem Standpunkte des Nutzens betrachten, den sie der Menschheit bringen«, erklärte er seufzend.
Ihr Mangel an Entwicklung bei ihrer Schönheit steigerte in ihm das Mitleid mit ihr. Und sie fragte ihn, nachdenklich mit dem Löffelchen auf dem Rande ihrer Tasse klappernd:
»Was für einen Nutzen kann es denn bringen, wenn Sie wissen, wie eine Klette wächst?«
»Denselben, den wir aus dem Studium der Lebenserscheinungen irgendeines Menschen ziehen.«
»Der Mensch und die Klette!« . . . sagte sie lächelnd. »Lebt denn jeder einzelne Mensch so wie alle?«
Ihm war es sonderbar, daß dieses uninteressante Gespräch ihn nicht ermüdete.
»Esse und trinke ich denn so wie die Bauern?« setzte sie, ernst die Brauen zusammenziehend, hinzu. »Und leben denn viele so wie ich?«
»Und wie leben Sie denn?« fragte er, ahnend, daß diese Frage das Gesprächsthema ändern würde; und es lag ihm daran, denn in dem Blicke seiner Schwester auf Warenjka mischte sich ein böser und spöttischer Zug.
»Wie ich lebe?« fragte das Mädchen, plötzlich in Feuer kommend. »Gut!« und sie schloß sogar die Augen vor Vergnügen. »Wissen Sie, ich erwache des Morgens, und wenn der Tag ein sonniger ist, wird mir sofort schrecklich lustig zumute! So als hätte man mir etwas Teueres und Schönes geschenkt, etwas, was ich mir schon lange gewünscht habe . . . laufe baden – unser Fluß führt Quellwasser – das Wasser ist kalt, so daß es schneidet. Es sind dort tiefe Stellen, und ich werfe mich dorthin gerade vom Ufer mit dem Kopfe hinunter – Ouch! . . . Als ob du dich verbrannt hättest . . . stürzest ins Wasser wie in einen Abgrund, und im Kopfe rauscht es; tauchst wieder auf, reißt dich aus dem Wasser heraus, und die Sonne schaut dich an und lacht! Dann gehe ich durch den Wald nach Hause, pflücke Blumen, atme die Waldluft bis zur Trunkenheit, komme nach Hause, der Tee ist fertig; trinke Tee, und vor mir stehen Blumen – und die Sonne schaut mich an . . . Ach! wenn Sie wüßten, wie ich die Sonne liebe! Dann beginnt der Tag, und es fangen die Sorgen um die Wirtschaft an . . . bei uns lieben mich alle, im Nu verstehen sie mich und gehorchen . . . und alles dreht sich, wie ein Rad, bis zum Abend . . . Dann geht die Sonne unter, der Mond und die Sterne gehen auf . . . wie das alles schön ist und immer wie neu! Sie verstehen? Ich kann es nicht erklären . . . weshalb es so schön ist, zu leben . . . aber vielleicht fühlen Sie es selbst, ja? . . . Es ist Ihnen doch verständlich, weshalb das Leben so schön, so interessant ist?«
»Ja . . . gewiß!« stimmte er zu. Er hätte gerne mit der Hand das boshafte Lächeln von dem Gesichte seiner Schwester verscheucht.
Er schaute zu Warenjka hinüber und ließ sich nicht darin stören, sie zu bewundern, wie sie vor Verlangen zitterte, ihm die Kraft der Freude zu übergeben, die ihr ganzes Wesen mit Jubel erfüllte; aber diese Ekstase erhöhte sein Mitleid mit ihr bis zu einer scharf schmerzenden Empfindung. Er sah vor sich ein Geschöpf, das trunken war von der Pracht seines Naturlebens, voll grober Poesie, berückend schön, aber nicht durch Geist geadelt.
»Und den Winter! Lieben Sie den Winter? Er ist ganz weiß, gesund, herausfordernd, zum Kampfe einladend . . .«
Ein schrilles Läuten unterbrach ihre Rede; es war Elisawetta Sergejewna, die geläutet hatte, und als ein großes Mädchen mit einem runden, gutmütigen Gesichte und schelmischen Augen ins Zimmer hineinflog, sagte sie mit müder Stimme:
»Räumen Sie das Geschirr ab, Mascha!«
Dann begann sie sorgenvoll im Zimmer auf und ab zu gehen, laut mit den Füßen schurrend.
Das alles ernüchterte das junge Mädchen ein wenig; sie zuckte mit den Schultern, als ob sie etwas von ihnen abschütteln wollte, und ein wenig verlegen fragte sie Ippolit Sergejewitsch:
»Ich bin Ihnen langweilig geworden mit meinen Erzählungen?«
»Aber ich bitte Sie!« protestierte er.
»Nein, ernstlich, Sie hielten mich für dumm?« drang sie in ihn.
»Aber weshalb denn?« rief Ippolit Sergejewitsch und wunderte sich selbst, daß es bei ihm so warm und aufrichtig herauskam.
»Ich bin eine Wilde . . . das heißt . . . ungebildet«, entschuldigte sie sich. »Aber ich bin froh, mit Ihnen zu sprechen . . . weil Sie so ein Gelehrter sind und so einer . . . nicht so einer, wie ich Sie mir vorgestellt habe.«
»Und was haben Sie sich denn für eine Vorstellung von mir gemacht?« fragte er lächelnd.
»Ich dachte, Sie würden immer lauter Weisheiten reden . . . warum und wie, das ist nicht so, das ist eben so, und alle sind dumm, nur ich allein bin klug . . . Bei Papa war einst ein Kamerad zu Besuch, auch ein Oberst wie Papa und auch ein Gelehrter wie Sie. Aber er war ein Militärgelehrter . . . wie heißt das? . . . Einer vom Generalstab . . . und er war sehr aufgeblasen. Meiner Ansicht nach hat er sogar gar nichts gewußt; er renommierte nur ganz einfach.«
»Da haben Sie sich denn auch von mir solches Bild gemacht?« fragte Ippolit Sergejewitsch.
Sie wurde verlegen, errötete, und vom Stuhle aufspringend, fing sie an, komisch im Zimmer herumzulaufen, und sagte verwirrt:
»Ach! wie Sie . . . wie konnte ich so was?«
»Nun, hört mal, liebe Kinder,« sagte Elisawetta Sergejewna mit zusammengekniffenen Augen, »ich muß mich um die Wirtschaft kümmern, und Euch lasse ich unter Gottes Obhut zurück.«
Und lachend verschwand sie, mit den Röcken rauschend. Ippolit Sergejewitsch schaute ihr vorwurfsvoll nach und dachte, daß man eigentlich mit ihr sprechen müsse, wie sie sich diesem im Grunde gutmütigen und netten, aber unentwickelten jungen Mädchen gegenüber benehme.
»Wissen Sie was! . . . Wollen Sie rudern? Lassen Sie uns bis zum Walde fahren, dort spazierengehen und zum Mittagessen zurückkehren! Einverstanden? Ich bin schrecklich froh, daß heute ein so sonniger Tag ist, und daß ich nicht zu Hause bin . . . Bei Papa ist wieder das Podagra im Gange, und ich müßte mich mit ihm abgeben. Papa ist launisch, wenn er krank ist.«
Erstaunt über den offenherzigen Egoismus, willigte er nicht sofort ein, und als er antwortete, erinnerte er sich seines Vorhabens, welches er gestern gefaßt hatte, und mit welchem er auch heute morgen das Zimmer verlassen hatte. Aber einstweilen gibt sie ja noch keinen Grund zu dem Verdachte, sein Herz erobern zu wollen. In ihren Reden liegt alles eher als Koketterie . . . Und schließlich weshalb nicht einen Tag mit so einem entschieden originellen Mädchen verbringen. »Können Sie rudern? Schlecht! . . . Das macht nichts, ich tue es selbst; das Boot ist leicht. Gehen wir!«
Sie gingen auf die Terrasse hinaus und in den Park hinunter. Neben seiner langen und mageren Figur erschien sie kleiner und dicker. Er bot ihr seinen Arm an, aber sie schlug ihn aus:
»Weshalb? Das ist gut, wenn man müde ist, sonst stört es einen nur im Gehen.«
Er schaute sie lächelnd durch seine Brille an und ging, seine Schritte den ihren anpassend, was ihm sehr gefiel. Sie hatte einen leichten und schönen Gang – ihr weißes Kleid umschwebte ihre Gestalt, ohne daß eine Falte sich bewegte. In der einen Hand hielt sie den Schirm, mit der andern gestikulierte sie schön, ihm die malerische Umgebung des Dorfes schildernd. Die Bewegung ihres bis zum Ellbogen entblößten Armes, der kräftig und braun war und von einem goldigen Flaume bedeckt, zwang Ippolit Sergejewitsch, ihm aufmerksam zu folgen. Und wieder zitterte in dem Innern seiner Seele eine unerklärliche, unfaßliche Unruhe. Er bemühte sich, sie zu überwinden, indem er sich fragte, was ihn treibe, diesem Mädchen zu folgen, und er antwortete sich: Neugierde, ein ruhiges und reines Verlangen, ihre Schönheit zu bewundern.
»Da ist der Fluß! Gehen Sie und setzen Sie sich ins Boot; ich werde die Ruder holen!«
Und sie verschwand hinter den Bäumen, noch bevor er sie bitten konnte, ihm zu sagen, wo er die Ruder finden könne.
In dem regungslosen, kalten Wasser des Flusses spiegelten sich die Bäume mit den Gipfeln nach unten ab. Er setzte sich ins Boot und betrachtete sie . . . Diese gespenstischen Bilder waren schöner und üppiger als die lebenden Bäume, die am Ufer standen und das Wasser mit ihren zackigen, knorrigen Ästen beschatteten. Das Widerspiegeln veredelte sie, es verwischte das Häßliche, und aus dem ärmlichen Motive, der im Laufe der Zeit verkrüppelten Wirklichkeit, schuf es im Wasser ein lichtes, harmonisches Phantasiegebilde.
Ippolit Sergejewitsch war versunken in die Betrachtung dieses geisterhaften Bildes. Tiefe Stille, die geweiht war durch das Leuchten der kühlen Morgensonne, umgab ihn. Er sog die Luft ein, die voll war von dem Glücke der jubelnden Lerchen; er fühlte, wie eine neue, wohlige Ruhe über ihn kam, seinen Geist umschmeichelte, sein ewiges, rebellisches Streben, alles zu erforschen und zu erklären, zum Schweigen brachte. Feierliche Stille herrschte ringsumher; kein Blatt regte sich am Baume, und in dieser Ruhe vollzog sich unermüdlich die stumme Schöpfung der Natur, tonlos schuf sich das Leben, immer vom Tode getroffen, aber dennoch unbesiegbar; und langsam arbeitete der Tod fort, alles vernichtend und doch keinen Sieg davontragend. Und der klare Himmel leuchtete in friedlicher Schönheit.
Auf dem Hintergrunde des Bildes, im Wasser des Flusses erschien eine schöne, weiße Frauengestalt, ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht. Sie stand dort, in der Hand die Ruder, als locke sie ihn zu sich; schweigsam, strahlend schön schien sie sich vom Himmel abzuspiegeln.
Ippolit Sergejewitsch wußte, daß es Warenjka war, die aus dem Parke kam, und er fühlte, daß sie ihn anschaue; aber er wollte nicht durch einen Laut oder eine Bewegung sich von dem Zauber losreißen.
»Sagen Sie! Was für ein Träumer sind Siel« erscholl in der Luft ein verwunderter Ausruf.
Er wandte sich mit Bedauern vom Wasser ab und blickte zu dem Mädchen auf, das elastisch auf einem steilen Pfad zum Ufer hinunterstieg; und sein Bedauern schwand; denn dieses Mädchen war auch in Wirklichkeit bezaubernd schön.
»Man könnte wahrhaftig nicht glauben, daß Sie zu träumen lieben! Ihr Gesicht ist so streng und ernst . . . Werden Sie steuern? gut; wir wollen stromaufwärts fahren, dort ist es schöner . . . und überhaupt ist es interessanter, gegen die Strömung zu fahren, weil man rudert, man bewegt sich, man fühlt sich . . .«
Das vom Ufer abgestoßene Boot fing an, träge in dem schlafenden Wasser zu schaukeln, aber ein kräftiger Ruderschlag brachte es sofort in die Richtung längs des Ufers, und von einer Seite nach der andern schwankend, glitt es mit dem zweiten Ruderschlage leicht vorwärts.
»Wir wollen an dem hügeligen Ufer entlang fahren, dort ist es schattiger«, sagte das Mädchen, das Wasser mit geschickten Schlägen teilend. »Hier ist aber ein schwacher Strom! . . . Aber auf dem Dnjepr – die Tante Lutschitzkaja hat dort ein Gut – da, sag' ich Ihnen, ist es schrecklich. Es reißt einem immerfort die Ruder aus der Hand . . . Haben Sie die Strudel des Dnjepr gesehen?«
»Nein, in solche Strudel habe ich mich noch nicht gestürzt«, bemühte sich Ippolit Sergejewitsch einen Witz zu machen.
»Ich fuhr hindurch,« sagte sie lachend, »es war schön! Einmal wurde beinahe das Boot zertrümmert; ich wäre damals sicherlich ertrunken . . .«
»Nun, das wäre schon gar nicht schön«, sagte Ippolit Sergejewitsch ernst.
»Und weshalb? Ich fürchte mich gar nicht vor dem Tode, wenn ich auch das Leben liebe . . . Vielleicht ist es dort auch interessant, wie auf der Erde . . .«
»Und vielleicht ist dort nichts«, sagte er, sie neugierig anschauend.
»Nun, wie ist das möglich!« rief sie überzeugt. »Gewiß ist dort etwas!«
Er beschloß, sie nicht zu stören – mag sie philosophieren; in einem passenden Momente wird er sie unterbrechen und sie zwingen, ihr armes Weltchen von Vorstellungen vor ihm auszubreiten. Sie saß ihm gegenüber, die kleinen Füßchen gegen das Brett stemmend, das am Boden des Bootes angenagelt war, und mit jedem Ruderschlage beugte sie den Körper zurück; dann hob sich unter dem leichten Stoffe ihres Kleides plastisch der jungfräuliche, hohe, elastische Busen ab, der bei jeder Bewegung bebte.
Sie trägt kein Korsett, dachte Ippolit Sergejewitsch, die Augen niederschlagend; aber sie blieben auf den Füßchen haften, die sich gegen den Boden des Bootes stemmten, und bei dieser Bewegung spannten sich die Muskeln, und man sah die Konturen der Beine bis zu den Knien.
Zum Kuckuck! Hat sie etwa absichtlich dieses dumme Kleid angezogen? dachte er gereizt und wandte sich ab, das hohe Ufer betrachtend.
Am Parke vorbei fuhr man an dem steilen Ufer entlang. Erbsenranken hingen herab, Kürbisse mit ihren samtartigen Blättern, und die großen, gelben Räder der Sonnenblumen, die am Rande des Abhanges standen, schauten ins Wasser hinunter. Das andere Ufer, niedrig und flach, zog sich weit in die Ferne bis zu den grünen Wänden des Waldes, dicht bedeckt vom leuchtenden Grün des saftigen und frischen Grases, aus dem hell- und dunkelblaue Blümlein, wie Kinderäuglein, zärtlich auf das Boot herabblickten. Und gerade vor dem Boote erhob sich ein dunkelgrüner Wald; und der Fluß bohrte sich in ihn hinein wie ein Stück kalten Stahles.
»Ist Ihnen heiß?« fragte Warenjka.
Er schaute zu ihr auf und fühlte, daß er verlegen wurde. Auf ihrer Stirn unter dem Kranz ihrer welligen Haare perlten Schweißtropfen, und die Brust hob und senkte sich.
»Verzeihen Sie,« rief er reuevoll, »ich war ganz im Betrachten versunken . . . Sie sind müde . . . geben Sie mir doch die Ruder.«
»Ich denke gar nicht daran. Sie meinen, ich bin müde? Das ist sogar eine Beleidigung für mich. Wir haben noch keine zwei Werst gemacht . . . Nein, bleiben Sie ruhig sitzen; bald werden wir anlegen und spazierengehen.«
Man sah es ihrem Gesichte an, daß es überflüssig wäre, zu widersprechen; er zuckte verdrießlich mit den Schultern und schwieg unzufrieden nachdenkend.
Es scheint, als ob sie mich für einen Schwächling hält.
»Sehen Sie, das ist der Weg zu uns«, sagte sie, mit einer Kopfbewegung nach dem Ufer weisend. »Hier ist eine Furt im Flusse, und von hier aus sind es noch vierzehn Werst zu uns. Bei uns ist es auch schön, schöner als in Ihrem Polkanowka.«
»Sie leben auch im Winter auf dem Gute?« fragte er.
»Und wie denn? – Ich führe ja die ganze Wirtschaft; Papa steht nicht vom Stuhle auf . . . man rollt ihn durch die Zimmer.«
»Aber es muß Ihnen langweilig sein, so zu leben!«
»Weshalb denn? Ich habe sehr viel zu tun . . . und nur einen Gehilfen – Nikon, Papas Burschen. Er ist schon alt und trinkt ebenfalls, aber ein schrecklicher Athlet, und er versteht seine Sache. Die Bauern fürchten ihn . . . er schlägt sie, und sie haben ihn auch einmal ordentlich geschlagen . . . furchtbar! Er ist merkwürdig ehrlich und ist mir und Papa sehr zugetan . . . liebt uns wie ein Hund! Ich liebe ihn auch. Haben Sie vielleicht einen Roman gelesen, in dem der Held ein arabischer Offizier, Graf Louis Grammon, ist; er hat auch einen Burschen Sadi-Koko?«
»Hab' nicht gelesen«, gestand bescheiden der junge Gelehrte.
»Lesen Sie ihn unbedingt, es ist ein guter Roman,« riet sie ihm überzeugt, »ich nenne Nikon, wenn er mich zufriedenstellt, auch Sadi-Koko. Früher war er darüber böse; aber ich las ihm einst diesen Roman vor, und jetzt weiß er, daß es für ihn schmeichelhaft ist, dem Sadi-Koko ähnlich zu sein.«
Ippolit Sergejewitsch schaute sie an, wie ein Europäer eine fein ausgeführte, aber phantastisch häßliche Statuette eines Chinesen anschaut – mit einer Mischung von Staunen, Mitleid und Neugierde. – Und sie erzählte ihm mit Feuer von den Heldentaten des Sadi-Koko, der voll blinder Ergebenheit zum Grafen Louis Grammon war.
»Verzeihen Sie, Warwara Wassiljewna,« unterbrach er ihre Rede, »und Romane von russischen Autoren haben Sie gelesen?«
»O ja! Aber ich liebe sie nicht, langweilig sind sie, überlangweilig! Und schreiben nur so ein Zeug, das ich selbst ebensogut kenne wie sie. Sie können nichts Interessantes ausdenken, und bei ihnen findet man beinahe immer nur die Wahrheit.«
»Und lieben Sie denn nicht die Wahrheit?« fragte sie Ippolit Sergejewitsch weich.
»Ach, aber nicht doch! Ich sage jedem die Wahrheit ins Gesicht und« . . . sie schwieg, dachte nach und fragte:
»Und was ist daran zu lieben? Das ist meine Gewohnheit, wie soll ich sie denn lieben?«
Er hatte nicht die Zeit, ihr zu antworten; denn sie kommandierte schnell und laut:
»Halten Sie links . . . Schneller! Da zu dieser Eichel . . . Ach, wie ungeschickt Sie sind!«
Das Boot gehorchte nicht seiner Hand und legte sich mit der Breitseite ans Ufer, obwohl er mit Anstrengung das Wasser mit seinem Ruder wühlte.
»Macht nichts, macht nichts!« sagte sie, stand plötzlich auf und sprang über den Rand des Bootes.
Ippolit Sergejewitsch schrie dumpf auf, warf das Ruder fort und streckte die Hände nach ihr aus. Aber sie stand unbeschädigt am Ufer, die Kette des Bootes in der Hand haltend, und fragte ihn schuldbewußt: »Hab' ich Sie erschreckt?«
»Ich dachte, Sie würden ins Wasser fallen«, sagte er leise.
»Kann man denn hier fallen, und dabei ist es hier nicht tief!« entschuldigte sie sich, die Augen niederschlagend, und zog das Boot ans Ufer. – Er aber saß auf dem Steuer und dachte, daß er es eigentlich tun müßte.
»Sehen Sie, was für ein Wald!« sagte sie, als er ans Ufer gestiegen war und zu ihr herantrat. »Er ist doch schön! Dort bei Petersburg gibt es auch so schöne Wälder?«
Vor ihnen lag ein schmaler Weg, auf beiden Seiten von verschiedenen Baumarten umgeben. Unter ihren Füßen wölbten sich knotige Wurzeln, von den Rädern der Dorfkarren zerdrückt, über ihnen ein dichtes Zelt von Zweigen und irgendwo hoch oben blaue Fetzen von Himmel. Die Strahlen der Sonne, dünn wie Saiten, zitterten in der Luft, den schmalen grünen Gang quer durchschneidend. Der Geruch von verfaulten Blättern, Pilzen und Birken ermüdete sie; Vögel huschten hin und her und störten die ernste Ruhe des Waldes durch ihren lebhaften Gesang und ihr emsiges Zwitschern. Irgendwo klopfte der Specht, summte eine Biene, und zwei Schmetterlinge, einer den andern verfolgend, flogen voran, als ob sie ihnen den Weg zeigen wollten.
Sie gingen langsam; Ippolit Sergejewitsch schwieg; er wollte Warenjka in ihrem Suchen nach Worten für ihre Gedanken nicht stören, und sie sprach zu ihm voll Eifer:
»Ich lese nicht gerne von Bauern. Was kann es in ihrem Leben Interessantes geben! Ich kenne sie, lebe mit ihnen. Was man über sie schreibt, ist nicht richtig, nicht wahr. Sie werden so bemitleidenswert geschildert, und sie sind ganz einfach nur niederträchtig; sie sind gar nicht zu bedauern. Sie wollen nur eins – einen betrügen, einen bestehlen. Betteln immer, sind abscheulich, schmutzig . . . und sie sind die Klugen. Oh! Sie sind sogar sehr listig; wie sie mich manchmal plagen, wenn Sie nur wüßten!« Jetzt erhitzte sie sich, und auf ihrem Gesichte drückte sich Erbostheit und Langeweile aus. Es war klar, daß die Bauern in ihrem Leben eine große Rolle spielten; wenn sie sie schilderte, ließ sie sich sogar bis zum Hasse fortreißen. Ippolit Sergejewitsch war erstaunt über die Stärke ihrer Aufregung. Da er aber diese Ausschreitungen »des Herrn« nicht weiter anzuhören wünschte, unterbrach er sie:
»Sie sprachen von französischen Schriftstellern.«
»Ach ja! Das heißt von russischen« – verbesserte sie ihn, sich beruhigend. »Sie fragen, weshalb schreiben die Russen schlechter? – Das ist klar! Weil sie nichts Interessantes ausdenken können. Bei den Franzosen sind die Helden wirkliche Helden; sie sprechen auch nicht so wie alle Menschen und handeln anders. Sie sind immer tapfer, verliebt, lustig . . . Und bei uns sind Helden gewöhnliche Menschen, ohne Mut, ohne feurige Gefühle; solche häßliche, klägliche, ganz wirkliche Menschen und weiter nichts! Weshalb sind sie Helden? Niemals kann man das in einem russischen Buche verstehen. Ein russischer Held ist so dumm, so sackförmig, immer ist ihm alles zuwider, immer denkt er über etwas Unverständliches nach und bedauert alle, und selbst ist er beklagenswert, zu beklagenswert. Denkt nach, sagt etwas, macht eine Liebeserklärung, dann denkt er wieder, bis er schließlich heiratet . . . und wenn er geheiratet hat, sagt er seiner Frau saure Dummheiten und verläßt sie . . .
Was ist da Interessantes? Mich ärgert es sogar; denn es ist eigentlich ein Betrug. Statt eines Helden steckt immer eine Vogelscheuche im Roman! Und wenn man ein russisches Buch liest, vergißt man nie das wirkliche Leben – ist das gut? Wenn man aber ein französisches Buch liest – da zittert man für die Helden, man haßt, man will sich schlagen, wenn sie sich schlagen; man weint, wenn sie zugrunde gehen . . . leidenschaftlich wartet man auf den Schluß des Romans, und wenn man ihn ausgelesen hat – weint man vor Verdruß, daß er schon zu Ende ist. Da lebt man – in den russischen Büchern ist es ganz unverständlich, weshalb die Menschen überhaupt leben! Wozu Bücher schreiben, wenn man nichts Außergewöhnliches zu sagen hat! Sonderbar, wirklich!«
»Darauf könnte man Ihnen vieles erwidern, Warwara Wassiljewna«, unterbrach er ihren stürmischen Redefluß.
»Nun, erwidern Sie, bitte!« sagte sie, gnädig lächelnd. »Sie werden mich gewiß vernichten.«
»Werde mir Mühe geben. Vor allem, welche russischen Schriftsteller haben Sie gelesen?«
»Verschiedene . . . übrigens sind sie sich alle gleich. Zum Beispiel Saljaß . . . Er ahmt den Franzosen nach, aber schlecht. Übrigens hat er auch russische Helden. Aber kann man denn von ihnen interessant schreiben? Noch viele habe ich gelesen: Mordowzew, Markewitsch, Pasuchin. – Sie sehen aus, als ob Ihnen schon der Name sagte, daß sie nichts Gutes schreiben können. Sie haben nichts von ihnen gelesen? Und haben Sie Fortunet de Bonagobey gelesen? Pinçon de Terraille, Arcène de Hausset, Pierre Saconnez, Dumas, Gaboriot, Borne? Wie schön, mein Gott! Warten Sie . . . wissen Sie was? Mir gefallen in den Romanen am meisten die Mörder, die so geschickt viele hinterlistige Netze legen, morden, vergiften . . . klug sind sie und stark . . . und wenn man sie endlich erwischt, packt mich der Zorn, sogar bis zu Tränen bringt es mich. Alle hassen den Verbrecher, alle sind gegen ihn – er allein ist gegen alle! Das ist ein Held! Und jene andern, die Tugendhaften, werden ekelhaft, wenn sie siegen . . . Und überhaupt, wissen Sie! Mir gefallen die Menschen nur, solange sie etwas energisch wollen, auf etwas ausgehen, etwas erstreben, sich quälen . . . Aber wenn sie am Ziele sind und stehenbleiben, da sind sie schon nicht mehr interessant . . . Sogar banal!«
Aufgeregt und wahrscheinlich stolz auf das, was sie gesagt hatte, ging sie langsam an seiner Seite mit schön gehobenem Kopfe und funkelnden Augen.
Er schaute ihr ins Gesicht, und nervös am Bärtchen zupfend, suchte er nach Ausdrücken, die sie auf einmal von diesem groben Schleier von Staub, der ihren Geist umhüllte, befreien würden. Er fühlte sich verpflichtet, ihr zu erwidern; wollte aber noch ihr naives, eigenartiges Plaudern hören, noch sehen, wie sie, fortgerissen von ihren Anschauungen, ihm vertrauensvoll ihre Seele aufdeckte. Er hatte nie solche Reden gehört; sie waren häßlich und unmöglich in seinen Augen; aber gleichzeitig harmonierte alles, was sie sagte, vollkommen mit ihrer raubtierähnlichen Schönheit. Er sah einen ungeschliffenen Geist vor sich, der ihn durch seine Grobheit beleidigte, und ein verführerisch schönes Weib, das seine Sinne reizte. Diese beiden Elementargewalten drückten auf ihn mit der ganzen Kraft ihrer Unmittelbarkeit. Man mußte ihnen etwas Widerstandsfähiges entgegenstellen, sonst – das fühlte er – könnten sie ihn herauswerfen aus dem gewohnten Geleise seiner Anschauungen und Stimmungen, in welchen er bis zur Begegnung mit ihr ruhig dahinlebte. Er hatte eine klare Logik und debattierte gut mit Leuten aus seinen Kreisen. Aber wie mit ihr sprechen, und was ihr sagen, um ihren Geist auf den richtigen Weg zu lenken und ihre Seele zu veredeln, die durch dumme Romane, durch die Gesellschaft von Bauern, eines Soldaten und eines Trunkenbolds von Vater verkrüppelt war?
»Uh, wie ich viel gesprochen habe!« rief sie aufatmend. »Bin ich Ihnen langweilig geworden, ja?«
»Nein, aber . . .«
»Ich, sehen Sie, freue mich sehr mit Ihnen. Bis Sie kamen, hatte ich niemanden, mit dem ich reden konnte. Ihre Schwester, weiß ich, liebt mich nicht und ist immer mit mir unzufrieden . . . wahrscheinlich, weil ich dem Vater Branntwein gebe, und weil ich Nikon geschlagen habe . . .«
»Sie?! Geschlagen! Eh . . . wie haben Sie das gemacht?« rief er erstaunt.
»Sehr einfach, ich habe ihn durchgepeitscht mit Papas Knute; das ist alles! Verstehen Sie, es war gerade Dreschzeit, schreckliche Arbeitsnot, und er – das Vieh! – war betrunken. Hat er das Recht, sich anzutrinken, wenn die Arbeit drängt – und überall ist sein Auge nötig! Diese Bauern, sie . . .«
»Aber hören Sie, Warwara Wassiljewna,« begann er eindringlich und so sanft er konnte, »ist es denn recht, einen Knecht zu schlagen? Ist das edelmütig? Bedenken Sie nur! Schlagen denn jene Helden, vor denen Sie sich beugen, ihre Ergebenen . . . Sady-Koko?«
»Oh! und noch wie! Graf Louis Grammon versetzte einst dem Koko so eine Ohrfeige, daß mir sogar das arme Soldatchen leid tat. Und was kann ich mit ihnen machen, wenn nicht schlagen? Es ist noch gut, daß ich es kann. Ich bin doch stark! Fühlen Sie, was für Muskeln ich habe!«
Sie beugte den Arm und hielt ihn ihm stolz hin. Er legte seine Hand darauf, oberhalb des Ellbogens, und drückte fest mit seinen Fingern; aber sofort besann er sich, schaute sich verlegen um und errötete. Ringsum standen stumm die Bäume und nur . . .
Im allgemeinen war er mit Frauen nicht bescheiden; aber sie brachte ihn dazu durch ihre Einfachheit und Zutraulichkeit, obwohl sie in ihm ein Gefühl entfachte, das gefährlich war für ihn selbst.
»Sie besitzen eine beneidenswerte Gesundheit,« sagte er und beobachtete nachdenklich die kleine eingebrannte Hand, die an den Fältchen ihres Kleides auf der Brust zupfte, »und ich glaube, daß Sie ein sehr gutes Herz haben«, entfuhr es ihm unwillkürlich.
»Ich weiß nicht!« entgegnete sie kopfschüttelnd, »kaum – ich habe keinen Charakter; manchmal bedaure ich die Menschen, – sogar die, die ich nicht liebe.«
»Manchmal nur?« sagte er lächelnd. »Aber sie sind doch immer bedauernswert; doch immer bemitleidenswert.«
»Weshalb denn?« fragte sie ebenfalls lächelnd.
»Sehen Sie denn nicht, wie unglücklich sie sind? Sogar diese, Ihre Bauern; wie schwer ist das Leben für sie, wieviel Ungerechtigkeit, Kummer und Qualen erfahren sie in ihrem Leben!«
Das kam bei ihm heiß heraus, und sie schaute ihm aufmerksam ins Gesicht:
»Sie sind gewiß ein sehr guter Mensch, wenn Sie so sprechen. Aber Sie kennen die Bauern ja nicht, haben nie auf dem Lande gelebt . . . Unglücklich sind sie, das ist wahr, aber wer ist denn schuld daran? Sie sind schlau, und niemand hindert sie, sich glücklich zu machen.«
»Aber sie haben ja nicht einmal Brot genug, um sich satt zu essen!«
»Na ja! Aber sehen Sie, wie viele ihrer sind!«
»Ja, viele sind ihrer . . . aber Erde ist auch viel da; denn es gibt Menschen, die in die Zehntausende von Deßjatinen haben. Sie zum Beispiel haben wieviel?«
»Fünfhundertdreiundsiebzig . . . Nun und was? Soll man ihnen abgeben? . . . Aber hören Sie! . . . Wie ist das möglich?«
Sie schaute ihn an, wie ein Erwachsener ein Kind anschaut, und lachte leise. Ihn verwirrte, ihn ärgerte dieses Lachen; es entfachte in ihm das Verlangen, sie von den Irrwegen ihres Denkens zu überzeugen.
Und in abgerissenen, fast schroffen Worten fing er an zu sprechen von der ungerechten Verteilung der Reichtümer, von der Rechtlosigkeit des größeren Teiles der Menschheit, von dem verhängnisvollen Kampfe um einen Platz im Leben, um ein Stückchen Brotes; von der Macht der Reichen und der Machtlosigkeit der Armen; von dem Verstande, dem Leiter des Lebens, der schon jahrhundertelang durch Unwahrheit und die Finsternis der Vorurteile unterdrückt war, vorteilhaft für den starken, kleineren Teil der Menschheit.
Sie ging schweigend neben ihm und schaute ihn neugierig und staunend an.
Um sie herrschte dämmernde Waldesruhe, eine Ruhe, an der die Töne gleichsam dahingleiten, ohne ihre melancholische Harmonie zu stören. Die Blätter der Zitterpappel bebten nervös, als ob der Baum ungeduldig etwas lang Ersehntes erwarte.
»Die Pflicht eines jeden ehrlichen Menschen«, sagte Ippolit Sergejewitsch überzeugend, »ist, seinen ganzen Verstand, seine ganze Seele für den Kampf der Unterdrückten, für ihr Recht zu leben einzusetzen, sich zu bemühen, entweder die Qualen des Kampfes zu verkürzen oder seinen Gang zu beschleunigen. Hier ist wirklicher Heroismus erforderlich, und eben in diesem Kampfe müssen sie ihn suchen. Anderswo – gibt es keinen Heroismus. Die Helden dieses Kampfes sind allein der Bewunderung und Nachahmung wert . . . und Sie, Warwara Wassiljewna, müßten eben hierauf Ihre Aufmerksamkeit richten, hier Helden suchen, hier Ihre Kräfte abgeben . . . Aus Ihnen, scheint mir, könnte eine merkwürdig stoische Verteidigerin der Wahrheit werden. Aber, vor allem, müßten Sie viel lesen und lernen, das Leben ohne die Ausschmückungen der Phantasie zu verstehen. Alle diese dummen Romane muß man in den Ofen werfen . . .«
Er verstummte, ermüdet von seiner langen Vorlesung, trocknete sich den Schweiß von der Stirn und wartete, was sie sagen würde.
Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne hinaus, und auf ihrem Gesichte zitterten Schatten. Ihr leiser Ausruf unterbrach das minutenlange Schweigen.
»Wie Sie schön sprechen! Ist es möglich, daß alle an der Universität so sprechen können?«
Der junge Gelehrte seufzte hoffnungslos auf, und die Erwartung ihrer Antwort verwandelte sich in ihm in dumpfe Reizbarkeit gegen sie und in Mitleid mit sich selbst. Weshalb erfaßte sie nicht, was für jedes, nur ein wenig denkende Wesen so logisch klar war? Was fehlte in seinen Reden, weshalb berührten sie nicht ihre Gefühle?
»Sehr schön sprechen Sie!« seufzte sie, ohne seine Antwort abzuwarten, und in ihren Augen las er aufrichtiges Entzücken.
»Aber spreche ich auch richtig?« fragte er.
»Nein!« erwiderte sie, ohne nachzudenken. »Und wenn Sie auch ein Gelehrter sind, werde ich doch mit Ihnen streiten. Auch ich verstehe etwas davon! . . . Sie sprechen so, als ob Menschen ein Haus bauen und alle bei dieser Arbeit einander gleich sind; und nicht nur sie, sondern alles: die Ziegel, die Maurer, die Bäume und der Eigentümer des Hauses. – Alles dies gleicht nach Ihnen eins dem andern. Aber ist das möglich? Der Bauer – muß arbeiten. Sie müssen lehren und der Gouverneur alles besichtigen – ob alle das tun, was nötig ist . . . Und dann sagten Sie, daß das Leben ein Kampf ist . . . Wo sehen Sie das? Im Gegenteil, die Menschen leben alle so friedlich! Und wenn wirklich ein Kampf besteht, so muß es auch Besiegte geben. Was Sie aber über den allgemeinen Nutzen sagen, das verstehe ich schon gar nicht. Sie sagen, daß der allgemeine Nutzen in der Gleichberechtigung der Menschen liegt. Das ist aber nicht richtig: mein Papa ist Oberst – wie kann er einem Nikon oder einem Bauern gleichstehen? Und Sie – Sie sind ein Gelehrter; aber stehen Sie denn auf derselben Stufe wie unser Lehrer der russischen Sprache, der Branntwein trank . . . rothaarig und dumm war und sich so geräuschvoll wie eine Blechtrompete die Nase schneuzte? Aha!«
Sie hielt ihre Argumente für unwiderleglich und jubelte. Und er entzückte sich an ihrer freudigen Erregung und war zufrieden mit sich, daß er ihr diese Freude gab.
Aber sein Verstand bemühte sich, zu ergründen, weshalb der Gedanke, den er in ihr erweckt hatte, und der doch von keiner Analyse berührt war, bei ihr gerade in entgegengesetzter Richtung arbeitete, als er es wollte.
»Sie gefallen mir und ein anderer gefällt mir nicht . . . Wo ist da die Gleichberechtigung?«
»Ich gefalle Ihnen?« fragte Ippolit Sergejewitsch unwillkürlich lebhaft.
»Ja . . . sehr!« sagte sie mit dem Kopfe nickend und fragte gleich hinterher: »Nu, und was?«
Er erschrak vor diesem Abgrund von Naivität, die ihn mit klaren Blicken anschaute.
Ist es möglich, daß das ihre Art zu kokettieren ist? dachte er. Sie hat doch genug Romane zusammengelesen, um sich als Weib zu verstehen . . .
»Weshalb fragen Sie?« drang sie in ihn und schaute ihn voll Neugier ins Gesicht.
»Weshalb?« fragte er achselzuckend. »Ich denke, das ist doch natürlich«, sagte er, so ruhig er konnte. »Sie sind eine Frau – ich bin ein Mann.«
»Nu und was? Deswegen brauchen Sie es doch noch nicht zu wissen; Sie haben doch nicht die Absicht, mich zu heiraten.«
Sie sagte es so einfach, daß es ihn nicht einmal verblüffte. Es schien ihm nur, daß irgendeine unbekannte Kraft, mit der zu kämpfen in Betracht ihrer blinden, elementaren Gewalt nutzlos wäre, der Arbeit seines Gehirns eine andere Richtung gab. Und er sagte mit einem Anflug von koketter Spielerei:
»Wer weiß? . . . Ferner ist doch – wie Sie gewiß wissen – das Verlangen zu gefallen und das Verlangen zu heiraten nicht ein und dasselbe.«
Sie lachte plötzlich laut auf; ihr Lachen ernüchterte ihn sofort, und im stillen verfluchte er sie und sich selbst. Ihre Brust erbebte unter dem gesunden und herzlichen Lachen, das die Luft lustig erschütterte; und er schwieg und erwartete schuldbewußt ihre Zurechtweisung für seinen dreisten Scherz.
»Ach! Nu, was für . . . was für eine . . . Frau wäre ich für Sie! Das ist zum Totlachen! Wie ein Strauß und eine Biene! Ha, ha, ha.«
Und er fing auch an zu lachen, nicht über ihren komischen Vergleich, sondern über sein geringes Verständnis für die Triebfeder, die die Schwingungen ihrer Seele leitete.
»Sie sind ein liebes Mädchen!« kam es bei ihm aufrichtig heraus.
»Geben Sie mir mal Ihre Hand . . . Sie gehen sehr langsam, ich werde Sie ziehen. Es ist Zeit, zurückzukehren, höchste Zeit sogar! Wir laufen nun schon bald vier Stunden spazieren, und Elisawetta Sergejewna wird unzufrieden sein, daß wir uns zum Mittagessen verspätet haben.« . . .
Sie machten sich auf den Heimweg. Ippolit Sergejewitsch fühlte sich verpflichtet, sich wieder mit der Aufklärung ihrer Irrtümer zu beschäftigen, da sie ihm nicht erlaubten, sich an ihrer Seite so frei zu fühlen, wie er es wünschte. Aber vor allem mußte er in sich jene ungewisse Unruhe unterdrücken, die dumpf in ihm gärte; denn sie störte ihn in seiner Absicht, ruhig zuzuhören und ihre Beweise energisch zu widerlegen. Es wäre ihm so leicht, den häßlichen Auswuchs ihres Gehirns mit der kalten Logik seines Verstandes auszuschneiden, wenn dieses sonderbare, entkräftende Gefühl, für das er keinen Namen hatte, ihn nicht darin stören würde. Was konnte es sein? Es war ähnlich einem Wunsche, in die Ideenwelt dieses Mädchens keine ihr fremden Begriffe einzuführen . . . Aber solches Abweichen von seiner Pflicht wäre eine Schmach für einen Menschen, der stoisch in seinen Prinzipien war. Und für einen solchen hielt er sich. Er war fest überzeugt von der Kraft des Geistes und dessen Herrschaft über das Gefühl.
»Heute ist Dienstag?« sagte Warenjka. »Selbstverständlich. In drei Tagen wird also das schwarze Herrchen kommen.«
»Wer wird kommen und wohin?«
»Das schwarze Herrchen, Benkowskij, wird Sonnabend zu Ihnen kommen.«
»Weshalb denn?«
Sie lachte laut auf und sah ihn forschend an:
»Wissen Sie denn nichts? . . . Er ist – Beamter . . .«
»Ah! Ja, meine Schwester sprach von ihm . . .«
»Sprach sie?« fragte Warenjka lebhaft. »Nu und . . . sagen Sie, werden sie sich bald trauen lassen?«
»Wieso denn? Weshalb sollen sie sich denn trauen lassen?«
»Weshalb?« fragte Warenjka erstaunt. »Ja ich weiß nicht. Aber es gehört sich doch so! Aber, mein Gott . . . Haben Sie es denn nicht gewußt?«
»Nichts weiß ich!« sagte Ippolit Sergejewitsch bestimmt.
»Und ich habe es Ihnen gesagt!« rief sie verzweifelt aus. »Das ist nicht schlecht! Ach, bitte, lieber Ippolit Sergejewitsch, tun Sie, als ob Sie nichts wüßten . . . als hätte ich Ihnen nichts gesagt!«
»Gut, gut! Aber ich bitte Sie, ich weiß ja auch in der Tat nichts. Ich habe nur eins verstanden – meine Schwester will sich mit Herrn Benkowskij verheiraten . . . ist es so?
»Nu ja! Das heißt, wenn sie Ihnen nichts davon gesagt hat . . . so ist es vielleicht auch nicht der Fall. Sie werden ihr doch nichts davon sagen?«
»Sicherlich nicht! Ich kam hierher zur Beerdigung und geriet, wie es scheint, in ein Hochzeitsfest!? Das ist angenehm!«
»Bitte kein Wort von Hochzeit!« flehte sie. »Sie wissen von nichts.«
»Ganz richtig! Aber wer ist denn dieser Herr Benkowskij? Darf man das fragen?«
»Das dürfen Sie! Es ist – ein schwarzes, süßes, stilles Herrchen; er hat Äuglein, ein Schnurrbärtchen, Lippchen, Händchen und ein Fiedelchen; liebt zärtliche Liederchen und Konfitürchen. Ich möchte immer seine Bäckchen streicheln.«
»Sie scheinen aber nicht gerade sehr eingenommen von ihm zu sein!« rief Ippolit Sergejewitsch aus. Er hatte Mitleid mit Herrn Benkowskij bei so einer erniedrigenden Charakteristik seines Äußeren.
»Er liebt mich auch nicht! Ich . . . ich kann kleine, süßliche und bescheidene Männer nicht ausstehen. Ein Mann muß groß und stark sein; laut sprechen, große, feurige Augen haben, kühn sein in seinen Gefühlen, keine Hindernisse scheuen. Gewollt – getan! Das nenne ich einen Mann!«
»Solche Männer gibt es wohl nicht mehr!« sagte Ippolit Sergejewitsch trocken lächelnd; er fühlte, daß ihr Ideal eines Mannes ihm widerlich sei und ihn reize.
»Muß es geben!« rief sie überzeugt.
»Aber Sie, Warwara Wassiljewna, haben doch ein wahres Tier geschildert! Was ist denn Anziehendes an so einem Ungeheuer?«
»Gar kein Tier, einen starken Mann! Kraft – das ist das Anziehende. Die heutigen Männer werden schon geboren mit Rheumatismus, mit Husten und verschiedenen Krankheiten – ist das gut? Wäre es mir denn angenehm, zum Beispiel einen Herrn mit roten Pickeln im Gesicht zum Manne zu haben, wie der Gemeindehauptmann Kokowitsch? Oder ein hübsches Herrchen, wie Bentowskij? Oder eine krumme, hagere Bohnenstange wie den Untersuchungsrichter Muchin? Oder Grischa Tschernonjobow, den großen, fetten, pustenden, kahlköpfigen, rothaarigen Kaufmannssohn? Was für Kinder kann man von solchen kümmerlichen Ehemännern haben? Daran muß man doch denken . . . wie denn? Die Kinder . . . sind doch sehr wichtig! Und die Männer, die denken gar nicht daran . . . Nichts lieben sie, zu nichts sind sie zu gebrauchen, ich . . . ich hätte so einen Mann geschlagen, wenn ich ihn geheiratet hätte!«
Ippolit Sergejewitsch unterbrach sie und versuchte, ihr zu beweisen, daß ihre Beurteilung des Mannes überhaupt nicht richtig sei, weil sie zu wenig Menschen kenne. Und auch die von ihr Genannten müßte man nicht nur nach ihrem Äußeren beurteilen. – »Das ist ungerecht! Ein Mensch kann eine häßliche Nase haben, aber ein gutes Herz, Pickeln im Gesicht, und doch einen klaren Verstand.« Es war ihm schwer und langweilig über diese elementaren Wahrheiten zu sprechen; bis zur Begegnung mit ihr dachte er so wenig an ihre Existenz, daß sie ihm jetzt selbst moderig und verbraucht schienen. Er fühlte, daß alles dieses sie nicht berührte, und daß sie es nicht in sich aufnehmen würde . . .
»Da ist schon der Fluß!« rief sie freudig aus, seine Rede unterbrechend.
Und Ippolit Sergejewitsch dachte:
»Sie ist froh, daß ich zu reden aufhöre.«
Und von neuem ruderten sie auf dem Flusse, einander gegenübersitzend. Warenjka nahm wieder die Ruder und ruderte schnell und kräftig; das Wasser rieselte unzufrieden unter dem Boote, kleine Wellen liefen zu den Ufern hin. Ippolit Sergejewitsch betrachtete die Ufer, wie sie dem Boote entgegenzogen; er fühlte sich ermüdet von all dem, was er während des Ausfluges gehört und gesehen hatte.
»Sehen Sie, wie schnell das Boot dahingleitet,« sagte Warenjka.
»Ja,« erwiderte er kurz, ohne die Augen auf sie zu richten; aber auch so, ohne sie zu sehen, stellte er sich vor, wie verlockend ihr Körper sich schmiegte, und wie verführerisch ihr Busen sich hob und senkte.
Der Park kam in Sicht . . . Bald darauf gingen sie in seinen Alleen, und ihnen entgegen kam Elisawetta Sergejewnas schlanke Gestalt. Ein vielsagendes Lächeln umspielte ihre Lippen und in ihrer Hand hielt sie Papiere.
»Nun, Ihr habt aber einen langen Spaziergang gemacht!«
»Lang? Dafür habe ich aber auch so einen Hunger mitgebracht, daß ich – uh! – sogar euch aufessen werde!«
Und Warenjka faßte Elisawetta Sergejewna um die Taille, schwenkte sie mit Leichtigkeit herum und lachte fröhlich über ihr Geschrei.
Das Mittagessen war nicht schmackhaft zubereitet und verlief langweilig. Warenjka war ganz in Anspruch genommen von dem Prozesse der Sättigung und schwieg. Elisawetta Sergejewna ärgerte den Bruder durch ihre Blicke, die immer wieder forschend auf seinem Gesichte hafteten. Bald nach dem Mittagessen fuhr Warenjka nach Hause und Ippolit Sergejewitsch ging auf sein Zimmer. Er legte sich auf den Diwan und begann nachzusinnen, indem er die Bilanz der Eindrücke dieses Tages zog. Er erinnerte sich der kleinsten Details des Spazierganges und fühlte, wie sich aus ihnen ein trüber Bodensatz bildete, der das ihm angeborene, nie schwankende Gleichgewicht zwischen Fühlen und Denken zerstörte. Er empfand sogar physisch die Neuheit seiner Stimmung, wie eine eigentümliche Schwere, die auf ihm lastete, und ihm das Herz zusammenpreßte, als ob sein Blut sich verdickte und langsamer als sonst zirkulierte. Es war wie eine Müdigkeit, die in ihm eine Neigung zu Träumereien erweckte, und wie ein Vorspiel zu einem Wunsche, der noch keine Gestalt angenommen hatte. Aber nur deshalb war es ihm unangenehm, weil es eine unbenannte Empfindung blieb; trotz aller seiner Mühe, ihr einen Namen zu geben.
Man muß mit der Analyse warten, bis sich die Gärung legt, beschloß er.
Aber es kam in ihm das Gefühl einer ätzenden Unzufriedenheit mit sich selbst auf; und gleichzeitig machte er sich den Vorwurf, daß er die Fähigkeit, seine Gemütsbewegungen zu beherrschen, verloren habe, und daß sein heutiges Benehmen eines ernsten Mannes nicht würdig gewesen sei. Allein mit sich selbst war er immer stoischer und strenger gegen sich, als in Gegenwart anderer. Und er fing an, sich selbst sorgfältig zu prüfen.
Es ist unbestreitbar, daß dieses Mädchen berückend schön ist; aber sofort bei ihrem Anblick in den mystischen Kreis dieser unbestimmten Empfindungen zu treten – das ist zu viel für sie und schmachvoll für ihn; denn es verrät Zügellosigkeit, Mangel an Selbsterziehung. Sie erregt stark die Sinnlichkeit – das ist wahr; aber dagegen muß man kämpfen.
»Muß man das?« flammte plötzlich der kurze und stechende Gedanke in ihm auf.
Er runzelte die Stirn und stellte sich zu dieser Frage, als ob ein anderer sie an ihn gerichtet hätte.
Jedenfalls ist das, was in ihm vorgeht, nicht der Anfang des Gefesseltwerdens von einer Frau; es ist der Protest des Verstandes, der in dem Zusammenstoß beleidigt ist; er ging nicht als Sieger daraus hervor, wenn auch sein Gegner kindisch schwach war. Man hätte mit diesem Mädchen in Bildern sprechen müssen; denn es ist klar, daß sie keine logischen Widerlegungsgründe versteht. Seine Pflicht ist es, ihre rohen Begriffe auszurotten, alle diese groben und dummen Phantastereien, die ihr Gehirn aufgesogen hat, zu zerstören. Man muß ihren Geist von all den Verirrungen entblößen, ihre Seele reinigen und befreien, und dann erst wird sie fähig sein, die Wahrheit zu empfangen und in sich aufzunehmen.
»Kann ich das ausführen?« entbrannte wieder in ihm eine nebensächliche Frage. Und wiederum umging er diese Frage . . . Wie wird sie sich entwickeln, wenn sie etwas Neues und etwas, das mit ihrem inneren Wesen in Widerspruch steht, in sich aufnehmen wird? Und es schien ihm, daß das Mädchen noch einmal so schön sein würde, wenn ihre Seele sich losreißen würde von der Gefangenschaft der Irrtümer und durchdrungen sein würde von den harmonischen Lehren, die frei sind von allem Unklaren und Verfinsternden.
Als man ihn zum Tee rief, war er schon fest entschlossen, ihre Welt umzugestalten, und er machte sich diesen Entschluß zu einer wirklichen Pflicht. Jetzt wird er ihr ruhig und kalt entgegentreten und seinem Verhältnis zu ihr den Charakter einer strengen Kritik alles dessen, was sie sagen und tun wird, geben.
»Nun, und wie gefällt dir Warenjka« fragte ihn die Schwester, als er auf die Terrasse hinaustrat.
»Ein sehr nettes Mädchen,« sagte er, indem er seine Brauen hob.
»Ja? Meinst du? . . . Ich dachte, dich würde ihr Mangel an Entwicklung stutzig machen.«
»Ich muß zugeben, ich bin ein wenig erstaunt über diese Seite ihres Wesens,« sagte er zustimmend. »Aber, aufrichtig gesagt, ist sie in vielem besser, als andere entwickelte Mädchen, die damit paradieren.«
»Ja, sie ist schön . . . und eine gute Partie . . . Fünfhundert Deßjatinen vorzüglichen Bodens, ungefähr hundert Deßjatinen Bauholz; und nach dem Tode ihrer Tante wird sie noch ein schönes Gut erben. Und alle beide sind frei von Hypotheken.«
Er sah, daß die Schwester ihn absichtlich mißverstand; aber er wollte sich nicht erklären, weshalb sie es nötig hatte. »Von diesem Standpunkt aus betrachte ich sie nicht,« sagte er.
»So tue es . . . ich rate dir ernstlich dazu.«
»Danke.«
»Du bist ein bißchen mißgestimmt, wie es scheint?«
»Im Gegenteil. Weshalb fragst du?«
»So. Will es wissen als besorgte Schwester.« Sie lächelte liebenswürdig und ein wenig einschmeichelnd. Dieses Lächeln erregte in ihm den Gedanken an Herrn Benkowskij, und er lächelte ebenfalls.
»Was lachst du?« fragte sie.
»Und du?«
»Ich bin vergnügt.«
»Ich auch, wenn ich auch nicht eine Frau vor zwei Wochen beerdigt habe,« sagte er lachend.
Aber sie machte ein ernstes Gesicht und seufzte.
»Du tadelst mich vielleicht innerlich für diesen Mangel an Gefühl für meinen seligen Mann und denkst, daß ich egoistisch bin? Aber Ippolit, du weißt, wie mein Mann war; ich schrieb dir, wie ich lebte, und ich dachte oft: mein Gott! Ist es möglich, daß ich nur geboren bin, um die groben Gelüste des Nikolaus Stepanowitsch Woropajew zu stillen, der sich sogar so betrinkt, daß er nicht einmal seine Frau von dem gewöhnlichen Dorf- oder Straßenweibe unterscheiden kann?«
»Aber ist das möglich?« . . . fragte Ippolit Sergeiewitsch mißtrauisch. Er erinnerte sich ihrer Briefe, in denen so viel von der Charakterlosigkeit ihres Mannes, von seiner Leidenschaft zum Wein, von seiner Faulheit, von allen möglichen Lastern schrieb, nur nicht von seiner Liederlichkeit.
»Du zweifelst?« fragte sie ihn vorwurfsvoll und seufzte. »Und doch ist es ein Faktum; er war oft in so einem Zustande . . . ich kann nicht gerade behaupten, daß er mir untreu war, aber ich halte es für möglich. Konnte er denn unterscheiden, ob ich es war, die vor ihm stand, oder eine andere, wenn er Fenster für Türen hielt? Ja . . . und so lebte ich Jahre hindurch . . .«
Sie sprach lange und langweilig über ihr trauriges Leben; er hörte zu und wartete, wann sie ihm das sagen würde, was sie ihm eigentlich sagen wollte. Und unwillkürlich dachte er, daß Warenjka kaum je über ihr Leben klagen würde, wie es sich auch gestalten möge.
»Ich denke, das Schicksal muß mich belohnen für die langen Jahre des Unglücks . . . Vielleicht ist sie nahe – diese Belohnung.«
Elisawetta Sergejewna verstummte, schaute den Bruder fragend an und errötete leicht.
»Was willst du damit sagen?« fragte er, sich freundlich zu ihr herabbückend.
»Siehst du . . . ich werde vielleicht . . . mich wieder verheiraten!«
»Das wirst du ausgezeichnet machen! Gratuliere . . . Aber weshalb wirst du so verlegen?«
»Wirklich, ich weiß nicht!«
»Wer ist es denn?«
»Ich denke, ich erzählte dir von ihm . . . Benkowskij . . . der künftige Staatsanwalt . . . und einstweilen – ein Poet und Träumer . . . Vielleicht sind dir seine Gedichte schon begegnet . . . Er läßt sie drucken.«
»Gedichte les ich nicht. Ist er ein guter Mensch? Übrigens selbstverständlich ist er gut.«
»Ich bin klug genug, um nicht ohne weiteres ja zu sagen. Aber es scheint, daß ich, ohne mich selbst zu betrügen, sagen kann, daß er fähig sein wird, mich für die Vergangenheit zu entschädigen . . . Er liebt mich . . . Ich habe mir selbst eine kleine Philosophie aufgebaut. Vielleicht wird sie dir ein bißchen grausam erscheinen.«
»Oh, philosophiere nur ungeniert; es ist jetzt Mode,« sagte Ippolit Sergejewitsch scherzend.
»Männer und Frauen – sind zwei Rassen, die ewig im Streite liegen,« sagte weich die Frau, »Vertrauen, Freundschaft und andere Gefühle gleicher Art sind kaum möglich zwischen mir und einem Mann. Aber Liebe ist möglich . . . Und die Liebe ist der Sieg desjenigen, der weniger liebt, über den, der mehr liebt . . . Ich war einst besiegt und bezahlte dafür . . . Jetzt habe ich gesiegt und werde die Früchte des Sieges ausnützen . . .«
»Ah! Das ist eine ziemlich blutige Philosophie,« unterbrach sie Ippolit Sergejewitsch und dachte mit Freude daran, daß Warenjka nicht so hätte philosophieren können.
»Das Leben hat sie mir vorgesprochen . . . Siehst du, er ist vier Jahre jünger als ich, hat eben die Universität beendet. Ich weiß, daß das nicht ungefährlich für mich ist . . . und – wie soll ich mich ausdrücken? . . . Ich möchte es so einrichten, daß meine Vermögensrechte kein Risiko laufen.«
»Ja . . . Nun und was?« fragte Ippolit Sergejewitsch aufhorchend.
»Also rate mir, wie man das einrichten soll; ich will ihm keine juristischen Rechte auf mein Vermögen geben . . . und würde ihm auch keine Rechte auf meine Person geben, wenn das möglich wäre.«
»Das scheint mir erreichbar durch eine freie Ehe. Übrigens . . .«
»Nein! Die freie Ehe billige ich nicht.«
Er schaute sie an und dachte mit einem Gefühl des Widerwillens: Sie ist aber raffiniert! Wenn Gott wirklich die Menschen geschaffen hat, so gestalten sie das Leben so leicht um, daß sie ihm gewiß schon längst widerwärtig geworden sind.
Aber die Schwester erklärte ihm ihren Standpunkt über die Ehe überzeugend.
»Die Ehe muß ein vernünftiges Übereinkommen sein, das jedes Risiko ausschließt. Eben in dieser Weise denke ich es mit Benkowskij zu regeln. Aber bevor ich diesen Schritt mache, möchte ich die gesetzlichen Ansprüche dieses widerwärtigen Schwagers aufgeklärt haben; bitte, sieh alle diese Papiere durch.«
»Du erlaubst mir doch, es morgen zu tun?« fragte er.
»Gewiß, wann du willst.«
Sie entwickelte ihm noch lange ihre Ideen, dann erzählte sie viel von Benkowskij. Von ihm sprach sie nachsichtig, ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und aus irgendeinem Grunde kniff sie die Augen zusammen. Ippolit Sergejewitsch hörte ihr zu und wunderte sich selbst über den Mangel jeder Teilnahme und jeden Interesses an ihrem Schicksal und an ihren Reden. Die Sonne ging schon unter, als sie sich trennten: er – ihrer müde – begab sich auf sein Zimmer, und sie – aufgemuntert durch die Unterhaltung, mit einem selbstbewußten Leuchten in den Augen – ging, um sich um die Wirtschaft zu bekümmern.
In seinem Zimmer zündete Ippolit Sergejewitsch die Lampe an und nahm ein Buch herunter, um zu lesen; aber schon bei der ersten Seite fühlte er, daß es ihm nicht weniger angenehm wäre, das Buch zuzuklappen. Und er reckte sich behaglich, machte das Buch zu und suchte sich bequem im Lehnstuhl zurechtzusetzen; aber der Lehnstuhl war hart, und er ging zum Diwan und legte sich hin. Anfangs dachte er an nichts; dann erinnerte er sich unwillig, daß er bald die Bekanntschaft des Herrn Benkowskij machen müßte, und sofort lächelte er in Erinnerung der Charakteristik, die ihm Warenjka von diesem Herrn gegeben hatte.
Und bald war sie es allein, die seine Gedanken und Vorstellungen ausfüllte. Neben allem andern streifte ihn der Gedanke: »Und wie wäre es, wenn man sich mit so einem lieben Scheusal verheiratete. Sie wäre schon eine sehr interessante Frau . . . allein deshalb, weil man von ihren Lippen nicht die Groschenweisheit der populären Bücher zu hören bekommen würde . . .«
Als er aber seine Lage als Gatte Warenjkas von allen Seiten beleuchtete, lachte er laut auf und antwortete sich selbst kategorisch:
»Niemals!«
Und gleich darauf wurde er traurig.
Der Sonnabendmorgen fing für Ippolit Sergejewitsch mit einer kleinen Unannehmlichkeit an: beim Ankleiden ließ er die Lampe vom Tische fallen; sie flog in tausend Stücke, und einige Tropfen Petroleum fielen auf einen seiner Schuhe, die er noch nicht angezogen hatte. Die Schuhe wurden selbstverständlich gereinigt; aber Ippolit Sergejewitsch schien es, daß vom Tee, vom Brot, von der Butter und sogar von den schön frisierten Haaren seiner Schwester ein widerwärtiger Ölgeruch ausströmte.
Das verdarb ihm die Stimmung.
»Zieh doch die Schuhe aus und stelle sie in die Sonne, dann wird das Petroleum verdunsten,« riet ihm die Schwester, »und einstweilen zieh die Pantoffeln meines Mannes an; es ist noch ein ganz neues Paar da.«
»Bitte, mach' dir keine Umstände; es wird bald vorübergehen.«
»Brauchst doch nicht abzuwarten, bis es vorübergeht. Wirklich, ich sage Bescheid, daß man die Pantoffeln bringt.«
»Nein, ist nicht nötig. Wirf sie lieber fort.«
»Weshalb? Die Pantoffeln sind schön, sie sind aus Sammet . . . sind noch zu gebrauchen.«
Es gefiel ihm, sich zu streiten; das Petroleum reizte ihn. »Wozu sind sie zu brauchen? Du wirst sie doch nicht tragen!«
»Ich, gewiß nicht; aber Alexander.«
»Wer ist das?«
»Aber doch, Benkowskij.«
»Aha!« er lächelte trocken, »das ist eine sehr rührende Treue zu den Pantoffeln deines Mannes . . . Und praktisch.«
»Du bist heute böse?«
Sie schaute ihn ein wenig beleidigt, aber sehr forschend an. Er fing diesen Ausdruck in ihren Augen auf und dachte feindselig:
»Gewiß redet sie sich ein, daß ich durch die Abwesenheit Warenjkas gereizt bin.«
»Zum Mittagessen wird wahrscheinlich Benkowskij kommen«, teilte sie ihm nach einer Weile des Schweigens mit.
»Freut mich sehr«, antwortete er und überlegte sich:
»Sie will, daß ich liebenswürdig sein soll mit dem zukünftigen Schwager.«
Und seine Reizbarkeit wuchs durch ein nagendes Gefühl der Langeweile. Elisawetta Sergejewna sprach weiter, indem sie das Brot sorgfältig mit einer dünnen Schicht Butter bestrich:
»Praktisch sein, ist meiner Ansicht nach eine sehr lobenswerte Eigenschaft, besonders in unserer Zeit, in der die Last der Verarmung uns, die von den Früchten der Erde leben, so drückt. Weshalb soll denn nicht Benkowskij die Pantoffeln meines Mannes tragen?« . . .
»Und sogar sein Leichengewand, wenn du es von ihm herabgenommen hast und verwahrst« – dachte Ippolit Sergejwitsch boshaft und beschäftigte sich eifrig mit der Überführung des Rahms aus dem Milchkrug in sein Glas.
»Überhaupt ist eine sehr inhaltsreiche und anständige Garderobe von meinem Mann zurückgeblieben. Und Benkowskij ist nicht verwöhnt. Du weißt ja, wie groß die Familie ist: drei Jünglinge, außer Alexander, und fünf junge Mädchen; und ihr Gut ist in Form von Hypotheken vielleicht schon zehnmal verpfändet. Weißt du, ich habe bei ihnen sehr preiswert eine Bibliothek gekauft; darunter sehr wertvolle Sachen. Sieh sie dir mal an; vielleicht findest du etwas Interessantes für dich darunter . . . Alexander lebt von einem sehr armseligen Gehalt.«
»Kennst du ihn schon lange?« fragte Ippolit Sergejewitsch; er mußte von Benkowskij sprechen, obwohl er am liebsten gar nicht gesprochen hätte.
»Im ganzen ungefähr vier Jahre und so . . . näher – sieben bis acht Monate . . . Du wirst sehen, er ist sehr nett. Ein sehr zärtlicher, leicht begeisterter . . . Idealist und scheinbar ein wenig dekadent. Übrigens neigt ja die ganze heutige Jugend zur Dekadenz: die einen verfallen auf den Idealismus, die anderen auf den Materialismus . . . Diese und jene scheinen mir nicht klug.«
»Es gibt noch Menschen, die einen Skeptizismus in einer Stärke von hundert Pferdekräften predigen, wie ein Kollege von mir so etwas bezeichnet«, äußerte sich Ippolit Sergejewitsch, seinen Kopf senkend.
Sie lachte auf und sagte: »Das ist geistreich, wenn auch ein wenig plump. Ich bin vielleicht nicht weit vom Skeptizismus entfernt; weißt du, von so einem gesunden Skeptizismus, der allen möglichen Leidenschaften die Flügel bindet; der scheint mir notwendig für . . . für das Aneignen richtiger Anschauungen über das Leben der Leute.«
Er beeilte sich, seinen Tee auszutrinken, und ging fort mit der Erklärung, daß er die Bücher ordnen müsse. Aber trotzdem die Türen offen standen, roch sein Zimmer nach Petroleum. Er verzog sein Gesicht, nahm ein Buch und ging in den Park. Dort, in dem engverwandten Kreise der alten Bäume, die ermüdet waren durch Sturm und Wetter, herrschte eine melancholische Ruhe, die den Geist entkräftete; und er ging, ohne das Buch zu öffnen, die Hauptallee entlang; ohne zu denken, ohne einen Wunsch zu haben.
Da war der Fluß und das Boot. Da hatte er Warenjka gesehen, wie sie sich widerspiegelte im Wasser; sie war engelschön gewesen in diesem Spiegelbilde.
»Nun, ich bin der reine Gymnasiast!« rief es in ihm, aber er fühlte, daß die Erinnerung an Warenjka ihm wohltue.
Er blieb einen Augenblick am Flusse stehen, stieg ins Boot, setzte sich ans Steuer und fing an, jenes Bild im Wasser zu betrachten, das so schön war einige Tage vorher. Es war auch heute ebenso schön; aber heute erschien nicht auf seinem durchsichtigen Hintergrund die weiße Gestalt des seltsamen Mädchens. Polkanoff zündete sich eine Zigarette an, warf sie aber sofort ins Wasser und dachte, daß es vielleicht dumm gewesen war, hierherzufahren. Im Grunde genommen, wozu war er eigentlich hier nötig? Wie es scheint, nur, um den guten Namen seiner Schwester zu schützen, oder einfacher gesagt, um der Schwester die Möglichkeit zu geben, ohne den Anstand zu verletzen, Herrn Benkowskij bei sich zu empfangen.
Diese Rolle ist eigentlich nicht allzu wichtig . . . Dieser Benkowskij muß nicht gerade sehr klug sein, wenn er wirklich seine Schwester liebt, die am Ende schon allzu klug ist. –
Nachdem er fast drei Stunden so vor sich hingeträumt hatte in einer Art Erschlaffung der Gedanken, die über die Gegenstände hinschweiften, ohne sie sich klar vorzustellen, stand er auf und ging langsam auf das Haus zu, mißgestimmt über sich selbst wegen dieser vergeudeten Zeit; und er beschloß fest, sich schneller an die Arbeit zu setzen. Als er sich der Terrasse näherte, erblickte er einen schlanken Jüngling in einer weißen, mit einem Riemen umgürteten Bluse.Ein Arbeiterhemd, das die gebildete Jugend im Sommer trägt, cf.: Bilder von Gorki, auch Tolstoi. Der Jüngling stand mit dem Rücken der Allee zugewandt und besichtigte etwas, über den Tisch gebeugt. Ippolit Sergejewitsch verlangsamte seine Schritte und überlegte sich, ob das schon Benkowskij sei. In diesem Augenblick richtete sich der Jüngling auf; mit einer schönen Bewegung warf er das lange, schwarze, wellige Haar aus der Stirn zurück und drehte sich nach der Allee um.
»Aber das ist ja ein Page aus dem Mittelalter!« rief Ippolit Sergejewitsch innerlich aus.
Benkowskijs Gesicht war oval, matt-blaß und hatte einen gequälten Ausdruck durch den gespannten Glanz der großen, mandelförmigen, schwarzen Augen, die tief in ihre Höhlen versunken waren. Der schön modellierte Mund hob sich von dem kleinen, schwarzen Schnurrbart ab, und die gewölbte Stirn trat plastisch hervor unter dem nachlässig zerwühlten, welligen Haar. Er war klein von Wuchs, etwas kleiner als mittelgroß; aber seine geschmeidige Figur, elegant und regelmäßig gebaut, verbarg diesen Mangel. Er schaute Ippolit Sergejewitsch mit dem Ausdrucke eines Kurzsichtigen an, und in seinem blassen Gesicht war etwas sehr Sympathisches, aber auch etwas Kränkliches. Mit einem Barett und einem Sammetwams wäre er wirklich wie ein Page gewesen, der aus dem Bilde eines mittelalterlichen Hofes herausgetreten war.
»Benkowskij!« sagte er dumpf zu Ippolit Sergejewitsch, der die Stufen der Terrasse betrat, und reichte ihm eine weiße Hand mit langen Musikerfingern.
Der junge Gelehrte drückte ihm fest die Hand.
Eine Minute schwiegen beide verlegen; dann begann Ippolit Sergejewitsch über die Schönheit des Parkes zu sprechen. Der Jüngling antwortete kurz, augenscheinlich nur um die Aufrechterhaltung der Höflichkeit besorgt und ohne jedes Interesse für den, mit dem er sprach.
Bald kam Elisawetta Sergejewna in einem weiten, weißen Kleide mit einem schwarzen Spitzenkragen und mit einer langen schwarzen Schnur, an deren Enden Troddeln waren, umgürtet. Dieses Kostüm harmonierte gut mit ihrem ruhigen Gesicht und gab den feinen, regelmäßigen Zügen einen majestätischen Ausdruck. Auf ihren Wangen spielte eine leichte Röte der Freude, und die kalten Augen blickten lebhaft.
»Bald werden wir Mittag essen«, kündigte sie an. »Ich werde Sie mit Eis traktieren. Und Sie, Alexander Petrowitsch, weshalb sind Sie so melancholisch? Ja, haben Sie Schubert nicht vergessen?«
»Habe Schubert und Bücher mitgebracht«, erwiderte er, sie unverhohlen träumerisch betrachtend.
Ippolit Sergejewitsch sah den Ausdruck seines Gesichts und fühlte sich verlegen; er verstand, daß dieser liebe Jüngling sich augenscheinlich das Gelübde gegeben hatte, seine Existenz nicht anzuerkennen.
»Vortrefflich!« sagte Elisawetta Sergejewna lächelnd zu Benkowskij. »Nach Tische spielen wir doch zusammen?«
»Wenn es Ihnen recht ist!« und er verneigte sich leicht.
Er tat das graziös, aber trotzdem veranlaßte diese Bewegung Ippolit Sergejewitsch, innerlich zu lächeln.
»Das ist mir sehr recht«, sagte kokett die Schwester.
»Und Sie lieben Schubert?« fragte Ippolit Sergejewitsch.
»Mehr als alle – Beethoven, den Shakespeare der Musik«, entgegnete Benkowskij, ihm sein Gesicht im Profil zuwendend.
Ippolit Sergejewitsch hatte schon früher gehört, daß man Beethoven den Shakespeare der Musik nannte; aber der Unterschied zwischen Beethoven und Schubert war für ihn eins jener Geheimnisse, die ihn gar nicht interessierten. Aber ihn interessierte dieser Jüngling, und er fragte ernst:
»Weshalb stellen Sie Beethoven über alle?«
»Weil er mehr Idealist ist, als alle übrigen Schöpfer der Musik zusammengenommen.«
»Ja? Auch Sie halten diese Weltanschauung für die richtige?«
»Unzweifelhaft! Und ich weiß, daß Sie ein krasser Materialist sind; habe Ihre Schriften gelesen«, erklärte Benkowskij, und seine Augen flammten sonderbar auf.
Er will streiten! dachte Ippolit Sergejewitsch. – Aber er ist ein lieber Kerl, bieder und heilig-ehrlich. Und seine Sympathie zu diesem Idealisten, der verurteilt war, die Pantoffeln des Verstorbenen zu tragen, wuchs:
»Soll das heißen, daß wir Feinde sind?« fragte er lächelnd.
»Wie können wir Freunde sein?!« rief Benkowskij feurig aus.
»Meine Herren!« rief ihnen Elisawetta Sergejewna aus den Zimmern zu. »Vergessen Sie nicht, daß Sie sich eben erst kennengelernt haben« . . .
Das Stubenmädchen Mascha deckte, mit den Tellern klappernd, den Tisch und schielte immerfort zu Benkowskij hinüber; in ihren Augen leuchtete naives Entzücken. Auch Ippolit Sergejewitsch betrachtete ihn und dachte, daß man diesen Jüngling mit außerordentlichem Feingefühl behandeln müsse, und daß es gut wäre, »ideale« Gespräche zu vermeiden; denn im Streite würde er sich gewiß bis zur Raserei fortreißen lassen. Aber Benkowskij schaute ihn mit flammenden Augen und einem nervösen Zittern im Gesicht an; offenbar wünschte er leidenschaftlich, mit ihm ein Gespräch zu beginnen, und zügelte nur mit Mühe dieses Verlangen; Ippolit Sergejewitsch beschloß jedoch, sich in dem Rahmen rein formeller Höflichkeit zu halten . . .
Seine Schwester saß schon am Tisch und warf mit kluger Grazie bald dem einen, bald dem andern unbedeutende Fragen in einem scherzenden Tone zu. Die Herren antworteten kurz. Der eine mit der familiären Nachlässigkeit des Verwandten, der andere mit der Ehrerbietigkeit des Verliebten. Und alle drei waren von einem Gefühl der Gezwungenheit und Unbehaglichkeit ergriffen, das jeden veranlaßte, den andern zu beobachten und zugleich sich selbst.
Mascha brachte das erste Gericht auf die Terrasse.
»Bitte, meine Herren«, forderte sie Elisawetta Sergejewna auf, indem sie den Auffüll-Löffel nahm. »Trinken Sie Branntwein?«
»Ich ja!« sagte Ippolit Sergejewitsch.
»Ich nicht, wenn Sie gestatten«, sagte Benkowskij.
»Gestatte, und gerne. Aber sonst trinken Sie doch!«
»Ich will nicht . . .«
»Anstoßen mit dem Materialisten« – dachte Ippolit Sergejewitsch bei sich.
Die schmackhafte Suppe mit den Pastetchen oder das tadellose Benehmen Ippolit Sergejewitschs beschwichtigten und milderten den schroffen Glanz in Benkowskijs schwarzen Augen, und als das zweite Gericht gebracht wurde, begann er zu sprechen.
»Vielleicht schien Ihnen meine Äußerung als Antwort auf Ihre Frage, ob wir Feinde sind, herausfordernd; vielleicht war sie unhöflich; aber ich bin der Ansicht, daß das Verhältnis der Menschen zueinander frei sein muß von der allgemein gültigen Regel der offiziellen Lüge.«
»Ganz mit Ihnen einverstanden,« sagte Ippolit Sergejewitsch lächelnd, »je einfacher desto besser. Und Ihre offene Äußerung hat mir nur gefallen, wenn ich mich so ausdrücken darf.«
Benkowskij lächelte traurig und sagte: »Wir sind wirklich Gegner auf dem Gebiete der Ideen, und das ergibt sich sofort von selbst. Da sagten Sie: einfacher – besser; ich denke auch so; aber ich lege in diese Worte einen Inhalt und Sie – einen andern . . .«
»Wirklich?« fragte Ippolit Sergejewitsch.
»Ohne Zweifel; wenn Sie von den Anschauungen aus, die Sie in Ihrer Abhandlung darlegen, den geraden Weg der Logik gehen.«
»Das tue ich selbstverständlich.«
»Sehen Sie! Und von meinem Standpunkte aus ist Ihr Begriff von Einfachheit ein grober. Aber lassen wir das . . . Sagen Sie – wenn Sie sich das Leben nur als Mechanismus vorstellen, der alles ausarbeitet, darunter auch die Ideen, wie empfinden Sie denn da nicht die innere Kälte, und wie ist es möglich, daß in Ihrer Seele kein Funke des Bedauerns glimmt für all das Geheimnisvolle und Bezaubernd-Schöne, das von Ihnen zu einem einfachen Chemismus herabgesetzt wird, zu einem Stoffwechsel der Materie!«
»Hm! . . . Diese Kälte empfinde ich nicht, weil mir mein Platz im großen Mechanismus des Lebens klar ist, und dieser Mechanismus ist poetischer als alle Phantasien. Was aber die metaphysischen Gärungen der Gefühle und des Geistes anbetrifft, so ist das, wissen Sie, Geschmacksache. Bisher weiß noch niemand, was Schönheit ist; jedenfalls muß man annehmen, daß sie eine physiologische Empfindung ist.«
Der eine sprach mit dumpfer Stimme voll herzlicher, trauriger Töne des Bedauerns mit dem irrenden Gegner. Der andere – ruhig, mit dem Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit und mit dem Wunsche, keine das Ehrgefühl des Gegners verletzende Worte zu gebrauchen, wie sie so zahlreich zu fallen pflegen, wenn zwei anständige Menschen sich darüber streiten, wessen Wahrheit näher der Wahrheit ist. Elisawetta Sergejewna lächelte fein und beobachtete das Mienenspiel der beiden Gesichter, während sie ruhig und sorgsam an einem Knochen nagte. Mascha schaute durch die Türe heraus; offenbar bemühte sie sich, zu begreifen, was die Herrschaften sprachen; denn ihr Gesicht war gespannt, die Augen wurden rund und verloren ihren gewöhnlichen Ausdruck der Schlauheit und Zärtlichkeit.
»Sie sagen – die Wirklichkeit; was aber ist sie, wenn alles um uns und wir selbst nur der unaufhörlich arbeitende Chemismus und Mechanismus sind? Überall Bewegung und in allem Bewegung, nicht den hundertsten Teil einer Sekunde – Ruhe. Wie werde ich die Wirklichkeit auffangen, wie sie erfassen, wenn ich selbst in jedem gegenwärtigen Momente nicht das bin, was ich war, und nicht das, was ich im nächsten Augenblick sein werde? Sie, ich, wir – nur Materie? Aber einst werden wir unter den Heiligenbildern liegen und die Luft mit dem widerwärtigen Geruch der Fäulnis erfüllen . . . Von uns werden auf der Erde vielleicht nur abgeblichene Photographien zurückbleiben, und sie werden nie jemandem von den Freuden und Leiden unseres Daseins erzählen; denn verschlungen sind wir von der Vergessenheit. Ist es denn nicht schrecklich zu glauben, daß wir alle, die wir denken und leiden, nur leben, um zu verfaulen?«
Ippolit Sergejewitsch hörte seinen Reden aufmerksam zu und dachte bei sich: Wenn du von der Wahrheit deines Glaubens überzeugt wärest, so wärest du ruhiger. Du aber schreist; und nicht deshalb schreist du, Bruder, weil du Idealist bist, sondern weil du miserable Nerven hast.
Benkowskij schaute ihm mit flammenden Augen ins Gesicht und sprach immer weiter:
»Sie sagen – Wissenschaft – vortrefflich! Ich beuge mich vor ihr, als dem gewaltigen Streben des Geistes, die Banden der mich umstrickenden Geheimnisse zu zerreißen . . . Aber bei ihrem Lichte sehe ich mich doch nur dort stehen, wo auch einst mein Urahne stand, der unerschütterlich glaubte, daß es nur durch die Gnade des Propheten Elias donnert. Ich glaube nicht an Elias, – ich weiß, daß es die Wirkung der Elektrizität ist; aber inwiefern ist sie für mich verständlicher, als Elias? Insofern sie komplizierter ist? Sie ist ebenso unerklärlich, wie die Bewegung und alle andern Naturmächte, die man für die einzig wahre einzusetzen sich erfolglos bemüht. Und bisweilen scheint es mir, daß sich das Wesen der Wissenschaft nur auf das Kompliziertmachen der Begriffe beschränkt – und nicht mehr! Ich denke zum Beispiel, daß es gut ist zu ›glauben‹; man lacht über mich und sagt: man muß nicht glauben, man muß wissen. Ich will wissen, was die Materie ist, und man antwortet mir buchstäblich: Materie – ist der Inhalt des Ortes im Raum, in dem wir die Ursache der von uns aufgenommenen Empfindungen objektivieren. Weshalb so sprechen? Kann man denn das als Antwort auf die Frage geben? Es ist eine Verhöhnung desjenigen, der leidenschaftlich und aufrichtig Antwort auf die quälenden Fragen seiner Seele sucht. Ich will das Ziel des Seins wissen. Diese Sehnsucht meines Geistes wird auch verhöhnt. Aber ich lebe doch, und das ist nicht leicht; es gibt mir ein unumstößliches Recht, von den ›Monopolisten der Weisheit‹ eine Antwort zu fordern auf die Frage, weshalb ich lebe.«
Ippolit Sergejewitsch schaute ernst in das vor Erregung glühende Gesicht Benkowskijs; er sah ein, daß man diesem Jünglinge mit Worten erwidern müsse, in denen, gleich den seinen, die ganze Kraft eines wild auflodernden Gefühles lag. Aber obwohl er das einsah, fühlte er in sich das Verlangen, ihm zu widersprechen. Die großen Augen des Poeten wurden doch größer – in ihnen brannte eine leidenschaftliche Sehnsucht. Er keuchte, und das feine, weiße Gelenk seiner rechten Hand flog hin und her in der Luft, indem sich die Hand bald krampfhaft zusammenballte, bald gleichsam nach etwas im leeren Raum griff, das sie aber zu schwach war zu fangen.
»Aber wieviel haben Sie dem Leben genommen, ohne ihm etwas zu geben! Darauf erwidern Sie mit Verachtung . . . Und in ihr klingt was? Die Unmöglichkeit, mit Überzeugung zu erwidern, und außerdem – Ihr Unvermögen, mit den Menschen Mitleid zu haben. Man bittet Sie um geistiges Brot, und Sie geben den Stein der Verneinung! Ausgeplündert haben Sie die Seele des Lebens, und wenn sie keine großen Taten der Liebe und des Leidens mehr aufweist, so tragen Sie die Schuld daran; denn – Sklaven des Verstandes, haben Sie die Seele in seine Macht gegeben, und nun erfror sie und verschied krank und verarmt! Und das Leben bleibt ebenso düster, und seine Qualen, seine Leiden fordern Helden . . . Wo sind sie?«
Aber er ist ja ein Epileptiker! rief Ippolit Sergejewitsch innerlich und schauderte beim Anblick dieses Nervenklumpen, der vor wehmutsvoller Erregung bebte. – Er bemühte sich, die stürmische Beredsamkeit seines zukünftigen Schwagers zu dämpfen; aber es war erfolglos; denn von der Eingebung seines Protestes fortgerissen, sah und hörte der Jüngling nichts. Er hatte gewiß schon lange diese Klagen in sich getragen, die jetzt aus seiner Seele hervorbrachen, und war froh, sie vor einem jener Menschen äußern zu können, die seiner Meinung nach das Leben verdorben hatten.
Elisawetta Sergejewna betrachtete ihn entzückt, und sie kniff die hellen Augen zusammen, in denen ein Funke lüsternen Begehrens aufflammte.
»In all dem, was Sie so schön und kraftvoll gesagt haben,« begann Ippolit Sergejewitsch abgemessen und freundlich, indem er die unwillkürliche Pause des müden Redners benutzte, um ihn zu beruhigen, »in all dem klingt unbestreitbar viel aufrichtiges Gefühl, viel forschender Geist . . .«
Was ihm Beschwichtigendes und Versöhnendes sagen? dachte er angestrengt und suchte ein Netz von Komplimenten zusammenzuweben.
Aber seine Schwester half ihm aus dieser schwierigen Lage. – Sie hatte sich schon satt gegessen und saß im Stuhle zurückgelehnt. Ihr dunkles Haar war altmodisch frisiert; aber diese Frisur in Form einer Krone harmonierte gut mit dem herrischen Ausdrucke ihres Gesichtes. Ihre Lippen, auf denen ein Lächeln zuckte, ließen einen weißen und schmalen Streifen von Zähnen sehen, wie eine Messerschneide, und mit einer schönen Geste ihren Bruder zurückhaltend, sagte sie:
»Erlauben Sie auch mir ein Wort: Ich weiß einen Spruch eines Weisen, der lautet: Nicht recht haben jene, die da sagen: das ist die Wahrheit; nicht recht jene, die ihnen erwidern – das ist Lüge. Recht hat nur Zebaoth und nur der Satan, an deren Existenz ich nicht glaube, die aber irgendwo sein müssen; denn sie haben das Leben so zwiespältig gestaltet, und das Leben hat ihnen Gestalt gegeben. Ihr versteht nicht? Aber ich spreche doch dieselbe menschliche Sprache wie ihr; nur fasse ich die ganze Weisheit der Jahrhunderte in einem Satze zusammen, damit ihr seht die Nichtigkeit eurer Weisheit.«
Nach Beendigung ihrer Rede fragte sie die Herren mit bezaubernd heiterem Lachen: »Wie finden Sie das?« Ippolit Sergejewitsch zuckte schweigend mit den Schultern; ihn empörten die Worte seiner Schwester, aber er war zufrieden, daß sie Benkowskij damit beruhigt hatte.
Mit Benkowskij geschah etwas Sonderbares. Als Elisawetta Sergejewna zu sprechen begann, flammte sein Gesicht vor Entzücken auf; aber mit jedem ihrer Worte wurde es bleicher, und in dem Augenblick, als sie ihre Frage stellte, drückte es schon beinahe Entsetzen aus. Er wollte etwas erwidern, und seine Lippen zuckten nervös, aber die Worte kamen nicht von ihnen herunter. Sie aber, schön in ihrer Ruhe, verfolgte das Mienenspiel seines Gesichtes, und wie es schien, gefiel es ihr, die Wirkung ihrer Worte auf seinem Gesichte zu sehen, denn ihre Augen strahlten vor Freude.
»Mir scheint es wenigstens, daß in diesen Worten wirklich die ganze Summe der ungeheuren Folianten der Philosophie liegt«, sagte sie nach kurzem Schweigen.
»Du hast recht bis zu einem gewissen Grade,« sagte Ippolit Sergejewitsch sarkastisch lächelnd, »jedoch nur . . .«
»So muß denn wirklich der Mensch die letzten Funken des Prometheus-Feuers auslöschen, die noch in seiner Seele glimmen und seine Bestrebungen adeln?« rief Benkowskij, sie wehmütig ansehend.
»Weshalb denn, wenn sie etwas Positives geben . . . Ihnen Angenehmes!« sagte sie lächelnd.
»Du nimmst, wie's scheint, ein gefährliches Kriterium für die Erklärung des Positiven«, bemerkte trocken der Bruder.
»Elisawetta Sergejewna, Sie sind eine Frau, sagen Sie, – welche Klänge wecken die großen Ideenbewegungen der Frauen in Ihrer Seele?« fragte Benkowskij, von neuem erregt.
»Sie sind interessant . . .«
»Nur?«
»Aber ich denke, daß . . . Wie soll ich Ihnen das sagen? . . . Es sind die Bestrebungen der überflüssigen Frauen. Sie blieben zurück hinter der Pforte des Lebens, weil sie nicht schön sind, oder weil sie sich ihrer Schönheit nicht bewußt sind; kennen nicht den Geschmack der Herrschaft über den Mann . . . Sie sind überflüssig aus einer Masse von Ursachen! . . . Aber – wir wollen doch Eis essen.«
Er nahm schweigend die grüne Eisschale aus ihren Händen, stellte sie vor sich hin und betrachtete starr die weiße, kalte Masse, indem er sich mit der Hand, die vor mühevoll zurückgehaltener Erregung zitterte, nervös über die Stirn strich.
»Sehen Sie, die Philosophie verdirbt nicht nur den Geschmack am Leben, sondern auch den Appetit«, scherzte Elisawetta Sergejewna.
Der Bruder betrachtete sie und dachte, daß sie ein schlechtes Spiel mit diesem Jüngling treibe. In ihm rief das ganze Gespräch die Empfindung einer allmählich heraufkommenden Langweile hervor. Benkowskij tat ihm leid; aber dieses Mitleid enthielt keine herzliche Wärme und war daher energielos.
Sic visum Veneri! beschloß er, vom Tische aufstehend, und zündete sich eine Zigarette an.
»Wollen wir spielen?« fragte Elisawetta Sergejewna Benkowskij.
Und da er als Antwort auf ihre Frage den Kopf zustimmend neigte, gingen sie von der Terrasse in die Zimmer, von wo aus bald die Akkorde des Flügels und die Töne einer Violine, die gestimmt wurde, herausdrangen. Ippolit Sergejewitsch saß in einem bequemen Lehnstuhle am Geländer der Terrasse; sie war durch einen spitzenartigen Vorhang von wildem Weinlaub, der von der Erde bis zum Dach an den aufgespannten Fäden heraufrankte, vor der Sonne geschützt. Ippolit Sergejewitsch hörte alles, was die Schwester und Benkowskij sprachen, denn die Fenster des Empfangszimmers waren nur von dem Grün der Pflanzen verdeckt und gingen auf den Park hinaus. –
»Haben Sie etwas in dieser Zeit geschrieben?« fragte Elisawetta Sergejewna, den Ton der Violine angebend.
»Ja, eine Kleinigkeit.«
»Lesen Sie vor!«
»Wirklich, ich möchte nicht.«
»Wollen Sie, daß ich Sie bitten soll?«
»Ob ich will? Nein . . . Aber ich möchte Ihnen die Verse sagen, die soeben in mir entstehen.«
»Bitte sehr!«
»Ja, ich werde es tun . . . Aber sie sind erst soeben entstanden, und Sie sind es, die sie ins Leben gerufen haben.«
»Wie mir das angenehm ist, zu hören!«
»Ich weiß nicht . . . Vielleicht sprechen Sie aufrichtig . . . Ich weiß nicht . . .«
Ich müßte wohl fortgehen? dachte Ippolit Sergejewitsch. Aber er war zu träge, sich zu bewegen, blieb sitzen und beruhigte sich bei dem Gedanken, daß ihnen seine Anwesenheit auf der Terrasse doch bekannt war.
»Mich quält deiner ruhigen Schönheit kalter Glanz«, ertönte die dumpfe Stimme Benkowskijs.
»Du wirst mein Träumen vielleicht verhöhnen,
Nicht glauben vielleicht meinem Sehnen?«
fragte der Jüngling sehnsüchtig.
Ich fürchte, daß das zu fragen für dich schon zu spät ist, dachte Ippolit Sergejewitsch, skeptisch lächelnd.
»In deinen Augen leuchtet kein Mitleid,
Ein kaltes Lachen hör' ich in deinen Worten,
Und fremd sind dir meiner Seele
Wahnwitzige Träume.«
Benkowskij hielt vor Erregung oder aus Mangel an einem Reim inne:
»Meiner Seele schwelgende Träume! . . .
Sie wandeln in Sturm meine Lieder,
Sie bergen mein Leben in sich
Und sind von rasender Glut durchdrungen.
Des Daseins Rätsel zu lösen,
Zu finden für alle den Weg zum Glück . . .«
Ich muß fortgehen, beschloß Ippolit Sergejewitsch, unwillkürlich auf die Beine gebracht durch die hysterischen Seufzer des Jünglings, in denen gleichzeitig ein rührendes – Lebewohl! dem Frieden seiner Seele und ein verzweifeltes – Hab Erbarmen! an das geliebte Weib erklang.
»In seines Herzens wildem Wahn
Erbaut dein Sklave dir einen Thron,
Nun harret er . . .«
»Auf sein Verderben; denn sic visum Veneri!« beendete Ippolit Sergejewitsch das Gedicht und ging in die Allee des Parkes.
Er wunderte sich über seine Schwester: – Sie schien nicht so schön, um so eine Liebe in dem Jünglinge zu erwecken; gewiß hatte sie es durch die Taktik ihres Widerstrebens erreicht. Dann mußte man bei ihr eine stoische Selbstbeherrschung annehmen; denn Benkowskij war schön . . . Vielleicht müßte er als Bruder und als gewissenhafter Mensch mit ihr über den wahrhaften Charakter ihrer Beziehungen zu diesem vor Leidenschaft glühenden Jünglinge sprechen?
Aber wohin wird so ein Gespräch jetzt führen? Und er ist auch nicht so kompetent in den Angelegenheiten Amors und der Venus, um sich in eine derartige Geschichte hineinzumischen . . . Aber doch muß man Elisawetta darauf hinweisen, daß das Verderben dieses Herrn zu fürchten ist, wenn er nicht mit ihrer Hilfe rechtzeitig in sich die Flamme seiner Leidenschaft ersticken wird und lernen, normaler zu fühlen und gesünder zu denken.
Und wie wäre es, wenn diese Fackel der Leidenschaft vor Warenjkas Herzen brennen würde?
Aber er hatte diese Frage noch nicht entschieden, als er schon darüber nachdachte, womit sich das Mädchen in diesem Augenblicke wohl beschäftigte. Vielleicht ohrfeigt sie gerade den Nikon oder rollt ihren kranken Vater im Stuhle durch die Zimmer. Als er sie sich aber bei dieser Beschäftigung vorstellte, fühlte er sich für sie beleidigt. Nein! Es ist unbedingt notwendig, die Augen dieses Mädchens für die Wirklichkeit zu öffnen, sie mit den geistigen Bewegungen der Gegenwart bekannt zu machen. Wie schade ist es, daß sie so entfernt wohnt, und man sie nicht häufiger sehen kann, um Tag für Tag daran zu rütteln, was ihren Verstand vor dem Einflusse der Logik zurückhält.
Im Parke herrschte tiefe Stille und duftende Kühle. Vom Hause her erklangen die sangvollen Laute der Violine und die nervösen Töne des Flügels. In harmonischer Folge entstanden im Parke die Melodien liebevoller Bitten, kosender Rufe und stürmischen Entzückens.
Auch vom Himmel herab ergoß sich Musik; dort sangen die Lerchen. Zerzaust und schwarz, wie eine Kohle, saß auf einem Lindenast ein Star, zupfte sich die Federn auf der Brust und pfiff bedeutungsvoll, auf den in Gedanken versunkenen Menschen herabschielend, der langsam, die Hände auf dem Rücken, die Allee herunterschritt und mit lächelnden Augen in die Ferne hinausschaute.
Abends beim Tee war Benkowskij zurückhaltender und sah nicht mehr so sehr einem Wahnsinnigen ähnlich. Und auch Elisawetta Sergejewna schien durch irgend etwas erwärmt zu sein.
Ippolit Sergejewitsch merkte es und fühlte sich sicher vor dem Aufkommen abstrakter Gespräche – und weniger geniert.
»Du erzählst uns nichts von Petersburg, Ippolit«, sagte Elisawetta Sergejewna.
»Was kann man davon, erzählen? Es ist eine sehr große lebhafte Stadt . . . Das Klima ist dort feucht und . . .«
»Und die Menschen trocken«, unterbrach ihn Benkowskij.
»Bei weitem nicht alle. Man findet viele, ganz aufgeweichte, mit Schimmel bedeckte, uralte Stimmungen; überall sind die Menschen ziemlich mannigfaltig.«
»Gott sei Dank, daß es so ist!« rief Benkowskij.
»Ja, das Leben wäre unerträglich langweilig, wenn das nicht der Fall wäre!« stimmte Elisawetta Sergejewna zu. »Und wie steht es mit der Gunst der Jugend für die Landbevölkerung? Sinkt sie noch immer im Kredit?«
»Ja, sie werden nach und nach enttäuscht.«
»Diese Erscheinung ist sehr charakteristisch für die Intelligenz unserer Tage«, sagte Benkowskij, sarkastisch lächelnd. »Als sie zum größten Teil vom Adelstande gebildet wurde, hatte so etwas keinen Raum. Aber jetzt, wo der Sohn jedes Explorators, eines Kaufmanns oder Beamten, der zwei bis drei populäre Büchlein gelesen hat, schon den Intelligenten vorstellt – bei so einer Intelligenz kann das Land kein Interesse erwecken. Kennt sie es denn? Kann es denn für sie etwas anderes sein als der Ort, wo man den Sommer gut verleben kann? Für sie ist das Land – die Sommerfrische, und überhaupt sind sie Sommerfrischler im Grunde ihrer Seele. Sie tauchen auf, leben eine Zeitlang, verschwinden dann und hinterlassen im Leben Papierschnitzel, Scherben, Überbleibsel – die gewöhnlichen Spuren ihrer Anwesenheit, die immer von den Sommerfrischlern auf den Feldern der Dörfer hinterlassen werden. Andere werden nach ihnen kommen und diesen Schutt wegräumen und mit ihm die Erinnerung an jene schändliche, herzlose, kraftlose Intelligenz der neunziger Jahre.«
»Jene anderen – also die restaurierten Edelleute?« fragte Ippolit Sergejewitsch mit zusammengekniffenen Augen.
»Sie scheinen mich verstanden zu haben . . . wenig schmeichelhaft für Sie – Verzeihen Sie!« sagte Benkowskij errötend.
»Ich fragte nur, wer diese Zukünftigen sind«, sagte Ippolit Sergejewitsch achselzuckend.
»Sie – sind das junge Land! Die vor der Reform stehende Generation. Auch jetzt gibt es schon Menschen, die ein entwickeltes Gefühl ihrer menschlichen Selbstachtung in sich tragen; forschende, kräftige Menschen, die nach Wissen dürsten und die bereit sind, von sich kundzugeben.«
»Heiße sie im voraus willkommen!« sagte Ippolit Sergejewitsch gleichgültig.
»Ja, man muß gestehen, daß das Land etwas Neues hervorzubringen beginnt«, sagte Elisawetta Sergejewna versöhnend. »Ich habe hier sehr interessante Burschen, Iwan und Grigorij Schachow, die beinahe die Hälfte meiner Bibliothek durchgelesen haben, und Akim Mosirew, der ›All Verstehende‹, wie er sich selbst nennt. Wirklich ganz hervorragende Fähigkeiten! Ich prüfte ihn – gab ihm ein Buch über Physik: – Da lies und erkläre mir das Hebel- und das Gleichgewichtsgesetz; und er legte in einer Woche sein Examen mit solcher Sicherheit ab, daß ich einfach überrascht war. Und auf mein Lob gibt er noch zur Antwort: ›Was ist daran? Sie verstehen es, also ist es auch mir nicht versagt. – Bücher werden für alle geschrieben.‹ – Wie gefällt er Ihnen? Aber das Verständnis für ihren Selbstwert hat sich bei ihnen einstweilen nur bis zur Frechheit und Grobheit entwickelt. Diese neuerworbenen Eigenschaften wenden sie sogar mir gegenüber an; aber ich dulde und verklage sie nicht beim Landeshauptmann; ich verstehe, daß auf so einem Boden so feurige Blumen aufblühen können, daß man eines schönen Morgens auf der Asche seines Gutes erwachen wird.«
Ippolit Sergejewitsch lächelte; Benkowskij schaute diese Frau traurig an.
Ohne das Gesprächsthema eingehender zu berühren und ohne allzu stark die gegenseitige Eigenliebe anzugreifen, plauderten sie bis zehn Uhr; dann begannen Elisawetta Sergejewna und Benkowskij wieder zu musizieren; Ippolit Sergejewitsch verabschiedete sich und ging auf sein Zimmer; er merkte, daß sein zukünftiger Schwager sich auch nicht die geringste Mühe gab, die Freude zu verbergen, die er beim Fortgehen des Bruders seiner Geliebten empfand.
. . . Du erfährst alles, was du erfahren willst, und als eine Art Belohnung für deine Wißbegier folgt Langeweile.
Eben dieses entkräftigende Gefühl empfand Ippolit Sergejewitsch, als er sich in seinem Zimmer an den Tisch setzte in der Absicht, einige Briefe an seine Bekannten zu schreiben. Er verstand die Motive der eigenartigen Beziehungen seiner Schwester zu Benkowskij; er verstand auch seine Rolle in diesem Spiele. Alles das war nicht schön; aber gleichzeitig war auch das alles ihm so fremd, und seine Seele empörte sich nicht über die Parodie der Geschichte Pygmalions und Galathee, die sich vor seinen Augen abspielte, obwohl er mit dem Verstand seine Schwester verurteilte. Melancholisch klopfte er mit dem Federhalter auf den Tisch, dämpfte das Lampenlicht, und als das Zimmer sich in Halbdunkel hüllte, begann er durch die Fenster hinauszuschauen.
Totenstille herrschte in dem vom Monde beleuchteten Parke, und durch die Fensterscheiben schien der Mond in grünlichem Glanze herein.
Unter dem Fenster zeigte sich plötzlich ein Schatten, verschwand und verursachte ein leises Geräusch in den Zweigen, die durch die Berührung erbebten. Ippolit Sergejewitsch ging auf das Fenster zu, öffnete es und schaute hinaus. – Hinter den Bäumen streifte das weiße Kleid des Stubenmädchens, Mascha, vorbei.
Nun? – dachte er lächelnd. Laß wenigstens das Stubenmädchen lieben, wenn seine Herrin nur mit der Liebe spielt.
* * *
Langsam schwanden die Tag dahin – ein Tropfen in dem grenzenlosen Ozean der Ewigkeit – und alle waren sie ermüdend einförmig. Fast keine Eindrücke, und man konnte nur mit großer Anstrengung arbeiten; denn der brennende Glanz der Sonne, das narkotische Aroma des Parkes und die tiefsinnigen Mondnächte – alles das erweckte in der Seele eine träumerische Trägheit.
Ippolit Sergejewitsch genoß ruhig das reine, vegetative Leben und schob von Tag zu Tag seinen Entschluß, sich ernstlich an die Arbeit zu machen, hinaus. Manchmal wurde es ihm langweilig; er machte sich Vorwürfe wegen seiner Untätigkeit, seiner Willensschwäche; aber alles das erregte nicht das Verlangen in ihm, zu arbeiten; er erklärte sich seine Faulheit mit dem Bestreben seines Organismus, Energie zu sammeln. Morgens, wenn er nach einem gesunden, kräftigen Schlafe erwachte, reckte er sich mit Vergnügen und konstatierte, wie elastisch seine Muskeln seien, wie gespannt seine Haut, und wie frei und tief seine Lunge atme.
Die unangenehme Gewohnheit seiner Schwester, zu philosophieren, die sich bei ihr allzuoft äußerte, reizte ihn anfangs; aber allmählich versöhnte er sich mit diesem Fehler Elisawetta Sergejewnas; und er verstand es mit so viel Geschicklichkeit und Zartheit, ihr das Nutzlose des Philosophierens zu beweisen, daß sie zurückhaltender wurde. Ihre Bestrebungen, allem auf den Grund zu gehen, machten auf ihn einen unangenehmen Eindruck; – er sah, daß die Schwester nicht aus dem natürlichen Triebe, sich ihre Beziehungen aus dem Leben zu erklären, alles zergrübelte, sondern nur aus dem vorsichtigen Wunsche, alles zu zerstören und umzustürzen, was in irgendeiner Weise die kalte Ruhe ihrer Seele trüben könnte. Sie hatte sich eine schematische Praxis ausgearbeitet, und die Theorien interessierten sie nur, soweit sie geeignet waren, ihre trockenen, skeptischen und sogar ironischen Beziehungen zum Leben und zur Menschheit zu ebnen. Obwohl Ippolit Sergejewitsch dieses alles verstand, fühlte er doch nicht das geringste Verlangen, der Schwester deswegen Vorwürfe zu machen oder sie zu beschämen. Er verurteilte sie im Geiste; aber in ihm fehlte etwas, was ihm erlaubt hätte, sein Urteil laut auszusprechen; denn eigentlich war sein Herz nicht wärmer, als das seiner Schwester.
So gab sich Ippolit Sergejewitsch fast jedesmal nach dem Besuche Benkowskijs das Wort, mit der Schwester über ihre Beziehungen zu diesem Jünglinge zu sprechen, aber er hielt es nicht. Ohne es sich selbst einzugestehen, vermied er es, sich in diese Geschichte hineinzumischen. Es ist ja noch nicht gewiß, wer der leidende Teil sein wird, wenn der gesunde Menschenverstand in diesem flammenden Jünglinge erwachen wird. Und das wird kommen – denn er glüht zu sehr, um nicht zu verlöschen. Die Schwester denkt ja aber fest daran, daß er jünger ist als sie; um sie braucht man nicht besorgt zu sein . . . Und wenn sie bestraft wird? – Was dann . . . So muß es sein, wenn das Leben gerecht ist . . .
Warenjka kam häufig. Sie ruderten zu zweien oder zu dreien mit der Schwester; aber niemals mit Benkowskij. Sie machten Spaziergänge im Walde; einst fuhren sie nach einem Kloster, das zwanzig Werst entfernt war. Das Mädchen gefiel ihm immer noch; ihn empörten zwar ihre »wilden« Reden; aber in ihrer Gegenwart war es immer angenehm; ihre Naivität machte ihn lachen und zügelte den »Mann« in ihm.
Die Harmonie ihrer Natur rief in ihm Staunen hervor; aber die naive Aufrichtigkeit, mit der sie alles von sich stieß, womit er den Frieden ihrer Seele stören wollte, beleidigte sein Ehrgefühl.
Und immer häufiger fragte er sich:
»Habe ich denn nicht so viel Energie, um alle diese Verirrungen und Dummheiten aus ihrem Kopfe herauszutreiben?«
In ihrer Abwesenheit fühlte er klar die Notwendigkeit, ihr Denken von den häßlichen Fesseln zu befreien, und er erhob diese Notwendigkeit zur Pflicht; aber Warenjka erschien, und er – nicht daß er völlig seinen Entschluß vergessen hätte; aber er stellte ihn nicht in den Vordergrund in seinem Verhältnis zu ihr. Manchmal bemerkte er, daß er ihr zuhörte, als habe er das Verlangen, ihr etwas abzulernen, und er gestand sich, daß sie etwas in sich hatte, was die Freiheit seines Geistes einschränkte.
Es geschah auch, daß er die Widerlegung, die er schon fertig im Kopfe hatte und die, betäubend durch ihre Klarheit und Stärke, sie von der Augenscheinlichkeit ihrer Irrtümer überzeugt hätte, – unterdrückte; als ob er gefürchtet hätte, sie auszusprechen. Und wenn er sich darauf ertappte, dachte er: Ist es möglich, daß ich das aus Mangel an Vertrauen zu meiner Wahrheit tue?
Und selbstverständlich überzeugte er sich vom Gegenteil. Ihm war es noch um so schwerer, mit ihr zu sprechen, da sie ja beinahe das Abc der allgemein geltenden Anschauungen nicht kannte. Man hätte mit den Grundrissen anfangen müssen, und ihre beharrlichen Fragen: warum? und weshalb? verführten ihn immerfort in den Abgrund der Abstraktionen, wo sie ihn schon gar nicht mehr verstand. Einst setzte sie, ermüdet durch sein Widersprechen, ihm ihre Philosophie in folgenden Worten auseinander:
»Gott schuf mich, wie alle Menschen, nach seinem Ebenbilde . . . das will heißen, daß ich alles, was ich tue, nach seinem Willen tue, und lebe – wie er es haben will . . . Er weiß doch, wie ich lebe! Nun, das ist alles, und Sie streiten mit mir umsonst.«
Immer häufiger erregte sie in ihm das brennende Gefühl des »Mannes«; aber er beobachtete sich, und mit schnellem Kraftaufwand, der immer mehr Überlegung erforderte, erstickte er in sich diese Ausbrüche der Sinnlichkeit und bemühte sich sogar, sie vor sich selbst zu verbergen. Aber als ihm das nicht gelang, sagte er zu sich selbst, schuldbewußt lächelnd:
Nun, was? – Das ist natürlich bei ihrer Schönheit . . . Ich bin ein Mann, und mein Organismus wird von Tag zu Tag immer kräftiger unter dem Einflüsse dieser Sonne und dieser Luft . . . Das ist natürlich; aber ihre Eigentümlichkeiten schützen mich völligst davor, mich fortreißen zu lassen . . .
Der Verstand wird unglaublich tätig und biegsam, wenn das Gefühl des Menschen eine Maske nötig hat, um hinter ihr die grobe Wahrheit seiner Forderungen zu verbergen. Wie jede Kraft ist das Gefühl seinem Wesen nach gerade und wahrhaft. Wenn es aber vom Leben geschlagen ist, oder zertrümmert durch die übermäßige Anstrengung, seine Aufwallungen durch die kalten Zügel des Verstandes zurückzuhalten, so verliert es das Wahrhafte und Gerade und bleibt nur als Grobes und Häßliches zurück. Und dann in der Not, seine Schwäche und Grobheit zu verbergen, wendet es sich um Unterstützung an die mächtige Fähigkeit des Verstandes: der Lüge die Physiognomie der Wahrheit zu geben. Diese Fähigkeit war gut entwickelt bei Ippolit Sergejewitsch, und mit ihrer Hilfe gelang es ihm, seiner Neigung zu Warenjka den Charakter zu geben, als sei sie rein von jedem Interessentriebe. Er hatte nicht die Kraft, sie zu lieben, das wußte er, aber in der Tiefe seines Verstandes flammte die Hoffnung auf, sie zu besitzen. Ohne es sich selbst einzugestehen, erwartete er, daß sie von ihm hingerissen sein würde. So überlegte er bei sich alles, was ihn in leinen eigenen Augen nicht erniedrigen konnte, und verbarg vor sich selbst geschickt alles das, was in ihm selbst Mißtrauen an seiner Anständigkeit erwecken konnte.
Eines Abends beim Tee kündigte die Schwester an:
»Weißt du, morgen ist der Geburtstag von Warenjka Olessowa. Man muß hinfahren. Ich habe Lust, ein wenig auszufahren . . . Und auch für die Pferde wird es gut sein.«
»Fahr . . . und gratuliere ihr auch in meinem Namen«, sagte er und fühlte, daß er auch gerne hinfahren möchte.
»Und du willst nicht mitkommen?« fragte sie, ihn neugierig anschauend.
»Ich? Ich weiß nicht, ob ich gerade will . . . Wahrscheinlich – will ich nicht. Aber ich kann auch mitfahren.«
»Du bist nicht dazu verpflichtet!« bemerkte Elisawetta Sergejewna und senkte die Lider, um das Lächeln zu verbergen, das in ihren Augen aufblitzte.
»Ich weiß«, sagte er verstimmt.
Es entstand eine lange Pause, während der sich Ippolit Sergejewitsch einer strengen Kritik unterwarf, weshalb er sich diesem Mädchen gegenüber so verhalte, als fürchte er, daß seine Selbstbeherrschung vor ihrem Zauber nicht standhalten könne.
»Sie sagte mir – Warenjka – daß dort bei ihnen eine prachtvolle Umgegend ist«, bemerkte er und errötete; denn er wußte, daß seine Schwester ihn verstanden hatte. Aber sie ließ es in keiner Weise merken und begann im Gegenteil, ihm zuzureden.
»Ja, fahren wir, bitte! Wirst sehen, bei ihnen ist es wirklich nett; und mir ist es behaglicher mit dir zu sein. Wir werden nicht auf lange – gut?«
Er willigte ein; aber seine Stimmung war verdorben.
Weshalb hatte ich nötig zu lügen? Was ist Schändliches oder Unnatürliches darin, daß ich ein schönes Mädchen noch einmal mehr sehen will? – fragte er sich selbst böse. Aber er beantwortete die Frage nicht.
Am nächsten Morgen erwachte er früh, und die ersten Laute des Tages, die sein Ohr auffingen, waren die Worte seiner Schwester:
». . . wird Ippolit erstaunt sein!«
Ihnen folgte ein lautes Lachen. – So konnte nur Warenjka lachen. Ippolit Sergejewitsch warf das Bettuch zurück und horchte lächelnd. Das, was sich seiner plötzlich bemächtigte und seine Seele erfüllte, konnte man kaum Freude nennen; eher war es eine kosend-prickelnde Ahnung einer nahen Freude. Und vom Bette aufspringend, fing er an sich anzukleiden mit einer Schnelligkeit, die ihn gleichzeitig lachen machte und verlegen. Was ist denn da passiert? Ist es möglich, daß sie an ihrem Geburtstage gekommen ist, ihn und seine Schwester zu sich einzuladen? Das ist ein liebes Mädchen!
Als er ins Speisezimmer trat, schlug Warenjka komisch-verlegen die Augen nieder, und ohne seine dargebotene Hand zu nehmen, begann sie mit schüchterner Stimme:
»Stelle dir vor!« rief Elisawetta Sergejewna aus. »Sie ist aus dem Hause ausgerückt.«
»Das heißt wie?« fragte der Bruder.
»Heimlich!« erklärte Warenjka.
»Ha, ha, ha!« lachte Elisawetta Sergejewna.
»Aber . . . weshalb denn?« forschte Ippolit Sergejewitsch.
»Vor Bewerbern«, gestand das Mädchen und brach ebenfalls in Lachen aus. »Stellen Sie sich vor, was für lange Gesichter die machen werden! Tante Lutschitzkaja – die will schrecklich gern mich unter die Haube bringen! – Hat ihnen feierliche Einladungen geschickt und hat so viel zusammengekocht und zusammengebacken, als wären es Hundert! Und ich half ihr dabei . . . aber heute erwachte ich und ritt . . . hopp! hierher. Ihnen habe ich einen Zettel zurückgelassen, daß ich zu Scherbakoffs gefahren sei . . . Verstehen Sie? In ganz entgegengesetzter Richtung, dreiundzwanzig Werst von hier!«
Er schaute sie an und brach in Lachen aus, das in seiner Brust eine kosende Wärme hervorrief. Sie war wieder in einem weiten, weißen Kleide, dessen Falten in zarten Wellen von der Schulter zu den Füßen herabfielen und ihren ganzen Körper wie in einen Nebel hüllten. Ein helles Lachen zuckte in ihren Augen, und auf ihrem Gesicht leuchtete die Röte der Lebhaftigkeit.
»Das gefällt Ihnen nicht?« fragte sie ihn.
»Was?« fragte er kurz.
»Daß ich es so machte. Es ist ja unhöflich; ich verstehe es,« sagte sie ernst werdend, »aber . . .« und sofort lachte sie von neuem.
»Ich kann sie mir vorstellen! Geputzt und parfümiert! . . . Werden sich vor Ärger betrinken. – Mein Gott wie!«
»Sind ihrer viele?« fragte Ippolit Sergejewitsch.
»Vier . . .«
»Der Tee ist eingeschenkt!« kündigte Elisawetta Sergejewna an. »Du wirst für diesen Streich zahlen müssen, Warja . . . Hast du dir das überlegt?«
»Nein . . . und ich will auch gar nicht!« antwortete sie entschlossen und setzte sich an den Tisch. »Das wird sein, wenn ich zu ihnen zurückkehre . . . also am Abend; denn ich werde den ganzen Tag bei euch verbringen. Weshalb soll ich denn schon am Morgen daran denken, was erst am Abend sein wird? Und wer und was kann mir was anhaben? Papa brummt, aber von ihm kann man fortgehen und ihn nicht mehr hören . . . Die Tante – die ist ganz in mich vernarrt! – Jene etwa?! Die kann ich doch dazu bringen, daß sie auf allen vieren vor mir herumkriechen, Ha, ha, ha! Das wäre . . . zum Wälzen! Ich werde es probieren . . . Tschernonjoboff kann's nicht; er hat einen Bauch!«
»Warja! Du wirst ja ganz verrückt!« bemühte sich Elisawetta Sergejewna sie zurückzuhalten.
»Werde nicht!« versprach das Mädchen unter Lachen. Aber sie beruhigte sich noch nicht bald, indem sie immer weiter ihre Bewerber schilderte und Bruder und Schwester durch das Natürliche ihrer Lebhaftigkeit mit sich fortriß.
Die ganze Zeit, während der man Tee trank, erscholl unaufhörlich das Lachen. Elisawetta Sergejewna lachte mit einer gewissen Nachsicht Warenjka gegenüber. Ippolit Sergejewitsch bemühte sich, sich zurückzuhalten; aber er vermochte es nicht. Nach dem Tee begann man zu besprechen, wie man den so lustig begonnenen Tag ausfüllen könne. Warenjka schlug eine Bootfahrt nach dem Walde vor, um dort Tee zu trinken. Ippolit Sergejewitsch war sogleich mit ihr einverstanden; aber seine Schwester machte ein besorgtes Gesicht und sagte:
»Ich kann nicht daran teilnehmen. Ich habe heute eine Fahrt nach Sanino vor, die ich nicht aufschieben kann. Ich dachte, zu dir, Warja, zu fahren und unterwegs dort abzusteigen . . . Aber jetzt muß ich schon eigens dorthin.«
Ippolit Sergejewitsch schaute sie verdächtig an. Ihm schien es, daß sie es soeben ausgedacht hatte, um ihn mit Warja allein zu lassen. Aber ihr Gesicht drückte nur Unzufriedenheit und Besorgnis aus.
Warenjka war durch ihre Worte betrübt; aber bald wurde sie wieder lebhaft.
»Nun was? Um so schlechter für dich . . . wir werden dennoch fahren! Nicht so? Heute werden wir weit . . . Aber noch was. – Dürfen Gregorij und Mascha mit uns fahren?«
»Gregorij gewiß! Aber Mascha . . . Wer wird denn das Mittagessen reichen?«
»Und wer wird denn Mittag essen? Du fährst zu Benkowskijs, und wir werden vor Abend nicht zurückkehren.«
»Gut! Nimm auch Mascha mit . . .«
Warenjka lief davon. Ippolit Sergejewitsch zündete sich eine Zigarette an, trat auf die Terrasse hinaus und begann auf und ab zu gehen. Ihm winkte der Ausflug. Aber Gregorij und Mascha schienen überflüssig. Sie werden ihn stören – das ist ohne Zweifel. In ihrer Gegenwart kann man doch nicht ungestört sprechen.
Keine halbe Stunde verging, als Ippolit Sergejewitsch und Warenjka schon beim Boote standen und zuschauten, wie Gregorij, ein rothaariger und blauäugiger Bursche mit Sommersprossen im Gesicht und einer Adlernase, sich daran zu schaffen machte. Mascha legte den Samowar ins Boot und verschiedene Bündel und rief ihm zu:
»Ach du, Roter, dreh dich! Siehst die Herrschaften warten!«
»Bald ist alles fertig«, antwortete der Bursche in hohem Tenor, indem er die Pflöcke für die Ruder befestigte und Mascha zublinzelte.
Ippolit Sergejewitsch merkte es und erriet, wer in der Nacht unter seinem Fenster umhergeschlichen war.
»Sie wissen,« sagte Warenjka, die schon im Boote saß und mit einem Kopfnicken auf Gregorij wies, »er gilt hier bei uns auch für einen Gelehrten – Rechtskundigen.«
»Nun! Sie sagen, Warwara Wassiljewna!« sagte Grigorij lächelnd und zeigte seine kräftigen Zähne, »Rechtskundiger!«
»Im Ernst, Ippolit Sergejewitsch, er kennt alle russischen Gesetze . . .«
»Wirklich, Gregorij?« fragte Ippolit Sergejewitsch mit Interesse.
»Da spaßt das gnädige Fräulein . . . Woher denn? Die, Warwara Wassiljewna, kennt keiner alle.«
»Und der sie geschrieben hat?«
»Herr Spiranskij? Der ist schon längst gestorben . . .«
»Was lesen Sie denn?« fragte Ippolit Sergejewitsch, das kluge Adlergesicht des Burschen betrachtend, der die Ruder leicht ins Wasser tauchte.
»Was die Gesetze anbetrifft, wie das gnädige Fräulein sagt,« bemerkte Gregorij mit klugen und lebhaften Blicken auf Warenjka weisend, »geriet zufällig der zehnte Band in meine Hände; ich schaue hinein – sehe, daß es interessant und nützlich ist. Beginne zu lesen . . . Und jetzt habe ich den ersten Band durch . . . Der erste Paragraph sagt ja auch gerade heraus: ›Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe.‹ Nun, ich denke so, niemand kennt sie eigentlich, und sie alle zu kennen, ist auch nicht nötig . . . Da bald wird mir der Dorflehrer die Verfügungen über die Bauern verschaffen; – sehr interessant durchzulesen – was das nur sein mag.«
»Sehen Sie, was für ein Kerl er ist?« fragte Warenjka.
»Sie lesen wohl viel?« forschte Ippolit Sergejewitsch, sich an Gogols Petruschka erinnernd.
»Ich lese, wenn ich Zeit finde. Bücher gibt es hier viele . . . Allein bei Elisawetta Sergejewna sind schon bis gegen tausend denke ich. Doch hat sie meistens Romane und allerlei Erzählungen . . .«
Das Boot glitt leicht dahin gegen den Strom. Ihm entgegen zogen die Ufer, und ringsumher war es berauschend schön, hell, ruhig und duftend. Ippolit Sergejewitsch schaute in Warenjkas Gesicht, das mit Neugier dem breitschultrigen Ruderer zugewandt war; dieser sprach, rhythmisch, die glatte Fläche des Wassers mit dem Ruder teilend, von seinem literarischen Geschmack; sehr zufrieden, daß ihm der gelehrte Herr so bereitwillig zuhörte. In Maschas Augen, die ihn mit gesenkten Wimpern beobachteten, leuchtete Liebe und Stolz.
»Ich liebe nicht davon zu lesen, wie die Sonne aufgeht und untergeht . . . und überhaupt von der Natur. Von solchen Sonnenaufgängen hab ich vielleicht nicht nur tausend gesehen . . . Die Wälder und Flüsse sind mir auch bekannt; weshalb darüber lesen; und das steht in jedem Buch . . . Mir scheint es aber ganz überflüssig; denn jeder versteht den Sonnenuntergang auf seine Weise, und jeder hat seine Augen dafür. Aber was das Leben der Menschen betrifft – das ist interessant. Du liest und denkst: wie hättest du es selbst gemacht, wenn man dich in so eine Lage gebracht hätte? Wenn du auch weißt, daß das alles nicht wahr ist.«
»Was ist nicht wahr?« fragte Ippolit Sergejewitsch.
»Die Bücher doch. – Ausgedacht. Über die Bauern zum Beispiel . . . Sind sie denn wie in den Büchern? Von ihnen schreibt man immer mit Mitleid, und man macht sie zu solchen Toren . . . Es ist nicht gut! – Die Menschen lesen es und denken, es ist wirklich so und können den Bauer nicht richtig verstehen . . . weil er im Buche schon . . . allzu dumm und gering . . .«
Warenjka wurden diese Reden wahrscheinlich langweilig, und sie begann halblaut vor sich hinzusingen und mit leeren Augen das Ufer zu betrachten. »Wissen Sie, Ippolit Sergejewitsch, wollen wir aussteigen und zu Fuß durch den Wald gehen; sonst sitzen wir und braten in der Sonne! Geht man denn so spazieren? Grigorij und Mascha werden bis nach der Sawolowaschlucht fahren; dort werden sie anlegen, den Tee bereiten und uns erwarten. Grigorij, lege an! Schrecklich gerne esse und trinke ich im Walde, in der Luft, in der Sonne . . . Du fühlst dich frei wie ein Landstreicher . . .«
»Seht!« fuhr sie lebhaft fort, nachdem sie aus dem Boote auf den Sand des Ufers gesprungen war. »Berührst kaum die Erde, sofort hast du etwas . . . so was, das die Seele in Aufruhr bringt. Da habe ich mir die Schuhe voll Sand geschüttet . . . einen Fuß im Wasser naß gemacht . . . Das ist unangenehm und angenehm, also – gut, weil man sich fühlt . . . Schauen Sie, wie das Boot schnell dahingleitet!«
Das Wasser floß zu ihren Füßen, und aufgerührt durch das Boot, plätscherte es leise ans Ufer. Das Boot schoß pfeilschnell auf den Wald zu und ließ einen langen Streifen hinter sich, der in der Sonne wie Silber glänzte. Man sah, wie Grigorij Mascha ansah und lachte, – und sie drohte ihm mit der Faust.
»Das sind Verliebte«, berichtete Warenjka lächelnd. »Mascha bat schon Elisawetta Sergejewna um Erlaubnis, Grigorij zu heiraten; aber Elisawetta Sergejewna erlaubte es ihr einstweilen noch nicht; sie mag keine verheiratete Bedienung. Für Grigorij läuft aber im Herbst die Dienstzeit ab, und dann wird er die Mascha entführen . . . Sie sind beide brav. Grigorij bittet mich, ihm ein Stück Land gegen Abzahlung zu verkaufen oder es ihm in langjährige Pacht zu geben . . . Zehn Deßjatinen will er. Aber ich kann es nicht tun, solange Papa lebt, und das ist sehr schade . . . Ich weiß, er hätte mir alles ausgezahlt und sehr gewissenhaft . . . er ist doch in allem geschickt . . . er ist Schlosser und Schmied, und bei Ihnen dient er als zweiter Kutscher . . . Kokowitsch, der Landeshauptmann und einer meiner Bewerber, sagt von ihm: ›Da–as, wissen Sie, ist eine gefährliche Bestie; die wird sich schon nicht vor der Obrigkeit beugen.‹«
»Wer ist er, dieser Kokowitsch? Ein Pole?« fragte Ippolit Sergejewitsch belustigt über die Grimassen Warenjkas, die den Kokowitsch kopierte.
»Ein Mordwine oder Tschuwasche – ich weiß nicht! Er hat eine schrecklich lange und dicke Zunge, die in seinem Munde keinen Platz hat und ihn beim Sprechen stört . . . Uh! Was für ein Schmutz!«
Den Weg versperrte ihnen eine große Pfütze, die mit grünem Schimmel bedeckt und von einem fetten und schwarzen Schmutze umgrenzt war. Ippolit Sergejewitsch schaute auf seine Füße und sagte:
»Man muß um sie herumgehen.«
»Werden Sie denn nicht herüberspringen? Ich dachte, sie wäre schon ausgetrocknet«, rief Warenjka empört und stampfte mit dem Füßchen. »Herumgehen, das ist weit . . . und dabei werde ich mir meine Kleider dort zerreißen . . . Probieren Sie zu springen! Das ist leicht, schauen Sie – ei–eins!«
Sie hob sich auf die Fußspitzen und sprang hinüber. Ihm kam es vor, als ob ihr Kleid sich von ihren Schultern loslöste und in die Luft davonflog. Aber sie stand jenseits der Pfütze und rief bedauernd:
»Ei! Wie ich mich schmutzig gemacht habe! Nein, umgehen Sie lieber die Pfütze . . . Pfui, wie ekelhaft!«
Er schaute sie an und bemühte sich, einen plötzlich auftauchenden, unklaren Gedanken, der ihn neckte, zu fassen, und fühlte, wie seine Füße in eine schlammige Masse versanken. Auf der andern Seite der Pfütze schüttelte Warenjka ihr Kleid, das ein leises Geräusch von sich gab, und Ippolit Sergejewitsch sah die feinen, gestreiften Strümpfe an den schlanken Beinen. Einen Augenblick schien es ihm, daß der sie trennende Schmutz eine Warnung für ihn oder für sie bedeute. Aber er riß sich schroff von diesem Gedanken los, nannte diesen Stich seines Herzens einen albernen Bubenwahn und ging eilig seitwärts in die Büsche, die den Pfad begrenzten. Aber auch hier mußte er im Wasser gehen; es war nur von Gras bedeckt. Mit feuchten Füßen und mit einem ihm noch unklaren Entschlusse kam er zu ihr heran, und sie sagte, mit einer Grimasse auf ihr Kleid weisend:
»Sehen Sie! – Schön, was?!«
Er schaute hin. – Große schwarze Flecke, die triumphierend auf dem weißen Stoffe prangten, stachen ihm in die Augen.
»Ich liebe und bin gewohnt, dich so heilig-rein zu sehen, daß sogar ein Fleck des Schmutzes auf deinem Kleide einen schwarzen Schatten auf meine Seele wirft«, sagte Ippolit Sergejewitsch langsam, verstummte und beobachtete Warenjkas neugieriges Gesicht, auf dem ein Lächeln spielte.
Ihre Augen hafteten mit einer Frage auf seinem Gesichte, und er fühlte, daß seine Brust sich wie mit glühendem Schaume füllte, der sich bald in bezaubernde Worte verwandeln würde, wie er sie noch nie und zu niemandem gesprochen hatte; denn bis jetzt waren sie ihm unbekannt gewesen.
»Was haben Sie gesagt?« fragte Warenjka in ihn dringend.
Er zuckte zusammen; denn ihre Frage klang streng, und er bemühte sich, ruhig zu sein, und begann, ihr ernst zu erklären:
»Ich sagte Verse . . . Im Russischen klingen sie wie Prosa . . . Aber Sie hören doch, daß es Verse sind? Es ist, glaube ich, ein italienisches Gedicht . . . erinnere mich wirklich nicht . . . Und übrigens ist es vielleicht auch eine Prosa aus einem Roman . . . Sie kamen mir nur eben so in den Sinn . . .«
»Wie lauten sie noch, nun, sagen Sie sie noch einmal?« bat sie, plötzlich über irgend etwas nachdenkend.
»Ich liebe . . .«, er stockte und rieb sich die Stirn mit der Hand. »Werden Sie glauben? Ich habe doch vergessen, wie ich sie sagte! Mein Ehrenwort – ich habe es vergessen!«
»Nun . . . gehen wir!« Und sie ging entschlossen weiter.
Einige Minuten bemühte sich Ippolit Sergejewitsch, diese Szene, die zwischen ihm und dem Mädchen eine unsichtbare Scheidewand gegenseitigen Mißtrauens errichtete, zu verstehen und zu erklären. Aber trotz aller Mühe konnte er nichts aus sich herausbringen als das Bewußtsein eines unbehaglichen Gefühls Warenjka gegenüber. Sie ging neben ihm, schweigend und mit gesenktem Kopfe, ohne ihn anzusehen.
»Wie ihr nur das alles erklären?« überlegte Ippolit Sergejewitsch.
Ihr Schweigen wirkte niederdrückend; ihm schien es, daß sie über ihn nachdachte und nichts Gutes dachte. Und da er für sein unpassendes Benehmen keine Erklärung fand, rief er plötzlich in gezwungen-lustigem Tone:
»Wüßten Ihre Bewerber, wie Sie die Zeit verbringen!«
Sie schaute ihn an, als habe er sie mit seinen Worten aus weiter Ferne herbeigerufen; aber allmählich verwandelte sich ihr ernstes Gesicht zu einem naiven, kindlich-anmutigen.
»Ja! Das hätte sie . . . beleidigt! Aber sie werden erfahren, oh! Sie werden erfahren! Und . . . werden vielleicht nicht gut von mir denken . . .«
»Haben Sie Angst davor?«
»Ich? Vor ihnen?« fragte sie leise, aber zornig.
»Verzeihen Sie die Frage.«
»Macht nichts . . . Sie kennen mich ja nicht . . . wissen nicht, wie sie mir alle widerwärtig sind! Manchmal möchte ich sie alle niederwerfen und mit den Füßen über ihre Gesichter gehen . . . ihnen auf die Lippen treten, damit sie nichts sprechen können. – Uh! Sie sind alle niederträchtig!«
Wut und Herzlosigkeit flammten in ihren Augen so deutlich, daß es ihm unangenehm war, sie anzusehen; und er wandte sich ab und sagte:
»Wie traurig, daß Sie zwischen lauter Menschen leben müssen, die Ihnen verhaßt sind. Ist es möglich, daß unter ihnen kein einziger ist, der . . . Ihnen anständig erschiene . . .«
»Nein! Wissen Sie, auf der Welt gibt es sehr wenig interessante Menschen; alle sind sie so beschränkt, leblos, widerwärtig . . .«
Er lächelte über ihre Klagen und sagte mit einer gewissen Ironie, die ihm selbst unverständlich war:
»Es ist noch viel zu früh für Sie, so zu sprechen. Warten Sie ab; Sie werden schon einem Menschen begegnen, der Sie zufriedenstellt . . . Er wird Ihnen in jeder Hinsicht interessant sein.«
»Wer denn?« fragte sie schnell und blieb stehen.
»Ihr zukünftiger Mann.«
»Aber wer ist es?«
»Wie kann ich das wissen!« sagte Ippolit Sergejewitsch achselzuckend; er empfand eine Unzufriedenheit über die Lebhaftigkeit ihrer Fragen.
»Und sprechen dennoch!« seufzte sie und ging weiter.
Sie gingen zwischen Buschwerk, das ihnen kaum bis zu den Schultern reichte, und dazwischen schlängelte sich der Weg wie ein verlorenes Band in launischen Biegungen. Jetzt erschien vor ihnen der dichte Wald.
»Und Sie möchten heiraten?« fragte Ippolit Sergejewitsch.
»Ja . . . Ich weiß nicht! Ich denke nicht darüber nach . . .« sagte sie einfach. Der Blick ihrer schönen Augen, der in die Ferne schweifte, war konzentriert, als ob sie etwas Fernem und Teurem gedachte.
»Sie müßten den Winter in der Stadt verbringen – dort wird Ihre Schönheit die allgemeine Aufmerksamkeit erregen, und Sie werden bald finden, was Sie suchen . . . Denn viele werden auch sehr wünschen, Sie ihre Frau zu nennen«, sagte er langsam und leise, indem er nachdenklich ihre Gestalt betrachtete.
»Ist noch nötig, daß ich es erlaube?«
»Wie können Sie verbieten, das zu wünschen?«
»Ach, ja! Gewiß . . . Mögen sie wünschen!«
Sie gingen schweigend einige Schritte weiter. Sie schaute nachdenklich in die Ferne und grübelte über irgend etwas nach; – er zählte, ohne zu wissen weshalb, die Flecken auf ihrem Kleide. Es waren sieben: drei große, die wie Sterne aussahen, zwei – wie ein Komma und einer – wie ein Pinselstrich. Wegen ihrer schwarzen Farbe und der Form, in der sie auf dem Stoffe verteilt waren, hatten sie für ihn irgendeine Bedeutung; aber was für eine – wußte er selbst nicht.
»Waren Sie je verliebt?« tönte plötzlich ihre Stimme ernst und forschend.
»Ich?« fragte Ippolit Sergejewitsch zusammenzuckend. »Ja . . . aber schon lange her, als ich noch ein Jüngling war . . .«
»Ich auch, schon lange her . . .« kündigte sie an.
»Ah! Wer ist er?« fragte Ippolit Sergejewitsch, ohne das Unpassende der Frage zu fühlen. Er riß einen Zweig, der ihm gerade in die Hand kam, ab und schleuderte ihn weit fort.
»Er? Ein Pferdedieb . . . Drei Jahre sind es her, daß ich ihn sah. Ich war damals siebzehn Jahre alt . . . Man hatte ihn einst gefangen und blutig geschlagen auf unsern Hof gebracht. Er lag mit Stricken festgebunden, schwieg und sah mich an . . . ich stand auf der Treppe vor dem Hause. Ich erinnere mich: es war so ein heller Morgen; es war früh, und alle schliefen noch bei uns . . .«
Sie verstummte nachdenklich.
»Unter dem Karren war eine Lache von Blut – so eine fette Lache – und schwere Tropfen fielen von seinem Körper herab . . . Er hieß Saschka Remesow. Bauern kamen auf den Hof, sahen ihn an und knurrten wie Hunde. Alle hatten böse Augen; aber er, dieser Saschka, schaute sie ruhig an . . . Und ich fühlte, daß er – wenn auch zerschlagen und gebunden – sich für besser hielt als alle; so sah er wenigstens aus . . . Augen hatte er große, dunkelbraune. Mir tat er leid, und ich hatte Angst vor ihm. Ich ging ins Haus und goß ihm ein Glas Branntwein ein . . . Dann ging ich hinaus und gab es ihm. Aber seine Hände waren zusammengebunden, und er konnte nicht austrinken . . . und er sagte zu mir, ein wenig den Kopf hebend, der ganz im Blute schwamm: »Geben Sie es mir zum Munde, Fräulein!« Ich hielt es ihm hin . . . und er trank langsam, langsam und sagte: »Danke Ihnen, Fräulein! Gebe Ihnen Gott Glück!« Dann flüsterte ich ihm plötzlich zu: »Laufen Sie fort!« Und er antwortete laut: »Wenn ich am Leben bleibe, werde ich sicherlich weglaufen! Glauben Sie mir nur!« Und mir gefiel es schrecklich, daß er es so laut rief, daß alle auf dem Hofe es hörten. Dann sagte er: »Fräulein, befehlen Sie, mein Gesicht abzuwaschen!« Ich sagte es Dunja, und sie wusch es ihm . . . obwohl es blau und geschwollen blieb von den Schlägen . . . ja! Bald darauf führte man ihn fort, und als der Karren aus dem Hofe fuhr, schaute ich ihn an, und er grüßte immer mit dem Kopfe und lächelte mit den Augen . . . obwohl er so zerschlagen war . . . Wieviel ich geweint habe um ihn! Wie ich zu Gott betete, daß er ihn fortlaufen ließe . . .«
»Und Sie«, unterbrach sie Ippolit Sergejewitsch ironisch. »Vielleicht warten Sie, daß er fortläuft und zu Ihnen kommt und . . . Sie werden ihn dann heiraten?«
Sie hörte oder verstand die Ironie nicht; denn sie antwortete einfach:
»Nun, weshalb sollte er hierherkommen?«
»Und wenn er käme – würden Sie ihn heiraten?«
»Einen Bauern? . . . Ich weiß nicht . . . Nein, ich denke nicht!«
Ippolit Sergejewitsch wurde böse.
»Den Kopf haben Sie sich verdorben mit Ihren Romanen, das muß ich Ihnen sagen, Warwara Wassiljewna . . .« sagte er streng.
Bei dem Klange seiner trockenen Stimme schaute sie ihn erstaunt an und begann schweigend und aufmerksam auf seine harten, fast züchtigenden Worte zu hören. Und er fing an, ihr zu beweisen, wie diese von ihr erkorene Literatur Geist und Seele demoralisierte, wie sie stets die Wirklichkeit verstümmele, fremd den veredelnden Ideen, gleichgültig gegenüber der traurigen Wahrheit des Lebens und den Wünschen der Menschen. Seine Stimme klang schroff in der Stille des Waldes, der sie umgab, und oft vernahm man ein ängstliches Geräusch in den Zweigen; etwas versteckte sich dort. Von dem Laube der Bäume schaute eine duftende Dämmerung auf den Weg herab, und bisweilen durchzog ein gedehnter Laut, einem unterdrückten Schluchzen gleich, den Wald, und das Laub bebte leicht wie im Traume.
»Man muß nur solche Bücher lesen und achten, die den Sinn des Lebens, die Wünsche der Menschen und die wahrhaften Motive ihrer Handlungen verstehen lehren. Die Menschen verstehen – heißt, ihnen ihre Untugenden verzeihen. Man muß wissen, wie schlecht die Menschen leben, und wie gut sie leben könnten, wenn sie klüger wären und sich gegenseitig mehr achten würden. Alle wünschen nur eins: das Glück; aber sie streben danach auf verschiedenen Wegen, manchmal auf sehr schmachvollen; aber nur deshalb, weil sie nicht wissen, worin das Glück liegt. Und nun ist es die Pflicht einer tüchtigen und ehrlichen Literatur, den Menschen zu erklären, worin das Glück besteht, und wie es zu finden ist. Jene Bücher, die Sie lesen . . . sie lügen nur und lügen plump. Da haben sie Ihnen eingeflößt . . . eine rohe Vorstellung von dem Heroismus . . . Und was? Jetzt werden Sie im Leben solche Menschen suchen, wie Sie in diesen Büchern finden . . .«
»Nein, gewiß nicht!« sagte das Mädchen ernst. »Ich weiß – solche gibt es nicht. Aber dadurch sind die Bücher gut, weil sie schildern, was es nicht gibt. Das Gewöhnliche ist überall . . . Das ganze Leben ist gewöhnlich . . . Schon gar zuviel spricht man von Leiden . . . Das ist gewiß nicht wahr, und wenn es nicht wahr ist – wie schlecht ist es dann, viel davon zu sprechen, was es im Leben nur wenig gibt! Da sagen Sie, in den Büchern muß man mustergültige Gefühle und Gedanken suchen . . . und daß alle Menschen irren und sich nicht verstehen . . . Aber Bücher werden doch von Menschen geschrieben! Und wie kann ich wissen, was ich glauben soll und was besser ist? Aber in jenen Büchern, auf die Sie schimpfen, ist sehr viel Edles.«
»Sie haben mich nicht verstanden . . .« rief er gereizt.
»Nein? Und Sie sind mir böse deswegen?« fragte sie schuldbewußt.
»Nein! Ich bin gewiß nicht böse . . . Kann denn davon die Rede sein?«
»Sie sind böse, ich weiß es, ich weiß! Ich ärgere mich auch, wenn man mit mir nicht einverstanden ist. Aber weshalb haben Sie es nötig, daß ich mit Ihnen einverstanden bin? Und ich auch . . . Weshalb überhaupt streiten alle Menschen und wollen, daß man mit ihnen einig ist? Man wird ja dann über nichts sprechen können.«
Sie fing an zu lachen, und lachend schloß sie:
»Als ob alle wollten, daß von allen Worten nur ein ›Ja‹ zurückbleibe! Schrecklich lustig wäre das!«
»Sie fragen, weshalb ich es nötig habe? . . .«
»Nein, ich verstehe; Sie sind gewohnt zu lehren, und Sie haben es schon nötig, daß man Sie nicht durch Widersprüche stört.«
»Gar nicht!« rief Polkanoff gekränkt. »Ich will bei Ihnen eine Kritik hervorrufen . . . eine Kritik über alles, was um Sie und in Ihrer Seele vorgeht.«
»Wozu?« fragte sie, naiv in seine Augen schauend.
»Mein Gott! Was heißt – wozu? Damit Sie Ihre Gefühle, Gedanken und Taten erwägen können . . . Damit Sie sich dem Leben gegenüber und sich selbst verständig verhalten können.«
»Nun, das muß wohl schwer sein. Sich selbst prüfen, sich selbst kritisieren . . . Wie soll man das? Ich bin doch allein . . . Und nun wie? . . . Mich spalten! So etwa? Nein, das verstehe ich nicht! Bei Ihnen kommt es heraus, als ob die Wahrheit nur Ihnen bekannt ist . . . Nehmen wir an, so ist es auch bei mir der Fall . . . und bei allen. Aber das heißt, daß sich alle irren! Denn Sie sagen doch: Es gibt nur eine Wahrheit für alle! Ist es so? Ah! Schauen Sie, was für eine schöne Wiese!«
Er schaute hin, ohne auf ihre Worte zu erwidern. In ihm tobte die Unzufriedenheit mit sich selbst. Sein Geist war beleidigt durch dieses unbeugsame Mädchen, das sich seinen Anstrengungen, sie zu bezwingen, widersetzte. Er war empört, daß es ihm nicht gelang, auch nur für einen Augenblick ihre Denkweise zu unterbrechen, und dann sie auf einen Weg zu führen, entgegengesetzt dem, auf dem sie bis jetzt gewandelt war, ohne Hindernissen begegnet zu sein. Er war gewohnt, die Menschen, die mit ihm nicht einverstanden waren, für dumm zu halten; im besten Falle hielt er sie für unfähig, sich über jenen Punkt hinaus zu entwickeln, auf dem ihr Verstand stehengeblieben war. Und zu solchen Menschen empfand er Verachtung gemischt mit Mitleid. Aber dieses Mädchen schien ihm nicht dumm und erregte nicht in ihm die Gefühle, die er gewöhnlich seinen Gegnern gegenüber empfand. »Woher kommt das, und was ist sie?« Und er erwiderte sich: »Zweifellos nur deshalb, weil sie so berückend schön ist . . . Ihre wilden Reden könnte man schon verzeihen . . . allein, weil sie originell sind, und Originalität begegnet man selten, namentlich bei einer Frau.« – Wie ein Mensch von hoher Kultur behandelte er äußerlich die Frau wie ein Wesen, das ihm geistig gleichberechtigt war; aber in der Tiefe seiner Seele dachte er, wie jeder Mann, über die Frau skeptisch und mit Ironie. Im Herzen eines Menschen ist viel Raum für den Glauben, aber der Raum für die Überzeugung ist eng.
Langsam gingen sie auf der breiten, fast kreisrunden Wiese. Der Weg, mit seinen zwei schwarzen Fahrgeleisen, schnitt quer hindurch und verlief im Walde. In der Mitte der Wiese stand eine kleine Gruppe junger, schlanker Birkenbäume, deren Schatten gleich einem feinen Spitzenmuster sich auf den Halmen des gemähten Grases abzeichneten. Unweit davon neigte sich eine halbverfallene Hütte aus Zweigen zur Erde herab. In ihrem Innern sah man Heu, und darauf saßen zwei Dohlen. Ippolit Sergejewitsch erschienen sie völlig unnötig und widersinnig in dieser kleinen und schönen Einöde, die von allen Seiten von den dunkeln Mauern des geheimnisvoll schweigenden Waldes umgeben war. Die Dohlen aber schauten von der Seite die auf dem Wege gehenden Menschen an, und in ihrer Haltung lag etwas Furchtloses und Selbstbewußtes – als ob sie den Eingang in die Hütte schützten und damit – eine Pflicht erfüllten.
»Sind Sie nicht müde?« fragte Ippolit Sergejewitsch mit einem Gefühl, das nahe an Zorn grenzte, und betrachtete die Dohlen, die wichtig und düster in ihrer Unbeweglichkeit aussahen.
»Ich? Beim Spazierengehen – müde? Das ist sogar beleidigend anzuhören! Und übrigens bleibt uns nicht mehr als eine Werst bis zu jenem Orte, wo man uns erwartet . . . Da werden wir bald in den Wald hineinkommen, und der Weg wird bergab gehen.«
Sie erzählte ihm, wie schön es dort sei, wohin sie gingen, und er fühlte, wie eine weiche, kosende Trägheit über ihn kam, die ihn störte, ihren Reden zu folgen. »Dort ist ein Kiefernwald; er steht auf einem hohen Hügel und heißt Sawelowa-Griwa. Es sind mächtige Kiefern, und ihre Stämme haben keine Äste, nur oben formt sich ein dunkelgrüner Schirm. Still ist es in diesem Walde, unheimlich; der ganze Boden ist von Fichtennadeln bedeckt, und der Wald sieht wie gefegt aus. Wenn ich in ihm wandle, denke ich immer an Gott . . . rings um seinen Altar muß es ebenso bange sein . . . Die Engel lobpreisen ihn nicht – das ist nicht wahr! Wozu braucht er das Lob? Weiß er denn nicht selbst, wie groß er ist?«
Im Kopfe Ippolit Sergejewitschs tauchte plötzlich ein klarer Gedanke auf:
»Wie wäre es, wenn ich die Autorität des Dogmas benutzte, um den Schatz ihrer Seele zu heben?«
Aber stolz verwarf er sofort dieses unwillkürliche Geständnis seiner Schwäche ihr gegenüber. Es wäre unehrlich, durch eine Macht zu wirken, an deren Existenz er nicht glaubte.
»Sie . . . Sie glauben nicht an Gott?« fragte sie plötzlich, als hätte sie seine Gedanken durchschaut.
»Weshalb meinen Sie?«
»Ja, weil . . . weil alle Gelehrten nicht glauben.«
»Warum nicht gar!« meinte er spöttisch; er wollte dieses Thema nicht fortsetzen; aber sie ließ ihm keine Ruhe.
»Sollten es wirklich nicht alle sein? Aber wie ist das, wenn man nicht glaubt? Bitte, erzählen Sie mir von denen, die gar nicht an ihn glauben . . . Ich verstehe nicht, wie das möglich ist. Wie ist denn sonst alles entstanden?«
Er schwieg eine Weile und bemühte sich, seinen Geist aufzurütteln, der süß unter den Klängen ihrer Worte schlummerte. Dann fing er an, von der Entstehung der Welt zu sprechen, wie er sie auffaßte:
»Gewaltige, unbekannte Kräfte sind in ewigem Fluß, sie stoßen aufeinander, und ihre stete Bewegung schafft die uns sichtbare Welt, in der das Leben des Gedankens und des Grashalms ein und denselben Gesetzen unterworfen sind. Diese Bewegung hat keinen Anfang und wird auch kein Ende haben . . .«
Das Mädchen hörte ihm aufmerksam zu und bat oft, ihr das oder jenes zu erklären. Er erklärte mit Freude, da er die Anstrengung des Denkens auf ihrem Gesichte sah. Sie denkt! denkt! Als er aber geendet hatte, schwieg sie einige Minuten und fragte ihn naiv:
»Aber hier ist nicht mit dem Anfange begonnen! Denn im Anfang war Gott! Wie ist das also? Da erwähnt man ihn überhaupt nicht, und das heißt schon, an ihn nicht glauben?«
Er wollte ihr erwidern, aber an dem Ausdrucke ihres Gesichtes sah er, daß es nutzlos wäre. Sie »glaubte« – das verkündeten ihre Augen, die in mystischem Feuer brannten. Leise sprach sie etwas Sonderbares, furchtsam. Den Anfang ihrer Rede hatte er nicht aufgefangen.
»Wenn du die Menschen siehst, und wie alles bei ihnen häßlich zugeht und dann dich an Gott erinnerst, an das Jüngste Gericht, – so schnürt es dir das Herz zusammen. Er kann doch in jedem Augenblick – heute, morgen, in einer Stunde, – Rechenschaft fordern . . . Und wissen Sie, manchmal kommt es mir vor – es würde bald sein! Am Tage wird es sein . . . und zuerst wird die Sonne erlöschen . . . und dann wird eine neue Flamme auflodern, und in ihr wird erscheinen – Er.«
Ippolit Sergejewitsch hörte ihren Phantasien zu und dachte:
»In ihr ist alles, außer dem, was in ihr sein müßte . . .«
Ihre Worte riefen eine Blässe auf ihrem Gesicht hervor, und Schrecken lag in ihren Augen. In diesem niedergeschlagenen Zustande ging sie lange, so daß die Neugierde, mit der Ippolit Sergejewitsch ihr zuhörte, zu schwinden begann und sich in Müdigkeit verwandelte.
Aber ihr Träumen verschwand plötzlich, als ein lautes Gelächter, das irgendwo in ihrer Nähe erscholl, zu ihnen drang. »Hören Sie? Das ist Mascha . . . nun sind wir angekommen!«
Sie beschleunigte ihre Schritte und schrie:
»Mascha, ahu!«
»Weshalb schreit sie?« dachte Ippolit Sergejewitsch mit Bedauern.
Sie kamen ans Ufer des Flusses. Abschüssig fiel es zum Wasser hinab, und lustige Gruppen von Birken und Kiefern waren malerisch auf ihm zerstreut. Auf dem gegenüberliegenden Ufer standen dicht am Wasser hohe, schweigsame Kiefern, die Luft mit einem kräftigen, harzigen Duft erfüllend. Alles war düster, unbeweglich, einförmig und durchdrungen von ernster Erhabenheit. Auf diesem Ufer wiegten schlanke Birken ihre geschmeidigen Zweige, und nervös zitterte das silberne Laub der Pappel. Wacholder und Nußbäume standen in üppigen Gruppen und spiegelten sich im Wasser; dort leuchtete der gelbe Sand, dicht mit ausgetrockneten Laubnadeln beschüttet; hier unter den Füßen grünte das junge Gras, kaum durch die abgemähten Halme hervorsprossend, und die unter den Bäumen zerstreuten Garben erfüllten die Luft mit dem Geruch nach frischem Heu. Der Fluß, leblos und kalt, spiegelte diese beiden Welten wider, die einander so wenig glichen. In dem Schatten einer Gruppe von Birken war ein bunter Teppich ausgebreitet. Ein Samowar, von dem zarte Dampfwolken und ein bläulicher Rauch aufstiegen, stand darauf, und neben ihm hockte Mascha mit der Teekanne in der Hand, um die Wirtschaft bekümmert. Ihr Gesicht war rot und glücklich, die Haare naß.
»Du hast gebadet?« fragte sie Warenjka. »Und wo ist Grigorij!«
»Ist auch baden gefahren. Wird schon bald zurückkommen.«
»Ich brauche ihn nicht. Ich will essen, trinken und . . . essen und trinken! Mehr nichts! Und Sie, Ippolit Sergejewitsch?«
»Werde mich nicht weigern«, bemerkte er lächelnd.
»Mascha, rasch!«
»Was befehlen Sie zuerst? Hühnchen, Pastete . . .?«
»Alles auf einmal, und dann kannst du verschwinden! Vielleicht erwartet dich jemand.«
»Es scheint, als hätte mich niemand . . .« kicherte leise Mascha und schaute sie mit dankbaren Augen an . . .
»Nun, schon gut! Verstelle dich!«
– Wie bei ihr alles natürlich herauskommt, dachte Ippolit Sergejewitsch, indem er sich an die Hühnchen heranmachte. Ist es möglich, daß ihr auch der Sinn und die Details solcher Beziehungen bekannt sind? . . . Sehr wahrscheinlich; denn auf dem Lande ist man doch so offenherzig und brutal in dieser Sphäre.
»Wart' mal! Wird dich schon zahm machen!« drohte sie.
»Oh, oh! Wird wohl lange warten müssen! . . . Ich, wissen Sie, ich habe ihn . . .« und sie bedeckte ihr Gesicht mit der Schürze und schaukelte sich von einem Bein aufs andere, von einem Anfalle eines unbezwinglichen Lachens befallen. »Ich habe ihn unterwegs ins Wasser geworfen!«
»Nun? Du bist aber ein fixes Mädchen! Und weiter?«
»Er schwamm hinter dem Boote her . . . und . . . und bat mich immer, daß ich ihn . . . hineinlasse . . . und ich habe ihm . . . einen Strick vom Steuer hinuntergeworfen!«
Das ansteckende Lachen der beiden Frauen zwang auch Ippolit Sergejewitsch, laut mitzulachen. Er lachte nicht, weil er sich Grigorij vorstellte, wie er hinter dem Boote herschwamm, sondern weil er sich wohl fühlte. Das Gefühl, von sich selbst frei zu sein, erfüllte ihn, und bisweilen schien es ihm, als hätte er sich von der Ferne beobachtet und bemerkt, daß er nie vorher so einfach-lustig gewesen war wie in diesem Augenblick. Dann verschwand Mascha, und sie blieben wieder allein. Warenjka trank, halb hingestreckt auf dem Teppich, ihren Tee. Ippolit Sergejewitsch sah sie wie durch den Schleier des Schlummers. Rings um sie her war es still, nur der Samowar sang seine trübsinnige Melodie, und bisweilen raschelte es im Grase.
»Weshalb sind Sie so schweigsam?« fragte Warenjka und sah ihn besorgt an. »Ist es Ihnen vielleicht langweilig?«
»Nein, mir ist wohl«, sagte er langsam. »Aber sprechen mag ich nicht.«
»So geht es mir auch«, sagte das Mädchen lebhaft. »Wenn es so ruhig ist, so spreche ich schrecklich ungerne. Mit Worten kann man nicht viel ausdrücken; denn es gibt Gefühle, für die man keine Worte findet. Und wenn man sagt – Ruhe, so ist es umsonst. Von der Ruhe kann man nicht sprechen, ohne sie zu verscheuchen . . . nicht wahr?«
Sie schwieg eine Weile, blickte nach dem Kiefernwald hinüber, und mit der Hand nach ihm hinweisend, sagte sie sanft lächelnd:
»Schauen Sie, die Kiefern sehen aus, als belauschten sie etwas. Dort zwischen ihnen ist es so ruhig – so ruhig. Manchmal scheint es mir, daß es am besten zu leben ist in solcher Ruhe. Aber auch im Gewitter ist es schön . . . Ach, wie schön! Schwarzer Himmel, zornige Blitze, Dunkelheit . . . und der Wind heult . . . Dann aufs Feld hinausgehen und dort stehen und singen – laut singen, oder im Regen laufen gegen den Wind . . . So geht es mir auch im Winter. Wissen Sie, einst in einem Schneegestöber verirrte ich mich, und beinahe wäre ich erfroren.«
»Erzählen Sie, wie das geschah!« bat er. Es war ihm angenehm, ihr zuzuhören – es schien ihm, als spreche sie eine Sprache, die ihm fremd war, obwohl er sie verstand.
»Ich fuhr einst spät in der Nacht aus der Stadt«, begann sie, zu ihm heranrückend, und schaute ihn mit sanft-lächelnden Augen an. »Der Kutscher, Jacowleff, war so ein alter, strenger Bauer. Nun begann ein schreckliches Schneegestöber, ein Schneewirbel von ungeheurer Kraft, uns gerade ins Gesicht. Ein mächtiger Windstoß! – und eine ganze Schneewolke schleudert er auf uns mit so einer Wucht, daß die Pferde zurückprallen und Jacowleff auf dem Bocke in die Höhe geworfen wird. Ringsum siedet alles, wie in einem Kessel, und wir sind wie in kalten Schaum gehüllt. Wir fuhren, fuhren, dann sehe ich, wie Jacowleff seine Mütze abnimmt und sich bekreuzigt. ›Was ist mit dir?‹ – ›Beten Sie, Fräulein, zu unserm Allvater und zu Warwara, der Großmärtyrerin; sie schützt vor unerwartetem Tode.‹ Er sprach einfach und ohne Furcht, so daß ich nicht erschrak; ich frage ihn: ›Haben wir uns verirrt?‹ ›Ja‹, sagt er. ›Aber vielleicht werden wir uns noch heraushelfen?‹ meinte ich. – ›Wie denn?‹ antwortet er, ›in so einem Schneesturme sich heraushelfen! Da will ich mal die Leine fallen lassen, vielleicht finden die Pferde allein den Weg. Aber denken Sie dennoch an Gott!‹ Er ist sehr fromm, dieser Jacowleff. – Die Pferde stutzten und blieben stehen, und wir schneiten langsam ein. Kalt war es! Der Schnee schnitt uns ins Gesicht. Jacowleff stieg vom Bocke herab, setzte sich zu mir, damit es uns beiden wärmer würde, und wir wickelten uns bis über den Kopf in eine Decke, die im Schlitten lag. Auf der Decke häufte sich der Schnee an und begann schwer auf uns zu drücken. Ich saß und dachte: Da bin ich verloren! Werde wohl nicht die Bonbons aufessen, die ich aus der Stadt mitgebracht habe . . . Aber ängstlich war mir nicht; denn Jacowleff unterhielt sich die ganze Zeit. Ich erinnere mich, wie er sagte: ›Leid tun Sie mir, Fräulein! Weshalb sollen Sie denn zugrunde gehen?‹ – ›Aber du wirst ja auch erfrieren?‹ – ›Mir ist es schon recht, ich habe schon meine Zeit gelebt, aber für Sie . . .‹ und er sprach immer von mir. Er liebt mich sehr, schilt sogar manchmal; wissen Sie, brummt so böse auf mich: – ›Ach, du Gottlose! Du Wagehals! Du schamloser Windbeutel!‹« – Sie machte ein strenges Gesicht und sprach die Worte gedehnt mit einer Baßstimme. Die Erinnerung an Jacowleff brachte sie von der Erzählung ab, und Ippolit Sergejewitsch mußte sie fragen:
»Wie haben Sie denn den Weg gefunden?«
»Ah . . . Die Pferde fingen an zu frieren und gingen von selbst. Sie gingen – gingen und kamen in einem Dorfe an, das dreizehn Werst von dem unsrigen entfernt war. Sie wissen, unser Dorf ist nahe von hier – vier Werst vielleicht. Wenn man dort am Ufer entlang geht und dann auf dem Pfade, rechts in den Wald, so ist da ein Hohlweg, und dort sieht man das Gut. Aber auf der Fahrstraße sind es ungefähr zehn Werst von hier aus.«
Einige freche Vögelchen huschten an ihnen vorbei, ließen sich auf den Zweigen der Büsche nieder und zwitscherten keck, als ob sie sich gegenseitig die Eindrücke über diese zwei einsamen Menschen im Walde mitteilten. Aus der Ferne hörte man Lachen, Geplauder und das Plätschern der Ruder. Dort ruderten gewiß Grigorij und Mascha auf dem Flusse.
»Wollen wir sie herbeirufen, um auf jene Seite zu den Kiefern hinüber zu fahren?« schlug Warenjka vor. Er willigte ein, und sie legte die Hand, wie ein Sprachrohr, an den Mund und begann zu rufen:
»Fahren Sie hierhe–er!«
Das Schreien schwellte ihren Busen, und schweigend bewunderte Ippolit Sergejewitsch sie. Er hätte über etwas nachdenken müssen – über etwas Ernstes, das fühlte er, – aber denken mochte er nicht, und dieser schwache Ruf seines Verstandes störte ihn nicht, ruhig und frei dem stärkern Triebe – seinem Gefühle – sich hinzugeben.
Das Boot erschien. Grigorijs Gesicht war schelmisch und ein wenig verlegen, Maschas geheuchelt-böse. Aber als Warenjka sich ins Boot setzte und sie anschaute, brach sie in Lachen aus, und da fingen auch die beiden andern an zu lachen, verlegen und glücklich.
»Venus, und die von ihr geliebkosten Sklaven«, sagte Ippolit Sergejewitsch zu sich.
In dem Kiefernwalde war es feierlich und still, wie in einem Tempel; die schlanken Stämme standen wie Säulen und stützten das schwere Gewölbe des dunkeln Laubes. Ein warmer und kräftiger Harzgeruch erfüllte die Luft, und leise knirschten die trockenen Laubnadeln unter den Füßen. Vor ihnen, hinter ihnen, zu beiden Seiten – überall standen rötliche Kiefern, und nur hier und da bei den Wurzeln drängte sich ein blasses Grün durch die Schicht der Fichtennadeln, und in dieser Stille, in diesem Schweigen wanderten langsam zwei Menschen, bald nach rechts, bald nach links vor den Bäumen, die ihnen den Weg versperrten, ausweichend.
»Werden wir uns nicht verirren?« fragte Ippolit Sergejewitsch.
»Ich mich verirren?« sagte Warenjka erstaunt. »Ich werde überall die Richtung finden . . . Man braucht ja nur nach der Sonne zu schauen.«
Er fragte nicht, wie ihr die Sonne den Weg weise; er wollte gar nicht sprechen, obwohl er manchmal fühlte, daß er ihr vieles hätte sagen können. Aber diese Wünsche brachen nur im Innern hervor, ohne die Oberfläche seiner ruhigen Stimmung zu streifen, und in einer Sekunde erloschen sie, ohne ihn irgendwie aufzuregen. Warenjka ging neben ihm her, und er sah auf ihrem Gesichte den Widerschein stillen Entzückens.
»Ist es nicht schön?« fragte sie zuweilen, und ein kosendes Lächeln zuckte auf ihren Lippen.
»Ja – sehr!« antwortete er kurz, und wieder gingen sie schweigend im Walde. Ihm schien es, daß er – ein Jüngling, andächtig verliebt war und fremd ihm alle sündigen Gedanken und jeder Seelenkampf. Aber jedesmal, wenn seine Augen die Schmutzflecken auf ihrem Kleide gewahrten, huschte ein unheimlicher Schatten über seine Seele. Und er verstand es selbst nicht, wie es geschah, daß er in einem Augenblicke, in dem so ein Schatten sein Bewußtsein umschleierte, tief aufseufzte, als wälze er eine schwere Last von sich ab:
»Was für eine Schönheit Sie sind!«
Sie blickte erstaunt zu ihm auf:
»Was ist mit Ihnen? Sie schweigen – schweigen – und plötzlich!«
Ippolit Sergejewitsch lachte schwach auf, durch ihre Ruhe entwaffnet.
So . . . wissen Sie . . . gut ist es hier! Der Wald ist so schön . . . und Sie sind darin wie eine Fee . . . oder – Sie sind die Göttin, und der Wald ist Ihr Tempel.«
»Nein,« erwiderte sie lächelnd, »das ist nicht mein Wald, das ist ein Staatswald; unser Wald liegt in jener Richtung, flußabwärts.«
Und sie zeigte mit der Hand nach der Seite.
Scherzt sie oder . . . versteht sie es nicht – dachte Ippolit Sergejewitsch, und in ihm entbrannte der hartnäckige Wunsch, ihr von ihrer Schönheit zu sprechen. Aber sie war nachdenklich und ruhig, und das hielt ihn während der ganzen Zeit ihres Spazierganges zurück.
Sie wanderten noch lange, aber sie sprachen nur wenig; denn die weichen, friedlichen Eindrücke dieses Tages breiteten über ihre Seelen eine süße Müdigkeit, in der alle Wünsche einschlummerten, außer dem Verlangen, schweigend über etwas nachzudenken, was mit Worten nicht auszudrücken war.
Als sie nach Hause kamen, erfuhren sie, daß Elisawetta Sergejewna noch nicht zurückgekehrt sei, und sie setzten sich an den Teetisch, den Mascha schnell gedeckt hatte. Bald nach dem Tee fuhr Warenjka nach Hause, nachdem sie sich von ihm das Versprechen hatte geben lassen, mit Elisawetta zusammen sie auf ihrem Gute zu besuchen. Er begleitete sie hinaus. Als er auf die Terrasse zurückkehrte, ertappte er sich, wie er einer wehmütigen Stimmung nachhing, die dem Gefühl Ausdruck verlieh, daß er etwas ihm Notwendiges verloren hatte. Er setzte sich wieder an den Tisch, auf dem noch sein Glas mit Tee stand, und versuchte, streng mit sich ins Gericht zu gehen, und das Spiel der im Laufe des Tages erregten Gefühle zu unterdrücken. Aber er empfand Mitleid mit sich selbst und verzichtete auf alle Operationen an seiner eigenen Person.
»Wozu?« dachte er. »Ist denn alles das ernst? Eine Spielerei und mehr nicht. Das schadet ihr nicht, kann ihr nicht schaden, wenn ich es selbst wollte. Es stört mich ein wenig, mich auszuleben . . . aber es ist so viel Junges und Schönes darin . . .«
Dann erinnerte er sich seines festen Entschlusses, ihren Geist zu entwickeln, und seiner mißlungenen Versuche und lächelte nachsichtig.
»Nein, offenbar muss man mit ihr in andern Worten reden. Solche urwüchsige Naturen sind eher geneigt, auf ihre Unmittelbarkeit zu verzichten der Metaphysik gegenüber, während sie sich vor der Logik mit dem Harnisch ihres blinden und primitiven Gefühls umgeben . . . Sonderbares Mädchen!«
In Gedanken mit ihr beschäftigt, traf ihn die Schwester an. Sie war geräuschvoll und lebhaft. – So hatte er sie noch nie gesehen. Sie gab Mascha den Befehl, den Samowar aufzuwärmen, setzte sich ihm gegenüber und begann von Benkowskijs zu erzählen.
»Aus allen Ritzen ihres alten Hauses schauen die herben Augen der Armut heraus, die über ihren Sieg triumphieren. Im Hause scheint es, ist nicht eine Kopeke Geld und keine Vorräte. Zum Mittagessen schickte man ins Dorf nach Eiern. Es gab kein Fleisch, und der alte Benkowskij sprach deshalb sehr viel von dem Vegetarianertum und von der Möglichkeit der moralischen Umgestaltung der Menschheit auf diesem Boden. Es riecht bei ihnen nach Verwesung, und alle sind sie so böse – vor Hunger wahrscheinlich. Ich fuhr zu ihnen mit dem Vorschlage, ein Stück Land zu verkaufen, das in mein Gebiet hineinschneidet.«
»Wozu das?« fragte Ippolit Sergejewitsch neugierig.
»Nun, dir werden wohl kaum meine Beweggründe verständlich sein. Stelle dir vor, daß ich das meiner zukünftigen Kinder wegen tue«, sagte sie lächelnd. »Nun, und wie hast du die Zeit verbracht?«
»Angenehm.«
Sie schwieg eine Weile und betrachtete ihn von der Seite.
»Verzeih mir die Frage . . . Du fürchtest nicht, dich von Warenjka hinreißen zu lassen?«
»Was ist denn da zu fürchten?« fragte er mit einem ihm selbst unerklärlichen Interesse.
»Die Möglichkeit, sich Hals über Kopf von ihr hinreißen zu lassen.«
»Nun, das werde ich wohl kaum verstehen . . .« antwortete er skeptisch und glaubte, daß er die Wahrheit sagte.
»Und wenn, so ist es prachtvoll. Ein wenig – ist gut, sonst bist du etwas zu trocken, . . . zu ernst . . . für dein Alter. Und ich werde mich wirklich freuen, wenn sie dich ein wenig aufrütteln wird . . . Vielleicht möchtest du sie häufiger sehen? . . .«
»Sie hat sich von mir das Versprechen geben lassen, zu ihr zu kommen und ließ auch dich bitten . . .« teilte ihr Ippolit Sergejewitsch mit.
»Wann willst du hinfahren?«
»Ganz gleichgültig . . . Wann es dir bequem ist. Du bist heute gut aufgelegt.«
»Ist das sehr auffällig?« fragte sie laut lachend. »Nun was? Ich habe den Tag gut zugebracht. Überhaupt . . . ich fürchte, daß es dir zynisch scheinen wird . . . aber wirklich, seit dem Tage, an dem mein Mann beerdigt wurde, fühle ich, daß ich förmlich wieder auflebe . . . Ich bin egoistisch, – gewiß! Aber es ist der freudige Egoismus eines Menschen, der aus dem Gefängnis in die Freiheit entlassen ist . . . Richte mich, aber sei gerecht.«
»Wieviel Phrasen für so eine kleine Rede! Bist du froh – so freue dich . . .« sagte Ippolit Sergejewitsch und lachte freundlich.
»Und du bist heute gut und nett«, sagte sie. »Siehst du – ein wenig Glück – und der Mensch wird sofort besser und gutmütiger. Und einige zu weise Menschen finden, daß uns die Leiden veredeln . . . Ich wünschte, daß das Leben an ihnen diese Theorie anwendete, um ihre Geister von dieser Verirrung zu befreien . . .«
»Und wenn man Warenjka leiden ließe . . . Was möchte aus ihr werden?« fragte sich Ippolit Sergejewitsch.
Bald darauf gingen sie auseinander. Sie – begann zu musizieren und er – ging auf sein Zimmer, legte sich hin und versank in Gedanken. – Was für eine Vorstellung das Mädchen wohl von ihm hatte. Hält sie ihn für schön? Oder für klug? Was kann ihr an ihm gefallen? Etwas zieht sie an, das ist klar. Aber wohl kaum hat er in ihren Augen den Wert eines klugen und gelehrten Menschen. Sie wirft so leicht alle seine Theorien, Anschauungen und Belehrungen von sich. Wahrscheinlicher ist es, daß er ihr nur einfach als Mann gefällt.
Und bei dieser Schlußfolgerung strahlte Ippolit Sergejewitsch vor stolzer Freude. Mit geschlossenen Augen und einem Lächeln der Wonne auf den Lippen stellte er sich das Mädchen vor, das ihm ergeben und besiegt von ihm, um seinetwillen zu allem bereit sei und ihn schüchtern bitten würde, sie zu nehmen und sie denken, leben und lieben zu lehren.
* * *
Als Elisawetta Sergejewnas Kabriolet vor dem Hause des Obersten Olessow anhielt, erschien auf der Freitreppe eine hagere, lange Frauengestalt in einem grauen Morgenkleide, und eine Baßstimme, die das »r« scharf rollte, rief ihnen zu:
»A–ah! Was für eine angenehme Überraschung!«
Ippolit Sergejewitsch fuhr sogar zusammen bei dieser Begrüßung, die fast einem Gebrüll ähnlich war.
»Mein Bruder Ippolit«, stellte Elisawetta Sergejewna vor, nachdem sie sich mit der Frau geküßt hatte.
»Margaritta Nodionowna Lutschickaja.«
Fünf knöcherne, kalte, klammernde Finger preßten Ippolit Sergejewitschs Hand zusammen; zwei blitzende, graue Augen blieben auf seinem Gesichte haften, und Tante Lutschickaja sagte in ihrem Baß, deutlich jede Silbe markierend, als habe sie sie gezählt und fürchte, etwas Überflüssiges zu sagen:
»Sehr erfreut, mit Ihnen bekannt zu werden.«
Dann schob sie sich zur Seite und stieß mit der Hand die Tür auf, die zu den Zimmern führte.
»Bitte!«
Ippolit Sergejewitsch trat über die Schwelle und ihm entgegen erscholl ein heiseres Husten und ein gereizter Ausruf:
»Der Teufel hole deine Dummheit! Geh, schau hin und sag, we–er gekommen ist . . .«
»Geh nur, geh!« spornte Elisawetta Sergejewna den Bruder an, als sie bemerkte, daß er unentschlossen stehenblieb. »Das schreit der Oberst . . . Wir sind es, Oberst!«
In der Mitte eines großen und niedrigen Zimmers stand ein massiver Lehnstuhl, und hineingezwängt in ihn war ein großer, aufgeblasener Körper mit einem roten, morschen Gesicht, das mit grauem Moos bewachsen war. Der obere Teil dieser Masse wälzte sich einförmig hin und her und keuchte schwer. Hinter dem Stuhle zeigten sich die Schultern einer großen, wohlbeleibten Frau, die mit trüben Augen in Ippolit Sergejewitschs Gesicht schaute.
»Froh, Sie zu sehen . . . Ihr Bruder? . . . Oberst Wassilij Olessow . . .schlug Türken und Tekiner, und jetzt bin ich selbst von Krankheiten geschlagen . . . Cho – cho – cho! Froh, Sie zu sehen! . . . Warwara trommelt mir schon den ganzen Sommer von Ihrer Gelehrtheit, von Ihrer Klugheit und allen möglichen, solchen Sachen die Ohren voll . . . Bitte, hierher ins Empfangszimmer . . . Fjokla – schieb!«
Durchdringend quietschten die Räder des Fahrstuhles, der Oberst erhielt einen Ruck nach vorne, fiel zurück und brach in ein heiseres Husten aus, dabei wackelte er so mit dem Kopfe, als wolle er ihn herunterwerfen.
»Wenn dein Herr hustet – bleib stehen! Habe ich dir das nicht schon tausendmal gesagt?«
Und Tante Lutschickaja packte Fjokla bei der Schulter und drückte sie fast in den Boden hinein.
Polkanoffs standen und warteten, bis der massive, schaukelnde Körper Olessows ausgehustet hatte.
Endlich ging man weiter und kam in ein kleines Zimmer, in dem es schwül, finster und eng war infolge des Überflusses an weichen, in Leinwand gehüllten Möbeln.
»Bitte Platz nehmen . . . Fjokala – hole das Fräulein!« kommandierte Tante Lutschickaja.
»Elisawetta Sergejewna, mein Täubchen, ich bin froh, Sie zu sehen!« äußerte der Oberst, und unter den grauen Brauen, die über den Nasenrücken zusammengewachsen waren, hervorschauend, betrachtete er mit runden Eulenaugen den Gast. Die Nase des Obersten war fast lächerlich groß, und ihre Spitze, bläulich und leuchtend, verbarg sich traurig in den grauen Borsten seines Schnurrbartes.
»Ich weiß, daß Sie froh sind, wie auch ich froh bin, Sie zu sehen« . . . sagte freundlich der Gast.
»Cho–cho–cho! Das, pardon, lügen Sie! Was für ein Vergnügen ist es, einen Alten zu sehen, der vom Podagra gelähmt ist und an einem unersättlichen Durst nach Branntwein kränkelt? So fünfundzwanzig Jahre zurück konnte man sich wirklich beim Anblicke Wassjka Olessows freuen . . . und viele Frauen freuten sich . . . und jetzt habe ich sie nicht nötig und sie mich nicht . . . Aber wenn Sie da sind, wird man mir Branntwein geben, – und deshalb bin ich froh, Sie zu sehen!«
»Sprich nicht so viel, wirst wieder husten . . .« warnte ihn Margaritta Rodionowna.
»Haben Sie gehört?« wandte sich der Oberst zu Ippolit Sergejewitsch. »Ich darf nicht sprechen – es ist schädlich, trinken – schädlich, hol es der Teufel! Und ich sehe – daß zu leben, mir auch schädlich ist! Cho–cho–cho! Ausgelebt habe ich . . . wünsche Ihnen nicht, es jemals von sich sagen zu müssen . . . Übrigens werden Sie gewiß bald sterben . . . werden sich eine Auszehrung holen – Sie haben eine unmöglich schmale Brust . . .«
Ippolit Sergejewitsch schaute bald auf ihn, bald auf Tante Lutschickaja und dachte an Warenjka.
Aber zwischen was für Ungeheuern lebte sie eigentlich?!
Er hatte nie daran gedacht, sich die Umgebung, in der ihr Leben sich abspielte, vorzustellen, und jetzt war er niedergedrückt von dem, was er sah. Die herbe, eckige Magerkeit der Tante Lutschickaja tat seinen Augen weh; er konnte nicht ihren langen, von gelber Haut überzogenen Hals ansehen, und so oft sie zu sprechen begann, wurde ihm ängstlich, als ob er gefürchtet hätte, daß die Baßtöne, die aus ihrer breiten, aber brettartig-platten Brust hervordrangen, ihr dieselbe sprengen würden. Und das Rauschen ihrer Röcke kam ihm vor wie das Aneinanderreiben ihrer Knochen. Der Oberst roch nach Spiritus, Schweiß und schlechtem Tabak. Nach dem Glanze seiner Augen zu urteilen, regte er sich gewiß häufig auf; und Ippolit Sergejewitsch empfand Widerwillen vor diesem Alten, als er ihn sich in solcher Gereiztheit vorstellte. Im Zimmer war es ungemütlich, die Tapeten an den Wänden waren verraucht, und die Kacheln am Ofen waren über und über mit Rissen bedeckt, was ihnen fast das Aussehen von Marmor gab. Die Ölfarbe am Boden war von den Rädern des Fahrstuhles weggewischt; die Fensterrahmen waren schief, die Scheiben trübe. Über allem lag ein Hauch des Alters, das von der Müdigkeit des Lebens vernichtet wird.
»Heute ist es aber schwül«, sagte Elisawetta Sergejewna.
»Wird regnen!« sagte kategorisch Lutschickaja.
»Meinen Sie wirklich?« fragte zweifelnd Elisawetta Sergejewna.
»Glauben Sie, was Margaritta sagt«, brummte der Alte. »Sie weiß alles, was sein wird . . . Sie versichert mich dessen jeden Tag . . . Du, sagt sie, wirst sterben, und Warjka wird man ausplündern und ihr den Kopf abschneiden . . . Sehen Sie? . . . Ich streite mit ihr: – Die Tochter des Obersten Olessow wird niemandem so ohne weiteres erlauben, ihr den Kopf abzuschneiden . . . sie wird es allein tun! Und daß ich sterben werde – das ist wahr . . . das heißt, so muß es sein. Und Sie, Herr Gelehrter, wie fühlen Sie sich hier? Langweile im Kubus hier, was?«
»Nein, weshalb denn? Eine schöne Waldgegend«, erwiderte liebenswürdig Ippolit Sergejewitsch.
»Eine schöne Gegend . . . hier? Ho–ho! Das heißt, daß Sie nichts Schönes auf der Erde gesehen haben. Schön – ist das Tal des ›Kosanluck‹ in Bulgarien . . . schön ist es – in Cherossan: . . . in Murgaba sind Plätze da, wie im Paradies . . . Ah! Meine kostbare Brut! . . .«
Warenjka brachte den Duft der Frische mit sich in die dumpfe Luft des Empfangszimmers. Ihre Gestalt war in ein weites, hell-lila Kattunkleid gehüllt, das an eine griechische Chlamys erinnerte; in den Händen hielt sie einen großen Strauß von frischgeschnittenen Blumen, und ihr Gesicht strahlte vor Vergnügen.
»Wie gut, daß Sie gerade heute gekommen sind!« rief sie in einem fort, die Gäste begrüßend. »Ich war schon im Begriffe, mich auf den Weg zu Ihnen zu machen . . . sie haben mich hier totgeplagt! . . .«
Und mit einer breiten Handbewegung zeigte sie auf den Vater und auf Margaritta Rodionowna, die an Elisawetta Sergejewnas Seite so unnatürlich gerade saß, als wäre ihre Wirbelsäule versteinert und könnte sich nicht beugen.
»Warwara! Du sprichst dummes Zeug!« tadelte sie schroff das junge Mädchen, und ihre Augen flammten auf.
»Schelten Sie nicht! Sonst erzähle ich Ippolit Sergejewitsch von dem Leutnant Jacowleff und von seinem feurigen Herzen . . .«
»Cho – cho – cho! Warjka – ruhig! Ich werde selbst erzählen . . .«
Wo bin ich hingeraten? überlegte sich Ippolit Sergejewitsch und schaute erstaunt seine Schwester an.
Aber ihr schien dies alles bekannt zu sein, und obwohl in ihrem Mundwinkel ein spöttisches Lächeln zuckte, schaute und hörte sie ruhig zu.
»Ich gehe, um den Tee zu bestellen!« verkündete Margaritta Rodionowna, erhob sich in gerader Linie, ohne den Oberkörper zu bewegen, und verschwand, indem sie dem Obersten einen vorwurfsvollen Blick zuschleuderte.
Warenjka setzte sich auf ihren Platz und begann Elisawetta Sergejewna etwas ins Ohr zu flüstern. Was sie für eine Leidenschaft für weite Kleider hat – dachte Ippolit Sergejewitsch, indem er von der Seite ihre Gestalt betrachtete, die sich in einer schönen Pose zu seiner Schwester herabneigte.
Und der Oberst brummte dumpf, wie eine abgespielte Baßgeige:
»Sie wissen gewiß, daß Margaritta die Frau meines Kameraden, des Majors Lutschickij, ist, der bei Esky-Sagra fiel? Sie machte mit ihm den Feldzug mit, ja! Eine energische Frau, wissen Sie. Und nun war bei uns im Regiment ein Leutnant Jacowleff, so ein zartes Mädchen . . . wissen Sie. Einst zertrümmerte ihm ein Rediefe die Brust mit dem Flintenkolben – galoppierende Schwindsucht . . . und kaputt! Und als er krank lag, pflegte sie ihn fünf Monate lang! Ah? wie gefällt Ihnen das? Und wissen Sie, sie gab ihm das Wort, nie wieder zu heiraten. Jung war sie, schön – effektvoll! Man machte ihr den Hof, sogar ernst machten ihr ehrenwerte Leute den Hof . . . Der Kapitän Schmurlo zum Beispiel, so ein lieber Kleinrusse, – begann sogar zu saufen und quittierte den Dienst. Ich – auch . . . das heißt, habe ihr auch einen Antrag gemacht: – Margaritta! sage ich, heirate mich! . . . wollte nicht . . . sehr dumm, aber gewiß sehr edel! Aber als mich das Podagra packte, erschien sie sofort und sagte: – du bist allein, ich bin allein . . . und so weiter . . . Rührend und heilig! Eine Freundschaft auf ewig und täglicher Zank. Sie kommt jeden Sommer angefahren, will sogar ihr Gut verkaufen und auf immer übersiedeln, das heißt, bis zu meinem Tode. Ich schätze es, aber komisch ist das alles – ja! Cho – cho – cho! Denn es war ein feuriges Weib und sehen Sie, wie das Feuer sie ausgezehrt hat? Spiele nicht mit Feuer . . . cho – cho! Sie, wissen Sie, ärgert sich, wenn man von dieser, wie sie sagt, Poesie ihres Lebens erzählt. Wage nicht, sagt sie, mit deiner lasterhaften Zunge das Heiligtum meines Herzens zu beleidigen! Ah? Cho – cho – cho! Aber im Grunde genommen – was für ein Heiligtum? Eine Verstandsverirrung, Träume einer Pensionstochter . . . Das Leben ist schlicht, nicht wahr? Genieße es und stirb zur rechten Zeit, und das ist die ganze Philosophie! Aber . . . stirb nur zur rechten Zeit! Ich habe den Termin verpaßt, das ist schlimm, wünsche es Ihnen nicht . . .«
Ippolit Sergejewitsch wurde es wirr im Kopfe von dieser Erzählung und von diesem Geruche, den der Oberst um sich verbreitete. Und Warenjka, ohne auf ihn zu achten, und ohne, sicherlich zu verstehen, wie wenig angenehm ihm das Gespräch mit ihrem Vater sei, unterhielt sich halblaut mit Elisawetta Sergejewna, die ihr aufmerksam und ernst zuhörte.
»Bitte, zum Tee,« erscholl in der Tür Margaritta Rodionownas Baß. »Warwara, roll den Vater herein!«
Ippolit Sergejewitsch atmete erleichtert auf und ging hinter Warenjka her, die mit Leichtigkeit den schweren Fahrstuhl vor sich herschob.
Der Teetisch war auf englische Art gedeckt, mit allerlei kaltem Hors-d'oeuvre. Ein enormes, saftiges Roastbeef war von Weinflaschen umrahmt, und bei diesem Anblicke brach der Oberst in ein zufriedenes Lachen aus. Es schien, als ob seine halbtoten, in Bärenfell eingewickelten Füße infolge der Vorfreude des Genusses zusammenzuckten; und noch im Fahren streckte er seine zitternden, aufgeschwollenen Hände, die dicht mit dunkeln Haaren bewachsen waren, den Flaschen entgegen, und mit seinem Lachen erschütterte er die Luft des großen Speisezimmers, das mit geflochtenen Stühlen ausgestattet war.
Das Teetrinken dauerte qualvoll lange, und die ganze Zeit erzählte der Oberst mit heiserer Stimme militärische Anekdoten. Margaritta Rodionowna machte kurz und mit tiefer brüllender Stimme ihre Bewertungen dazu, und Warenjka sprach leise, aber lebhaft mit Elisawetta Sergejewna.
Wovon spricht sie? dachte melancholisch Ippolit Sergejewitsch, der dem Obersten zum Opfer überlassen war.
Ihm schien es, daß sie ihm heute zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Was war das – Koketterie? Und er fühlte, daß er imstande war, ihr böse zu werden. Aber plötzlich blickte sie zu ihm hinüber und lachte hell auf.
Meine Schwester wird wohl ihre Aufmerksamkeit auf mich gelenkt haben! kombinierte Ippolit Sergejewitsch und zog unwillig die Brauen zusammen.
»Ippolit Sergejewitsch! Sind Sie mit Ihrem Tee fertig?« fragte Warenjka.
»Ja, schon . . .«
»Gehen wir spazieren? Ich werde Ihnen prachtvolle Plätzchen zeigen!«
»Gehen wir. Und du Lisa, gehst mit?«
»Ich – nein! Ich möchte ein wenig bei Margaritta Rodionowna und dem Obersten bleiben.«
»Cho – cho – cho! Angenehm, am Rande meines Grabes zu stehen, in das mein halbtoter Körper hineinrutscht!« lachte der Oberst. »Weshalb so sprechen?« . . .
Bald wird sie mich fragen: »Ist Ihnen langweilig bei uns?« dachte Ippolit Sergejewitsch, als er mit Warenjka durch die Zimmer in den Garten ging. Aber sie fragte ihn:
»Wie gefällt Ihnen Papa?«
»Oh!« sagte Ippolit Sergejewitsch leise. »Er flößt Achtung ein!«
»Aha!« rief Warenjka zufrieden aus. »So meinen alle. Er ist schrecklich tapfer! Wissen Sie, er spricht nicht von sich selbst, aber Tante Lutschickaja, – sie ist doch aus einem Regiment mit ihm, erzählte, daß bei ›Gornij-Dubnjak‹ eine Kugel seinem Pferde die Nüstern durchschoß; es trug ihn gerade auf die Türken los. Und die Türken waren im Vorrücken begriffen; es gelang ihm aber auszuweichen, und er galoppierte an der Front entlang davon; das Pferd wurde selbstverständlich getötet; er fiel und sah, wie vier auf ihn losstürzen . . . Sieh! Einer erreichte ihn und holte mit dem Flintenkolben auf ihn aus, aber Papa – zap! packte ihn beim Fuß, warf ihn nieder und gerade ins Gesicht mit dem Revolver – puff! Den Fuß hat er unter dem Pferde herausgezogen, und da kommen noch drei gelaufen, und dort hinter ihnen noch andere, und unsere Soldaten eilen ihm entgegen mit Jacowleff . . . wer das ist, wissen Sie ja? . . . Papa ergreift die Flinte des Totgeschossenen, springt auf – und vorwärts! Aber er war furchtbar stark, das hätte ihm beinahe das Leben gekostet; er gab dem Türken einen Hieb über den Kopf, und die Flinte zerbrach, es blieb ihm nur der Säbel, und der war stumpf und schlecht, und der Türke ist schon im Begriff, ihm das Bajonett in die Brust zu stoßen. Da gelang es Papa, mit der Hand den Riemen seiner Flinte zu fassen, und er lief den Seinigen entgegen, den Türken mit sich fortschleppend. In diesem Augenblick bekam er eine Kugel in die Seite und einen Bajonettstich in den Hals. Er verstand, daß er verloren sei, drehte sich mit dem Gesicht dem Feinde zu, riß dem Türken die Flinte aus der Hand und los auf sie mit einem – Hurra! Da kam auch Jacowleff mit seinen Soldaten herbeigeeilt, und sie rückten so tapfer vor, daß die Türken zurückwichen. Papa hatte man dafür das Georgenkreuz verliehen; aber er ärgerte sich, daß man einem Unteroffizier seines Regiments, der in diesem Gemetzel zweimal Jacowleff und einmal Papa gerettet hatte, nicht den Georgi gab und nahm das Kreuz nicht an. Aber als man es dem Unteroffizier gab – da nahm auch Papa.«
»Sie erzählen von diesem Gemetzel, als hätten Sie selbst daran teilgenommen«, bemerkte Ippolit Sergejewitsch, indem er sie unterbrach. »Ja–a,« . . . sagte sie gedehnt, seufzte und kniff die Augen zusammen. »Der Krieg gefällt mir . . . und ich werde als barmherzige Schwester mitgehen, wenn es Krieg geben sollte.«
»Und ich werde mich dann als Soldat stellen.«
»Sie?« fragte sie, seine Gestalt betrachtend. »Nun, das scherzen Sie . . . Aus Ihnen wäre ein schlechter Soldat geworden . . . Schwach sind Sie . . . mager . . .«
Das verletzte ihn.
»Ich bin stark genug, glauben Sie mir nur,« rief er ihr wie warnend zu.
»Nun, wo denn?« sagte Warenjka, indem sie ruhig fortfuhr, ihm nicht zu glauben.
In ihm loderte das rasende Verlangen auf, sie in die Arme zu nehmen und mit der ganzen Kraft an sich zu pressen – so, daß ihr die Tränen aus den Augen hervorstürzten. Er blickte sich rasch um, schauderte und gab sogleich seinen Wunsch beschämt auf.
Sie gingen durch den Garten auf einem Pfade, der mit geraden Reihen von Apfelbäumen bepflanzt war; hinter ihnen am Ende des Pfades war ein Fenster des Hauses sichtbar. Von den Bäumen fielen Äpfel herab, die dumpf auf den Boden schlugen, und aus der Nähe drangen Stimmen zu ihnen; die eine fragte:
»Er ist wohl auch als Bräutigam zu uns gekommen?« Und die andere Stimme schimpfte brummig:
»Warten Sie . . .« Warenjka nahm ihren Gefährten am Ärmel und hielt ihn zurück: »Hören wir zu, was sie von Ihnen sagen.«
Er blickte sie kalt an und sagte:
»Ich liebe es nicht, die Gespräche der Dienstboten zu belauschen . . .«
»Und ich liebe es,« verkündete Warenjka. »Unter sich unterhalten sie sich sehr interessant über uns Herrschaften . . .«
»Vielleicht interessant, aber kaum gut,« sagte Ippolit Sergejewitsch und lächelte spöttisch.
»Weshalb denn? Über mich sprechen sie immer gut.«
»Gratuliere . . .«
Er war in der Gewalt eines bösen Bedürfnisses, schroff, barsch und beleidigend mit ihr zu sprechen. Ihr Benehmen empörte ihn heute. Im Zimmer hatte sie ihm lange keine Aufmerksamkeit geschenkt, als verstände sie nicht, daß er ihretwegen und zu ihr gekommen war, und nicht zu dem ohne Füße herumrollenden Vater und zu der ausgetrockneten Tante; dann erklärte sie ihn für schwach und begann, ihn herablassend zu behandeln.
»Was das nur alles sein mag? Wenn ich ihr nicht äußerlich gefalle und innerlich ihr nicht interessant bin – was hat sie dann zu mir hingezogen? Das neue Gesicht und . . . weiter nichts?«
Er glaubte an seine Anziehungskraft und dachte, daß er es mit einer Koketterie zu tun hatte, die sich geschickt unter der Maske der Naivität und Offenherzigkeit verbarg.
Vielleicht hält sie mich für dumm . . . und hofft, daß ich klüger werde . . .
»Die Tante hat recht, es gibt Regen!« sagte Warenjka, in die Ferne blickend. »Schauen Sie, was für eine Wolke . . . und es wird schwül, wie immer vor einem Gewitter . . .«
»Das ist unangenehm,« sagte Ippolit Sergejewitsch. »Man muß umkehren und die Schwester benachrichtigen . . .«
»Wozu denn?«
»Um noch vor dem Regen nach Hause zurückzukehren.«
»Wer wird Sie fortlassen? Und Sie werden wohl kaum die Zeit haben, vor dem Gewitter nach Hause zu kommen . . . Sie müssen es hier abwarten.«
»Und wenn der Regen sich bis in die Nacht hineinzieht?«
»Werden Sie bei uns übernachten,« sagte Warenjka kategorisch.
»Nein, das ist unbequem,« protestierte Ippolit Sergejewitsch.
»Mein Gott! Ist es denn so schwer, eine Nacht unbequem zuzubringen?«
»Ich denke nicht an meine Unbequemlichkeit . . .«
»Und um andere kümmern Sie sich nicht! jeder kann selbst für sich sorgen.«
Sie stritten und gingen weiter, und ihnen entgegen zog schnell eine finstere Wolke am Himmel herauf, und irgendwo weit in der Ferne brummte schon der Donner. Eine drückende Schwüle verbreitete sich in der Luft, als wenn die heranrückende Wolke die ganze Glut dieses Tages zusammenschmiedete und vor sich herjagte. Und lechzend erwarteten die Blätter, die wie erstarrt an den Bäumen hingen, den labenden Trank.
»Wollen wir umkehren?« schlug Ippolit Sergejewitsch vor.
»Ja, es ist schwül . . . ich liebe nicht die Zeit vor einem Ereignis . . . vor Gewitter, vor Feiertagen. Das Gewitter an und für sich, oder die Feiertage – das ist gut, aber warten, bis sie kommen – ist langweilig. Wenn alles nur im Nu kommen wollte . . . legst dich schlafen – Winter und Frost; erwachst – Frühling, Blumen und Sonne . . . oder – die Sonne scheint und plötzlich . . . Dunkelheit, Donner und Wolkenbruch.«
»Vielleicht möchten Sie, daß sich auch der Mensch so plötzlich und unerwartet verwandle?« fragte Ippolit Sergejewitsch ironisch.
»Der Mensch soll immer interessant sein«, sagte sie sentenziös.
»Aber was heißt denn interessant sein?« rief Ippolit Sergejewitsch unwillig«
»Was das heißt? Ah . . . das ist schwer zu sagen . . . wenn Sie lebhafter würden . . . ja, lebhafter! Sollten mehr lachen, singen, spielen . . . tapferer sein, kühner, kräftiger . . . sogar frecher . . . selbst grob.«
Er hörte ihrer Definition aufmerksamer zu und fragte sich:
Empfiehlt sie mir das, als Programm für die Beziehungen, die sie zwischen mir und sich wünscht?
»Die Schnelligkeit fehlt den Menschen . . . und alles muß schnell gemacht werden, damit das Leben interessant verläuft,« erklärte sie mit ernstem Gesichte.
»Wer weiß? Vielleicht haben Sie recht!« bemerkte Ippolit Sergejewitsch, »das heißt selbstverständlich nicht ganz recht . . .«
»Nun, machen Sie nur keine Ausreden!« sagte sie lachend. »Wie ist das – nicht ganz? . . . Entweder ganz, oder gar nicht . . . entweder bin ich gut oder schlecht . . . schön oder häßlich! nur so muß man urteilen! Aber wenn man sagt: ein braves, nettes Mädchen . . . so tut man es ja nur aus Feigheit . . . man fürchtet irgendwie die Wahrheit!«
»Nun, wissen Sie, mit dieser Teilung durch zwei werden Sie schon gar zu viele beleidigen!«
»Wodurch denn?«
»Durch Ungerechtigkeit . . .«
»Was geht Sie die Gerechtigkeit an? Als beruhe auf ihr das ganze Leben, und ohne sie könnte man gar nicht auskommen. Und wer hat sie nötig?« Sie rief es ärgerlich und kapriziös, und Funken sprühten aus ihren Augen.
»Alle Menschen, Warwara Wassiljewna! Alle, angefangen vom Bauer . . . bis zu Ihnen,« sagte Ippolit Sergejewitsch eindringlich, indem er ihre Erregung beobachtete und sich bemühte, sie sich zu erklären.
»Ich brauche keine Gerechtigkeit!« weigerte sie sich entschlossen und machte sogar eine Bewegung mit der Hand, als wolle sie etwas von sich wegstoßen. »Und sollte ich sie nötig haben, so finde ich sie selbst . . . Weshalb kümmern Sie sich denn stets um alle Menschen? Und . . . nein, Sie sagen es nur, um mich zu ärgern . . . denn Sie machen sich heute so wichtig, Sie sind so aufgeblasen . . .«
»Ich? Sie ärgern? Weshalb denn?« fragte Ippolit Sergejewitsch erstaunt.
»Was weiß ich? Aus Langeweile, gewiß . . . Aber – lassen wir das! Ich bin auch ohne Sie . . . uch! geladen! Mich hat man wegen meiner Bewerber die ganze Woche mit Predigten gefüttert . . . mich mit allerlei Gift begossen . . . und mit schmutzigen Verdächtigungen . . . Danke bestens!«
Ihre Augen flammten in unheimlichem Glanze, die Nasenflügel zuckten, und sie selbst bebte vor Erregung, die sie plötzlich ergriffen hatte. Mit verschleierten Augen und mit heftigem Herzklopfen begann Ippolit Sergejewitsch, sich feurig vor ihr zu verteidigen.
»Ich wollte Sie nicht ärgern . . .«
Aber in diesem Augenblick ertönte über ihnen ein rollendes Donnergetöse, das wie das Lachen eines Ungeheuer-Großen und Grob-Gutmütigen klang. Betäubt von dem gewaltigen Getöse, fuhren sie zusammen und blieben einen Augenblick stehen, aber sofort gingen sie rasch auf das Haus zu. Das Laub an den Bäumen zitterte, und von der Wolke, die sich am Himmel wie ein weicher, samtartiger Vorhang ausgebreitet hatte, fiel ein Schatten auf die Erde.
»Wie wir uns aber vom Zank hinreißen ließen«, sagte Warenjka im Gehen. »Ich habe nicht einmal bemerkt, wie die Wolke sich heraufschlich.«
Auf der Treppe stand Elisawetta Sergejewna und Tante Lutschizkaja mit einem großen Strohhut auf dem Kopfe, der ihr das Aussehen einer Sonnenblume gab.
»Wird ein schreckliches Gewitter geben!« verkündete sie mit ihrem eindringlichen Baß, indem sie gerade Ippolit Sergejewitsch ins Gesicht schrie, als hielte sie es für ihre unbedingte Pflicht, ihn von dem herannahenden Gewitter zu überzeugen. Dann sagte sie: »Der Oberst ist eingeschlafen«, und verschwand.
»Wie gefällt dir das?« fragte Elisawetta Sergejewna, mit einer Kopfbewegung auf den Himmel weisend. »Wir werden vielleicht hier übernachten müssen.«
»Wenn wir dadurch niemanden belästigen . . .«
»Ist das ein Mensch!« rief Warenjka und schaute ihn erstaunt und beinahe mitleidig an. – »Immer fürchtet er nur, zu belästigen und ungerecht zu sein . . . Ach du mein Gott! Nun, aber langweilig muß es Ihnen sein zu leben . . . Immer mit der Kandare! . . . Und ich bin der Meinung – wenn Sie jemanden belästigen wollen – belästigen Sie ihn, wollen Sie ungerecht sein – seien Sie's!«
»Und Gott wird schon selbst entscheiden, wer recht hat . . .« unterbrach sie Elisawetta Sergejewna lächelnd, in dem Bewußtsein ihrer Überlegenheit. »Ich denke, man muß unter Dach gehen . . . und ihr?«
»Wir werden uns hier das Gewitter ansehen – ja?« wandte sich das Mädchen an Ippolit Sergejewitsch.
Er drückte ihr seine Zustimmung durch eine Verbeugung aus.
»Nun, ich bin keine Liebhaberin von grandiosen Naturerscheinungen . . . wenn sie ein Fieber, oder einen Schnupfen zur Folge haben können. Und außerdem kann man das Gewitter auch vom Fenster aus genießen . . . ei!« . . .
Ein Blitz zuckte auf und zerriß die Dunkelheit. Erbebend enthüllte sie auf einen Augenblick das von ihr Verschlungene und zog sich wieder zusammen. Einige Sekunden herrschte niederdrückende Ruhe, dann krachte wie ein Kanonenschuß der Donner, und sein dröhnendes Rollen schmetterte über dem Hause nieder.
Irgendwo brach ein wütender Windstoß hervor, faßte den Staub und den Schutt von der Erde und wirbelte ihn, wie eine Säule, hoch in die Luft. Strohhalme, Papiere, Blätter, alles flog durcheinander. Uferschwalben erfüllten mit ihrem ängstlichen Zwitschern die Luft; unheimlich rauschte das Laub der Bäume; in dichten Wolken fiel der Staub auf das eiserne Dach des Hauses nieder und brachte ein dumpfhallendes Geräusch hervor.
Warenjka schaute diesem Treiben des Sturmes durch die halb geöffnete Haustür zu; Ippolit Sergejewitsch stand hinter ihr und kniff die Augen zu, um sie vor dem Staube zu schützen. Die Terrasse, die auf die Freitreppe hinausführte, sah in der hereingebrochenen Finsternis wie ein düsterer Kasten aus, und bei jedem Aufflammen des Blitzes wurde die schlanke Gestalt des Mädchens mit einem bläulichen, geisterhaften Lichte beleuchtet.
»Sehen Sie! . . . Sehen Sie!« schrie Warenjka, so oft ein Blitz die Wollen zerriß. »Haben Sie gesehen? Es ist, als lachte die Wolke – nicht wahr? Es ist einem Lächeln sehr ähnlich . . . Es gibt solche düstere und schweigsame Menschen. Da schweigt, schweigt so ein Mensch, und plötzlich verklärt ein Lächeln seine Züge: – Die Augen leuchten, die Zähne blitzen . . . Ah! Da ist der Regen!«
Auf dem Dache trommelten große, schwere Tropfen, anfangs selten, dann immer häufiger, und zuletzt fielen sie mit furchtbarem Getöse herab.
»Gehen wir fort!« sagte Ippolit Sergejewitsch, »Sie werden durchnäßt!«
Es war ihm unbehaglich, in dieser engen Finsternis so nahe bei ihr zu stehen – unbehaglich und angenehm. Und er dachte, indem er ihren Hals betrachtete:
Wie wäre es, wenn ich ihn küßte?
Ein Blitz flammte auf und beleuchtete den halben Himmel. Bei diesem Scheine sah Ippolit Sergejewitsch, daß Warenjka mit einem Aufschrei des Entzückens die Arme hob und zurückgebogen dastand, als wolle sie ihre Brust den Blitzen darbieten. Er ergriff sie rückwärts bei der Taille, legte beinahe seinen Kopf auf ihre Schulter und fragte sie keuchend:
»Was? . . . Was? . . . Was ist mit Ihnen?«
»Aber nichts!« rief sie unwillig und machte sich mit einer kräftigen und geschmeidigen Bewegung von seinen Händen los. »Mein Gott, wie Sie erschrecken . . . und noch ein Mann!«
»Ich erschrak Ihretwegen«, sagte er dumpf und trat in die Ecke zurück.
Ihm schien es, als hätte die Berührung ihm die Hände verbrannt, und seine Brust erfüllte ein unbezwinglicher, glühender Wunsch, sie so kräftig zu umarmen, daß es schmerzte. Er verlor allmählich die Selbstbeherrschung; er wollte von der Terrasse heruntergehen und sich unter den Regen stellen, dort, wo die großen Tropfen die Bäume wie mit Peitschenhieben trafen.
»Ich gehe ins Zimmer«, sagte er.
»Kommen Sie«, stimmte Warenjka unzufrieden zu, und geräuschlos glitt sie an ihm vorbei und ging hinein.
»Cho, cho, cho!« empfing sie der Oberst. »Auf Befehl des Kommandierenden der Welten arretiert bis zur Aufhebung der Ordre. Cho, cho, cho!«
»Schrecklicher Donner!« verkündete Tante Lutschizkaja sehr ernst und betrachtete scharf das blasse Gesicht des Gastes.
»Nun, diese tollen Streiche der Natur liebe ich nicht gerade«, sagte Elisawetta Sergejewna mit einem verächtlichen Ausdrucke in dem kalten Gesicht. »Gewitter, Schneegestöber. – Wozu diese nutzlose Vergeudung einer solchen Energiemenge?!«
Ippolit Sergejewitsch suchte seine Aufregung zu unterdrücken; aber er fand kaum die Kraft, seine Schwester ruhig zu fragen:
»Wie denkst du, wird das lange dauern?«
»Die ganze Nacht hindurch«, antwortete ihm Margaritta Rodionowna.
»Wohl möglich«, bestätigte die Schwester.
»Sie werden schon von hier nicht loskommen«, sagte Warenjka lachend.
Polkanoff zuckte zusammen; er fühlte etwas verhängnisvolles in ihrem Lachen.
»Ja, wir werden hier wohl übernachten müssen«, sagte Elisawetta Sergejewna. – »In der Nacht werden wir kaum durch das Komowü-Wäldchen fahren können, ohne den Wagen zu beschädigen . . . Im glücklichsten Falle . . .«
»Hier sind genug Zimmer«, sagte Tante Lutschizkaja.
»Dann . . . möchte ich bitten . . . verzeihen Sie, bitte! . . . Das Gewitter wirkt auf mich abscheulich! . . . Ich möchte wissen . . . wo ich untergebracht werde . . . ich möchte auf einige Augenblicke dorthin gehen!«
Seine Worte, die er mit dumpfer und abgerissener Stimme hervorstieß, riefen allgemeine Unruhe hervor.
»Salmiakgeist!« ertönte dumpf Margaritta Rodionownas Stimme, die ganze Skala durchlaufend. Sie sprang vom Platze auf und verschwand.
Warenjka lief aufgeregt im Zimmer hin und her und sagte mit verwundertem Gesicht zu ihm:
»Bald werde ich Ihnen zeigen . . . Werde Sie hinführen . . . Dort ist es still . . .«
Elisawetta Sergejewna war ruhiger als alle übrigen und fragte ihn lächelnd:
»Ist dir schwindlig?«
Und der Oberst begann heiser:
»Strund! – Wird schon vergehen. Mein Kamerad, Major Gortalew, der bei einem Ausfalle der Türken erstochen wurde, war ein braver Kerl! Oh! Eine Rarität, sag' ich Ihnen! Ein tapferer Bursche! Bei Sistowo rannte er vor seinen Soldaten so ruhig auf die Bajonette los, als dirigiere er einen Tanz. Schlug sich, hackte auf sie los, brüllte, zerbrach seinen Säbel, ergriff irgend eine Holzkeule und haute damit auf die Türken ein. Ein Krieger, wie es nur wenige gibt! Aber beim Gewitter litt er auch an Nervenanfällen, wie ein Weib . . . Das war urkomisch! Nun, ganz so, wie Sie, wurde blaß, begann zu schwanken, rief: ›ach! und och!‹ Ein Trunkenbold, ein Lebemann, zwölf Werschock lang. – Stellen Sie sich vor, wie das ihm gut zu Gesicht stand.«
Ippolit Sergejewitsch sah und hörte, entschuldigte sich, beruhigte alle und verfluchte sich selbst. Ihn schwindelte in der Tat, und als Margaritta Rodionowna ihm das Flakon unter die Nase schob und kommandierte:
»Riechen Sie!« ergriff er den Salmiakgeist und begann den beißenden Geruch mit der Nase einzusaugen; er fühlte, daß die ganze Szene komisch war und ihn in Warenjkas Augen erniedrigte.
Und an die Fenster trommelte wütend der Regen; zuckende Blitze erhellten das Zimmer; der Donner machte die Scheiben ängstlich klirren, und alles das erweckte im Oberst die Erinnerung an das Getöse der Schlachten.
»Im letzten türkischen Kriege . . . weiß nicht mehr wo . . . aber es war ebenso ein höllischer Lärm. Donner und Blitz, Wolkenbruch und Kanonensalven. Die Infanterie schlug zerstreut . . . Leutnant Wjachirew zog eine Flasche Kognak heraus, setzte sie an den Mund – bulle, bulle, bulle! Und die Kugel, krach! – und in tausend Splitter flog die Flasche. Der Leutnant schaute auf den Hals der Flasche, der in seiner Hand blieb, und sagte:
»Hol's der Teufel! Sie führen Krieg gegen die Flaschen! Cho, cho, cho!« – Und ich zu ihm: »Sie irren sich, Leutnant, die Türken schießen nur auf die Flaschen, aber Krieg führen Sie mit ihnen. Cho, cho, cho! Witzig – he?«
»Ist Ihnen besser?« fragte Tante Lutschizkaja Ippolit Sergejewitsch.
Er biß die Zähne zusammen und dankte ihr. Er schaute alle mit melancholisch-bösen Augen an und machte die Beobachtung, daß Warenjka mißtrauisch und erstaunt lächelte zu dem Flüstern seiner Schwester, die sich zu ihrem Ohre herabneigte. Endlich gelang es ihm, von diesen Menschen fortzukommen. In dem kleinen Zimmer, das ihm angewiesen war, warf er sich auf das Sofa und versuchte unter dem Rauschen des Regens sich über seine Gefühle klar zu werden.
Ein ohnmächtiger Zorn gegen sich selbst kämpfte in ihm mit dem Verlangen, zu begreifen, wie es kam, daß er die Fähigkeit der Selbstbeherrschung verloren hatte. – War es möglich, daß in ihm die Neigung zu dem Mädchen so tief wurzelte? Aber es gelang ihm nicht, sich auf einen Punkt zu konzentrieren und seine Gedanken zu Ende zu führen. In ihm tobte der rasende Sturm des empörten Gefühls. Anfangs beschloß er, sich ihr zu erklären; aber er verwarf diesen Entschluß sofort; er erinnerte sich, daß ihm nachher die unerwünschte Pflicht bevorstehe, zu Warenjka in geregelte Beziehungen zu treten; und es wäre doch unmöglich, diese schöne Mißgeburt zu heiraten! Er machte sich den Vorwurf, daß er sich in seiner Neigung so weit hatte fortreißen lassen, und zugleich, daß er nicht kühn genug in seinem Verkehr mit ihr gewesen war. Ihm schien es, daß sie bereit sei, sich ihm hinzugeben, und daß sie nur ein kaltes Spiel mit ihm treibe, das Spiel der Koketterie. Er nannte sie dumm, tierisch, herzlos und widerlegte sich selbst, indem er sie wieder entschuldigte. Und an das Fenster klopfte der Regen und das ganze Haus zitterte unter den mächtigen Schlägen des Donners.
Aber es gibt kein Feuer, das nicht erlischt! Nach langem und qualvollem Kampfe gelang es ihm, sich in den Schraubstock der Vernunft zu zwängen; alle seine erregten Gefühle strömten weit in die Tiefe seines Herzens zurück und machten der Verlegenheit und der Empörung gegen sich selbst freien Raum.
Dieses Mädchen, das unrettbar verdorben war, durch die verkrüppelte Umgebung, unzugänglich dem Einflusse jedes gesunden Gedankens und unerschütterlich fest bei seinen Irrtümern beharrte – dieses sonderbare Mädchen hatte ihn im Laufe von drei Monaten in eine Bestie verwandelt. Und er fühlte sich niedergedrückt von der Schmach dieser Tatsache. Er hatte alles getan, was er tun konnte, um sie zu vermenschlichen. Wenn er aber nicht die Möglichkeit hatte, mehr zu tun – war es nicht seine Schuld. Aber nachdem er getan hatte, was er tun konnte, mußte er sie verlassen, und ihn traf die Schuld, nicht rechtzeitig fortgegangen zu sein. Er hatte ihr aber sogar erlaubt, in ihm einen schmählichen Ausbruch der Sinnlichkeit hervorzurufen.
Ein anderer, weniger anständiger Mensch wäre vielleicht in so einem Falle klüger gewesen als ich. Hier gab ihm ein unerwarteter Gedanke einen Stich:
Hält mich denn wirklich meine Anständigkeit zurück? Vielleicht ist es nur die Kraftlosigkeit meines Gefühls? Wie wäre es, wenn nicht das Gefühl, sondern die Lüsternheit mich so aufregt? Kann ich überhaupt lieben? . . . Kann ich ein Ehemann, ein Vater sein . . . trage ich in mir, was zu solchen Pflichten nötig ist? Bin ich überhaupt ein Mensch? – Seine Gedanken arbeiteten in diesem Sinne fort und in seinem Innern empfand er eine Kälte und etwas, was ihn ängstigte und erniedrigte.
Bald darauf wurde er zum Abendbrot gerufen.
Warenjka empfing ihn mit neugierigen Blicken und fragte ihn freundlich: »Was macht das Köpfchen?«
»Danke Ihnen«, antwortete er trocken, setzte sich weit von ihr und dachte: Sie kann sich nicht einmal richtig ausdrücken: »Köpfchen.«
Der Oberst schlummerte, mit dem Kopfe nickend, und schnarchte. Die drei Damen saßen alle nebeneinander auf dem Diwan und sprachen von allerlei Nichtigkeiten. Das Rauschen des Regens hinter den Fenstern wurde schwächer; aber dieser leise, eindringliche Ton verriet seinen festen Entschluß, unendlich lange die Erde zu begießen.
Die Dunkelheit schaute durch die Fenster herein; im Zimmer war es schwül, und der Petroleumgeruch der drei brennenden Lampen, vermischt mit dem Geruch des Oberst, vermehrte die Hitze und den nervösen Zustand Ippolit Sergejewitschs. Er schaute zu Warenjka hinüber und dachte: Sie kommt nicht zu mir . . . Was kann das sein. Hat ihr am Ende Elisawetta etwas mitgeteilt . . . etwas Dummes . . . eine Schlußfolgerung aus ihren Beobachtungen?
In dem Speisezimmer wirtschaftete schwerfällig die korpulente Fjokla. Ihre runden Augen schauten immerwährend ins Gastzimmer zu Ippolit Sergejewitsch hinüber, der schweigend eine Zigarette rauchte.
»Fräulein! Fertig zum Abendbrot!« sagte sie seufzend, indem sie ihren Körper in die Türe des Empfangszimmers hineindrängte.
»Gehen wir essen! . . . Ippolit Sergejewitsch! . . . Bitte! Tante, man muß Papa nicht beunruhigen, laß ihn hier bleiben und schlummern . . . Dort wird er wieder zu trinken beginnen.«
»Das ist vernünftig«, bemerkte Elisawetta Sergejewna.
Und Tante Lutschizkaja sagte halblaut, mit den Schultern zuckend:
»Jetzt ist schon alles das zu spät . . . Wird er trinken – wird er schneller sterben. Dafür wird er mehr Vergnügen haben. Wird er nicht trinken – wird er ein Jahr länger leben – aber schlechter.«
»Und das ist auch vernünftig«, sagte Elisawetta Sergejewna lachend.
Bei Tische saß Ippolit Sergejewitsch neben Warenjka; er fühlte, daß die Nähe des Mädchens wieder das Gleichmaß seiner Seele störe. Er wollte gerne so nahe an sie heranrücken, daß er ihr Kleid berühren konnte. Und in seiner Gewohnheit, sich selbst zu beobachten, dachte er, daß in seiner Neigung zu ihr viel Eigensinn des Fleisches liege, aber keine Kraft des Geistes . . . Ein träges Herz! – rief er bitter. Und daraufhin konstatierte er beinahe mit Stolz, daß er sich nicht scheue, von sich die Wahrheit zu sagen, und daß er jede Schwingung seiner Seele verstehe.
Mit sich selbst beschäftigt, schwieg er. Warenjka wandte sich anfangs häufig zu ihm hin. Als sie aber nur trockene und einsilbige Worte zur Antwort erhielt, verlor sie offenbar die Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Erst nach dem Abendbrot, als sie zufällig allein blieben, fragte sie ihn einfach:
»Weshalb sind Sie so niedergeschlagen? Langweilen Sie sich oder sind Sie unzufrieden mit mir?«
Er antwortete, daß er sich nicht niedergeschlagen fühle und noch weniger mit ihr unzufrieden sei.
»Also, was haben Sie denn?« drang sie in ihn.
»Ich glaube nichts Besonderes . . . Übrigens manchmal ermüdet der Überfluß an Aufmerksamkeit den Menschen.«
»Überfluß an Aufmerksamkeit?« fragte Warenjka besorgt. »Wessen denn? – Papas? Die Tante sprach doch nicht mit Ihnen!«
Er fühlte, daß er errötete vor dieser unverwundbaren Aufrichtigkeit oder hoffnungslosen Dummheit. Sie aber machte ihm den Vorschlag, ohne seine Antwort abzuwarten:
»Seien Sie nicht so ein . . . Bitte! Ich kann so brummige Menschen nicht leiden . . . Wissen Sie was? . . . Wollen wir Karten spielen . . . Kommen Sie!«
»Ich spiele schlecht . . . und gestehe, daß ich diese Art nutzlosen Zeitvertreibs nicht liebe«, sagte Ippolit Sergejewitsch und fühlte, daß er sich mit ihr zu versöhnen begann.
»Und ich liebe ihn auch nicht . . . Aber was tun? Sie sehen doch, was für eine Langweile bei uns herrscht,« sagte das Mädchen betrübt. »Ich weiß, Sie wurden nur deshalb so, weil Sie sich langweilen.«
Er fing an, sie des Gegenteils zu versichern, und je mehr er sprach, desto feuriger kamen die Worte heraus, bis er endlich, ohne es selbst zu merken, endete:
»Wenn Sie nur wollen, wird es auch in der Wüste mit Ihnen nicht langweilig sein.«
»Was muß ich denn dazu tun?« unterbrach sie ihn, und er sah, daß ihr Wunsch, ihn aufzuheitern, vollkommen aufrichtig sei.
»Nichts müssen Sie tun«, antwortete er, indem er tief in seinem Innern verbarg, was er ihr hätte antworten mögen.
»Nein – wirklich. Sie kamen hierher, um sich auszuruhen, und Sie haben so viel schwere Arbeit. Sie brauchen Kräfte, und vor Ihrer Ankunft sagte Lisa zu mir: Da werden wir dem Gelehrten helfen, auszuruhen und sich zu zerstreuen . . . Und wir . . . Was kann ich machen? Wirklich . . . Ich . . . wenn dadurch die Langweile verginge . . . ich werde Sie küssen!«
Es wurde ihm dunkel vor den Augen, und das ganze Blut stürzte so heftig zum Herzen, daß er sogar schwankte.
»Versuchen Sie es . . . Küssen Sie . . . küssen Sie . . .« sagte er dumpf, vor ihr stehend, ohne sie zu sehen.
»Oho! Was für einer Sie sind!« sagte Warenjka im Fortgehen lachend.
Er machte einen Schritt ihr nach und hielt sich am Türpfosten fest; alles in ihm strebte zu ihr.
Einige Sekunden vergingen, bis er den Oberst sehen konnte. Der Alte schlief, den Kopf auf die Schulter gesenkt, und schnarchte behaglich. Dieser Laut zog auch Ippolit Sergejewitschs Aufmerksamkeit an. Darauf überzeugte er sich, daß das monotone und klägliche Stöhnen nicht aus seiner Brust kam, sondern daß es der Regen war, der hinter den Fenstern weinte und nicht sein beleidigtes Herz. Dann brach in ihm der Zorn aus.
Du spielst . . . Du spielst . . . Murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen und drohte ihr mit einer beleidigenden Strafe. In seiner Brust war es glühend heiß, und in den Füßen und im Kopfe hatte er das Gefühl, als stächen ihn spitze Eisnadeln. Die Damen traten mit lautem Lachen ins Zimmer; bei ihrem Anblicke riß Ippolit Sergejewitsch sich innerlich zusammen. Tante Lutschizkaja lachte so dumpf, als platzten dicke, große Blasen in ihrer Brust. Warenjkas Gesicht erhellte ein schelmisches Lächeln, und Elisawetta Sergejewnas Lachen war nachsichtig-zurückhaltend.
Möglich, daß sie über mich lachen! . . . dachte Ippolit Sergejewitsch.
Das von Warenjka vorgeschlagene Kartenspiel kam nicht zu stande, und das gab ihm die Möglichkeit, auf sein Zimmer zu gehen, indem er sich mit Unwohlsein entschuldigte. Als er das Empfangszimmer verließ, fühlte er, daß drei Blicke auf seinem Rücken hafteten, und er wußte, daß sie alle Bedenken ausdrückten.
Aber es war ihm gleichgültig. Er war nur von dem Verlangen beseelt, sich zu rächen, das Mädchen zu erniedrigen, das sich solche Ausfälle erlaubte; sie zum Weinen zu bringen, und dann selbst ihr zuzusehen und über ihre Tränen zu lachen. Aber seine Gefühle verharrten nicht lange in einem so hohen Grade der Heftigkeit. Er war gewohnt, ihre Gärungen der Kraft des Verstandes unterzuordnen, und sie kamen immer schon abgeschwächt zum Ausbruch. Sein Ehrgefühl war durch die Überzeugung, daß sie mit ihm spiele, bis zum Schmerze gereizt, aber daneben keimte in ihm wieder der Entschluß auf, der durch die eben erlebte Szene zurückgedrängt war, sich an diesem Mädchen durch vollständige Gleichgültigkeit gegen ihre Schönheit zu rächen. Es war notwendig, sie fühlen zu lassen, wie wenig sie in seinen Augen gelte, – das würde ihr nützen, aber es müßte eine Lehre sein und selbstverständlich nicht eine Rache.
Ihn beruhigten solche Beweggründe stets einigermaßen; aber jetzt fühlte er in seiner Brust etwas, wovon er sich selbst nicht befreien konnte, eine Schwere, die ihn niederdrückte. Er hatte den Wunsch und hatte ihn nicht, sich diese sonderbare, fast krankhafte Empfindung zu erklären.
»Verflucht seien alle Gefühle, für die es keinen Namen gibt!« rief es in ihm.
Und irgendwo im Zimmer fielen Wassertropfen monoton auf den Boden und machten: ja . . . ja . . .
So saß er fast eine Stunde im Kampfe mit sich selbst und bemühte sich vergebens zu verstehen, was ihm unverständlich blieb und was stärker war, als alles bisher Verstandene. Endlich beschloß er, sich hinzulegen und mit den Gedanken einzuschlafen, am nächsten Morgen, befreit von allem, was ihn so gebrochen und erniedrigt hatte, fortzufahren. Als er aber im Bette lag, stellte er sich unwillkürlich Warenjka vor, wie er sie auf der Freitreppe gesehen hatte: ihre Arme hatte sie gleichsam zu einer Umarmung ausgebreitet, und ihr Busen bebte vor Entzücken bei jedem Aufflammen des Blitzes. Und wieder dachte er daran: wenn er kühner gewesen wäre, hätte er . . . und brach den Gedanken ab, indem er damit schloß: »So hätte ich mich gefesselt an eine unstreitig sehr schöne, aber unbequeme, lästige und dumme Geliebte, mit dem Charakter einer wilden Katze und der gröbsten Sinnlichkeit . . . das schon sicher! . . .«
Aber plötzlich mitten in diesen Gedanken, durchzuckte ihn eine Vermutung, oder eine Ahnung und sein ganzer Körper zitterte. Schnell sprang er auf, lief nach der Tür und schloß sie auf. Dann legte er sich lächelnd wieder auf das Bett und begann, auf die Tür zu schauen, während er voll Hoffnung und Entzücken dachte:
Das kommt vor . . . kommt vor . . .
Er hatte irgendwo gelesen, wie es einst so geschehen war: sie war mitten in der Nacht gekommen und hatte sich ihm hingegeben ohne zu fragen, ohne zu fordern, nur um den Augenblick zu erleben. Warenjka – sie hatte doch viel von der Heldin dieser Erzählung, – sie konnte so handeln. Vielleicht lag schon in ihrem anmutigen Ausrufe: »Was für einer Sie sind! . . .« das Versprechen; nur hatte er es nicht herausgehört! Und nun – wird sie plötzlich erscheinen, ganz in Weiß gehüllt, zitternd vor Scham und Verlangen!
Er stand mehrere Male vom Bette auf, lauschte der nächtlichen Stille des Hauses und dem Rauschen des Regens und kühlte seinen heißen Körper. Aber alles war still, und der ersehnte Laut vorsichtiger Schritte ließ sich nicht vernehmen.
Wie wird sie eintreten? dachte er und stellte sie sich vor, wie sie auf der Schwelle stehen würde mit stolzem, entschlossenem Gesichte. – Gewiß wird sie ihm stolz ihre Schönheit hingeben! Das ist ein Geschenk einer Königin! . . . Und vielleicht wird sie mit gesenktem Kopfe, verlegen und beschämt, mit Tränen in den Augen vor ihm stehen bleiben. Oder plötzlich, lachend zu ihm kommen, mit einem leisen Lachen über seine Qualen, die sie kennt, schon lange durchschaut hat; aber sie hatte es ihn nicht merken lassen, um ihn zu quälen und sich an seinen Qualen zu laben.
In diesem Zustande, der dem Delirium eines Wahnsinnigen glich, malte er sich in seiner Phantasie wollüstige Bilder aus und reizte dadurch seine Nerven immer mehr. Er bemerkte nicht, daß der Regen aufgehört hatte, und die Sterne vom klaren Himmel durch die Fenster seines Zimmers hineinschauten; er harrte auf den Laut der Schritte, der Schritte eines Weibes, das ihm den berauschenden Genuß bringen würde. Bisweilen, aber nur auf einen kurzen Augenblick erlosch in ihm die Hoffnung, das Mädchen zu umarmen; dann hörte er in dem schnellen Pochen seines Herzens einen Vorwurf gegen sich selbst und gestand sich, daß dieser von ihm durchlebte Zustand ihm fremd sei, schmachvoll, krank und ekelhaft. Aber die innere Welt des Menschen ist zu kompliziert und zu mannigfaltig, als daß ein einziger Trieb alle anderen im stoischen Gleichgewichte erhalten könnte; und deshalb entsteht im Leben eines jeden ein Abgrund, in den er unvermeidlich herabstürzen wird, wenn die Zeit kommt; und die Vorsichtigen fallen durch die bittere Ironie der Lebensgewalten, die über uns herrschen, noch tiefer und verletzen sich noch schmerzhafter.
Bis in den Morgen hinein phantasierte er, von der Leidenschaft gepeinigt. Als die Sonne schon aufgegangen war – ertönten Schritte. Er setzte sich auf das Bett, zitternd, mit fiebernden Augen und wartete. Er fühlte wenn sie erscheinen würde – wäre er nicht imstande, auch nur ein Wort der Dankbarkeit herauszubringen . . . Langsame und schwere Schritte näherten sich der Tür . . .
Da ging die Tür leise auf . . .
Ippolit Sergejewitsch fiel kraftlos auf die Kissen zurück, schloß die Augen und blieb starr liegen.
»Habe ich Sie vielleicht aufgeweckt? Ihre Stiefel hätte ich nötig . . . Ihre Beinkleider«, sagte mit schläfriger Stimme die dicke Fjokla, und näherte sich langsam, wie ein Ochs, seinem Bette. Sie seufzte, gähnte, stieß an die Möbel, raffte seine Kleider zusammen und ging davon; im Zimmer blieb ein fader Küchengeruch.
Er lag lange, zerschlagen und vernichtet, und beobachtete, wie allmählich die letzten Schatten jener Bilder erblaßten, die die ganze Nacht hindurch seine Nerven gefoltert hatten. Dann kam das Weib mit seinen Kleidern zurück, legte sie hin und ging schwer seufzend fort. Er begann sich anzukleiden, ohne sich Rechenschaft zu geben, was ihn eigentlich zwang, es so früh am Morgen zu tun. Dann entschloß er sich halb gedankenlos, an den Fluß zu gehen und zu baden; – das belebte ihn ein wenig. Behutsam ging er an dem Zimmer vorüber, in welchem der Oberst laut schnarchte, und dann noch an einer verschlossenen Tür vorbei, die in irgendein Zimmer führte; er blieb einen Augenblick vor ihr stehen, aber als er sie aufmerksam betrachtete, merkte er, daß es nicht die richtige war. Endlich kam er, wie im Halbschlaf, in den Garten hinaus und ging einen schmalen Pfad entlang, der, wie er wußte, nach dem Flusse führte.
Es war hell und frisch; die Sonne strahlte noch im rosigen Glanze; Stare schwatzten lebhaft miteinander und pickten an den Kirschen. Auf den Blättern zitterten die Regentropfen wie Diamanten, und wie strahlende Freudentränen fielen sie auf die Erde, die sie gierig verschlang. Der Boden war feucht, er hatte allen Regen, der in der Nacht gefallen war, aufgesogen, und nirgends sah man eine Pfütze oder Schmutz. – Alles war so rein, so frisch und jung – als wäre es in dieser Nacht geboren, und alles war still und regungslos, als hätte es sich noch nicht in das irdische Leben hineingefunden und bewundere lautlos die göttliche Schönheit der Sonne, die es zum erstenmal erblickte.
Ippolit Sergejewitsch schaute umher, und der Schlamm, der sich um seinen Geist und seine Seele gelegt hatte, wich allmählich unter dem reinen Hauch des neugeborenen Tages, der voll süßen und erfrischenden Duftes war.
Da war der Fluß, rosig und golden in den Strahlen der Sonne; das Wasser, noch ein wenig trübe vom Regen, spiegelte nur schwach das Grün des Ufers in seinen Wellen wieder. Irgendwo in der Nähe plätscherte ein Fisch, und dieses Plätschern und der Gesang der Vögel waren die einzigen Laute, die die morgendliche Ruhe unterbrachen. Wenn es nicht feucht wäre, könnte man sich auf die Erde legen und hier, am Flusse, unter dem grünen Laubdach liegen, bis die Seele sich von den durchlebten Erregungen dieser Nacht ausgeruht hätte.
Ippolit Sergejewitsch ging an dem Ufer entlang, in welches sandige Landzungen und kleine mit Grün bedeckte Buchten launisch einschnitten und beinahe alle fünf Schritte vor ihm ein neues Bild entfalteten. Lautlos und langsam schritt er dicht am Wasser entlang; er wußte, daß ihn noch immer etwas Neues erwarte. Und er betrachtete genau die Konturen jeder Bucht und die Formen der Bäume, die sich zu ihm herabneigten, als wollte er sich klar werden, wodurch sich die Details dieses Bildes unterschieden von jenen, das er eben hinter sich gelassen hatte.
Plötzlich blieb er wie geblendet stehen. Vor ihm, bis zum Gürtel im Wasser, stand Warenjka mit gesenktem Kopfe und rang mit den Händen das nasse Haar aus. Die Kälte und die Sonnenstrahlen gaben ihrer Haut einen rosigen Schimmer, und die Wassertropfen auf ihr glänzten wie silberne Fischschuppen. Langsam flossen sie von den Schultern und der Brust herab; aber bevor sie ganz ins Wasser tauchten, glänzte jeder Tropfen noch lange in der Sonne, als wolle er sich nicht von dem Körper trennen, den er eben umspült hatte. Und von den Haaren floß das Wasser zwischen den rosigen Fingern des Mädchens hindurch, mit zartem, kosendem Laut in den Fluß.
Er betrachtete sie mit Entzücken und Andacht, wie etwas Heiliges – so rein und harmonisch war die Schönheit dieses Mädchens, in der Blüte ihrer Jugendkraft, und er fühlte kein anderes Verlangen, als sie anzuschauen. Über ihm, in den Zweigen eines Nußbaumes, sang und klagte die Nachtigall; aber für ihn waren alle Klänge der Natur und alles Sonnenlicht verkörpert in diesem Mädchen, das in den Fluten vor ihm stand. Und lautlos liebkosten die Wellen den Körper, leise und zärtlich ihn wiegend in ihrem friedlichen Flusse.
Aber das Gute ist ebenso kurz wie das Schöne – selten. Was er erblickte – sah er nur einige Sekunden; denn plötzlich hob das Mädchen den Kopf, und mit einem zornigen Aufschrei tauchte es bis zum Halse im Wasser unter.
Diese Bewegung zitterte in seinem Herzen nach – es zuckte zusammen und tauchte in eisige Kälte hinab, die es zusammenschnürte. Das Mädchen schaute ihn mit funkelnden Augen an; auf ihre Stirn trat eine zornige Falte, die ihr Gesicht entstellte und ihm den Ausdruck des Schreckens, der Verachtung und der Wut gab. Und er hörte ihre entrüstete Stimme:
»Fort . . . gehen Sie fort! Was machen Sie! Wie, schämen Sie sich nicht! . . .«
Aber ihre Worte drangen wie aus weiter Ferne zu ihm, undeutlich, und sie verboten ihm nichts. Er beugte sich über das Wasser und streckte die Arme aus. Er konnte kaum sich auf den Beinen halten, die vor Anstrengung zitterten, seinen unnatürlich vorgebeugten Körper, der von brennender Leidenschaft gefoltert wurde, aufrechtzuerhalten. Seine ganze Seele, jede Fiber seines Wesens strebte zu ihr hin, und endlich fiel er auf die Knie, die beinahe das Wasser berührten.
Sie schrie zornig auf und machte eine Bewegung, um zu schwimmen; aber sie hielt inne und rief dumpf und erregt:
»Gehen Sie fort! . . . Ich werde es niemandem erzählen.«
»Ich kann nicht . . .« wollte er antworten; aber die Worte kamen nicht über seine bebenden Lippen; sie hatten keine Kraft, irgend etwas hervorzubringen.
»Nimm dich in acht . . . du! Fort mit dir!« schrie das Mädchen. »Gemeiner! Niederträchtiger . . .!«
Was waren für ihn diese zornigen Rufe? Er schaute ihr mit seinen trockenen, brennenden Augen ins Gesicht und erwartete sie auf den Knien. Er hätte sie erwartet, selbst wenn er gewußt hätte, daß über seinem Kopfe jemand mit einem Beile aushole, um ihm den Schädel zu zerschmettern.
»Oh! Du . . . Niederträchtiger Hund . . . Nun werde ich dich . . .« zischte das Mädchen voll Abscheu und sprang plötzlich aus dem Wasser auf ihn zu.
Sie wuchs vor seinen Augen, wuchs, strahlend vor Schönheit, – da stand sie vor ihm, nackt bis zu den Zehen – – wunderbar in ihrem Zorne. Er sah sie und erwartete sie mit durstigem Verlangen. Da beugte sie sich zu ihm herab . . . Er breitete die Arme aus; aber er umarmte die Luft.
In demselben Augenblick traf ihn ein Schlag mit etwas Feuchtem und Schwerem ins Gesicht. Geblendet taumelte er zurück.
Schnell rieb er sich die Augen; nassen Sand hatte er zwischen den Fingern, und auf Kopf, Schultern und Wangen fielen die Schläge herab. Aber die Schläge verursachten ihm keinen Schmerz; sie erweckten etwas anderes in ihm, und er schützte den Kopf mit seinen Händen; aber er tat es mehr mechanisch als bewußt. Dann hörte er zorniges Weinen . . . Endlich, von einem starken Schlage in die Brust getroffen, fiel er rücklings zu Boden. Man schlug ihn nicht mehr. Es raschelte in den Büschen; dann wurde es still . . .
Endlos dauerten die Sekunden des düsteren Schweigens, nachdem dieser Laut verstummt war. Er lag noch immer regungslos, niedergeschmettert von seiner Schmach; und von dem instinktiven Streben geleitet, sich vor seiner Schande zu verstecken, schmiegte er sich fest an die Erde. Als er die Augen öffnete, sah er den blauen Himmel, und es schien ihm, als ob er schnell immer höher und höher von ihm davongleite . . . Und es wurde ihm so schwer zu atmen, daß er zu stöhnen begann, und allmählich versank er in einen Zustand, in dem er schon keine Empfindung mehr hatte.
. . . So lag er, bis ihm kalt wurde. Als er die Augen öffnete, erblickte er Warenjka, die sich über ihn beugte. Zwischen ihren Fingern tropfte ihm das Wasser ins Gesicht, und er hörte ihre Stimme:
»Nun? – Ist es gut so?! . . . Wie werden Sie so nach Hause kommen? . . . So abscheulich, schmutzig, naß, zerrissen . . . Ä! Sie . . . Sagen Sie wenigstens, daß Sie vom Ufer ins Wasser gefallen sind . . . Schämen Sie sich nicht?! . . . Ich hätte Sie doch totschlagen können . . . wenn mir etwas anderes in die Hände geraten wäre.«
Sie sprach noch lange; aber all das verringerte und vermehrte nicht, was er empfand. Er antwortete nicht auf ihre Worte; als sie ihm aber sagte, daß sie fortgehe, fragte er leise:
»Sie . . . nie mehr . . . nie werde ich Sie wiedersehen?« Und als er das fragte, erwachte in ihm die Erinnerung, und er verstand, daß er zu ihr sagen müßte:
»Vergeben Sie mir . . .«
Aber er hatte nicht die Zeit, es zu sagen; denn sie machte eine Bewegung mit der Hand in der Luft, als wolle sie nichts mehr von ihm wissen und verschwand schnell hinter den Bäumen.
Er saß mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt und schaute stumpf zu, wie das trübe Wasser des Flusses zu seinen Füßen dahinfloß.
Langsam floß es . . . langsam . . . langsam . . .