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Von ihm selbst erzählt
(1756)
Ich wurde im Jahre 1600 in der Stadt Candia geboren. Mein Vater war dort Gouverneur und ich weiß noch, daß ein mittelmäßiger Dichter, Ivo genannt, schlechte Verse zu meiner Geburt schrieb, worin er mich als direkten Abkömmling des Minos feierte. Als indes mein Vater in Ungnade fiel, stammte ich in einem neuen Gedicht nur noch von Pasiphae und ihrem Geliebten ab. Das war ein wirklich schlechter Mensch, dieser Ivo.
Mit fünfzehn Jahren schickte mich mein Vater nach Rom. Ich hoffte dort alle Wahrheiten zu erlernen. Bis dahin hatte man mich indes nur das Gegenteil gelehrt, wie es von China bis zu den Alpen Sitte ist. Ich war Monsignor Profondo empfohlen, einem eigenartigen Mann, der einer der fürchterlichsten Gelehrten auf dieser Welt war. Er wollte mich die Kategorien des Aristoteles lehren und kam dann dazu, mich beinah in die Kategorie seiner Geliebten 74 aufzunehmen. Ich entkam mit Ach und Krach. Ich erfuhr (aber sehr fälschlicherweise), daß die Signora Olympia, eine sehr kluge Person, viele Dinge verkaufte, die man nicht verkaufen soll. In meinem Alter erschien mir das sehr lustig. Aber eine junge, sehr ehrenwerte Dame namens Fatelo setzte sich in den Kopf, mich zu lieben. Sie war eifrig verfolgt von Pater Dolchini und Pater Aconiti, zwei jungen Herren eines heute verschollenen Ordens. Sie vereinigte sie, indem sie mir ihr Herz schenkte. Aber gleichzeitig wurde ich exkommuniziert und wäre auch beinah vergiftet worden. Ich floh aus den holden St. Peter-Baulichkeiten.
Ich kam nach Frankreich zur Zeit Ludwigs des Gerechten. Gleich am ersten Tag wurde ich gefragt, ob ich zum Mittagessen ein kleines Stück vom Marschall von Ancre wünschte, den das Volk eben geröstet hatte, und den man zu billigen Preisen austeilte.
Dieser Staat war immerzu von Bürgerkriegen heimgesucht, oft nur wegen zwei unverstandener Buchseiten. Seit mehr als sechzig Jahren schwälte dies Feuer. Das war eine Folge von den Freiheiten, die die anglikanische Kirche gewährte. »Ach,« rief ich, »dies Volk ist doch so milde geboren! Wer hat ihm seinen Charakter so verdorben? Es macht Späße und erlebt St. Bartholomäusnächte. Wann wird es nur noch Späße machen?« 75
Ich ging nach England: die gleichen Zwiste. Heilige Katholiken hatten beschlossen, den König, seine Familie und das ganze Parlament mit Pulver in die Luft zu sprengen. Man zeigte mir den Platz, auf dem die selige Königin Marie, Tochter Heinrichs VIII., mehr als fünfhundert Personen hatte verbrennen lassen. Ein iberischer Priester pries mir diese große Tat: weil erstens Engländer daran hatten glauben müssen, und zweitens, weil diese nie Weihwasser nahmen und nicht an das Loch des hl. Patrizius glaubten. Daß die Königin Marie noch nicht kanonisiert war, wunderte ihn zwar, doch hoffte er noch darauf, wenn der Kardinalneffe etwas mehr Muße dazu hätte.
In Holland meinte ich mehr Ruhe zu finden, bei diesem phlegmatischen Volk. Als ich im Haag ankam, hieb man gerade einem ehrwürdigen Greisen den Kopf ab, den Kahlkopf des ersten Ministers Barneveldt nämlich, der so vieles für die Republik getan hatte. Voller Mitleid fragte ich nach seinem Verbrechen: ob er sein Vaterland verraten habe? »Viel Schlimmeres,« flüsterte ein Prädikant in schwarzem Mantel: »Dieser Mensch hat gesagt, daß man durch gute Taten ebenso selig werden könne wie durch den Glauben selbst. Wenn solche Meinung vorherrschte, könnte eine Republik nie bestehen: so skandalöse Schmähungen müssen streng bestraft werden!« 76
Ich schiffte mich nach Spanien ein. In Sevilla war ein tolles Fest inmitten der blühendsten Jahreszeit. Am Ende einer Orangen- und Zitronenallee war ein prunkender Thron mit kostbarem Gehänge aufgestellt. König, Königin, Infanten unterm Baldachine. Ihnen gegenüber ein etwas erhöhter Thron. Ich sagte zu einem Reisegefährten: »Dieser Thron ist so herrlich, er kann nur für Gott aufgestellt sein!« Diese unbedachten Worte erhaschte ein spanischer Grande und kamen mich teuer zu stehen. Immerhin erwartete ich ein großes Fest, vielleicht einen Stierkampf . . .
Da näherte sich endlich ein langer Zug von Mönchen: beschuhte und unbeschuhte, weiße und schwarze, mit und ohne Bart, mit und ohne Kapuze – hinter ihnen der Scharfrichter, und endlich von Würdenträgern und Granden umgeben: vierzig Menschen, mit Tüchern ganz verdeckt, auf denen Flammen und Ungeheuer abgebildet waren. Juden waren es, die ihren Glauben an Moses nicht hatten verleugnen wollen, oder auch Christen, die die Heilige Frau von Atocha nicht angebetet oder ihr Besitztum für irgend eine Brüdersekte nicht hergegeben hatten. Man sang inbrünstige Gebete und verbrannte langsam die Schuldigen, wovon die königliche Familie sehr erbaut schien.
Nachdem ich dort sechs Wochen Gefängnis abgesessen hatte, floh ich nach der Türkei. Dort schien es 77 mir viel mehr christliche Kirchen zu geben als in Candien. Ich sah Heere von Mönchen, die frei zur Jungfrau Maria beten und Mahomet in griechischer wie in lateinischer Sprache verdammen durften, sogar auch auf armenisch! »Diese guten Türken!« rief ich. Aber die griechischen und die römischen Christen waren Todfeinde: sie verfolgten einander in den Straßen wie Hunde, die der Herr mit dem Stock schlagen muß, um sie auseinanderzukriegen. Damals beschützte der Großvizir die Griechen. Der griechische Patriarch aber zeigte mich an, weil ich beim römischen Patriarchen genachtmahlt hätte, weshalb ich sofort zu hundert Rutenschlägen verurteilt wurde. Nächsten Tags ward der Großvizir erdrosselt, und am übernächsten Tag erhielt ich von dessen Nachfolger, der römisch dachte, dieselbe Strafe, weil ich beim griechischen Patriarchen soupiert hatte.
Bei meiner Ankunft im persischen Ispahan wurde ich zur Rede gestellt, ob ich für das Weiße Schaf oder für das Schwarze Schaf sei. Ich erwiderte, es sei mir höchst gleichgültig, wenn sein Fleisch nur zart wäre. Aber es waren religiöse Parteien, die diese Symbole entzweiten. Man dachte, ich wolle mich über sie lustig machen, so daß ich schon an den Toren der Stadt meine Schwierigkeiten hatte: und ich mußte ein Heidengeld ausgeben, um mich loszukaufen. 78
In China, versicherte mir dann mein Begleiter, könne man am freiesten und lustigsten leben. Die Tartaren hatten es nach blutigem, grausamem Feldzug erobert. Und Jesuiten wie Dominikaner versicherten, daß sie dort viele Seelen gewonnen: auch sah man nie so beseelte Beichtväter, die die scheußlichsten Verleumdungen in Traktaten nach Rom meldeten. Die schlimmste Fehde zwischen ihnen lag in der Auffassung, wie man sich zu verbeugen habe. Die Jesuiten berichteten, daß die Chinesen Vater und Mutter nach chinesischer, die Dominikaner aber, daß sie sie nach römischer Sitte grüßten. Jesuiten hielten mich für einen Dominikaner und zeigten mich als Spion des Papstes an. Festgenommen, erklärte ich, wie harmlos der Papst sei, vor dessen Palast in Rom einige zweitausend Soldaten mit Regenschirmen Wache hielten.
Ich entkam auch hier und wollte nach Europa zurück. Über Afrika fuhr ich, um von allen Genüssen der Erde gekostet zu haben. Mein Schiff wurde von Negerkorsaren gefangen. Als unser Kapitän sich beklagte und behauptete, das Völkerrecht sei verletzt worden, erwiderte der Negerhäuptling grinsend: »Ihr habt eine lange Nase, wir eine platte. Eure Haare sind glatt, die unsern gekräuselt. Ihr habt eine aschgraue, wir eine ebenholzdunkle Haut: so müssen wir halt den Gesetzen der Natur gehorchen und ewig Feinde bleiben. Ihr 79 kauft uns wie Zugvieh auf den Messen von Guinea, um uns irgend blödsinnige Arbeiten ausführen zu lassen. Wir müssen unter Peitschenhieben einen gelben Stein aus den Bergen schlagen, der zu nichts nutzt und kaum eine ägyptische Zwiebel wert ist. So wollen wir uns rächen, wenn wir die Stärkeren sind, und euch Ohren und Nase abschneiden.« So einer klugen Rede war nichts entgegenzuhalten.
Ich beackerte das Feld einer alten Negerin, um Ohren und Nase zu retten. Ein Jahr darauf wurde ich losgekauft. Ich hatte alles Gute und Schöne dieser Erde erlebt: nun wollte ich zu Hause gemütlich sitzen. Ich heiratete. Indes meine Frau betrog mich bald, und das war der süßeste Zustand im Leben. 80
Ich wende mich nicht mehr an die Menschen, sondern an dich, Gott der Welt, du über alle Wesen und Zeiten Schwebender, wenn es wirklich möglich ist, daß eine allverlorene, schwächliche und von allen anderen Gestirnen unsichtbare Kreatur dich um etwas bitten darf, du dessen Gesetze unwandelbar sind und unvergänglich.
Du gabst uns nicht ein Herz, um zu hassen, und nicht Hände, um einander zu erdrosseln. So tue denn, daß wir uns gegenseitig helfen. Tu, daß diejenigen, die am hellichten Mittag Kerzen anzünden, dir zur Feier, jene neben sich hergehen lassen, denen das Licht deiner Sonne genügt. Tu, daß diejenigen, die über ihr Kleid ein weißes Linnen schlagen, um zu beweisen, daß sie dich lieben, jene nicht hassen, die dasselbe in einem schwarzen Mantel murmeln. Tu, daß es sich gleich bleibe, ob man dich in einer alten Sprache oder in einer neu erfundenen besingt! Tu, mein Gott, daß alle diese Unterschiede der Kleidung, Sprache, der sinnlosen Sitten und 81 unvollkommenen Gesetze, daß all die unerhörten Kleinigkeiten, die in deinem Angesicht nicht existieren, aber die »Menschen« genannten Atome so furchtbar ungleich macht: daß sie nicht Sinnbilder des Hasses und der Verfolgung seien!
Mögen alle Menschen sich erinnern, daß sie Brüder sind. Mögen sie ebenso die Tyrannei der Seelen hassen, wie die Räuberei, die mit Gewalt die Früchte der Arbeit und friedfertigen Industrie entwenden will. Wenn wirklich Krieg unvermeidlich ist: hassen und zerfleischen wir wenigstens einander nicht im Lande des Friedens. Benützen wir den Augenblick unseres Daseins, um in tausend verschiedenen Sprachen, von Siam bis Kalifornien, dich und deine Güte zu loben! 82
Zwanzig Jahre braucht der Mensch, um es aus dem Pflanzenwesen, das er im Mutterleib war, zum rein animalischen Zustand der Jugend und zur beginnenden Entfaltung seines Verstandes zu bringen.
Dreißig Jahrhunderte bedurfte es, bis er seinen Körperbau nur annähernd kennen lernte.
Die Ewigkeit müßte man haben, um etwas von seiner Seele zu wissen.
Ein Augenblick genügt, um ihn zu töten. 83
Sind nicht alle Bücher über Moral in diesem Satz Hiobs enthalten: »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruh und Plage. Gehet auf wie eine Blume und fällt ab. Fleucht wie ein Schatten und bleibt nicht.«
Die menschliche Art lebt nur zweiundzwanzig Jahre, wenn man die abrechnet, die an der Ammenbrust verdorren, und die Greise, die hundert Jahre lang ein dummes und nutzloses Leben hinschleppen.
Schön ist jenes alte Märchen vom Menschen, wonach er nur fünfundzwanzig Jahre leben sollte, was dann nur fünf Jahre vollen Lebens ergab, eins ins andere gerechnet. Darüber war der Mensch verzweifelt. Neben sich bemerkte er die Raupe, den Schmetterling, den Pfauen, das Pferd, den Fuchs und den Affen.
»Verlängere mir mein Leben,« bat er Jupiter. »Ich bin mehr wert als all dies Getier, und es ist nur gerecht, daß ich und meine Kinder lange leben, um all den anderen Tieren befehlen zu können.«
»Gern,« sagte Jupiter, »aber ich habe nur eine 84 abgemessene Zeit unter alle von mir geschaffenen Wesen zu verteilen. Ich kann dir nur geben, wenn ich den anderen wegnehme, und bilde dir nicht ein, daß ich, weil ich Jupiter heiße, unendlich und allmächtig sei: auch ich habe meine Natur und mein Maß! Aber ich will dir gern ein paar Jahre mehr schenken, indem ich sie den sechs anderen Tieren, die du so beneidest, wegnehme, unter der Bedingung, daß du hintereinander ihre Lebensweise annimmst. Zunächst wird der Mensch der Raupe ähnlich in seiner Kindheit dahinkriechen. Bis zum fünfzehnten Jahr wird er leicht wie der Schmetterling flattern, später eitel wie der Pfau sein. Im männlichen Alter wird er schwer schleppen müssen wie das Pferd. Gegen fünfzig schlau wie der Fuchs und im Alter häßlich und lächerlich wie der Affe.
Und das ist wirklich so ziemlich das menschliche Schicksal.
Trotzdem ist zu bedenken, daß trotz Jupiters Zuwägung dies menschliche Tier alles in allem nur zweiundzwanzig bis dreiundzwanzig Jahre lebt: ein Drittel seines Lebens wird verschlafen, was dem Tode gleichkommt. Bleiben fünfzehn Jahre übrig, wovon die acht der Kindheit nur das Vorzimmer des Lebens bedeuten. Die sieben anderen bedeuten zur Hälfte mindestens andauernden Schmerz, und die letzten dreieinhalb sind endlich für Arbeit, Langeweile und ganz wenig Zufriedenheit da. 85
Leider vergaß in dieser Fabel Jupiter dem Menschen noch Kleidungsstücke zu schenken, wie er es doch mit den anderen Tieren gehalten hatte: der Mensch hatte nur die nackte Haut, die, Sonne, Regen und Hagel preisgegeben, alsbald gefältet und gegerbt und durchlöchert ward. Das Männchen auf unserem Kontinent war durch behaarte Glieder gekennzeichnet, was ihn häßlich machte, ohne ihn zu schützen. Sein Antlitz war ebenfalls von Haaren bedeckt; sein Kinn glich einem Stoppelfeld, in dem die Wurzeln oben staken. Das war also das bekannte Spiegelbild Gottes!
Das schwächere Weib war noch abstoßender und im Alter noch widerlicher. Das abscheulichste Ding auf der ganzen Erde muß ein zerfallendes altes Weib sein! Und ohne die Schneider und Modistinnen hätte es der Mensch überhaupt nie wagen dürfen, sich vor den anderen Lebewesen zu zeigen. Dies noch unzivilisierte und sich selbst überlassene Tier muß das schmutzigste und ärmlichste von allen gewesen sein! 86
Ben al Betif sprach zu seinen Derwischen:
»Brüder, ihr tut gut daran, die heilige Formel unseres Korans immer zu wiederholen: ›Im Namen des wohltätigen Gottes‹, denn Gott ist wahrhaftig wohltätig, und ihr werdet es sein, wenn ihr den Satz wiederholt, der der einzige Grund ist, aus dem es noch menschliche Wesen auf der Erde gibt. Indes müßt ihr, Brüder, euch hüten, denen nachzuschwätzen, die sich immer brüsten, zum Ruhme Gottes zu schwitzen. Wenn ein jugendlicher Dummkopf eine Schrift zum Examen einreicht, wobei ein anderer pelzbehangener Dummkopf präsidiert: setzt er immer auf die erste Seite des Buches: Ek Allah abron doxa: ad majorem Dei gloriam! Selbigen Satz schreibt jeder Muselman auf die Tür seines neugetünchten Salons. Jeder Saka trägt den Wasserkrug mit diesem Fluch: ›zum größeren Ruhme Gottes‹ zwischen den Zähnen. Vielleicht singt auch der kleine Tschauch, während er den Stuhl seines Herrn ausleert, den Vers: ›Zum größten Ruhme unseres 87 unbesiegbaren Monarchen‹. Dabei ist die Entfernung zwischen Gott und dem Sultan größer als zwischen dem Sultan und dem Tschauch.
»Was habt ihr Erdenwürmer, Menschen genannt, mit dem Ruhm des Ewigen gemein! Liebt er den Ruhm? Kann er ihn von euch bekommen? Ihn genießen? Wie lange noch, flügellose Zweifüßler, gebt ihr Gott euer Ebenbild? Weil ihr so eitel nach Ruhm giert, soll auch Gott so sein? Lasse ab von solcher Lästerung. Ein Kaiser, der Oktavius Augustus hieß, verbot, daß man von ihm in den Schulen Roms spreche, aus Angst, daß sein Name beschmutzt werde. Ihr aber könnt den Ewigen nicht beschmutzen, noch ehren. Erniedrigt euch, kniet, aber schweigt!«
So sprach Ben al Betif. Und die Derwische riefen:
»Gerühmt sei der Allmächtige! Ben al Betif hat wohl gesprochen.« 88
Wenn das nicht ein Elend ist, daß das einzige Wesen auf Erden, das Gott mit seinen Gedanken erfassen kann, eben durch diese Gedanken unglücklich ist; wenn das kein Elend ist, daß dieser Sucher nach dem Göttlichen fast immer ungerecht ist und leiden muß, ob es sich nun um Tugend oder Verbrechen handelt, ob er betrogen wird oder selbst betrügt, Opfer oder Scherge seiner Mitmenschen ist – wenn alles das kein Elend sein soll, weiß ich nicht, was!
Tier und Mensch leiden fast ununterbrochen und der Mensch noch mehr, nicht allein weil das Denken ihm immer Zweifel verursacht, sondern weil er dadurch auch den Tod fürchtet, den die Tiere nicht vorauskennen. Der Mensch ist ein furchtbar unglückliches Wesen, dem nur hier und da wenige Minuten Glück beschieden sind und eine lange Folge schmerzlicher Tage. Jeder gibt das zu, jeder sagt es, und es ist wahr.
Diejenigen, die geschrieen haben, alles sei gut, sind 89 Schwindler. Shaftesbury, der diesen Satz zur Mode machte, war sehr unglücklich. Bolingbroke war von Sorgen und Zornausbrüchen versengt. Pope, der den Witz vom »Alles ist gut« in Verse brachte, war eines der bedauernswertesten Geschöpfe, die ich je gesehen: ein Krüppel, ohne seelisches Gleichgewicht, immer kränkelnd, sich selber immer im Weg und bis zum letzten Atemzug von Feinden verfolgt. Da mögen doch lieber einmal Glückliche wenigstens sagen, alles sei gut!
Wenn mit dem »Alles ist gut« gemeint ist: daß es herrlich sei, daß der Kopf des Menschen zwischen den Schultern gut placiert sei, daß seine Augen besser neben der Nasenwurzel als hinter den Ohren ihren Platz haben; daß sein Dickdarm sich besser an seinem Hintern befindet als an seinem Mund: gut! Insofern ist alles zum besten! Die physikalischen und mathematischen Gesetze sind bei seinem Körperbau streng befolgt.
Wer die schöne Anna Boleyn, oder die noch schönere Maria Stuart in ihrer Jugend gesehen hat, hätte gesagt: Wie herrlich! Aber was hätte er gerufen, als sie neben ihren Scharfrichtern standen? oder als der Enkel derselben Maria Stuart desselben Todes starb? oder vor ihrem noch unglücklicheren Großonkel, der allzulange leben mußte . . .?
Seht euch die Geschichte der Menschen an, seit Sulla bis zu den Unruhen Irlands! 90
Seht euch die Schlachtfelder an, wo Dummköpfe von anderen Dummköpfen sich auf die Erde niederstrecken lassen: seht euch ihre Arme, Beine, blutigen Hirne und sonstigen Körperteile an: das alles die Folge eines Streits zwischen zwei ignoranten Ministern, von denen keiner vor Newton, Locke oder Halley ein Wort hätte vorzubringen vermocht! Oder auch die Folge einer sinnlosen Eifersucht zwischen zwei frechen Hofdamen! Geht ins nächstliegende Spital, in dem die noch Ungestorbenen jammern: man reißt ihnen Glieder aus, wobei einige Unternehmer reich werden und die Liste dieser Elenden auf ihrem Kontobuch eintragen.
Seht andere in verrückten Kostümen Komödie spielen, und, um Geld zu verdienen, in fremder Sprache ein dunkles, fades Lied herplärren, wo der Herr der Welt für seine stinkende Schöpfung noch bedankt wird. Dann sagt mir doch: ob alles gut ist! Sagt es, wenn die Namen Alexanders VI. und Julius II. an euer Ohr klingen. Sagt es auf den Ruinen hunderter eingeäscherter Städte. Sagt es vor diesen zwölf Millionen Amerikanern, die man auf zwölf Millionen Mordarten niedermacht, weil sie eine päpstliche Bulle nicht zu begreifen vermochten. Sagt es heute, am 24. August 1772: Geburtsstunde der Bartholomäusnacht: meine Feder zittert in meiner Hand.
Denkt an die unzähligen Unglücksfälle, die die Erde 91 aufschreien lassen. Denkt an die tausendfachen Krankheiten, die langsam Tausende von Siechenden aufzehren. Denkt an die unglaubliche Stümperei der Natur, die das menschliche Geschlecht am Urquell schon vergiftet und die schrecklichste Krankheit mit dem himmlischsten Gefühl verbindet. . . .
Und zuletzt: erinnert euch an die Erderschütterungen, die Vulkane, die Überschwemmungen, die Pest, den Aussatz. Und ihr, die ihr diese Zeilen lest, denkt nur ein wenig über euer eigenes Leben nach: und gebt doch zu, daß das Leid da ist und Elend und Verzweiflung: vergrößert sie nicht, indem ihr sie euch nicht einmal eingesteht! 92
Wir urteilen immer nur von uns aus über Gut und Bös. Die Leiden eines Tieres erscheinen uns als solche, weil wir, Tiere ebenfalls, nach unseren mutmaßlichen Schmerzen urteilen, die wir an ihrer Stelle empfinden würden. Wir hätten auch gleiches Mitleid mit einem Baum, wenn man uns sagte, daß er beim Gefälltwerden leidet, mit einem Stein, wenn wir wüßten, daß ihn der Meißel schmerzt. Und doch würden wir viel weniger für Baum und Stein klagen, weil ihr Weh dem unsrigen zu wenig gleicht. Wir verlieren sogar sehr schnell das Mitgefühl für Tiere, die einen schlimmen Tod erleiden, um unsere Tische zu füllen. Kinder weinen über den Tod eines Huhns ein erstes Mal, beim zweiten lachen sie schon.
Es ist sogar sicher, daß dieser abscheuliche Mord, der in den Metzgereien und unseren Küchen zur Schau gestellt wird, uns nicht als schlechte Tat vorkommt. Wir halten im Gegenteil diese oft pesterzeugende Schmach für einen Segen Gottes: wir 93 danken mit Gebeten für diese Morde. Aber gibt es denn etwas Schrecklicheres, als sich immerzu von Kadavern zu ernähren?
Aber nicht wir allein verbringen unser Leben mit Hinschlachten und Verschlingen der von uns Gezeichneten: auch untereinander halten es die Tiere nicht besser. Eine unbezwingliche Macht treibt sie dazu. Vom kleinsten Insekt bis zum Rhinozeros und Elefanten ist die Erde nichts als ein Gewirr von Kriegen, Hinterhalten, Mordanschlägen und Zerstörungen. Kein Tier, das ohne Beute auskäme, das zur Befriedigung seines Genusses nicht Hinterlist oder Wut anwendete, so wie die schreckliche Spinne die unschuldige Fliege lockt und verschlingt. Und eine Lämmerherde verschlingt in einer Stunde beim Weiden mehr Insekten, als es Menschen auf der Erde gibt.
Das Grausamste an der Geschichte ist jedoch, daß dieser furchtbare, ewig wiederholte Mord im Plan einer Vorsehung liegt, derzufolge alle Arten sich mittels der blutigen Kadaver ihrer gegenseitigen Feinde fortpflanzen müssen. Diese Opfer verenden aber erst, nachdem die Natur wohlweislich dafür gesorgt hat, daß sie neue hervorbringen. Alles aufersteht für den Mord!
Und doch kenne ich keinen Moralisten unter uns, keinen redseligen Vorbeter und keinen Tartuffe, der sich über diese furchtbare Gewohnheit, die 94 uns zur Natur geworden ist, Gedanken machte. Da muß man auf den alten Porphyr zurückgreifen, und auf die mitduldenden Pythagoräer, damit sich einer finde, der uns unser Fressertum errötend zum Bewußtsein brächte. Oder man muß zu den Brahmanen gehen. Aber unsere Mönche, denen nur eine Laune ihres Gründers verbot, Fleisch zu essen, morden leichten Herzens Karpfen und Butten hin, und Rebhühner und Wachteln dazu. Und man wird sich weder in heiligen Konzilen noch in Wirtshäusern darüber aufhalten.
So ist der Ewige denn für unsere Schlächtereien reingesprochen. Oder aber: er hat uns einfach zu Mitschuldigen gemacht. 95
Es gibt soviele Arten der Liebe, daß man nicht weiß, welche zu einer Definition benützen. Man nennt »Liebe« sowohl die Laune einiger gefühlvoller Tage, eine gefühllose Anknüpfung, ein achtungsloses Gefühl, eine kalte Angewohnheit, eine romantische Anwandlung, einen von Ekel begleiteten Genuß: das alles soll Liebe sein.
Der Philosoph, der dies so unphilosophische Thema ergründen will, lese das Gastmahl des Plato.
Aber du, wenn du wissen willst, was Liebe ist: sieh dir die Spatzen in deinem Garten an, die Tauben, den Stier, den man zur Kuh treibt; das stolze Pferd, das zwei Lakaien zur offenen Stute führen, die schon ihren Schwanz zurechtlegt: sieh seine leuchtenden Augen, höre sein Gewieher, betrachte seine Luftsprünge, seine gestreckten Ohren, dies konvulsierte Maul und die geblähten Nüstern, den Feuerhauch, der daraus sprüht, die gereckte und hinwogende Mähne und endlich dann sein Stürzen auf das ihm von der Natur geweihte Objekt . . . Und beneide das 96 Pferd nicht. Denke an die Vorteile des menschlichen Wesens: sie gleichen alle natürlichen Gaben der Tierwelt aus – Kraft, Schönheit, Leichtheit, Eilfertigkeit. Auch gibt es sogar Tiere, die den Genuß nicht kennen. Die schuppigen Fische sind aller süßen Gefühle bar: das Weibchen wirft Millionen Eier in den Schlamm. Das vorüberschweifende Männchen geht über sie hin und befruchtet sie mit seinem Samen, ohne sich darum zu kehren, welchem Weibchen sie gehören.
Die meisten sich paarenden Tiere kennen die Wollust nur durch einen Sinn, und dieser erlischt, wenn der Durst befriedigt ist. Kein Tier, außer dir, kennt die Umarmung. Dein ganzer Körper ist gefühlsfähig. Deine Lippen kennen einen nie versagenden Genuß. Und diese Lust gehört nur dem Menschen. Jederzeit kannst du die Liebe üben, die Tiere nur zu gewissen Abschnitten. Und wer über diese Vorzüge lange nachdenkt, wird wie der Graf Rochester ausrufen: Die Liebe in einem Land von Gottlosen müßte die Anbetung der Göttlichkeit wecken.
Wie den Menschen die Gabe zuteil wurde, alles von der Natur Gegebene zu vervollkommnen: so taten sie es vor allem mit der Liebe. Reinlichkeit und Körperpflege erhöhen das Festgefühl. Gesundheit macht die Nerven empfänglicher. Alle anderen Gefühle sind dieser Liebe untertan; und wie mit Gold verschmelztes Metall veredelt die Freundschaft sie. 97
Vor allem trägt Eigenliebe zu ihrer Festigung bei. Unerhörte Selbst-Illusionen steigern den Wert des gewählten Objekts.
Das ist es, was du den Tieren voraushast. Und noch eins: einen Kummer, der jenen fremd ist. Das Schrecklichste ist, daß die Natur zu drei Vierteln die Genüsse an der Quelle des Lebens vergiftet: sie erfand eine schreckliche Krankheit, die nur dem Menschen eigen ist und nur seine Geschlechtsteile angreift.
Diese Pest ist nicht die Folge von Exzessen. Nicht Laster brachten sie auf die Welt. Phryne, Laïs, Flora, Messalina kannten sie nicht. Sie entstand auf Inseln, wo Menschen unschuldig zusammen lebten, und eroberte von dort aus den ganzen Globus.
Wenn je der Natur vorgeworfen werden konnte, daß sie sich selbst zersetzt und ihre Pläne selbst zerstört: so ist es beim Anblick dieser untilgbaren Plage, die die Erde mit Schrecken und Schauer erfüllt. Ist das wirklich die beste der Welten? Wenn Cäsar, Antonius, Oktavian von ihr unberührt blieben, warum mußte Franz I. daran sterben? Nein, erwidert einer, die Dinge sind zum besten gestellt. Glauben wir's! Aber das ist sehr traurig für die Leute, denen Rabelais sein Buch gewidmet hat.
Einige erotische Philosophen könnten sich fragen, ob Heloise Abailard wirklich noch hat lieben können, als er Mönch und verschnitten war? 98
Sei getrost, Abailard, du warst geliebt. Die Wurzel des abgeschnittenen Baumes behält noch Saftreste zurück. Die Einbildung hilft dem Herzen nach. Man sitzt noch gern zu Tisch, auch wenn man nicht mehr ißt. Liebe? Erinnerung? Freundschaft? Ein wenig von alledem. Ein wenig wie die phantastischen Leidenschaften, die die Toten in den elyseischen Feldern bewegt haben muß. Die Heroen, die Zeit ihres Lebens im Wagenrennen geglänzt hatten, führten im Tode imaginäre Viergespanne. Heloise lebte mit dir Illusionen und Träume. Sie streichelte dich dann und wann, und mit um so größerer Passion, als sie doch gelobt hatte, dich nie wieder liebzuhaben: weil schuldig, wurden ihre Streicheleien kostbarer. Eine Frau kann kaum für einen Eunuchen in Liebe entbrennen: aber sie kann sie einem zum Eunuchen gewordenen Liebhaber bewahren, wo er noch so liebreich geblieben ist wie du.
Aber es ist nicht das Gleiche, meine Damen, bei Geliebten, die im Dienste alt wurden! Da hält das Äußere nicht stand. Runzeln erschrecken euch. Weiße Augenbrauen, ausgefallene Zähne, allgemeine Schwäche sind abstoßend. Da muß man zum mindesten Krankenwärterin werden. Und einen Toten einzusargen verstehen. 99
Wir sprachen von der Liebe. Und nun, nachdem man sich um Leute gekümmert, die sich küssen, zu denen überzugehen, die sich gegenseitig auffressen, ist hart. Es ist zu wahr, daß es tatsächlich Menschenfresser gegeben hat. Wir finden sie in Amerika; vielleicht gibt es jetzt noch welche, und die Cyklopen waren nicht die einzigen, die sich im Altertum von Menschenfleisch nährten. Juvenal erzählt, daß bei dem weisen, durch seine aufrechten Gesetze bekannten Volk der Ägypter, das so fromm war, daß es Krokodile und Zwiebeln anbetete, die Tentyriten einen ihrer gefangenen Feinde aufaßen. Und das erzählt er nicht vom Hörensagen; dies Verbrechen geschah fast unter unsern Augen: in Ägypten, unweit von Tentyra. Bei dieser Gelegenheit erwähnt er auch die Gascogner und die Saguntiner, die einstmals vom Fleisch ihrer eigenen Mitbürger lebten.
Im Jahre 1725 kamen vier Wilde vom Mississippi nach Fontainebleau, und ich hatte die Ehre, sie anzusprechen. Unter ihnen war eine Dame, die 100 ich fragte, ob sie Menschen gefressen habe. Sie antwortete naiv: ja. Ich war wohl etwas aufgebracht darüber, und sie entschuldigte sich mit der Bemerkung, daß es besser ist, seinen toten Feind aufzufressen, als ihn den Aasgeiern zu überlassen, und daß dem Sieger der Vorzug gebühre. Wir töten in geordneter oder auch ungeordneter Feldschlacht unsere Nachbarn und arbeiten für die Mahlzeiten der Raben und Würmer. Das ist der Frevel und das Verbrechen; was aber tut's dem Toten, ob er von einem Soldaten, einem Raben oder einem Hund verzehrt wird.
Wir achten die Toten mehr als die Lebenden. Man sollte aber beide ehren. Die sogenannten Polizeistaaten hatten recht, daß sie ihre besiegten Feinde nicht am Spieß rösteten: denn wenn es erlaubt wäre, seine Nachbarn zu fressen, würde man es bald auch mit den Mitbürgern tun, was den sozialen Tugenden grossen Abbruch tun würde. Aber die Polizeistaaten waren nicht immer polizeibeschützt: sie waren auch einmal Wilde, und bei den unzähligen Revolutionen, die schon über diesen Erdball gefegt sind, war die menschliche Art oft zahlreich, oft sehr karg vertreten. Der Menschheit widerfuhr, was heute den Elefanten, den Löwen und Tigern passiert: sie vermindern sich rasch. Zur Zeit, da eine Gegend von Menschen wenig bewohnt war, gab es wenig Kunst, aber viel Jagd. Die Gewohnheit, das zu essen, was 101 sie fanden, führte sie leicht dazu, ihre Feinde wie Hirsche und Eber zu behandeln. Aus Aberglaube wurden Feinde geopfert, aus Not gefressen.
Welches Verbrechen ist größer: wenn man sich treu vereint, um ein Messer in das Herz einer mit Bändern geschmückten Jungfrau zu stoßen, der Gottheit zu Gefallen, oder wenn man einen bösen Mann, der in der Verteidigung seines Lebens fiel, aufißt?
Doch gibt es viel mehr Beispiele von geopferten Söhnen und Töchtern als von aufgefressenen Jünglingen und Jungfrauen. Die Juden opferten sie. Das nannte man ein Gelübde, und das XXVII. Kap. der Leviten ordnet an, daß die der Gottheit versprochenen Seelen nicht geschont werden dürfen. Aber nirgends wird verlangt, daß man sie aufesse, man droht nur: Moses sagt den Juden, daß, wenn sie diese Gebote nicht beobachten, sie nicht nur die Galle bekommen, sondern die Mütter ihre eigene Brut verzehren werden. Allerdings müssen die Juden zu Ezechiels Zeiten wohl auch im Menschenfressen geübt gewesen sein, denn er prophezeit ihnen im Kap. 39, daß Gott ihnen nicht nur die Pferde ihrer Feinde, sondern auch die Reiter und die anderen Krieger zum Mahl überlassen wird. Das ist erwiesen. Und: warum wären die Juden nicht auch Menschenfresser gewesen? Das allein hätte ihnen gefehlt, um aus dem auserwählten Volk Gottes das grausamste Volk der Erde zu machen. 102
Ich las in der Chronik Englands, daß zu Cromwells Zeiten eine Kerzenverkäuferin von Dublin vorzügliche Kerzen aus Engländerfett feilbot. Eines Tages beklagte sich ein Kunde, daß die Kerzen neuerdings nicht mehr gut brannten: »Ja, antwortete die Verkäuferin, heuer gab's wenig Engländer!« Ich frage euch, wer war der schuldigere Teil: diejenigen, die die Engländer hinschlachteten, oder diese Marktfrau, die aus ihrem Fett Kerzen fabrizierte? 103