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Still flossen die Tage dahin, still erhob sich der glühende Sonnenball im Osten und beschrieb seinen Bogen an dem blauen Himmel, der sich über der Wolga und ihrem Ufergelände wölbte. Langsam zogen die weißen Wolkenberge um Mittag daher, ballten sich bisweilen zu dicken Knäueln zusammen, verdunkelten das Lasurblau des Himmels, sandten ihren Regen auf Felder und Gärten herab, kühlten die Luft ab und zogen weiter, während ein leiser, lauer Wind über das Land hinstrich.
Stand dagegen eine schwarze Wetterwolke über der Stadt und dem Gut, die sich, oft mit tropischer Gewalt, mit Blitz und Donner entlud, dann begann alles zu zittern und zu zagen, und das ganze Haus nahm, wie beim Herannahen des Feindes, eine abwehrende Haltung ein. Tatjana Markowna glich dann einem Schiffskapitän zur Zeit des Sturmes.
»Löscht die Feuer aus! Schließt die Fenster und Türen, deckt die Schornsteine zu!« tönten laut ihre Kommandorufe. »Geh, Wassilissa, sieh nach, ob nicht jemand raucht! Daß nirgends Zugwind entsteht! Tritt vom Fenster zurück, Marfinka!«
Solange der Sturm die Bäume schüttelte und ihre Wipfel tief zur Erde beugte, solange er den Staub emporwirbelte und über die Fluren hinwegfegte, solange die Blitze durch die Luft zuckten und der Donner dumpf und schwer wie ein wildes Lachen am Himmel dahinrollte, wandte die Großtante kein Auge von dem Naturschauspiel ab, ging, wenn es Abend war, nicht zu Bett, schritt hastig von einem Zimmer ins andere, sah nach, was Marfinka und Werotschka machten, bekreuzte sie und sich selbst und beruhigte sich erst, wenn die Wolke ihre flammende Kraft verloren hatte, wenn der Donner verstummte und das finstere Gewölk sich aufhellte und weiterzog.
Am Morgen ging dann wieder in ihrer ganzen Herrlichkeit die Sonne auf und spielte in jedem Tropfen, der an den Blättern hing, in jeder Regenpfütze, guckte durch jedes Fenster und sandte ihren warmen Schein durch jede Öffnung, jeden Spalt in das behagliche Heim.
Einförmig folgten sich so die Tage und Wochen auf Malinowka. Raiskij fühlte es nicht, hatte kaum die Empfindung, daß er lebte.
Er hatte das Porträt Marfinkas beendet und die literarische Skizze »Natascha« überarbeitet, die er später in seinen Roman einfügen wollte, sobald dieser erst in seinem Kopf bestimmtere Formen angenommen hätte und weiter ausgereift wäre. Noch war da indes alles im Entstehen, noch sollten all die einzelnen Personen erst zu Fleisch und Blut werden und in folgerichtige, logische Beziehungen zueinander treten, daß jeder Leser zu dem Bekenntnis gezwungen würde: »Das fehlte noch in unserer Literatur, das mußte kommen!«
Er wollte nach dem Plan, den er entworfen, den Roman in Episoden schreiben, die Figuren und Szenen, die ihn besonders interessierten, zuerst schriftlich fixieren und dann sich selbst mitten hineinstellen, immer dahin, wohin das Gefühl, die Stimmung, die Leidenschaft – ja, vor allem die Leidenschaft! – ihn führten.
»Oh, daß doch der Himmel sie mir senden wollte, diese Leidenschaft!« flehte er zuweilen, wenn die Langeweile ihn plagte.
Der Überdruß hätte sich auch hier, in seinem kleinen Malinowka, seiner bemächtigt, und er wäre wohl schon weitergewandert, um irgendwo an einem anderen Ort das »Leben« zu suchen, im Rausche der Leidenschaft seinen Becher zu leeren oder, wie es ihm stets erging, in dem Zwiespalt zwischen der Wirklichkeit und seinen Idealen mutlos zu werden, wieder einmal die Unvollkommenheit des Bestehenden einzusehen und in schlaffe Gleichgültigkeit gegen alles in der Welt zu verfallen.
Schon fürchtete er fast, daß es ihm auch hier wieder so gehen würde. Doch noch hatte er nicht alle die Eindrücke in sich aufgenommen, die seine naive Umgebung ihm zu bieten vermochte. Noch hatte er seine Freude an dem köstlichen Sonnenschein, dem gütigen Blick der Tante, dem bereitwilligen Diensteifer des Hofgesindes und der zärtlichen Sympathie Marfinkas – an dieser vielleicht mehr als an allem anderen.
Mit stillem Wohlgefallen sah er sie des Morgens ins Frühstückszimmer treten, in der gestreiften Baumwollbluse, ohne Kragen und Manschetten, die Augen noch leicht verschleiert: sie erhob sich auf die Fußspitzen, legte ihren Arm auf seine Schulter, um den Morgenkuß mit ihm zu tauschen, schenkte ihm den Tee ein und sah ihm dabei in die Augen, um jeden seiner Wünsche zu erraten und sogleich zu erfüllen. Und dann setzte sie den breitrandigen Strohhut auf und schritt neben ihm oder an seinem Arm über die Felder oder durch den Park – und das Blut strömte rascher durch seine Adern, er empfand nichts von Überdruß oder Langeweile.
Auch der Verkehr mit der Großtante machte ihm noch Freude. Er ließ sich ihre mütterliche Sorge gefallen und hörte lächelnd, wie sie ihm Verhaltungsmaßregeln gab, ihn an Ordnung zu gewöhnen suchte, ihn vor den Lockungen des Lasters warnte und seine zigeunerhafte Lebensauffassung durch ihre so lieben, verständigen Grundsätze zu ersetzen suchte.
Auch Tit Nikonytsch gefiel ihm immer noch, dieser letzte Zeuge einer vergangenen Zeit, der ganz in respektvoller Höflichkeit, gutem Ton und zuvorkommenden Manieren aufging, der allen alles verzieh, nichts übelnahm, stets um seine Gesundheit bangte, allen zugetan war und von allen geliebt wurde.
Wenn er seine gute Stunde hatte, fand er zuweilen selbst an der exzentrischen Art Polina Karpownas Gefallen. Sie hatte es verstanden, ihn in ihr Haus zu locken, zum Mittagessen, und suchte ihm einzureden, daß er »entweder gegen sie nicht gleichgültig sei, jedoch sein wahres Gefühl verberge, oder daß er doch nahe daran sei, sich in sie zu verlieben und sich nur noch ein klein wenig sträube, mais que tôt ou tard cela finira par là et comme elle sera contente, heureuse! etc.«
Er ließ sich gleichsam von diesem ruhigen Leben einlullen und machte nur von Zeit zu Zeit eine kleine Aufzeichnung für seinen Roman – irgendeinen charakteristischen Zug oder eine Szene, irgend etwas, das die Großtante oder Marfinka, Leontij oder seine Frau, Sawelij oder Marina betraf. Dann schaute er wieder auf die Wolga und ihren Lauf, lauschte auf die schläfrige Stille der Landschaft, der am Ufer zerstreuten Dörfer und Weiler, suchte in diesem Ozean des Schweigens gewisse Laute und Töne zu erhaschen, die nur er allein vernahm, setzte sich ans Klavier, um sie nachzuspielen und nachzusingen, hielt die Motive fest, die er erhorcht hatte, um sie gelegentlich zu verarbeiten – er hatte ja noch so viel Zeit vor sich und so wenig zu tun!
Er vertiefte sich auch in jene Bilder und Szenen, die er seinerzeit der Belowodowa so getreu geschildert hatte, daß sie ihr die Nachtruhe raubten. Er studierte die stumpfe, grüblerische Nachdenklichkeit des Bauern, die grobe, langsame, schwere Arbeit, die er verrichtete, wenn er am Ufer entlang die Barke am Ledergurt stromaufwärts zog oder durch die Furchen des Ackerfeldes hinterm Pflug daherschritt, bedächtig, ganz in Schweiß gebadet, als hätte er das Pferd samt dem Pfluge zu tragen. Oder er sah der schwangeren Bäuerin zu, die im heißen Sonnenbrand mit der Sichel das Korn schnitt.
Er skizzierte diese sonnengebräunten Gesichter, diese Bauernhütten, diese Gerätschaften, suchte die Luftstimmung in seinen kleinen Studien festzuhalten und legte die unfertigen Blätter in sein Portefeuille – gleichfalls für später.
›Was habe ich nun aber damit erreicht, wenn ich diese Natur, diese Menschen schildere? Was ist der Sinn dieser Schöpfung, wo der Schlüssel dazu?
In der Schöpfung selbst muß er liegen‹, sagte ihm sein künstlerischer Instinkt, und er warf die Feder hin und ging zur Wolga hinab, um über das Wesen der künstlerischen Schöpfung nachzudenken, um zu ergründen, warum sie an sich selbst einen Sinn haben müsse, wenn sie wirklich eine Schöpfung sein solle, und wann sie eigentlich eine solche sei.
Und da tauchten die Hindernisse und Schwierigkeiten vor seinem Geiste auf: die Allmählichkeit der Entwicklung, die Vollendung und Abrundung der Charaktere, der Zusammenhang zwischen ihnen – und hinter dem künstlerischen Gebilde trat die Analyse hervor und kühlte sein Interesse ab.
»Une mer à boire«, sprach er mit einem Seufzer, legte die Blätter in das Portefeuille und holte Marfinka zu einem Spaziergang durch den Park ab.
Er hatte sich das Wort gegeben, bei der nächsten sich darbietenden Gelegenheit zu ergründen – nicht, was Marfinka eigentlich sei, denn das lag gar zu sehr auf der Hand, sondern was einmal aus ihr werden würde. Dann erst, sobald er das ergründet hätte, wollte er sein eigenes Verhalten gegen sie endgültig bestimmen. War sie einer weiteren Entwicklung fähig, oder hatte sie ihre Herkulessäulen schon erreicht?
Und wenn er »wider Erwarten« in ihrem Wesen plötzlich auf eine Goldader stieß – eine Möglichkeit, die bei Frauen nicht selten ist –, dann wollte er hier, in diesem stillen Erdenwinkel, seinen häuslichen Opferaltar errichten und sich ganz der Entwicklung dieses holden Geschöpfes weihen: sie und die Kunst sollten fortan seine Ideale sein. Dann würden auch alle diese Episoden, Skizzen und Szenen sich rasch zu einem Ganzen formen. Die Zersplitterung wird dann endlich für ihn aufhören, das Leben wird ihm etwas Ganzes, Geschlossenes werden.
Aber seine Experimente mit Marfinka schritten vorläufig nur sehr langsam fort, und wenn sie nicht so hübsch gewesen wäre, hätte er die undankbare Aufgabe, sich mit ihrer Entwicklung zu befassen, längst aufgegeben.
So eifrig er auch auf ihren Verstand, ihre Eigenliebe, ihr Gemüt einzuwirken suchte – es gelang ihm nicht, sie über den Kreis der Begriffe, die sie seit ihrer frühen Kindheit sich zu eigen gemacht hatte, des stark ausgeprägten Sinnes für Häuslichkeit, der traditionellen, von der Großtante ihr tief eingeprägten und streng überwachten Denkweise hinauszuführen.
Sie war noch immer das junge Mädchen, nie hatte er das reifende Weib bei ihr zum Durchbruch kommen sehen. Daß sie unvermählt bleiben würde, war nach ihrer gesunden Veranlagung und der einfachen, auf die häuslichen Tugenden gerichteten Erziehung, die sie genossen, nicht anzunehmen.
Immerhin war sie jetzt das werdende, erblühende Weib. Wie aber würde sie sich weiterentfalten?
Unwillkürlich stellte er in Gedanken sich selbst mit ihr zusammen. Er analysierte sein eigenes Ich – ›wie dies ja alle tun‹, dachte er –, nur daß nicht alle sich dieses jedem Menschen angeborenen Triebes so sehr bewußt werden wie er: die einen wollen nur so gut wie möglich scheinen, die anderen es nicht nur scheinen, sondern auch sein und in immer höherem Grade werden, was sie zu ernsten, aufrichtigen, tief angelegten Naturen stempelt. Er suchte sich darüber klarzuwerden, welche Rolle er diesem blühenden jungen Wesen gegenüber einnehmen solle, ob wirklich nur die des Vetters, des ritterlichen Beschützers und Bildners, wie er es ja von Rechts wegen sein mußte, oder etwa die eines künftigen Gatten.
Kaum hatte er versucht, sich diese letztere Möglichkeit vorzustellen, als er auch schon aus tiefem Herzensgrund aufseufzte. Er sah voraus, daß entweder er selbst oder sie bis zum Tage der Hochzeit von der Höhe des Ideals niedersteigen, daß die Poesie verfliegen oder sich zum Regenschauer einer kleinbürgerlichen Komödie verflüchtigen würde. Und er erkaltete, gähnte und fühlte schon die Anzeichen der kommenden Langeweile.
Sich so ohne Zweck und Ziel aufzuregen und obendrein auch sie zu beunruhigen, erschien ihm unsittlich. Was sollte er tun? Wie sollte er sich verhalten?
Nur so einfach den Bruder, den Vetter, den Verwandten zu spielen, war ihm unmöglich, sie war gar zu lieb und reizend, gar zu warm, ihre Berührung erhitzte ihn, erregte seine Nerven. Er war ja auch nur ihr Vetter dritten Grades, und wenn sie ihn Vetter nannte, so war's eben nur der Name, und nichts weiter. Die Nähe einer solchen Kusine war gefährlich.
Er hatte ihre zärtlichen Liebkosungen bereitwillig hingenommen und erwidert, und es war mehr als die Zärtlichkeit des Vetters, was er empfand: züngelnde Schlangen lauerten in den Küssen, mit denen er ihre Küsse erwiderte.
›Noch eine Probe‹, dachte er, ›eine Unterredung noch, und sie wird mein Weib, oder ... Diogenes suchte mit seiner Laterne den Menschen, ich suche das Weib. Das ist der Schlüssel all meines unruhigen Spürens und Tastens! Und wenn ich in ihr nicht finde, was ich suche – und ich fürchte, ich finde es nicht –, dann werde ich natürlich meine Laterne nicht auslöschen, sondern weitersuchen. Aber, mein Gott, wo wird dieses rastlose Suchen enden?‹
Er gähnte.
›Ich will fort von hier und meinen Roman schreiben: ein Bild dieses welken Lebens, dieses trägen Schlafes.‹
Er gähnte aber- und abermals.
»Sag, Marfinka«, begann er eines Tages, als er in der Dämmerstunde neben ihr auf der Rasenbank unter der Akazie saß, »langweilst du dich hier nicht? Wirst du ihrer nicht überdrüssig, dieser lieben Tante, dieses guten Tit Nikonytsch, des Parks, der Blumen, der kleinen Liedchen, der Bücher mit dem glücklichen Ausgang?«
»Nein«, sagte sie, erstaunt über seine Frage, »was brauche ich denn sonst noch?«
»Scheint dir das alles nicht zuweilen – gar zu eintönig, gar zu öde und banal?«
»Öde? Banal?« wiederholte sie nachdenklich. »Nein! Ist es denn hier so öde?«
»Das ist doch alles so kindisch, Marfinka, die Blumen, die Liedchen. Du bist doch schon ein erwachsenes Mädchen« – er warf einen raschen Blick auf ihre Schultern und ihre Büste –, »kommt dir nicht manchmal etwas anderes, Ernsteres in den Sinn? Hast du nicht noch für andere Dinge Interesse?«
Sie schlug die Augen zu Boden und begann nachzusinnen. Es war ihr peinlich, und sie schämte sich ein wenig, daß man sie noch für ein Kind hielt.
›Ich bin doch kein Kind mehr, schon lange nicht. Ich brauche vierzehn Ellen Stoff zum Kleid, ebensoviel wie die Großtante, nein, mehr. Die Tante läßt ihre Kleider nicht so weit nähen‹, ging's ihr durch den Kopf. ›Ach, mein Gott, was für törichtes Zeug kommt mir da in den Sinn? Was soll ich ihm nur sagen? Wenn doch Werotschka bald nach Hause kommen wollte!‹
Sie wußte nicht, was sie tun sollte, um nur ja nicht als Kind zu erscheinen, um von den anderen als erwachsen angesehen und demgemäß behandelt zu werden. Sie sah sich unruhig um, spielte nervös mit dem Schürzenzipfel und blickte auf ihre Füße.
Es ging ihr mit einemmal so vieles durch den Kopf. Die Gedanken drängten sich förmlich, Fragen auf Fragen tauchten auf, doch alles das war so blaß und nebelhaft, daß sie es gar nicht recht zu erfassen vermochte, und daß es entschwunden war, ehe sie noch Worte dafür gefunden hatte.
»Denken Sie nur nicht, Vetter«, begann sie endlich, »daß ich noch ganz und gar ein Kind bin, weil ich die Vögel und die Blumen liebe, ich weiß mich doch auch schon ein wenig nützlich zu machen! Tantchen läßt mich häufig die Einnahmen und Ausgaben notieren, ich weiß auch, wieviel Roggen und wieviel Hafer zur Aussaat nötig ist, wann diese oder jene Getreideart reif wird, wohin und wann das Getreide zu verschiffen ist. Ich weiß, wieviel Holz ein Bauer haben muß, wenn er sich ein neues Haus bauen will.« Sie sah ihn schon ein wenig mutiger an. »Ich könnte auch schon die Aufsicht über die Feldarbeiten führen, aber Tantchen will es nicht haben. Ja – und noch manches andere!« fügte sie hinzu, sah ihn dabei groß an und suchte zu erraten, ob sie wohl in seinen Augen wenigstens ein klein wenig gewachsen sei.
»Ja, das ist gewiß alles sehr schön, und mit der Zeit wirst du vielleicht eine zweite solche Tante werden. Möchtest du das?«
»Oh, wenn's Gott gäbe – aber dazu fehlt doch noch recht viel!«
»Und du möchtest überhaupt nicht anders sein?«
»Warum? Wenn ich anders wäre, würde ich doch hier gar nicht am Platze sein.«
»Sehr hübsch gesagt, Marfinka, aber müßtest du denn gerade hier sein? Du hast von Moskau, von Petersburg, von Paris und London gehört. Möchtest du nicht einmal dahin reisen?«
»Was soll ich dort?«
»Was du dort sollst? Du liest doch Bücher und siehst daraus, wie andere Frauen leben: Helen zum Beispiel in dem Roman der Miß Edgeworth. Sehnst du dich nicht danach, auch einmal dieses andere Leben kennenzulernen?«
Sie schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf.
»Nein«, sagte sie, »was man nicht kennt, danach sehnt man sich auch nicht. Werotschka, ja, die ist anders, die langweilt sich immer und ist oft schwermütig, sitzt wie versteinert da, alles scheint ihr hier fremd und gleichgültig. Aber ich – ach, ich fühle mich hier so wohl: auf dem Felde, bei meinen Blumen und Vögeln, wie heiter und glücklich bin ich da! Wie lustig ist es hier, wenn Bekannte zu Besuch kommen! ... Nein, nein, ich bin nun mal eine Hiesige, bin aus dem Sand, aus dem Gras hier geschaffen! Ich will nirgends hin. Was würde ich dort anfangen – in Petersburg oder im Ausland? Ich würde sterben vor Sehnsucht.«
»Du würdest dort nicht allein sein.«
»Mit wem denn? Tantchen geht doch nie von hier fort!«
»Warum gerade Tantchen? Mit deinem Mann ... mit mir. Würdest du mit mir hinfahren wollen?«
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Warum nicht?«
»Ich würde Angst haben, daß Sie sich mit mir langweilen.«
»Du würdest dich an mich gewöhnen.«
»Nein, das würde ich nicht. Sie sind nun schon zwei Wochen hier, und ich fürchte mich noch immer vor Ihnen.«
»Warum denn? Ich bin doch ein so einfacher Mensch: wir sitzen zusammen und plaudern, gehen zusammen spazieren, zeichnen zusammen.«
»Nein, Sie sind kein einfacher Mensch. Sie haben manchmal so etwas in den Augen ... Nein, ich würde mich nicht an Sie gewöhnen.«
»Aber das ist doch trostlos langweilig, das ganze Leben so mit der Tante zusammenzubleiben, nicht einen Schritt ohne sie zu tun.«
»Ich wünsche mir doch gar nichts anderes – was soll ich denn ohne sie tun?«
Sie blickte unruhig zur Seite und schämte sich wieder, daß ihr so gar keine Antwort einfiel.
›Ach, mein Gott! Er wird mich für ein dummes Gänschen halten. Was soll ich ihm nur sagen. Etwas recht Gescheites muß es sein! O Herr, hilf mir!‹ betete sie im stillen.
Aber es wollte ihr gar nichts »Gescheites« einfallen, und sie begann wieder mit dem Schürzenzipfel zu spielen.
»Gibt es denn nichts, was dich innerlich so ein klein wenig quält? Irgendeine kleine Unruhe in der Seele?« sprach er auf sie ein.
Sie seufzte tief auf.
›Tantchen meinte, ich solle mich um das Abendbrot kümmern – das beunruhigt jetzt meine Seele. Aber wie kann ich ihm das sagen?‹ dachte sie. Und nach einem Weilchen sagte sie laut, mit ernster, fast trübseliger Miene: »Gewiß gibt es manches! Ich bin doch erwachsen, bin kein Kind mehr!«
»Ah!« sagte er rasch, »also doch irgendein paar kleine Sünden, Gott sei Dank! Und ich war schon ganz verzweifelt! So sprich doch, sprich!«
Er rückte näher an sie heran und nahm ihre Hand.
»Sprechen?« wiederholte sie nachdenklich, ohne ihm ihre Hand zu entziehen. »Man hat so Gewissensbisse.«
»Gewissensbisse? Oh, oh! Das läßt ja Schreckliches vermuten!«
Er lachte laut auf, aber plötzlich fiel's ihm ein, daß vielleicht hinter ihrer Naivität wirklich irgendeine ernstere Schuld stecken könnte, daß ihre äußere Ruhe nur gemacht war.
»Was kannst du groß auf dem Gewissen haben? Vertrau dich mir an, wir wollen gemeinsam überlegen, vielleicht kann ich dir einen Dienst erweisen.«
»Oh, was ich auf dem Gewissen habe, das hat wohl jeder Mensch.«
»Nun, zum Beispiel?«
»Hören Sie doch einmal an, was Vater Wassilij predigt – wie wir leben, was wir tun sollen! Und wie leben wir in Wirklichkeit, tun wir auch nur die Hälfte von dem, was er uns tun heißt?« sagte sie voll Eifer. »Nicht einen Tag leben wir so, wie wir leben sollen! Wir sollen uns selbst verleugnen, sollen unsern Brüdern dienen, sollen alles den Armen geben, sollen die anderen mehr lieben als uns selbst, sogar diejenigen, die uns beleidigen, sollen nicht zornig sein, nicht träg, nicht zuviel an Putz und eitle Dinge denken, nicht törichte Reden führen. O Gott, wie schwer ist das alles! Wenn man darüber nachdenkt, wird man ganz wirr und bekommt einen Schreck. Das Leben reicht gar nicht aus, um das alles wiedergutzumachen, was man gesündigt hat! Selbst die Tante, sie ist so klug, so gut wie sonst kein Mensch auf der ganzen Welt, und selbst sie ... sündigt«, sprach Marfinka im Flüsterton, »sie läßt sich vom Zorn hinreißen, sie kann Anna Petrowna Tokejewna nicht leiden und bietet ihr nicht einmal den Ostergruß, sie findet Polina Karpowna unausstehlich, schilt die Leute auf dem Hof, ist zu streng gegen sie; die Weiber nennt sie Heuchlerinnen, wenn sie kommen und darüber klagen, daß sie Not leiden, sie ist auch sehr geizig«, flüsterte Marfinka noch leiser. »Und wenn sie sich in etwas irrt, gibt sie es nie zu, sie ist stolz und hochfahrend! Und doch ist sie besser als wir anderen. Was sind wir, ich und Werotschka, gegen sie! Oh, wenn ich nur wüßte, wie ich sein soll, um ...«
»Bleib ruhig so, wie du bist«, sagte Raiskij.
»Nein.« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich verstehe so vieles nicht und weiß daher oft auch nicht, wie ich handeln soll. Werotschka – die weiß es, und wenn sie es dennoch nicht tut, so ist's, weil sie es nicht tun will: ich aber kann's nicht.«
»Und das quält dich dann?«
»Ja, und wenn die Rede darauf kommt und die Tante mich ausschilt, dann weine ich wohl; aber das vergeht rasch, und ich bin wieder lustig und ausgelassen, als ob es mich gar nichts anginge, was Vater Wassilij da predigt! Das ist das Schlimme!«
»Und weiter quält dich nichts, du glückliches Kind?«
»Als ob das nicht genug wäre! Machen Sie sich denn darüber gar keine Gedanken?« fragte sie verwundert.
»Nein, mein Herzchen. Ich habe ja auch nicht gehört, was Vater Wassilij predigt!«
»Wie leben Sie denn eigentlich? Es muß doch etwas geben, womit Ihre Seele sich beschäftigt?«
»Augenblicklich beschäftigt sie sich mit dir!«
»Mit mir? Solange die Tante lebt, wird die schon für mich sorgen.«
»Und wenn sie stirbt?«
»Die Tante? Um Gottes willen!« rief sie ganz entsetzt und bekreuzigte sich.
»O Gott, was für Reden führen Sie, was für Gedanken kommen Ihnen!«
Sie wollte nichts mehr davon hören.
»Meinst du denn, sie werde ewig leben?«
»Hören Sie auf, um Gottes willen, ich mag es nicht hören!«
»Nun, und wenn es doch geschieht?«
»Dann sterben Werotschka und ich auch; denn ohne die Tante ...«
Sie seufzte tief auf.
»Du siehst eben: es wird nicht immer so weitergehen mit den Vögelchen, den Blumen und all den netten kleinen Sachen hier. Du mußt auch andere Interessen, andere Beziehungen und Sympathien pflegen.«
»Was soll ich denn tun?« fragte sie fast verzweifelt.
»Du mußt jemanden liebgewinnen, einen Mann«, sagte er nach einem Weilchen, während er ihre Stirn leicht mit den Lippen berührte.
»Sie meinen, ich müsse heiraten? Ja, Sie sagten mir das schon früher, und auch die Tante machte Anspielungen – aber ...«
»Aber ... Was?«
»Woher soll ich ihn nehmen?« sagte sie ganz verschämt.
»Gibt's denn keinen, der dir besonders gefiele? Unter den jungen Leuten hier ...«
»Was gibt's hier für junge Leute? Da sind die drei jungen Botschkows, die versammeln jeden Abend ihre Freunde bei sich, trinken mit ihnen und spielen Karten. Am nächsten Tage haben sie dann alle ganz rote Augen. Und der junge Tschetschenin – der war neulich auf Urlaub und erklärte gleich von vornherein, er müsse hunderttausend Rubel Mitgift haben, und dabei ist er ein so erbärmliches Kerlchen, schlimmer als Motjka, klein und krummbeinig, und raucht immer! Nein, nein! Dann wäre noch Nikolai Andrejitsch – ein hübscher Mensch, gutmütig und von heiterem Wesen, aber ...«
»Aber was?«
»Er ist zu jung, höchstens dreiundzwanzig Jahre!«
»Wer ist dieser Nikolai Andrejitsch?«
»Der junge Wikentjew – sie haben ein Gut jenseits der Wolga, nicht weit von hier. Koltschino heißt es, gegen hundert Seelen sind da. Außerdem besitzen sie noch dreihundert Seelen in der Gegend von Kasan. Seine Mutter hat mich und Werotschka eingeladen, aber die Tante läßt uns allein nicht hin. Einmal waren wir drüben, doch nur einen Tag. Nikolai Andrejitsch ist der einzige Sohn, mehr Kinder sind nicht da. Er hat in Kasan studiert und ist jetzt hier beim Gouverneur angestellt, als Beamter für besondere Aufträge.«
Sie hatte das alles sehr lebhaft und rasch erzählt, mit strahlendem Gesicht.
»Ah! Der gefällt dir also: Wikentjew!« sagte er, während er ihre Hand an seine linke Seite preßte. Unbeweglich saß er da und hatte sein Wohlgefallen daran, zu sehen, wie harmlos und unschuldig Marfinka seine Zärtlichkeiten hinnahm. Sie schien sie kaum zu bemerken und nichts dabei zu fühlen.
›Ein einziger Funke‹, dachte er, ›ein warmer Händedruck kann sie plötzlich aus dem kindlichen Traumzustand erwecken, ihr die Augen öffnen – und unversehens tritt sie in eine neue Lebensphase ein.‹
Sorglos wie ein Vögelchen zwitscherte sie weiter.
»Was denken Sie: Wikentjew!« sagte sie nachdenklich, als ob sie selbst erst insgeheim prüfte, ob er ihr gefiel oder nicht.
»Es ist jetzt dunkel, und man sieht nichts – aber sicherlich bist du rot geworden«, neckte sie Raiskij, während er ihr ins Gesicht sah und ihre Hände drückte.
»Durchaus nicht! Warum sollte ich erröten? Seit zwei Wochen habe ich ihn nicht gesehen, und ich vermisse ihn nicht im geringsten.«
»Sag mal: gefällt er dir?«
Sie schwieg.
»Was reden Sie da! Ich sage nur, daß er besser ist als die anderen. Das sagen alle von ihm. Der Gouverneur hat ihn sehr gern und läßt ihn nie eine Untersuchungssache führen. ›Was soll er sich mit solchem Schmutz abgeben‹, sagt er, ›mit Mord und Diebstahl! Seine Moral muß darunter leiden, mag er lieber unter meinen Augen bleiben!‹ Er tut jetzt Dienst bei ihm, und wenn er nicht bei uns ist, speist er dort zu Mittag und tanzt und spielt dort.«
»Mit einem Wort: er ›tut Dienst‹!« sagte Raiskij mit leichtem Spott.
»Er hat schon einen Orden, so ein ganz kleines Kreuzchen!« fügte Marfinka mit Genugtuung hinzu.
»Ist er oft hier?«
»Sehr oft. Nur in letzter Zeit ist er weggeblieben. Vielleicht ist er zu seiner Mutter gefahren, nach Koltschino. Wenn er kommt, will ich ihn ausschelten, daß er wegfährt, ohne etwas zu sagen. Oder die Tante kann es tun, er hat großen Respekt vor ihr. Er sitzt nicht einen Augenblick still, wenn er hier ist, springt umher und singt. So ein lustiger, mutwilliger Wildfang! Und wieviel er ißt! Neulich hat er eine große Pfanne voll Pilze ganz allein aufgegessen! Zum Tee verzehrt er einen ganzen Haufen Semmeln, was man ihm gibt, ißt er auf. Die Großtante hat ihn darum sehr gern, und ich auch.«
»Liebst du ihn?« fragte Raiskij lebhaft, während er sich vorneigte und ihr in die Augen sah.
»Nein, nein!« Sie schüttelte abwehrend den Kopf. »Nein – ich liebe ihn nicht, aber ... er ist so ein prächtiger Junge! Er ist besser als alle anderen, die hier sind – hält auf sich, geht nicht in Restaurants, spielt nicht Billard, trinkt nicht.«
»Ein prächtiger Junge!« wiederholte Raiskij, während er ihr das Haar an der Schläfe zurückstrich. »Und du bist ein prächtiges Mädchen! Wie schade, daß ich so alt bin, Marfinka, wie würde ich dich lieben!« fügte er leise hinzu, indem er sie dichter an sich zog.
»Sie sind doch nicht alt!« sagte sie mit gewisser Nachsicht, während sie seine Liebkosungen hinnahm. »Erst ein paar graue Haare haben Sie im Bart. Und wenn Sie lachen oder etwas lebhaft erzählen, sehen Sie sogar sehr hübsch aus. Aber wenn Sie dann wieder so finster gucken, so ganz merkwürdig, dann könnte man meinen, Sie sind schon achtzig Jahre alt.«
»Findest du mich wirklich nicht sehr häßlich und alt?«
»Durchaus nicht.«
»Und wenn du mir einen Kuß gibst, tust du es gern?«
»Sehr gern.«
»Nun, dann küsse mich einmal.«
Sie erhob sich leicht, stützte sich mit dem Knie gegen sein Bein und gab ihm einen schallenden Kuß. Dann wollte sie sich wieder setzen; aber er hielt sie fest.
Sie suchte sich loszumachen, es war ihr unangenehm, so dazustehen. Endlich setzte sie sich, ganz rot vor Anstrengung, und steckte den Zopf auf, der sich gelöst hatte.
Er dagegen saß ganz bleich da, den Kopf gegen den Baum zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen, und hielt wie unbewußt ihre Hand fest umschlossen.
Sie wollte sich erheben, um sich bequemer hinzusetzen; aber er hielt sie fest, so daß sie sich mit der Hand gegen seine Schulter stützen mußte.
»Lassen Sie mich nur, ich muß Ihnen doch zu schwer sein«, sagte sie. »Ich bin ja so dick! Sehen Sie nur, was für Arme! Fassen Sie einmal an!«
»Nein, du bist mir nicht zu schwer«, versetzte er leise, zog ihren Kopf wieder ganz nahe an sein Gesicht und blieb eine Weile in dieser Haltung.
»Ist dir wohl so?«
»Ja – aber heiß, die Backen und die Ohren brennen so. Sehen Sie nur: sie müssen ganz rot sein! Ich habe soviel Blut. Wenn Sie mit dem Finger gegen den Arm tippen, entsteht gleich ein weißer Fleck, der dann langsam verschwindet.«
Er schwieg und saß immer noch mit geschlossenen Augen da. Sie aber fuhr fort, über alles mögliche zu plaudern, wie es ihr gerade in den Kopf kam, sah bald da-, bald dorthin und zeichnete mit der Spitze ihres Schuhes Figuren in den Sand.
»Lassen Sie sich den Bart abnehmen!« sagte sie. »Sie werden dann besser aussehen. Wer hat nur diese dumme Mode des Barttragens erfunden? Das machen Sie den Bauern nach! Tragen in Petersburg alle Männer einen Bart?«
Er nickte mechanisch mit dem Kopf.
»Sie lassen sich ihn abnehmen, nicht wahr? Wenn Nil Andrejitsch Sie so sieht, wird er schelten. Er kann Bärte nicht leiden, er sagt, daß nur Revolutionäre einen Bart tragen.«
»Ich tue alles, was du verlangst«, sagte er zärtlich. »Warum liebst du nur diesen Wikentjew?«
»Schon wieder fangen Sie davon an! Aber so sind Sie immer: bringen selbst das Gespräch darauf, und wollen mir dann einreden, daß ich ihn liebe! Wie soll ich ihn denn lieben? Wie ist das möglich? Und er – würde er denn an so etwas nur zu denken wagen? Was würde die Tante sagen?« fügte sie hinzu, während sie zerstreut mit Raiskijs Bart spielte, ohne zu ahnen, daß das Spiel ihrer Finger seine Nerven erregen, sein Blut in Wallung bringen und sein klares Denken trüben mußte. Jede Bewegung ihrer Finger steigerte den Rausch, der seine Sinne umfing.
»Liebe mich, Marfinka, mein Kusinchen, meine Freundin!« flüsterte er wie im Fieber, während er seinen Arm um ihre Taille legte und sie fest an sich zog.
»Oh, Sie tun mir weh! Lassen Sie mich los, um Gottes willen, ich kann nicht atmen!« sagte sie und sank wider Willen an seine Brust.
Wiederum preßte er ihre Wange gegen die seinige und flüsterte abermals:
»Ist dir wohl so?«
»Ich sitze so unbequem.«
Er ließ sie los, und sie richtete sich empor und nahm dann von neuem neben ihm Platz.
»Warum liebst du nur die Blumen, die jungen Katzen, die Vögel?«
»Wen soll ich denn sonst lieben?«
»Mich, mich!«
»Ich liebe Sie ja!«
»Nicht so, anders!« sagte er und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Dort ist ein Stern, dort noch einer, dort ein dritter – so viel sind ihrer!« sagte Marfinka, zum Himmel aufblickend. »Ist es wahr, daß dort oben auf den Sternen gleichfalls Menschen wohnen? Vielleicht sehen sie anders aus als wir. Ach, ein Blitz! Nein, es ist nur ein Wetterleuchten jenseits der Wolga. Ich fürchte mich so vor dem Gewitter! Werotschka öffnet das Fenster, setzt sich hin und sieht zu, wenn ein Gewitter niedergeht, und ich krieche jedesmal ins Bett und ziehe die Decke über den Kopf. Und wenn es gar zu grell blitzt, dann lege ich mir ein großes Kissen auf den Kopf und halte mir die Ohren zu, daß ich nichts sehen noch hören kann. Da! Eine Sternschnuppe! Es dauert noch ein Weilchen bis zum Abendbrot!« fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu. »Wären Sie nicht hier, dann würden wir zeitig Abendbrot essen und um elf Uhr schlafen gehen. Wenn keine Gäste da sind, gehen wir früh zu Bett.«
Er hatte die Wange an ihre Schulter gelegt und schwieg.
»Sie schlafen?« fragte sie.
Er schüttelte verneinend den Kopf.
»Doch, Sie waren eben eingenickt, Ihre Augen waren geschlossen. Auch ich schlafe immer gleich ein, wenn ich mich hinlege, manchmal komme ich nicht einmal dazu, mir die Strümpfe auszuziehen. Werotschka schläft immer erst sehr spät ein, die Tante tadelt sie deshalb, nennt sie eine Nachtwandlerin. Geht man in Petersburg früh schlafen?«
Er schwieg.
»Vetter!«
»Warum sind Sie denn so schweigsam?«
Er fuhr leicht auf, sank jedoch wieder in seine starre Haltung zurück. Er hielt das Glück in seinen Armen und sann darüber nach, ob es für ihn wohl ein dauerndes werden könnte. Er klammerte sich daran und wollte es nicht loslassen.
Sie gähnte so, daß ihr die Tränen in die Augen traten.
»Wie warm es ist!« sagte sie. »Ich bitte die Tante zuweilen, mich doch im Pavillon schlafen zu lassen; aber sie erlaubt es nicht. Auch in der Stube muß ich immer die Fenster schließen.«
Er sprach nicht ein Wort.
›Er schweigt immer – wie kann man sich da an ihn gewöhnen?‹ dachte sie und lehnte arglos ihren Kopf an den seinigen, während ihr Blick zerstreut über den Himmel hinschweifte, zu den zwischen den Ästen und Zweigen hindurchschimmernden Sternen. Dann schaute sie stumm nach den dunklen Waldmassen hin, lauschte auf das Rauschen des Laubes und merkte plötzlich, als sie so still und sinnend dasaß, wie es unter ihrer Hand an Raiskijs linker Seite heftig schlug und pochte.
›Wie sonderbar!‹ dachte sie. ›Wovon pocht es bei ihm nur so stark? Und bei mir?‹ Sie legte ihre linke Hand an die Seite. ›Nein, bei mir pocht es nicht!‹
Dann wollte sie aufstehen, doch fühlte sie, daß er sie fest umfangen hielt. Ein Unbehagen beschlich sie.
»Lassen Sie mich los, Vetter!« flüsterte sie verschämt. »Ich muß jetzt ins Haus!«
Er wollte sie nicht loslassen – es war ihm, als müßte er sie dann für immer verlieren.
»Sie tun mir weh, lassen Sie mich«, sagte Marfinka mit wachsender Unruhe, während sie sich vergeblich von ihm loszumachen suchte. »Ach, wie unbequem!«
Endlich gelang es ihr, sich aus seinen Armen zu befreien. Er atmete tief auf.
»Was ist Ihnen?« erklang ihre ruhige, kindliche Stimme über ihm.
Er sah sie an, schaute dann um sich und seufzte, als sei er soeben aus dem Schlaf erwacht.
»Was ist Ihnen denn?« wiederholte sie. »Wie sonderbar Sie sind!«
Er wurde plötzlich nüchtern, sah mit großen Augen auf Marfinka, als ob er sich wunderte, sie vor sich zu sehen, ließ dann seinen Blick umherschweifen und erhob sich rasch von der Bank. Ein verzweifeltes »Ach!« entrang sich seinem Munde.
Sie legte ihm die eine Hand auf die Schulter, strich mit der anderen sein in Unordnung geratenes Haar glatt und wollte sich wieder neben ihn setzen.
»Nein, Marfinka, laß uns von hier fortgehen!« sagte er erregt, während er sie fortzuziehen suchte.
»Wie sonderbar Sie sind: ich erkenne Sie nicht wieder! Ist Ihnen nicht wohl?«
Sie legte ihre Hand auf seine Stirn.
»Komm nicht zu nahe heran, liebkose mich nicht, mein liebes Kusinchen!« sagte er, während er ihre Hand küßte.
»Warum soll ich Sie nicht liebkosen, wenn Sie doch selbst so lieb zu mir sind! Sie sind so gut, haben uns so gern. Das Haus und den Garten haben Sie mir geschenkt. Soll ich denn wie eine kalte Statue dastehen?«
»Ja, bleib ruhig eine Statue! Erwidere meine Liebkosungen niemals so wie heute ...«
»Warum nicht?«
»So; ich habe bisweilen solche Anfälle, dann mußt du mich allein lassen.«
»Wollen Sie nicht etwas dagegen einnehmen? Tantchen hat Hoffmannstropfen im Schrank. Ich will sie holen! Soll ich?«
»Nein, laß nur. Aber, um Himmels willen, wenn ich einmal gar zu zärtlich gegen dich werden sollte, oder sonst jemand, dieser Wikentjew zum Beispiel ...«
»Der sollte es nur versuchen!« rief Marfinka ganz empört. »Wenn wir ›Fang schon!‹ spielen, wagt er nie, mich an der Hand zu fassen, sondern hält immer nur meinen Ärmel fest. Was Ihnen einfällt: Wikentjew! Dem würde ich's geben!«
»Weder er, noch ich, noch sonst jemand in der Welt. Merk dir's, Marfinka: wenn einer dir gefällt, dann liebe ihn, aber bewahre dein Geheimnis tief im Herzen, sei streng gegen ihn wie gegen dich selbst, bis ... die Tante und Vater Wassilij ihre Einwilligung geben! Denk an die guten Lehren, die er predigt.«
Sie schritt nachdenklich neben ihm her und hörte ihm schweigend zu. Sein »Anfall« gab ihr zu denken. Sie erinnerte sich, daß er kurz vorher ganz anders gesprochen hatte, und wußte nicht, was sie denken sollte.
»Aber, sehen Sie, Sie sagten doch selbst vorhin, daß ...«, begann sie.
»Ich hatte mich geirrt. Was ich vorhin sagte, gilt nicht für dich. Ja, Marfinka, du hast recht, es ist sündhaft, etwas zu wollen, was nicht im eigenen Wesen begründet liegt, ein Leben zu ersehnen, wie es jene Damen in den Büchern führen. Gott bewahre dich davor, daß du anders zu sein suchst, als du jetzt bist! Liebe die Blumen und die Vögel, mach dich in der Wirtschaft nützlich, lies nur Bücher, in denen alles gut ausgeht, strebe auch in deinem eignen Leben nur nach dem glücklichen Ausgang.«
»Ist denn das nicht dumm und kindisch, die Vögel zu lieben? Reden Sie im Ernst – oder machen Sie sich über mich lustig?« fragte sie schüchtern.
»Nein, nein, du bist eine Perle, ein Engel an Reinheit, du bist so keusch, so klar, so durchsichtig ...«
»Durchsichtig?« fragte sie lachend, »kann man wirklich ganz durch mich hindurchsehen?«
»Du ... du ...«
Er wußte in seiner Begeisterung nicht, wie er sie nennen sollte.
»Du bist – ein einziger Sonnenstrahl!« sagte er. »Verflucht soll der sein, der ein unreines Korn in deine Seele wirft! Leb wohl! Nähere dich mir nie allzusehr, und wenn ich dir nachkomme – dann flieh!«
Sie waren bis an die Schlucht gekommen.
»Wohin wollen Sie denn? Kommen Sie doch, wir essen gleich Abendbrot! Und dann gehen wir früh schlafen.«
»Ich mag nicht! Weder essen noch schlafen will ich.«
»Sie wollen wieder nicht zum Abendbrot kommen? Die Tante wird sich darüber ...«
Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als Raiskij bereits den Abhang der Schlucht hinuntergeeilt und in den Büschen verschwunden war.
›Mein Gott!‹ dachte er und erbebte in seinem Innern, ›noch vor einer halben Stunde war ich so ehrenhaft, so rein und stolz, und die eine halbe Stunde hätte genügt, um dieses edle, heilige Wesen, dieses Kind in ein klägliches Geschöpf, den »reinen, stolzen« Mann aber in einen ausgemachten Schuft zu verwandeln! Der stolze Geist wäre dem allmächtigen Fleisch erlegen, das Blut, die Nerven hätten hohnlachend triumphiert über alle Philosophie, alle Moral und Bildung! Aber der Geist ist fest geblieben, Blut und Nerven sind unterlegen: die Ehre ist gerettet.‹
›Gerettet – doch wodurch?‹ fragte er sich, während er an einem Graben haltmachte. ›Vor allem ... durch die Kraft meines Willens, durch die bewußte Erkenntnis, wie schändlich es gewesen wäre‹, sagte er sich, während er sich hoch aufrichtete. Doch schon im nächsten Augenblick durchzuckte es ihn: ›Nein, nein, das kam alles erst nachher – und was war vorher? Hat ihr Schutzengel unsichtbar neben ihr gestanden? Hat das »Schicksal« der Tante sie behütet? Oder was war es sonst?‹ Was es auch gewesen sein mochte: jedenfalls verdankte er es diesem rätselhaften »Oder«, daß er ein ehrenhafter Mensch geblieben war. Ob dieses »Oder« in ihrer schamhaften, keuschen Unwissenheit, oder in ihrem Gehorsam gegen den ehrwürdigen Vater Wassilij, oder endlich in ihrem sympathischen Temperament lag, jedenfalls hatte es in ihr und nicht in ihm gelegen.
›Oh, wie abscheulich, wie abscheulich!‹ rief es in ihm, als er eben einen Graben übersprungen hatte und sich zwischen den Sträuchern hindurch zum sandigen Ufer den Weg bahnte.
Marfinka sah ihm lange nach und ging dann still und nachdenklich nach Hause. Mechanisch pflückte sie von Zeit zu Zeit ein Blatt von den Sträuchern und kühlte sich damit Wangen und Ohren.
»Wie erhitzt ich bin! Ich muß, glaub ich, ganz rot sein!« flüsterte sie vor sich hin. »Was er nur damit meinte: ich solle nicht zu nahe an ihn herangehen? Er ist mir doch kein Fremder! Und er ist selbst so lieb zu mir. Oh, wie meine Backen brennen!«
Sie berührte mit der Hand bald die eine, bald die andere Wange.
Die Tante brummte ärgerlich, weil Raiskij wieder einmal vom Abendbrot wegblieb. Schweigend aßen sie zu dritt, mit Tit Nikonytsch, und trennten sich dann.
Marfinka, die gewohnt war, alles der Tante zu erzählen, schwankte doch, ob sie es ihr sagen sollte, daß der Vetter sich ein für allemal ihre Liebkosungen verbeten habe, und ging schließlich schlafen, ohne ihr etwas gesagt zu haben. Mehr als einmal hatte sie schon davon anfangen wollen, doch war sie immer wieder stumm geblieben, da sie nicht wußte, wie sie ihre Rede einleiten sollte. Sie sagte auch nichts von dem »Anfall« des Vetters. Sie legte sich sehr früh zu Bett, konnte jedoch lange nicht einschlafen, ihre Wangen und Ohren brannten gar zu heiß.
Wohl eine Stunde mochte sie so dagelegen haben – da stand sie auf, ging nach der Vorratskammer, wusch ihr Gesicht mit Gurkenwasser, das sie sonst als Mittel gegen den Sonnenbrand anzuwenden pflegte, bekreuzigte sich dann und schlief ein.