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XVIII

Ins Zimmer trat oder sprang vielmehr ein etwa dreiundzwanzigjähriger junger Mann von mittlerem Wuchs, frisch und blühend, wohlproportioniert, mit dunkelblondem, ins Kastanienbraune spielendem Haar, mit roten Wangen, graublauen, scharfblickenden Augen und einem Lächeln, das zwei Reihen blinkend weißer, fester Zähne zeigte. In der Hand trug er einen Strauß von Kornblumen und noch irgend etwas, das sorgsam in ein Taschentuch gehüllt war. Alles dies legte er samt seinem Hut auf einen Stuhl.

»Guten Tag, Tatjana Markowna, guten Tag, Marfa Wassiljewna!« rief er, küßte zuerst der Alten die Hand und wollte sie dann auch Marfinka küssen, die ihm jedoch auswich, so daß er sich mit einem Kuß in die Luft begnügen mußte.

»Sie sträuben sich wieder – wie Sie nur sind!« sagte er. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«

»Wo haben Sie eigentlich gesteckt? Sie haben sich gar nicht mehr sehen lassen!« fragte die Bereshkowa mit dem Ausdruck der Verwunderung, ja fast unwillig. »Drei Wochen fast sind Sie fortgeblieben – was fällt Ihnen ein?«

»Ich hatte wirklich nicht ein bißchen Zeit, der Gouverneur ließ mich nicht fort. Der ganze Aktenbestand der Kanzlei war durchzusehen und in Ordnung zu bringen«, sprach Wikentjew so hastig, daß er da und dort eine Silbe verschluckte.

»Unsinn, Unsinn! Glauben Sie ihm nicht, Tantchen! Er hat überhaupt nichts zu tun, das hat er mir selbst gesagt!« mischte sich Marfinka ins Gespräch.

»Bei Gott – ach, wie Sie nur sind! Förmlich erstickt bin ich in der Arbeit! Wir bekommen nämlich einen neuen Kanzleidirektor – da mußten wir das Inventar aufnehmen und alle Akten durchsehen. Gegen fünfhundert Aktenstücke mußte ich Blatt für Blatt vergleichen – bei Gott!«

»Sagen Sie nicht immer ›bei Gott‹! Was für eine üble Gewohnheit ist das, bei jeder Kleinigkeit immer gleich Gott anzurufen. Das ist Sünde!« fiel ihm die Bereshkowa streng ins Wort.

»Durchaus keine Kleinigkeit! Marfa Wassiljewna will mir zwar nicht glauben – aber ich versichere Sie, bei Gott.«

»Schon wieder!«

»Ist's wahr, Tatjana Markowna – ist's wahr, Marfa Wassiljewna, daß Sie einen Gast haben? Boris Pawlowitsch soll angekommen sein? Ich bin eben im Korridor einem Herrn begegnet – vielleicht war er das? Ich bin eigens darum hergekommen.«

»Sehen Sie, Tantchen?« unterbrach ihn Marfinka. »Er ist nur des Vetters wegen gekommen, sonst hätte er sich noch lange nicht sehen lassen! Wie?«

»Ach, Marfa Wassiljewna, wie Sie nur sind! Kaum hatte ich den ersten freien Augenblick, bin ich gleich hierhergeeilt! Ich habe gebeten und gebettelt, aber der Gouverneur ließ mich nicht fort. ›Nicht eher lasse ich Sie fort‹, sagte er, ›als bis alle Arbeit erledigt ist!‹ Nicht einmal zu meiner Mutter nach Koltschino durfte ich – erst gestern war ich zum Mittagessen dort, bei Gott.«

»Wie geht es Ihrer lieben Mama? Ist sie gesund? Ist der Ausschlag verschwunden?«

»Er verschwindet so nach und nach, danke für gütige Nachfrage. Mamachen läßt schön grüßen und bittet Sie, ihren Namenstag nicht zu vergessen.«

»Ich danke für die freundliche Einladung. Ob ich ihr freilich Folge leisten kann, weiß ich nicht; ich bin schon alt und habe auch Angst, über die Wolga zu fahren. Und meine jungen Damen ...«

»Wir fahren nicht ohne Sie, Tantchen«, sagte Marfinka. »Ich habe auch Angst, über die Wolga zu fahren.«

»Schämen Sie sich nicht, so feig zu sein?« versetzte Wikentjew. »Wovor haben Sie denn Angst? Ich hole Sie selbst mit unserem großen Boot ab. Meine Ruderer singen wundervolle Lieder.«

»Nein, mit Ihnen fahre ich um keinen Preis! Sie werden nicht einen Augenblick im Boot ruhig sitzen ... Was rührt sich denn dort in Ihrem Tuch?« fragte sie plötzlich. »Sehen Sie doch, Tantchen ... am Ende gar eine Schlange?«

»Ich habe Ihnen einen lebenden Karpfen mitgebracht, Tatjana Markowna. Eben habe ich ihn selbst geangelt. Wie ich auf dem Wege hierher bin, sehe ich mit einemmal auf dem Flüßchen im Kahn, mitten im Schilf, Iwan Matwejitsch sitzen. Ich bat ihn, mich mit in den Kahn zu lassen, und er fuhr ans Ufer und nahm mich auf. Kaum eine Viertelstunde hielt ich die Angel – da hatte ich diesen Burschen dran! Und für Sie, Marfa Wassiljewna, habe ich unterwegs im Korn diesen Blumenstrauß gepflückt.«

»Wozu das? Sie haben mir doch versprochen, nie wieder Blumen zu pflücken, wenn ich nicht dabei bin! Nun sind Sie drei Wochen lang nicht hier gewesen, und die Kornblumen sind auch welk – da, schauen Sie!«

»Kommen Sie, wir wollen gleich andere pflücken!«

»Warten Sie doch!« rief die Großtante dazwischen. »Haben Sie es denn so eilig? Kaum haben Sie die Nase ins Zimmer gesteckt – und schon kribbelt es Sie wieder in den Füßen! Was wollen Sie denn zum Frühstück: Kaffee, Beefsteak? Und du, Marfinka, geh doch einmal und frage, ob dieser ... Markuschka ... nicht etwas genießen will. Zeig dich ihm aber nicht selbst, sondern schicke Jegorka hin, der soll anfragen.«

»Nein, nein, ich danke«, rief Wikentjew rasch dazwischen, »ich habe eine ganze Pastete aufgegessen, bevor ich hierher aufbrach.«

»Sehen Sie, Tantchen, so ist er. Eine ganze Pastete verspeist er, bevor er sich zu uns auf den Weg macht!«

Sie ging hinaus, um den Auftrag der Tante auszurichten, und kehrte sogleich wieder zurück. Markuschka habe keine Wünsche und wolle sogleich wieder gehen.

»Als ob's bei uns nichts zu essen gäbe!« sagte Tatjana Markowna zu Wikentjew in vorwurfsvollem Ton. »Ißt sich zu Hause satt und kommt dann hierher!«

Wikentjew flüchtete sich zu Marfinka. »Nehmen Sie sich meiner an!« bat er.

»Nein, nein! Kommen Sie mir nicht zu nahe!« rief Marfinka abweisend.

Er wußte nicht, ob er sich setzen oder stehenbleiben sollte, flitzte bald zur Großtante, bald zu Marfinka, und sprach beschwichtigend auf beide ein. Jetzt machte er eine höchst ernsthafte Miene, um dann plötzlich in helles Lachen auszubrechen und die großen weißen Zähne zu zeigen.

»Ich dachte mir doch nichts dabei, als ich die Pastete aufaß!« sagte er. »Sie kam mir gerade so in den Wurf. Kusjma öffnete das Büfett, ich ging vorüber und sah sie, nur eine einzige war's.«

»Und weil sie so einsam und verwaist war, haben Sie sie aufgegessen?« beendete die Großtante den Satz. Alle drei mußten lachen.

»Haben Sie vielleicht etwas Eingemachtes, Marfa Wassiljewna? Darauf habe ich Appetit.«

»Gewiß haben wir welches – geh, Marfinka, laß etwas bringen! Und wie steht's mit dem Beefsteak? Es sind auch noch junge Hühner da, von gestern.«

»Ach, ja, ein junges Hühnchen.«

»Verwöhnen Sie ihn doch nicht so, Tantchen! Er hat es wirklich nicht verdient!« sagte Marfinka, doch war sie bereits aufgestanden, um nach der Küche zu gehen.

»Nein, nein, Marfa Wassiljewna, bleiben Sie nur da – ich will lieber bei Ihnen zu Mittag essen. Darf ich zu Mittag bleiben, Tatjana Markowna?«

»Nein, das dürfen Sie nicht!« sagte Marfinka.

»Hör einmal, laß die Scherze!« sprach die Großtante zurechtweisend. »Er ist imstande, uns davonzulaufen!« Und zu Wikentjew gewandt, sagte sie: »Man sieht gleich, daß Sie schon lange nicht bei uns waren, wenn Sie erst fragen, ob Sie bei uns zu Mittag essen können!«

»Ich darf also bleiben? Herzlichen Dank! Marfa Wassiljewna, wohin gehen Sie denn? Warten Sie, warten Sie, ich gehe mit Ihnen.«

»Nein, nein, ich will nicht, daß Sie mitkommen! Ich lasse Ihnen zu Mittag Ihren Karpfen braten, weiter bekommen Sie nichts!«

Sie faßte den Fisch mit zwei Fingern am Kopf, und als er nun mit dem Schwanz nach links und rechts auszuschlagen begann, rief sie ängstlich: »Oh, oh!«, ließ ihn auf den Fußboden fallen und lief auf den Korridor hinaus.

Wikentjew lief hinter ihr her, und eine Minute darauf vernahm Tatjana Markowna bereits die Klänge eines flotten Walzers und tanzende Schritte über ihrem Kopf. Dann hörte man jemanden die Treppe hinuntersausen, und gleich darauf flitzten, zuerst auf dem Hofe und dann im Garten, Marfinka und der hinter ihr her eilende Wikentjew vorüber; hell und lustig klang ihr Singen, Lachen und Plaudern durchs Fenster.

Die Großtante blickte hinaus und schüttelte mißbilligend den Kopf. Die Hühner und Enten im Hof waren kreischend nach allen Seiten auseinandergestoben, die Hunde stürzten bellend hinter den Davoneilenden her, aus den Gesindestuben lugten die Köpfe der Lakaien, Dienstmädchen und Kutscher; die Sträucher und Blumen im Garten rauschten, als wären sie lebendig, da und dort auf den Beeten und Bosketts sah man die Spur eines eingedrückten Absatzes oder eines kleinen Frauenfußes, zwei oder drei Blumentöpfe waren umgestürzt, die Wipfel der jungen Bäumchen, über die eine lose Hand leicht hingestrichen war, schwankten hin und her, und die Singvögel waren alle bis auf den letzten vor lauter Schreck in den nahen Hain geflüchtet. Eine Viertelstunde später saßen beide wieder, als ob nichts geschehen wäre, neben der Großtante und sahen einander ganz vergnügt lächelnd an. Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht, und sie fächelte sich mit dem Taschentuch Stirn und Wangen.

»Ihr seid mir die Rechten! Wie könnt ihr nur so herumtollen?« sprach die Großtante in vorwurfsvollem Ton.

»Er ist an allem schuld«, beklagte sich Marfinka. »Er hat mich gejagt! Sagen Sie ihm doch, er soll still sitzen!«

»Nein, Tatjana Markowna, ich bin durchaus nicht schuld! Wir wollten doch in den Garten gehen, und weil ich hinter Marfa Wassiljewna zurückgeblieben war, mußte ich eben laufen.«

»Er ist ein Mann, er kann tun, was er will – aber für dich ist das unpassend, du bist doch kein Kind mehr!« sagte die Großtante zurechtweisend.

»Da sehen Sie, was ich um Ihretwillen erdulden muß!« sprach Marfinka zu Wikentjew.

»Machen Sie sich nichts daraus, Marfa Wassiljewna – Tanten brummen immer gern ein bißchen, das ist ihre heilige Pflicht.«

Tatjana Markowna mußte unwillkürlich lachen.

»Was war das, junger Herr?« sagte sie halb im Ernst, halb scherzend. »Kommen Sie doch einmal näher. Ich will Sie für diese Bemerkung bei den Ohren nehmen, in Vertretung Ihrer Mama.«

»Bitte, bitte, Tatjana Markowna – schütteln Sie mich ganz gehörig! Sie drohen immer nur und machen nie Ernst.«

Er sprang auf die Alte zu und hielt ihr den Kopf hin.

»Fassen Sie ordentlich zu, Tantchen, daß er acht Tage lang rote Ohren behält!« rief Marfinka.

»Tun Sie es doch!« sprach er zu Marfinka und wandte den Kopf nach ihr hin.

»Sobald Sie ungezogen gegen mich sind, will ich's tun.«

»Warten Sie, ich erzähle es Nil Andrejewitsch, was Sie vorhin sagten!« sprach Tatjana Markowna drohend. »Und dabei sind Sie noch sein Liebling!«

Wikentjew setzte eine feierliche Miene auf, trat mitten ins Zimmer, zog das Kinn fest an, legte die Stirn in krause Falten, hob den Zeigefinger hoch und sprach mit heiserer, zitternder Stimme: »Junger Mann, deine Worte untergraben die Autorität des Alters!«

Die Ähnlichkeit mit Nil Andrejewitsch mußte recht frappant gewesen sein, denn Marfinka schüttelte sich vor Lachen, und die Großtante versuchte wohl, mißbilligend die Brauen zu runzeln, lachte dann aber gleichfalls gutmütig und klopfte dem Gast auf die Schulter.

»Nach wem bist du eigentlich geraten, mein Lieber, mit deiner Lebhaftigkeit und Unruhe?« meinte sie freundlich. »Dein Vater, Gott habe ihn selig, war ein so ernster Mann – kein überflüssiges Wort brachte der über die Lippen, und auch deine Mutter verlernte bei ihm das Lachen.«

»Ach, Marfa Wassiljewna«, begann Wikentjew plötzlich, »ich habe Ihnen ja einen neuen Roman mitgebracht, und neue Noten ... ich hab's ganz vergessen.«

»Wo sind sie denn?«

»Ich habe sie im Kahn liegenlassen – alles wegen dieses Karpfens! Er zappelte mir so in den Händen – ich dachte gar nicht mehr an das Buch und die Noten. Ich will rasch hinlaufen – vielleicht ist Iwan Matwejitsch mit seinem Kahn noch da.«

Er lief aus dem Zimmer, kehrte jedoch sogleich wieder um.

»Ich habe einen Damensattel für Sie besorgt, Marfa Wassiljewna«, rief er, »Sie müssen reiten lernen, der gräfliche Bereiter will es Ihnen in vier Wochen beibringen. Ich bringe den Sattel nächstens mit, wenn Sie wollen.«

»Ach, wie gut, wie nett Sie sind!« rief Marfinka, ganz außer sich vor Freude. »Wie freue ich mich ... ach, Tantchen!«

»Meinst du, man wird dir solchen Unfug erlauben?« versetzte die Großtante streng. »Und Sie – was fällt Ihnen ein? Ein junges Mädchen soll reiten lernen!«

»Wie denn? Es reiten doch so viele Damen! Marja Wassiljewna zum Beispiel, und Anna Nikolajewna.«

»Gut – dann bringen Sie denen Ihren Sattel! Hier will ich solchen Kram nicht haben. Ich leid's nicht, solange ich noch am Leben bin. Sie fängt mir womöglich noch an zu rauchen!«

Marfinka verzog schmollend den Mund, während Wikentjew einen Augenblick ganz verdutzt dastand und sich verlegen den Nacken kraute. Dann fuhr er sich plötzlich durchs Haar, daß es wirr emporstand, machte sich am untersten Knopf seiner Weste zu schaffen, nahm seinen Hut, warf ihn flink in die Höhe, fing ihn auf und lief rasch aus dem Zimmer.

»Ich bin gleich wieder da – hole nur das Buch und die Noten«, rief er im Weggehen und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Auch Marfinka wollte gehen, aber Tatjana Markowna hielt sie zurück.

»Komm einmal her, mein Herzchen, ich will dir etwas sagen«, begann sie freundlich und zögerte dann ein wenig, als könne sie sich nicht zum Weiterreden entschließen.

Marfinka trat auf sie zu. Die Großtante strich ihr das Haar zurück, das bei dem Umhertollen im Garten ein wenig in Unordnung geraten war, und sah sie mütterlich-zärtlich an.

»Was ist denn, Tantchen?« fragte Marfinka plötzlich, mit einem erstaunten Blick auf die Alte und voll Erwartung, was die ungewöhnliche Einleitung wohl zu bedeuten habe.

»Du bist mein braves Töchterchen, beachtest jedes Wort, das die Tante spricht ... bist nicht so wie Werotschka.«

»Werotschka achtet Sie doch gleichfalls, Tantchen! Sie urteilen zu streng über sie.«

»Nun ja, du verteidigst sie natürlich! Sie achtet mich, das mag sein, aber sie hat ihre Gedanken für sich und schenkt mir kein Vertrauen. Tantchen ist alt und dumm, denkt sie, und wir sind jung – wir verstehen alles besser, haben viel gelernt, wissen alles, sind in den Büchern zu Hause. Daß sie sich nur nicht irrt! Nicht alles steht in den Büchern geschrieben.«

Sie stieß einen Seufzer aus und verfiel in Nachdenken.

»Was wollten Sie mir denn sagen, Tantchen?« fragte Marfinka neugierig.

»Hör einmal, mein Kind. Du bist jetzt ein erwachsenes Mädchen und mußt etwas mehr auf dich halten.«

»Wie denn? Auf mich halten.«

»Unterbrich mich nicht und höre, was ich sage! Du springst und tollst noch umher wie ein Kind, gibst dich mit den Dorfkindern ab.«

»Und weiter tu ich wohl nichts? Ich arbeite doch, ich nähe und sticke, bereite den Tee, mache mich in der Wirtschaft nützlich.«

»Schon wieder hast du mich unterbrochen! Ich weiß ja, daß du ein verständiges Mädchen bist – Gott mag dich so erhalten, wie du bist! Du folgst deiner Tante aufs Wort.«

»Nun also – warum schelten Sie mich dann?«

»So wart doch nur, laß mich ausreden! Ich schelte dich doch nicht! Ich sage nur, du sollst etwas ernster werden.«

»Ich darf also nicht einmal ein bißchen herumlaufen? Ist denn das Sünde? Der Vetter sagte schon ...«

»Was sagte er?«

»Daß ich gar zu ... gehorsam bin, daß ich nicht einen Schritt tue, ohne Tantchen zu fragen.«

»Hör nicht auf ihn. Er hat das wohl seinen Engländerinnen und Polinnen abgeguckt! Die treiben sich als junge Mädchen allein auf den Straßen herum, führen Briefwechsel mit Männern und tummeln sich auf Pferden. Will er dir das vielleicht beibringen? Wart, ich werde ihn schon zur Rede stellen.«

»Nein, Tantchen, sagen Sie ihm nichts – er wird sonst böse sein, daß ich's Ihnen gesagt habe.«

»Daran hast du nur recht getan, und ich erwarte, daß du mir auch in Zukunft alles sagen wirst! Der kann dir alles mögliche vorreden! Seh doch einer diesen Herrn Vetter an: wird dem kleinen Mädchen hier den Kopf verdrehen!«

»Bin ich denn ein kleines Mädchen?« versetzte Marfinka gekränkt. »Ich brauche vierzehn Ellen zum Kleid. Sie sagten doch eben selbst, ich sei schon erwachsen!«

»Gewiß, du bist erwachsen, aber dein Herz ist noch so kindlich, und Gott gebe, daß es noch recht lange so bleibe. Doch ein bißchen vernünftiger könntest du schon werden.«

»Wieso denn, Tantchen? Bin ich denn gar so albern? Der Vetter meint, ich sei so einfach und lieb, so ... nett und verständig, so ...«

Sie hielt einen Augenblick inne.

»Nun, was denn noch?« fragte die Großtante.

»So natürlich.«

Tatjana Markowna schwieg – sie suchte offenbar den Sinn dieses Wortes zu ergründen, das ihr nicht zu gefallen schien.

»Dein Vetter redet Unsinn«, sagte sie.

»Aber er ist doch so klug – so gelehrt, Tantchen!«

»Gewiß doch – der klügste Mensch in der Stadt! Und die Großtante ist in seinen Augen ein dummes Ding, das er erst noch erziehen muß. Nein, du mußt schon zusehen, wie du ohne seine Hilfe zur Vernunft kommst.«

»Mein Gott, bin ich denn wirklich so unvernünftig?«

»Nein, nein, du bist vielleicht vernünftiger als so manche andere, die sich auch für vernünftig hält« – die Großtante warf einen Blick in der Richtung des alten Hauses, in dem Wera sich aufhielt –, »aber deine Vernunft steckt noch sozusagen in der Schale, von der sie befreit werden muß.«

»Warum denn, Tantchen?«

»Nun, wenn's auch nur darum wäre, liebes Nichtchen, daß du die Worte des Vetters richtig verstehst und ihm gebührend Antwort gibst. Er wünscht dir ja sicherlich nichts Böses, denn er war von klein auf ein braver Mensch und hatte euch beide lieb. Er hat euch ja jetzt auch das Gut hier geschenkt; aber er redet soviel Unsinn zusammen.«

»Es ist doch nicht lauter Unsinn, was er spricht; zuweilen redet er so vernünftig und schön.«

»Auch Polina Karpowna ist nicht dumm und spricht manchmal sehr schön. Ich möchte Borjuschka nicht mit dieser leichtsinnigen Person vergleichen, ich will nur sagen, daß Witz und Vernunft zwei sehr verschiedene Dinge sind. Ich möchte, daß du gescheit genug wirst, um zu unterscheiden, ob dein Vetter nur witzig und geistreich spricht, oder ob er etwas Vernünftiges sagt. Auf einen Witz mußt du ihm auch wieder mit einem Witz antworten – zu Herzen aber nimm dir nur das, was vernünftig ist. Witz und geistreiche Worte sind gefälschte Ware, äußerlich schön ausgeputzt und fürs Lachen berechnet; sie schlängeln sich wie die Natter ins Ohr, suchen sich in den Verstand einzuschleichen und ihn zu trüben, und ist erst der Verstand getrübt, dann muß auch das Herz Schaden leiden. Die Augen schauen wohl, aber sie sehen nicht, oder sie sehen nicht das Rechte.«

»Aber warum machen Sie mir denn alle diese Vorhaltungen, Tantchen?« fragte Marfinka voll Ungeduld, während sie fast den Tränen nahe war. »Sie sagen, es sei nicht recht, daß ich so frei herumlaufe, daß ich singe, mich mit den Dorfkindern abgebe – nun gut, ich will es lassen.«

»Gott behüte! Es ist doch gesund, sich so in der schönen reinen Luft zu tummeln! Du bist eben vergnügt wie ein Vögelchen, und Gott gebe, daß du weiter so bleibst – sing nur und spiele und hab die Kinder lieb.«

»Warum also diese Vorwürfe?«

»Es sollen ja keine Vorwürfe sein ... ich wollte dir nur sagen, daß alles seine Zeit hat und daß man in allem Maß halten muß. Vorhin zum Beispiel bist du mit Nikolai Andrejewitsch so herumgetollt.«

Marfinka wurde plötzlich rot, ging auf die Seite und setzte sich in eine Ecke. Die Großtante sah sie forschend an und begann dann wieder, diesmal gedämpfter und langsamer:

»Es ist ja nichts dabei. Nikolai Andrejitsch ist ein liebenswürdiger, wackerer junger Mann und dabei ein Wildfang, so lebhaft und munter wie du selbst, und ich wollte dir eben nur das eine sagen, daß du weder dir selbst noch ihm mehr erlauben sollst, als sich schickt. Wo ihr auch so zu zweien euch tummeln, was ihr auch unternehmen mögt, ich weiß, er wird nie etwas Unpassendes sagen, und du wirst nie darauf hören.«

»Sagen Sie ihm doch, er soll nicht mehr herkommen!« versetzte Marfinka erregt. »Ich werde nie mehr ein Wort mit ihm sprechen.«

»Das wäre das Schlimmste, was du tun könntest. Was soll er, was sollen die Leute davon denken? Du sollst eben nur etwas zurückhaltender sein, nicht so durch Hof und Garten stürmen, daß die Leute sagen: ›Nun seh einer die erwachsene Person, springt herum wie ein Junge, noch dazu mit einem Fremden.‹«

Marfinkas Wangen glühten.

»Du hast durchaus keine Ursache, zu erröten! Ich wiederhole: Du hast dir vielleicht nicht das geringste zuschulden kommen lassen, nur der Leute wegen mußt du etwas zurückhaltender sein. Nun, was schmollst du denn? Komm, gib mir einen Kuß!«

Sie küßte Marfinka, strich ihr wieder das Haar zurück und nahm sie, wohlwollend ihr hübsches Gesicht betrachtend, scherzend am Ohr.

»Nikolai Andrejitsch kann jeden Augenblick kommen«, sagte Marfinka, »ich weiß wirklich nicht, wie ich mich jetzt gegen ihn verhalten soll. Wenn er mit mir in den Garten gehen will oder aufs Feld – nun ja, dann gehe ich eben nicht, und auch das Herumjagen kann ich lassen. Aber wenn er wieder seine Späße macht – nein, Tantchen, dann kann ich nicht an mich halten, dann muß ich lachen, ob's Ihnen recht ist oder nicht! Und was soll ich ihm denn sagen, wenn er singen will und mich bittet, ihn auf dem Klavier zu begleiten?«

Die Großtante wollte ihr eben antworten, als plötzlich die Tür aufging und Wikentjew ins Zimmer stürzte, in Schweiß gebadet und mit Staub bedeckt, das Buch und die Noten in den Händen. Er legte beides vor Marfinka auf den Tisch.

»Nun darf ich wohl so frei sein«, sprach er hastig, während er mit dem Taschentuch seine Stirn trocknete und den Staub von seinem Rock entfernte, »Ihr Händchen zu küssen? Wie bin ich gerannt, oh! Und die Hunde immer hinter mir her, um ein Haar hätten sie mich aufgefressen.«

Er wollte Marfinkas Hand ergreifen, doch sie verbarg sie vor ihm, stand dann vom Stuhl auf, machte eine Reverenz und sprach in feierlich-ernstem Ton:

»Je vous remercie, Monsieur Wikentjew! Vous êtes bien aimable.«

Er sah mit großen Augen zuerst Marfinka an, dann die Großtante und dann wieder Marfinka, fuhr sich durchs Haar, warf einen Blick durchs Fenster und ließ sich plötzlich auf einen Stuhl sinken, um im nächsten Augenblick wieder aufzustehen.

»Marfa Wassiljewna«, begann er, »kommen Sie doch mit in den Salon, auf die Terrasse – gleich muß hier nämlich ein Hochzeitszug vorbeikommen, den wollen wir uns ansehen.«

»Nein«, sagte sie würdevoll, »merci, ich gehe nicht. Es ist für ein junges Mädchen unschicklich, auf dem Balkon herumzustehen und auf die Straße zu starren.«

»Nun, so wollen wir zusammen den neuen Roman durchgehen.«

»Auch dafür muß ich danken. Ich werde ihn für mich allein oder mit der Großtante zusammen durchgehen.«

»Dann wollen wir in den Park gehen – wir setzen uns ins Grüne, und ich lese Ihnen vor.«

Er nahm das Buch vom Tisch.

»Ganz unmöglich!« versetzte Marfinka mit höchst gestrenger Miene und warf dabei einen Blick auf die Großtante. »Bin ich denn ein Kind, daß man mir die Bücher vorlesen muß?«

»Was hat das alles zu bedeuten, Tatjana Markowna?« fragte Wikentjew verwirrt. »Warum quält mich Marfa Wassiljewna?«

Er sah beide fragend an, trat dann plötzlich in die Mitte des Zimmers, gab seinem Gesicht einen süßlichen Ausdruck, neigte den Oberkörper ein wenig vor, bog die Ellbogen leicht nach vorn und nahm den Hut unter die Achsel.

»Mille pardons, mademoiselle, de vous avoir dérangée!« sagte er und begann seine Handschuhe anzuziehen, die jedoch für seine großen, von der Hitze feuchten Hände zu klein schienen.

»Sacrebleu! Ça n'entre pas – oh, mille pardons, mademoiselle!«

»Hören Sie auf, Sie Spaßvogel!« rief die Großtante lachend. »Geh, Marfinka, hol ihm sein Eingemachtes!«

»Oh! Madame, je suis bien reconnaissant. Mademoiselle, je vous prie, restez de grâce«, sagte er, die Arme respektvoll vorstreckend, um Marfinka, die bereits nach der Tür ging, den Weg zu verstellen.

»Vraiment, je ne puis pas; j'ai des visites a faire ... Ah, diable, ça n'entre pas.«

Marfinka biß sich auf die Lippen und tat auch sonst alles mögliche, um nicht zu lachen, aber schließlich platzte sie dennoch heraus.

»Sehen Sie nur, Tantchen, was für Gesichter er schneidet!« sagte sie, sich gleichsam entschuldigend. »Jetzt stellt er Monsieur Charles vor. Und da soll man nicht lachen!«

»War's ähnlich – wie?« fragte Wikentjew.

»Laßt gut sein, meine lieben Kinder!« sagte Tatjana Markowna, während ein Lächeln ihr Gesicht verklärte und die Runzeln darauf wie leuchtende Strahlen erscheinen ließ.

»Geht mit Gott und tut, was ihr wollt!«


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