Iwan Goll
Das Lächeln Voltaires
Iwan Goll

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Vorrede

Voltaires Totenmaske ist ein Nest vielfältigen Lächelns, ein Gewebe aus Jocondas geheimnisvoller Untiefe, aus Machiavells intriganter Höflichkeit und aus verschmitzter Conciergen zahnloser Grimasse. Voltaire ist wohl ein Weib gewesen? Denn ein Mann hätte nie so unbeschränkt hassen und so unerwartet sinnlos lieben können.

Voltaire war immer ganz Gefühl. Er war der Spiegel, in dem das Jahrhundert Gesichter schnitt. Und er war das Weib, das immer bewußt ist, daß man es ansieht. Er lebte seinem Instinkt. Kein Starker, der wollte, sondern der Wahre, der mußte. Freiheit war sein Lebenselement. Und Freiheit ist immer eine Temperamentssache. Der starke, der logische Mensch muß unfrei sein, da er sich irgendwo festlegt und da bleibt, wo er wurzelt. Der Tyrann ist der erste Sklave seiner Macht: sein Blick muß steinern die Gesetze bannen. Der freie Mensch dagegen ist immer der Ungehaltene, der Ungehorsame, der Rebell. 6

Und das Schönste an Voltaire ist, daß er keine Prinzipien hatte. Daß für die Menschen und Völker die Welt, in der sie leben, und vor allem sich immer so ernst nehmen, ist schuld an all ihrem Unglück. Was nutzten die zwanzig Theorien der zwanzig großen Philosophen der Welt? Haben sie den Menschen einen Deut besser gemacht? Und aus dieser Erkenntnis ward Voltaire kein Philosoph wie die andern, stellte keine Theorie auf und begnügte sich nur, die der andern unmöglich zu machen. Zwischen Teufeln und Göttern erkannte er den Menschen. Und zeigte ihn, wie er war, gut und schlecht. Nur keine Prinzipien. Nur kein Pathos. Zwischen der physikalisch-materialistischen Weltanschauung seiner Zeitgenossen und dem metaphysisch-dichterischen Gefühl, das ihn, den Dichter, bewegte, verstand er es, Mensch, Nichts-als-Mensch zu bleiben. Wahr gegen sich selbst. Und das klarste und sinnvollste philosophische Buch unter den Hunderten, die er schrieb, hieß: Le Philosophe ignorant. Siehe Sokrates. Was aber vielleicht das Einzige, wenn auch nicht Geringe ist, was ihn mit dem großen Griechen verbindet: der Titel. Ein Märtyrer für diese seine Idee ist er keineswegs gewesen, und wollte er nicht sein. Wozu? Ma perche? Ecce homo philosophus. Voltaire hat sich jederzeit den schönsten Platz an der Sonne ausgesucht, in der Liebe, an den Höfen Europas wie im Schoße Gottes. Er hat gelebt. Was er seinen andern Kollegen im Geiste voraus hat.

Spät, mit fast sechzig Jahren, zog er sich in die berühmte 7 Einsamkeit zurück. Da stand er vor der Wahl, ein Weiser oder ein Wissender zu werden. Hinter sich hatte er alles: immensen Ruhm als Dichter und Gelehrter, die panaschiertesten Liebesabenteuer, wobei nicht zu verachten, daß er der erste Freund der noch nicht also benamsten Pompadour gewesen war; die intimsten Beziehungen mit den königlichen Häusern von Berlin und St. Petersburg; und einen ungemessenen Reichtum, wodurch er sich Prinzen, Minister und Bischöfe zu Schuldnern gemacht hatte. An so einem Bilanztage also wäre der schöpferische Salomo ein Weiser geworden, hätte sich in die Einsiedelei eines edlen Nihilismus eingemauert, unfrei geworden in einer Formel: Alles ist eitel! Aber Voltaire blieb frei, das heißt, Er Selbst, und wurde statt zum Weisen, zum Wissenden, zum Mitwisser aller Geschehnisse. Statt sich abzuwenden, überschwemmte er Europa mit seinem Dasein und ward auch zu einem unentbehrlichen Teilhaber an dessen Geschichte.

Er kaufte sich ein entlegenes, verwildertes Landgut samt Dörfern, Bauern und Gotteskirchen. Aber an jenem Tag, da er in Ferney einzog, ward er zum »König Voltaire«, wie ihn Europa nun nannte. Ein König, der in einer Wildnis einen seltsamen Hof hielt und echte Könige bei sich bewirtete. Der Fürst des Geistes. Er regierte. Seine Stimme klang aus dieser Entrücktheit doppelt sonor durch die Welt, die gespannt aufhorchte, wenn er einen Brief an Friedrich II. schrieb, eine bissige Kritik an einem Opus des verhaßten Jean-Jacques übte oder eine feurige 8 Verteidigungsrede für die unschuldigen Opfer des Aberglaubens und grausamer Kirchenratten hinausposaunte. Das waren europäische weltumstürzlerische Ereignisse.

Von dort datiert auch sein eigentliches Werk. Er hörte auf dickleibige Bände zu schreiben, die für uns heute tote Materie bedeuten, all die starren Dramen, mit denen er Racine und Corneille den Rang ablaufen wollte, und jene tiefgründigen Geschichtswerke über Louis XIV. und Charles XII., in denen er auf die Jagd seiner eigenen Kuriositäten ging. Nein, in Ferney begann Voltaire, mit sechzig Jahren erst, das zu wirken, was für uns heute sein Genie darstellt.

Er wurde zum Tagesreporter des europäischen Geistes. Zur lebenden Gazette der Welt. Er hatte eingesehen, daß nicht die schweren unerschwinglichen Werke, die nur für eine Akademie nützlich sind, aufs Volk zu wirken vermögen, und verfaßte von nun an seine kleinen Broschüren, seine Pamphlete, und seine weltberühmten Briefe. Nicht mehr schreiben wollte er, sondern wirken. Ein politischer Schriftsteller, würden wir heute sagen. O ja, und noch mehr: ein Journalist, ein ganzes Journal er allein, mit Leitartikeln, Tagesnachrichten, Faits divers und Witzecke. Mit den feinziselierten Messern der Ironie ging er der grotesken Dummheit seiner Zeit zuleibe. Er war der Chirurg aller Giftbeulen und scheute weder Blut noch Eiter. Oft war seine eigene Perücke damit vollgespritzt, und er hatte dabei sein wildes Lächeln, das ihm allgemein den Namen des Boshaften eintrug. Aber 9 er war ganz Mensch, und ganz wahr, und vielleicht kann man da nicht anders als bös erscheinen, wenn man die namenlosen Verbrechen und Torheiten seiner Nächsten entdeckt.

Man muß unseren Voltaire in seinen Mélanges, Facéties und Dialogues, und vor allem in jenem Dictionnaire philosophique aufsuchen, in dem er sich nicht vermaß, ewig sein wollende Erläuterungen unewiger Geschehnisse zu geben, sondern seine und der Welt Gefühle als Amateur wie bunte Schmetterlinge sammelte, wo wir unter schon sehr staubigen Exemplaren äußerst wertvolle und auf die heutige Zeit überraschend modern wirkende, heute seltene allgemein menschliche Gedanken aufbewahrt finden.

Aber der modernste Voltaire steckt in seinen Romanen. Heute kehren wir mit Vorliebe zu jenen zurück, nachdem uns des 19. Jahrhunderts Kunst schmählich in der Nacktheit des Revolutionslichts verraten hat. Was sind uns noch das bombastische Pathos der Romantiker, die naturalistische Besserwisserei oder die psychologische Ausklügelei sogenannter Charaktere? Nach all diesen ist Voltaire unser Mann. Nach bald 200 Jahren müssen wir nichts anderes lesen als Candide und Zadig, wie wir auf der Bühne nur noch Tartuffes und Avares ertragen werden. Lebensklugheit, mit dem Lächeln der Ironie serviert.

Und ich komme zu meiner Totenmaske zurück. Ich blicke nicht mehr zwei Minuten hinein, sondern zwei Jahrhunderte tief, und siehe, es wandelt sich die Grimasse 10 in ein gütiges Verstehen, es wandelt sich die Skepsis in eine alles wiedergutmachende Prophetie. Heute wollen wir Voltaire lesen, wie wir statt zu Schiller ins Kino gehen. Candide ist Charlots Großahne. Beide repräsentieren jenen tölpelhaften, idealen Optimismus, den naiven Kampf mit dem tückischen Objekt und dem sehr viel dümmeren Subjekt. Beide zeigen in großer Allegorie die Lächerlichkeit des sinnlosen »Ernstes des Lebens«.

Seine Romane benutzt Voltaire, um uns seine ganze Gesinnung darzutun, seine Bitternis über die Roheit der Geschäfte und Kriege und seine rücksichtslose Gesinnung in punkto Mensch, Vaterland und Heldentum. Seine Romane sind nicht französisch, nicht europäisch, sondern globisch, sie führen uns in wundervoller Unwirklichkeit zu allen entdeckten und unentdeckten Ländern der Welt, und zeigen in trostreicher Ironie, daß überall der Bazillus Mensch derselbe ist, ganz wieCharlot!

Voltaire ist unser. Wir erobern ihn wieder ins heutige Reich der Revolutionen und neuen Beginns. Wir brauchen ihn bitternötig. Wir brauchen einen rücksichtslosen Kritiker und einen herzwarmen Menschen. Wo ist er? Wo steckt der Kritiker von heute? Wir rufen ins Chaos der fressenden Menschen, wo einer Angst hat vor dem andern, Angst nämlich, daß jener seine Schwäche erkenne. Mitten in diesem Karneval der neuen Jesuiten und Bürger spiele uns auf, Maske des Lächelns, was immer du auch bedeuten magst!

Iwan Goll

 


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