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XX

Raiskijs Geduld wurde durch Weras Gleichgültigkeit auf eine harte Probe gestellt. Er verfiel in eine trostlose Stimmung, einen Zustand dumpfer, unfruchtbarer Langeweile. Aus Langeweile zeichnete er eine ganze Reihe von Bleistiftskizzen, Szenen aus dem Dorfleben darstellend, nahm fast alle Wolgalandschaften, die sich vom Hause oder vom Abhang aus seinem Blicke darboten, in sein Album auf, trug eine große Anzahl Notizen in seine Hefte ein und brachte eine Schilderung Openkins zu Papier. Wenn er dann aber seine Feder hinlegte, fragte er sich unwillkürlich: ›Warum habe ich das nun eigentlich hingeschrieben? In meinen Roman gehört dieser Trunkenbold nicht hinein, er spielt darin keine Rolle. Openkin ist ein alter, aussterbender Provinztypus – er ist der Gast, den man vergeblich loszuwerden versucht. Was kann an ihm interessant sein? Und was ist das überhaupt für ein Roman! Wie arbeiten die anderen Romanschriftsteller! Wie einheitlich und geschlossen kommt alles bei ihnen heraus, so daß der ganze Aufbau festgefügt erscheint und nirgends eine Lücke bleibt! Und ich gebe nichts als Spiegelungen meiner selbst und der Einzeldinge, die ich sehe. Wie kläglich ist das! Nein, ich verstehe nichts, bin ein entgleistes Genie, ein ... Pechvogel!‹

Er gedachte der Zeit, da er die Kunstakademie besucht hatte, und der Studiensäle, in denen die Schüler ständig nach Büsten gezeichnet hatten. Zuletzt fiel ihm die Belowodowa ein, und er vertiefte sich fast trotzig in die Erinnerungen an sie. Er holte ihr Aquarellporträt hervor, versuchte seine letzte Unterhaltung mit ihr aus dem Gedächtnis niederzuschreiben und schrieb schließlich eine ganze Reihe von Briefen an seinen Freund Ajanow – auch eine Art literarischer Erzeugnisse –, in denen er von dem Adressaten ganz genauen Bescheid über alles, was Sofja betraf, verlangte: wo sie weile, und was sie treibe, ob sie in der Sommerfrische sei oder auf ihrem Gut? Ob er noch in ihr Haus komme, und ob sie zuweilen seiner, Raiskijs, gedenke? Ob Graf Milari noch im Hause verkehre und so weiter, und so weiter, kurz alles, alles wollte er wissen.

Alles das sollte ihm nur dazu dienen, den quälenden Gedanken an Wera loszuwerden.

Nachdem er fünf oder sechs Briefe abgesandt hatte, fiel er wieder seinem alten Leiden, der Langeweile, anheim. Sie hatte nichts gemein mit der Langeweile eines Menschen, den der harte Zwang der Pflicht an eine ungern verrichtete Arbeit bindet, der aber wenigstens das Ende dieser Arbeit absehen kann. Sie glich auch nicht der Langeweile, die durch irgendeine zufällige Lage, eine Krankheit, eine ermüdende Reise, einen Quarantäneaufenthalt hervorgerufen wird: auch hier ist ein Ende abzusehen. Die Langeweile, die Raiskij empfand, war von anderer Art. Er dachte wohl daran, sie durch irgendeine Arbeit zu verscheuchen: ›Wer arbeitet‹, sagte er sich, ›soll ja keine Langeweile empfinden.

Aber wir Russen kennen überhaupt keine Arbeit‹, entschied er, ›sondern nur eine Fata Morgana, ein Phantom der Arbeit. Arbeit kennt man bei uns höchstens im Lebensbereich des gemeinen Mannes, wo die rohe Kraft, die einfache Hantierung, die Tätigkeit der Arme, Beine und Schultern in Frage kommt. Und auch dort geht die Arbeit nur träge und langsam vorwärts, weil das Arbeitsvolk, gleich dem Arbeitsvieh, sein Tagewerk nur unter der Fuchtel verrichtet und sich seiner auf möglichst bequeme Art zu entledigen sucht, um so rasch wie möglich der tierischen Ruhe zu pflegen. Niemand fühlt sich als Mensch bei solchem Tagewerk, niemand legt eine bewußte menschliche Geistesarbeit hinein; jeder zieht nur, gleich dem Pferde, seinen Lastwagen und sucht mit dem Schwanz irgendeine Peitsche abzuwehren. Saust die Peitsche nicht mehr durch die Luft, dann hört auch das Wirken der Kraft auf, sie kommt da zum Stillstand, wo die Peitsche zum Stillstand gekommen ist. Das ganze Hauswesen, die ganze Stadt und alle anderen Städte ringsum in dem weiten Reich werden nur durch diese negative Art von Bewegung in Gang erhalten. Wo aber gibt es, außerhalb dieser körperlich arbeitenden Volkskreise, höher hinauf, bei uns in Rußland eine Tätigkeit, die jeder gern verrichtete, nach der er sich, wie nach einem schmackhaften Gericht, sozusagen die Finger ableckt? Nur eine solche Tätigkeit, eine solche Arbeit vermag uns vor der Langeweile zu bewahren, und weil sie bei uns nicht zu finden ist, suchen alle nur Genuß und Vergnügen außerhalb der Arbeit.

Nein, wir kennen keine Arbeit, sondern nur ein Phantom der Arbeit!‹ wiederholte er voll Ingrimm, wenn ihn seine Hypochondrie befiel, die ihn bis zu einer seinem weichen Naturell völlig fremden Raserei treiben konnte.

Man hatte ihn selbst in seiner Jugend für irgend etwas vorbereitet, doch wofür, wußte niemand zu sagen. Der weibliche Teil der Verwandtschaft hätte ihn gern als Militär gesehen, der männliche als Staatsbeamten, und durch seine Geburt war er noch auf einen dritten Beruf, den des Landwirts, hingewiesen. Es ist bei uns gar nicht schwer, so hinter drei Hasen herzulaufen, um schließlich – drei Phantome zu fangen.

Der Familie und der Überlieferung zum Trotz hatte er sich jedoch an keine der drei Möglichkeiten gehalten, sondern sich vielmehr sein eigenes Phantom – das der Kunst – ausgedacht.

Wieviel Spott und mitleidiges Achselzucken, wieviel kalte und strenge Blicke hatte er auf dem Wege zu seinem Ideal mit in den Kauf nehmen müssen! Ja, wenn er Sieger geblieben wäre, wenn er sich seiner Aufgabe gewachsen gezeigt und den ernsthaften Leuten bewiesen hätte, daß sie Phantomen nachjagten, während er wirkliche Arbeit verrichtete – dann, ja dann wäre er im Recht gewesen.

Aber auch er verrichtete ja keine wirkliche Arbeit. Was er trieb, war vielmehr, im Vergleich mit dem, was die anderen trieben, das eitelste und überflüssigste aller Phantome, und Mark, der zynische Philosoph, der alle Phantome so tapfer verachtete, hatte mit Bezug auf ihn schon recht, nur daß er selbst wieder einem neuen Phantom nachjagte.

›Nein, ich habe keine Arbeit, keine Lebensaufgabe, die ich zu lösen vermöchte, wie jene Künstler, die ganz in ihrem Werke aufgehen und ihm ihr Leben opfern!‹ schloß er verzweifelt seine Betrachtungen. ›Und dabei habe ich solche Schätze vor Augen: Genrebilder à la Teniers und Ostade könnte mein Pinsel schaffen, Sitten und Bräuche könnte meine Feder schildern, alle diese Openkins, und wie sie sonst heißen. Da, da ...‹

Er blickte auf den Hof hinaus, wo alles sein gewohntes Tagewerk verrichtete. Er sah, wie Ulita im Keller herumwirtschaftete, und er begann sie zu beobachten.

Ulita hatte etwas von einem weiblichen Gnom an sich. Sie hauste ewig in ihrem unterirdischen Kellerreich und war ganz von feuchten Kellerdünsten gesättigt. Ihr Kleid war feucht, Nase und Wangen waren beständig erfroren, das Haar zerzaust und von einem zerknüllten Baumwolltuch bedeckt. Sie hatte eine schmutzige Schürze vorgebunden und die Ärmel aufgekrempelt. Ewig sah man sie mit Näpfen, Töpfen und Mulden oder mit einem halben Dutzend Flaschen zwischen den Fingern beider Hände aus einem der Keller wie aus einem Grabe emporsteigen oder mit Früchten, Gemüsen und sonstigen Küchenvorräten bepackt hinabklettern.

Fast nie begegnete man ihr im Tageslicht, ewig verbarg sie sich dort unten in den kalten, dunklen Räumen, wo ihr Gesicht diesen blauroten Schimmer angenommen hatte, der an ihrer ganzen Erscheinung zuerst ins Auge fiel, während das übrige Äußere mit dem dunklen Kellerhintergrund in eins zusammenfloß.

Sie ahnte nicht, daß Raiskij sich eifriger als sonst jemand im Hause mit ihr beschäftigte, mehr selbst als ihre Angehörigen, die im Dorf wohnten und sie bisweilen monatelang nicht zu Gesicht bekamen. Er zeichnete sie und zeigte seine Arbeit Marfinka und Wera: jene klatschte vor Freude in die Hände, während Wera anerkennend mit dem Kopf nickte.

Der eigentliche Held in den Kreisen des Hofgesindes war indes Jegorka, er war gleichsam ihr lebendiger Puls. Mit seiner eigenen Arbeit, die im Grunde genommen gar keine Arbeit war – ›wie bei uns allen‹, dachte Raiskij jedesmal bei seinem Anblick –, befaßte er sich nie, steckte dagegen ewig seine Nase in fremde Geschäfte. Er war ein stämmiger, muskulöser Bursche, langarmig wie ein Orang-Utan, doch sonst wohlproportioniert. Er griff bald da, bald dort zu, schob jetzt einen Wagen vorwärts, half dann beim Heueinbringen. Kaum aber hatte er drei Garben voll aufgenommen, so hörte er schon wieder auf und begann zu schwatzen und die anderen zu stören.

Seine Hauptaufgabe aber und sein liebster Zeitvertreib war es, die Hofmägde zu necken, sie zu zausen und ihnen allen möglichen Schabernack zu spielen. Er lachte sie aus, pfiff hinter ihnen her, lauerte ihnen hinter der Hausecke auf und packte sie dann unvermutet an der Schulter oder am Halse, daß den armen Dingern im Schreck der Haarkamm entglitt und das Haar breit über den Rücken fiel.

»Du frecher Kerl, du Satan!« schrie das Mädchen, während zugleich irgendwo die scheltende Stimme eines alten Weibes sich vernehmen ließ.

Doch was machte Jegorka sich daraus? Mit vielsagendem Blinzeln nickt er, auf die Vorübergehende zeigend, dem Kutscher oder Jakow oder sonst jemandem, der in der Nähe ist, zu, pfeift und kichert oder macht irgendwelche Gesten, die das Mädchen in die Flucht jagen, während er grinsend hinter der Fliehenden her schaut und immer wieder seinen Pfiff ertönen läßt.

Man hätte meinen sollen, daß ein so kecker Bursche wie dieser Jegorka die ganze weibliche Hälfte des Hofgesindes gegen sich haben mußte. Das war indes keineswegs der Fall. Seine vorwitzigen Attacken brachten die Mädchen nur vorübergehend zum Aufbrausen. Sobald er wieder freundlich mit ihnen sprach und sie schmeichelnd beim Vor- und Vatersnamen Marja Petrowna oder Pelageja Sergejewna nannte, waren sie sogleich wieder mit ihm versöhnt. Haufenweise standen sie um ihn herum, wenn er des Sonntags mit seiner Gitarre am Tor saß und in seiner freundlichen, ein wenig spöttischen Weise mit ihnen scherzte. Nur wenn er ein gar zu zensurwidriges Lied sang oder durch unanständige Gesten ihr Schamgefühl verletzte, stoben sie auseinander. Waren sie mit ihm allein in irgendeiner Ecke, dann hatten sie nichts dagegen, daß er zärtlich seinen Arm um sie schlang, und wer, zumal im Winter, seine kleine Kammer neben den Kutscherstuben beobachtete, der konnte wohl öfters sehen, wie ein weiblicher Schatten leise über den Hof huschte und in der Tür jener Kammer verschwand.

Auch Jegorka und seine Schönen ahnten nicht im geringsten, daß Raiskij klarer als sonst jemand im Hause ihre kleinen Intrigen, wie überhaupt dieses ganze Spiel domestikaler Leidenschaften durchschaute.

Wandte Raiskij seine Aufmerksamkeit vom Hof ab und dem Hause zu, so sah er dort, in dem kleinen Kämmerchen neben dem Kabinett der Großtante, wohl zum hundertstenmal dasselbe unveränderliche Bild: am Fenster saß die schweigsame, ewig still vor sich hin flüsternde Wassilissa mit den tiefliegenden, matten Augen, stets an dieselbe Stelle und auf denselben Stuhl mit der hohen Lehne und dem tief eingedrückten Ledersitz gebannt und auf die Holzstapel und die im Kehricht kratzenden Hühner starrend.

Sie wurde dieses ewigen Sitzens, dieser stets gleichbleibenden Aussicht aus dem Fenster niemals müde. Nur ungern stand sie von ihrem Stuhl auf, und wenn sie ihrer Herrin den Kaffee serviert und deren Kleider in den Schrank eingeräumt hatte, kehrte sie rasch wieder zu ihrem Stuhl und ihrem Strickstrumpf zurück, um leise vor sich hin flüsternd auf die Holzstapel und die Hühner draußen zu schauen.

Das Haus zu verlassen, erschien ihr wie eine Strafe; sie tat es nur, um in die Kirche zu gehen, und auch dann ging sie schüchtern, wie verschämt, die Straße entlang, als fürchtete sie die Blicke der Menschen. Fragte man sie, warum sie nicht ausgehe, so antwortete sie, daß sie lieber so im Hause »herumwirtschafte«.

Von dem ewigen stillen Hocken war sie ganz aufgedunsen und klagte häufig über Atemnot. Gleich Jakow war sie sehr fromm und fastete fleißig.

Wenn ein Fremder zu Besuch kam und, was sehr oft der Fall war, weder Jakow noch Jegorka im Vorzimmer weilten, so daß Wassilissa die Tür öffnen mußte, wußte sie nie recht zu sagen, wer eigentlich da sei. Nie wußte sie den Namen des Besuchers, obschon sie in der Stadt alt und grau geworden war und von Angesicht alle Einwohner bis zum kleinsten Kinde kannte.

Erschien der Arzt oder der Priester, so meldete sie eben nur, »der Arzt« oder »der Priester« sei da; den Namen hatte sie nie behalten.

»Eben ist jener gekommen«, begann sie.

»Wer denn?« fragte Tatjana Markowna.

»Na, der damals Marfa Wassiljewna fallen ließ, daß sie beinahe tot geblieben wäre. Vor fünfzehn Jahren, damals, wie sie noch klein war.«

»Ja, wer ist denn das eigentlich?«

»Na, der immer nach dem Mittagessen Tee statt Kaffee verlangt.«

Oder:

»Der mit seiner Zigarre damals das Loch ins Sofa gebrannt hat.«

Oder:

»Der in der Karwoche die Fasten nicht hält und Fleisch frißt.«

Wie ein Schatten saß sie unbeweglich in ihrem Winkel, und ihr »Herumwirtschaften« bestand lediglich darin, daß sie die Stricknadeln in Bewegung setzte. Durch einen einfach angestrichenen Tisch aus Tannenholz von ihr getrennt, saß vor ihr auf einem hochbeinigen Taburett ein kleines Mädchen von acht bis zehn Jahren, das gleichfalls strickte und seinen Strumpf dabei so hoch hielt, daß die Nadeln immer wieder über den Kopf hinwegragten.

Diese kleinen Strickmädchen starben bei der Bereshkowa nicht aus. War solch ein Mädchen herangewachsen, so wurde es zu einer andern, schwereren Arbeit verwandt, während zum Stricken und zu sonstigen kleinen Verrichtungen ein neues Mädchen aus dem Dorf herangezogen wurde.

Die Funktion solch eines kleinen Mädchens bestand darin, ganz dicht an die Wand gedrückt, mit dem Strickstrumpf in der Hand und dem Knäuel unter der Achsel, in einer Ecke von Tatjana Markownas Zimmer zu stehen, ganz still, ohne sich zu rühren, fast ohne zu atmen, und den Blick beständig auf die anwesende Herrin gerichtet zu halten, um sogleich im ersten Augenblick bereit zu sein, wenn die Herrin ihr durch einen Wink bedeutete, daß sie ihr das Taschentuch reichen, daß sie die Tür öffnen oder schließen oder irgend jemanden rufen sollte.

»Wisch dir die Nase!« ließ sich von Zeit zu Zeit Tatjana Markownas Stimme vernehmen, worauf das Mädchen sich mit der Schürze oder den Fingern die Nase putzte und dann mit ihrer Strickarbeit fortfuhr.

Verließ die Bereshkowa das Zimmer oder fuhr sie aus, so begab sich die Kleine zu Wassilissa, kletterte auf das Taburett und saß schweigend, ohne den Blick von Wassilissa abzuwenden, mit ihrem Strickstrumpf da, ihre kleinen Hände bewältigten mit Mühe die langen Stahlnadeln. Häufig glitt der Knäuel unter der Achsel hervor und rollte durchs Zimmer.

»Gib acht! Heb ihn auf!« ließ sich Wassilissas flüsternde Stimme dann vernehmen.

Zuweilen bekamen sie Besuch vom Kater Sjerko, der sich gern auf dem Fensterbrett zwischen den beiden Flaschen mit Branntweinaufguß sonnte. Verließ Wassilissa das Zimmer, dann konnte die Kleine es sich nicht versagen, ein Weilchen mit dem Kater zu spielen, und nun begann ein vergnügtes Lachen und Lärmen, bei dem Kater und Knäuel lustig über den Fußboden rollten und nicht selten auch das Taburett samt der Kleinen ihnen folgte.

Das Mädchen, das Raiskij in Wassilissas Zimmer antraf, hieß Paschutka. Es hatte kurzgeschorenes Haar und trug ein Kleid, das aus einem alten Frauenrock gemacht war, und zwar so primitiv, daß man nicht unterscheiden konnte, welches die Vorder- und welches die Hinterseite war; ihre Füße steckten in Schuhen, die ihr viel zu groß waren. Unter der stumpfen kleinen Koboldnase schimmerte häufig ein Tropfen. Man hatte versucht, sie an den Gebrauch des Taschentuchs zu gewöhnen, doch hatte sie es vorgezogen, die Taschentücher in Puppen zu verwandeln, wobei sie Augen und Nase durch Kohlenstriche bezeichnete. Man nahm ihr die Taschentücher weg, und der Tropfen hing weiter an ihrer Nase und schimmerte von fern wie ein Fünkchen.

Raiskij schaute zu ihnen hinein. Als Paschutka ihn erblickte, vergaß sie einen Augenblick den Strickstrumpf und lächelte ihm zu, da er sie öfters streichelte, ihr auch wohl einen Apfel oder sonst einen Leckerbissen zukommen ließ. Wassilissas strenge Miene führte sie jedoch sogleich wieder zu ihrer Pflicht zurück. Wassilissa selbst hörte sogleich auf zu flüstern, wenn sie Raiskij erblickte, und vertiefte sich ganz in ihre Strickarbeit.

Raiskij begab sich ins Kabinett der Großtante. Sie war nicht da, und so nahm er seine Mütze und verließ das Haus. Ehe er sich's versah, hatte er die Vorstadt durchquert und die Stadt erreicht. Aufmerksam studierte er jeden Passanten, jedes Haus, das Leben und Treiben der Straße.

Da und dort sah er Menschen. Ein Kaufmann, oder vielmehr ein Etwas, das aus Hut, Bart, dickem Bauch und hohen Stiefeln zusammengesetzt war, sah zu, wie die Arbeiter ächzend Getreidesäcke nach dem Speicher trugen. Dort vor der Schenke drängte allerhand unbestimmbares Volk, und da kam ein langer, hoher Bauernwagen auf der Straße dahergefahren, dicht besetzt mit großen, kräftigen Männern in verschossenen, schirmlosen Mützen, gestickten blauen Hemden, langen braunen Röcken und Bastschuhen oder hohen Schaftstiefeln, mit roten, grauen oder sonstigen Bärten, die keil- oder spatenförmig zugeschnitten oder zwiegeteilt oder nach Bocksart gehalten waren.

Polternd fuhr der Wagen über die Straße, und die Männer wurden ständig hochgeworfen; einer saß gerade aufgerichtet da und hielt sich mit beiden Händen am Wagenrand fest, ein anderer lehnte sich mit dem Kopf gegen den dritten, und der lag, auf den Ellenbogen gestützt, tief im Wagen, während seine Beine über den Rand hinweghingen.

Das Gefährt wurde von einem großen Bauern gelenkt, dessen brauner Rock fast bis auf den Wagenboden reichte. Auf dem Kopf trug er einen Hut ohne Rand. Langsam und lässig führte er den Zügel. Sein Gesicht war ganz schwarz von Staub und Sonnenbrand; die Augen waren unter dem tief in die Stirn gedrückten Hut kaum sichtbar, nur der stark ergraute rotblonde, an grobe Schafwolle erinnernde Vollbart hob sich scharf von dem dunklen Rock ab.

Das große, starke, an den Seiten dicht mit Lederquasten behängte Pferd kam nur noch mühsam und sprungweise vorwärts. Alles das schleppte sich bis zur nächsten Schenke, wo die Bauern absprangen, den Staub abschüttelten und in die offene Tür eintraten, während das Pferd von selbst bis zu einer Raufe, in der ein Büschel Heu steckte, weiterfuhr und unter Schnauben und Prusten zu futtern begann.

Auf seinem Wege durch die Stadt begegnete Raiskij immer neuen Personen, die entweder ganz ohne Arbeit oder von irgendeinem »Phantom« der Arbeit in Anspruch genommen waren: Krämer standen untätig vor ihren Läden, irgendein Hofrat fuhr in einer Droschke vorüber, oder eine geistliche Person schritt, den langen Stock in der Hand, würdevoll einher.

Dort aber, in dem leeren Gäßchen, kam ein angetrunkener Bursche im roten Hemd daher und wirbelte mit den Füßen den Staub auf. Die Mütze saß ihm schief auf dem Ohr, er fuchtelte mit den Armen in der Luft, sang brüllend irgendein Lied und drohte den wenigen Leuten, die ihm begegneten, mit der Faust.

Raiskij gelangte bis an Koslows Haus und hörte hier, daß Leontij in der Schule sei. Er fragte nach seiner Gattin. Die alte Frau, die ihm die Tür öffnete, sah ihn mißtrauisch von der Seite an, schneuzte sich in ihre Schürze, fuhr mit dem Finger unter ihrer Nase hin und her und begab sich, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus zurück. Sie kam nicht wieder zum Vorschein.

Raiskij klopfte zum zweitenmal; ein paar Hunde begannen zu bellen, und ein kleines Mädchen erschien, sah ihn an, sperrte den Mund auf und kehrte gleichfalls wieder um. Raiskij ging um die Hausecke herum und vernahm hinterm Zaun, in dem nach der Seitengasse gehenden Gärtchen, ein paar Stimmen: eine Frau und ein Mann unterhielten sich, letzterer sprach Französisch, mit Pariser Akzent. Sie lachten, und es schien, daß sie sich auch küßten.

›Armer Leontij!‹ dachte Raiskij, ›oder vielmehr blinder, ahnungsloser Leontij!‹

Unentschlossen stand er da, sollte er eintreten oder nicht?

›Ich bin Leontijs Freund, sein alter Schulkamerad. Soll ich es dulden, daß dieser ehrlichen, liebevollen Seele mit so schnödem Undank gelohnt wird? Soll ich hier gleichgültig bleiben? Doch was soll ich tun? Ihm die Augen öffnen, ihn aus seiner sorglosen Unwissenheit wecken, während er doch so fest und unerschütterlich an die Treue seines römischen Profils glaubt und so süß im Schoße seines häuslichen Glücks schlummert? Das wäre ein schlechter Dienst, den ich ihm da erweisen würde! Doch was soll ich tun? Fatales Dilemma!‹ dachte er, während er in der Gasse auf und ab ging. ›Jedenfalls will ich vor sie hintreten und diesem verbrecherischen Treiben ein Ende machen.‹

Schon wollte er ins Haus hineingehen, als er sich plötzlich eines anderen besann und umkehrte.

›Das gibt eine häßliche Geschichte, einen Skandal‹, dachte er, ›die Schande eines Freundes öffentlich bekanntmachen – nein, nie! Das ist unmöglich! Halt, ein glücklicher Gedanke: ich will Uljana Andrejewna eine Lektion unter vier Augen erteilen, will das Gewitter meiner Entrüstung sich über ihrem Haupte entladen lassen, will den läuternden Regen reiner Sittlichkeitsbegriffe, die sie niemals kennengelernt hat, auf sie niederströmen lassen! Sie betrügt ihren guten Mann, der sie so herzlich liebt, und versteckt sich dabei vor Angst. Ich will bewirken, daß sie sich in Zukunft vor Scham versteckt! Das Gefühl der Scham in diesem verhärteten Herzen zu wecken, das soll meine heilige Pflicht, mein Verdienst sein, um sie sowohl wie um den armen Leontij!‹

Dieser Gedanke belebte ihn förmlich aufs neue: ›Das ist kein Phantom mehr, sondern eine wirkliche, ehrenwerte, heilige Aufgabe!‹ ging's ihm durch den Sinn.

Und sogleich ging er daran, sich in die Einzelheiten dieser neuen Aufgabe zu vertiefen. Ganz genau legte er sich zurecht, wie er bei der Erfüllung dieser Freundespflicht vorzugehen hätte: in aller Stille, ohne jeden Lärm, ohne heftige Szenen, in ruhiger, freundschaftlicher Weise wollte er diese Frau dazu bringen, daß sie auf ihren Gatten die schuldige Rücksicht nahm, den Weg der Besserung betrat und ihre Schuld wiedergutmachte.

Wohl eine halbe Stunde lang ging er in dem Gäßchen auf und ab und wartete, daß Monsieur Charles endlich gehen würde, um dann auf frischer Tat, unter Berufung auf seine langjährige Bekanntschaft, das »Gewitter« sich über Ulinkas Haupt »entladen« zu lassen. Der Augenblick, meinte er, würde ihm schon eingeben, was er ihr zu sagen hätte. Schließlich gab er jedoch das Warten auf und verschob die Ausführung seines Planes auf eine andere, günstigere Gelegenheit.

Immer noch mit der Lösung dieser neuen moralischen Aufgabe beschäftigt, beschleunigte er unwillkürlich seinen Schritt. Er wollte nun Mark aufsuchen und ihm seine Gegenvisite abstatten, obschon ihm das nicht ganz ungefährlich schien und Mark wohl auch kaum einen besonderen Wert darauf legte. Er wollte seinen Besuch auch nicht gerade als feierliche Visite bezeichnen. In Wirklichkeit war es ihm ja nur darum zu tun, sich irgendwie zu zerstreuen, das drückende Gefühl der Langeweile loszuwerden und diese ewigen, zudringlichen Gedanken an Wera zu bannen.

Er schloß ganz richtig, daß nur in dieser engen Sphäre, in der ihn das Schicksal wider Willen für längere Zeit festhielt, seine Vorstellung sich so hartnäckig auf den einen Gegenstand konzentrieren konnte. Wenn nun Wera, dank ihrer mangelhaften Entwicklung, ihrem menschenscheuen Wesen oder sonstigen ihm unbekannten Ursachen, nicht nur sich ihm nicht näherte, sondern vielmehr sich weiter und weiter von ihm entfernte, so mußte er seinerseits, das war ihm ganz klar, alles dazu tun, um seine Neugierde und seine Phantasie von ihr abzulenken. Er mußte ihr zu verstehen geben, daß sie im Grunde genommen nur ein blasses, unbedeutendes Dämchen vom Lande war, und darum war ihm auch jede Gelegenheit willkommen, seiner regen Vorstellung anderweitige Nahrung zu bieten.

An langen Reihen alter, windschiefer Häuser vorbei kam er endlich zur Stadt hinaus. Der Weg führte zwischen zwei fortlaufenden Zäunen weiter, hinter denen sich umfangreiche Gärten dehnten. Da und dort stand eine Gärtnerhütte; alte, durchlöcherte Röcke oder zerrissene Hüte waren auf Stangen gesteckt, um die Spatzen zu verscheuchen.

»Wo wohnt denn hier der Gärtner Jefrem?« fragte Raiskij über den Zaun hinweg eine Frau, die zwischen zwei Beeten stand und mit einer Hacke irgend etwas behäufelte.

Ohne von ihrer Arbeit aufzublicken, wies sie mit dem Ellenbogen in die Ferne, nach einem einsam im Felde stehenden Häuschen. Als Raiskij sich etwa auf vierzig Schritte von ihr entfernt hatte, richtete sie sich auf, hielt, um sich vor der Sonne zu schützen, die flache Hand über die Augen und rief laut hinter ihm her:

»Du willst wohl Gurken kaufen? Kauf doch bei uns welche. Sieh, wie dick und grün sie sind!«

»Nein, ich will nichts kaufen«, antwortete Raiskij.

»Warum fragst du denn nach Jefrem?«

»Weil bei ihm ein Bekannter von mir wohnt, Mark heißt er – kennst du ihn nicht?«

»Vom Ansehen nur. Irgendein Popensohn oder Amtsschreiber aus der Stadt soll er sein, was weiß ich!«

Raiskij begab sich nach dem Häuschen, das die Frau ihm gezeigt hatte. Er mußte über den Zaun klettern und war kaum auf der anderen Seite angelangt, als zwei zottige kleine Hunde mit wütendem Gebell auf ihn zustürzten. In der Haustür erschien eine kräftige junge Frau mit sonnengebräunten nackten Armen und bloßen Füßen, ein Kind auf dem Arm.

»Kusch, kusch! Still doch, ihr verdammten Köter, kuscht euch!« schrie sie die Hunde an. »Was wünschen Sie?« fragte sie Raiskij, der sich nach allen Seiten umsah und vergeblich zu erraten suchte, wo wohl in der kleinen Hütte noch jemand außer dem Gärtner und seiner Familie wohnen könnte.

Kein Hofraum, kein Anbau befand sich neben dem Häuschen. Zwei Fenster gingen nach dem Garten hinaus, zwei aufs Feld.

Der ganze Innenraum war mit Spaten, Hacken, Harken und Körben verstellt. Die Ecken waren mit allem möglichen Kram: Eimern, Schindeln und sonstigem Gerümpel angefüllt.

Unter einem Schutzdach standen zwei Pferde und ein Mutterschwein mit einem Ferkel, während weiterhin eine Glucke mit einem Volk von Küchlein im Sand scharrte. Ein großer Wagen und ein paar Handkarren standen in einiger Entfernung.

»Wo wohnt hier Mark Wolochow?« fragte Raiskij. Die Frau zeigte schweigend nach dem Wagen. Raiskij sah hin, konnte jedoch in dem Wagen außer einer großen Bastdecke nichts unterscheiden.

»In dem Wagen da wohnt er?« fragte er.

»Dort ist seine Kammer«, sagte die Frau und zeigte nach einem der Fenster, die auf das Feld hinaus gingen. »Und hier schläft er.«

»Um diese Zeit schläft er?«

»Er ist erst gegen Morgen nach Hause gekommen, wahrscheinlich betrunken, und da schläft er eben.«

Raiskij trat an den Wagen heran.

»Was wollen Sie denn von ihm?« fragte die Frau.

»Ich möchte ihn sprechen.«

»Wecken Sie ihn lieber nicht!«

»Warum nicht?«

»Er ist so sonderbar. Mag er lieber schlafen! Mein Mann ist nicht zu Hause, mir ist unheimlich, allein mit ihm. Mag er schlafen!«

»Hat er dir denn was getan?«

»Nein; warum soll er mir was tun? Nur so sonderbar ist er, ich fürchte mich nicht vor ihm.«

Sie begann ihr Kind auf dem Arm zu wiegen, während Raiskij neugierig einen Blick unter die Bastdecke warf.

»Dumme Gans! Weiß nicht mal, wie man einen Gast empfängt!« ließ sich plötzlich eine Stimme unter der Decke vernehmen. Diese ward emporgehoben, und Marks zerzauster Kopf wurde unter ihr sichtbar.

Die Frau verschwand sogleich in dem Häuschen.

»Seien Sie willkommen!« sagte Mark. »Wie sind Sie denn hierher geraten?«

Er kroch aus dem Wagen und begann seine Glieder zu recken.

»Sie wollen mir wohl eine Visite abstatten?« fuhr er fort.

»Das nicht gerade. Ich ging spazieren, um mir die Langeweile zu vertreiben ...«

»Langeweile? Was höre ich? Sie haben zwei hübsche junge Damen im Hause, und Sie müssen sich die Langeweile durch Spazierengehen vertreiben? Und dabei sind Sie ein Künstler! Oder geht es mit dem Courschneiden nicht nach Wunsch?«

Er sah Raiskij spöttisch blinzelnd an.

»Und was für hübsche Damen. Diese Wera – eine Schönheit geradezu!«

»Woher kennen Sie sie denn, und was gehen Sie die Damen überhaupt an?« bemerkte Raiskij trocken.

»Ja, ja, Sie haben recht«, entgegnete Mark. »Nun, seien Sie nicht böse – kommen Sie mit in meinen Salon!«

»Sagen Sie, warum schlafen Sie eigentlich in dem Wagen da? Sie spielen wohl den Diogenes?«

»Ja, so halb gezwungen«, sagte Mark.

Sie durchschritten den Hausflur und die Wohnstube der Wirtsleute und betraten das kleine Hinterzimmer, in dem Marks Bett stand. Ein dürftiger, alter Strohsack, eine dünne, wattierte Decke und ein kleines Kopfkissen lagen darauf. Auf dem Tisch und auf einem Wandbrett sah man etwa zwei Dutzend Bücher. An der Wand hingen zwei Jagdgewehre, und auf dem einzigen vorhandenen Stuhl lagen unordentlich durcheinander einige Kleidungs- und Wäschestücke.

»Das ist mein Salon. Nehmen Sie dort auf dem Bett Platz, und ich setze mich hier auf den Stuhl«, sagte Mark mit einer einladenden Handbewegung. »Legen Sie Ihren Paletot ab, es ist höllisch heiß hier drinnen. Machen Sie keine Umstände, es sind keine Damen anwesend; machen Sie es sich nur bequem. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Ich habe freilich nichts weiter da, außer etwas Milch und ein paar Eiern. Sie verzichten lieber, nicht wahr?«

»Ich habe gefrühstückt und werde bald zu Mittag essen.«

»Natürlich, Sie sind ja bei Tatjana Markowna zu Besuch. Haben Sie eine Zigarre für mich? Wie geht's denn der alten Dame? Hat sie Sie nicht zum Haus hinausgejagt, weil Sie mir damals ein Obdach gewährt haben?«

»Im Gegenteil, sie hat gescholten, weil ich Sie ohne Nachtisch einschlafen ließ und kein Federbett für Sie verlangt habe.«

»Zugleich aber zog sie über mich her?«

»Wie gewöhnlich, indes ...«

»Ich weiß, ich weiß, reden wir nicht davon. Es kommt nicht aus bösem Herzen, es ist nur so ihre Art. Sie ist eine prächtige Alte, besser als alle hier, sie hat Temperament und Charakter, und auch gesunden Menschenverstand mag sie einmal besessen haben ... Jetzt wird wohl ihr Gehirn schon ein bißchen weich geworden sein.«

»Endlich hat sich doch jemand gefunden, mit dem Sie sympathisieren!« sagte Raiskij.

»Ja, namentlich in einem Punkt: wir können beide den Gouverneur nicht ausstehen.«

»Warum denn nicht?«

»Warum Ihre Großtante ihn nicht leiden mag, weiß ich nicht; ich finde ihn unausstehlich, einfach weil er Gouverneur ist. Auch für die Polizei haben wir beide nichts übrig, sie macht uns das Leben sauer. Ihr mutet sie zu, daß sie Brücken bauen soll, und um mich kümmert sie sich schon gar zu eifrig, schnüffelt ewig herum, wo ich mich aufhalte, wie weit ich mich von der Stadt entferne, bei wem ich verkehre.«

Beide schwiegen.

»Nun wären wir ja fertig mit unserer Unterhaltung«, bemerkte Mark nach einer Weile. »Warum sind Sie eigentlich hergekommen?«

»Aus Langeweile, wie gesagt.«

»Verlieben Sie sich doch!«

Raiskij schwieg.

»In Wera, zum Beispiel«, fuhr Mark fort, »ein ganz famoses Mädchen! Sie sind mit ihr im achten Grad verwandt, es sollte Ihnen doch nicht schwerfallen, einen kleinen Roman mit ihr einzufädeln.«

Raiskij machte eine unwillige Handbewegung.

»Wagt sie etwa dem Schwerenöter aus der Residenz zu widerstehen?« fuhr Mark mit kühlem Lächeln fort. »Wie kann sie nur so keck sein, diese kleine Dame aus der Provinz! Nun, versuchen Sie es doch bei ihr mit dem alten Rezept: äußerlich kühl und innerlich voll Glut, eine geringschätzige Behandlung, ein stolzes Achselzucken, ein verächtliches Lächeln – das sind Dinge, die ihre Wirkung nicht verfehlen! So ein wenig poussieren – darauf verstehen Sie sich ja.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Ich sehe es.«

»Ich meine, das Poussieren fällt auch Ihnen nicht schwer, wenn es darauf ankommt, den Exzentrischen, den lockeren Vogel zu spielen.«

»Mag wohl sein«, versetzte Mark gleichgültig, »und wenn ich wüßte, daß ich damit eine Wirkung erziele, würde ich mich keinen Augenblick besinnen.«

»Ja, das will ich meinen. Sie würden sich keinen Augenblick besinnen!« sagte Raiskij.

»Ganz recht«, versetzte Mark. »Ich würde gerade aufs Ziel losgehen und mich nicht erst mit Nebendingen aufhalten. Und ich kann Ihnen nur raten, es ebenso zu machen, statt daß Sie sich selber und ihr einzureden suchen, Sie wandelten auf irgendwelchen erhabenen Höhen, zu denen Sie sie erst emporziehen müßten – Sie spaßiger Idealist! Versuchen Sie es doch einmal auf die andere Weise, vielleicht gelingt es! Wohin soll denn das schließlich führen, nur immer seufzen, nicht schlafen, jeden Augenblick lauern, ob das weiße Händchen nicht den lila Vorhang lüftet, wochenlang auf einen freundlichen Blick warten.«

Raiskij sah ihn plötzlich durchdringend an.

›Er hat recht, in der Tat‹, fuhr's ihm durch den Kopf.

Mark hatte buchstäblich ins Schwarze getroffen. Und Raiskij durfte nicht einmal zeigen, daß er sich darüber ärgerte. Das wäre mit einem Eingeständnis gleichbedeutend gewesen.

»Wie gern würde ich mich verlieben, aber ich bring's nicht fertig, ich bin schon zu alt dazu«, sagte Raiskij und zwang sich dabei zu einem Gähnen. »Ich glaube auch nicht, daß dies meine Langeweile verscheuchen würde.«

»Versuchen Sie es nur«, neckte ihn Mark. »Ich möchte eine Wette eingehen, daß Sie binnen einer Woche verliebt sein werden wie ein Kater – und in zwei, höchstens vier Wochen werden Sie so viel Dummheiten begehen, daß Sie nicht wissen werden, wie Sie sich aus der Schlinge ziehen sollen.«

»Wenn ich nun die Wette annehme und sie gewinne, womit wollen Sie sie einlösen?« versetzte Raiskij fast verächtlich.

»Ich überlasse Ihnen meine Beinkleider oder eins meiner Gewehre. Ich besitze nur zwei Paar Beinkleider, ein drittes Paar hat der Schneider wieder zurückgenommen, da ich es nicht bezahlen konnte. Da fällt mir ein: ich will doch einmal Ihren Paletot anprobieren. Sieh da, er paßt ganz famos!« sagte er, nachdem er Raiskijs leichten Überzieher angezogen und sich neben ihn aufs Bett gesetzt hatte. »Nun müssen Sie auch einmal den meinigen anziehen!«

»Weshalb?«

»So – ich möchte einmal sehen, wie er Ihnen sitzt. Tun Sie's doch, bitte. Was kann Ihnen das ausmachen?«

Raiskij war entgegenkommend genug, den abgetragenen, fleckigen Überrock seines Gastgebers anzulegen.

»Nun, paßt er Ihnen?« fragte Mark.

»Ja, es scheint so.«

»Gut, dann behalten Sie ihn, und ich will diesen hier behalten. Sie hätten ihn doch nicht mehr lange getragen, und bei mir hält er noch zwei Jahre vor. Ob's Ihnen recht ist oder nicht: ich ziehe ihn nun nicht mehr aus, Sie müßten mir ihn denn mit Gewalt vom Leibe reißen.«

Raiskij zuckte die Achseln.

»Nun, wie steht's, soll die Wette gelten?« fragte Mark.

»Weshalb kommen Sie immer wieder auf diese, verzeihen Sie, törichte Idee zurück?«

»Ohne viel Redensarten: gilt sie oder nicht?«

»Die Wettbedingungen sind zu ungleich. Sie haben nichts dagegenzusetzen.«

»Das braucht Ihnen keine Sorge zu machen; ich werde nicht in die Lage kommen zu bezahlen.«

»Wie sicher Sie Ihrer Sache sind!«

»Ich werde nicht bezahlen, bei Gott! Also: wenn meine Prophezeiung in Erfüllung geht, zahlen Sie mir dreihundert Rubel. Ich kann sie gerade jetzt sehr gut gebrauchen.«

»Was für ein Unsinn!« sprach Raiskij ärgerlich halb für sich, während er Hut und Stock nahm, um zu gehen.

»Ich wiederhole also: Innerhalb zwei Wochen, von heute an gerechnet, werden Sie verliebt sein, und innerhalb eines Monats werden Sie seufzen und wie ein Schatten umherirren, ja vielleicht sogar, wenn nicht die Scheu vor dem Gouverneur oder vor Nil Andrejitsch Sie zurückhält, eine Tragödie aufführen, um schließlich die ganze Affäre mit einem gemeinen Streich zu beenden.«

»Wie kommen Sie zu einer solchen Behauptung?«

»Mit einem gemeinen Streich, ja, wie alle Leute Ihres Schlages. Ich sehe es Ihnen doch an!«

»Und wenn nun sie selbst statt meiner sich verliebt?«

»Wera soll sich verlieben – in Sie?«

»Allerdings, in mich.«

»Dann verpflichte ich mich, Ihnen die doppelte Summe zu zahlen, die Sie mir im andern Fall zahlen müßten.«

»Sie sind verrückt!« sagte Raiskij und ging hinaus, ohne Mark auch nur eines Blickes zu würdigen.

»In einem Monat hab ich dreihundert Rubel in der Tasche!« schrie Mark hinter ihm her.


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