Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
(Gespräch zwischen dem Konfuziusjünger Sü und dem Prinzen Koh, im Jahre 470 unserer Zeitrechnung, von P. Fouquet mitgeteilt.)
Koh: Was meint man damit, wenn man mir sagt, ich solle den Himmel anbeten?
Sü: Nicht den sichtbaren Himmel, der nichts anderes ist als unsere eigene Ausdünstung. Wäre es nicht irrsinnig, diese anzubeten?
Koh: Wundern würde mich das nicht. Die Menschen haben noch verrücktere Dinge getan.
Sü: Da Sie regieren wollen, müssen Sie weise sein.
Koh: So viele Völker beten Himmel und Sterne an.
Sü: Die Planeten sind nichts als gleiche Erdensterne wie der unsere. So könnte also der Mond ebenso unseren Sand und Schmutz anbeten wie wir den seinen.
Koh: Was heißt das dann: zum Himmel steigen?
Sü: Eine enorme Dummheit. Himmel gibt es nicht. Jeder Planet ist von seiner eigenen Luftschicht umgeben wie von einem Mantel und kreist 41 im Raum um seine Sonne. Jede Sonne ist das Zentrum mehrerer Planeten, die sie ewig umwandeln. Also wäre es Übermut, wenn die Leute vom Mond sagen wollten, man müsse die Erde anbeten und sich ihrer würdig zeigen. Ebenso sinnlos ist es zu behaupten, man müsse sich des Himmels würdig erweisen. Es klingt, als sagten wir: würdig der Luft, des Sternbilds des Drachens, des Raums.
Koh: Ich glaube, ich verstehe Sie. Wir dürfen nur den Gott anbeten, der Himmel und Erde geschaffen hat. –
Sü: Gewiß, nur ihn. Aber auch dieser Ausdruck zeugt von großer Seelenarmut: denn wenn wir die ganze Welt meinen, so ist es viel lächerlicher zu sagen: Himmel und Erde, als: Berge und ein Sandkorn. Unser Erdball ist viel winziger als ein Sandkorn im Vergleich zu den Milliardenmillionen Welten ringsum. Das Einzige, was uns zu tun bleibt, ist: mit unserer schwachen Stimme den Gott und Erschaffer der Welten zu preisen!
Koh: So haben die uns belogen, die behauptet haben, daß Fo vom vierten Himmel herabgestiegen und als weißer Elefant erschienen sei?
Sü: Geschichten, die die Bonzen den Kindern erzählen und den Alten. Wir dürfen einzig den Schöpfer der Welt anbeten. 42
Koh: Aber wieso konnte Einer dies alles schaffen?
Sü: Dieser Stern dort ist fünfzehnhunderttausendmillionen Meilen von unserer Erde entfernt und schickt Strahlen aus, die auf Ihren sowohl wie aller lebenden Tiere Augen zwei gleiche Winkel bilden. Ist das nicht ein herrliches Gesetz? Wer aber macht ein Werk, wenn nicht ein Arbeiter und ewiger Gesetzgeber?
Koh: Aber wer erschuf diesen Arbeiter? Wie sieht er aus?
Sü: Lieber Prinz, gestern spazierte ich vor dem großen Palast, den mir Ihr Vater hat bauen lassen. Da hörte ich zwei Grillen, die zueinander sagten: »Welch schreckliches Gebäude!« Die andere: »Ja, es ist mächtiger als wir. Ein Wunder: wir verstehen es nicht. Ich sehe es und weiß doch nicht, was es bedeutet.«
Koh: Dann sind Sie wenigstens eine viel weisere Grille als ich. Und das Schönste daran: daß Sie nicht zu wissen behaupten, was Ihnen unbekannt bleiben muß.
Sü: Sie geben zu, daß es einen Allmächtigen, höchsten Schöpfer der Natur gibt!
Koh: Ja, und wenn er aus sich selber besteht, ist er grenzenlos und überall, in aller Materie, in jeder Zelle meines Selbst. 43
Sü: Gut.
Koh: So bin ich selbst ein Teil Gottheit?
Sü: Das muß nicht gerade gefolgert werden. Dies Stück Glas ist von allen Seiten mit Licht durchstrahlt: ist es deshalb selber Licht? Nein, nur Sand! Alles ist in Gott, gewiß, was allem Leben einhaucht, muß in allem sein. Gott gleicht aber sicher nicht dem Kaiser von China, der in seinem Palaste thront und durch Kulis Befehle erteilt. Wenn er aber existiert, muß sein Wesen notgedrungen allen Raum und seine sämtlichen Werke durchdringen. Und da er in Ihnen lebt, ist das eine ewige Mahnung, daß Sie nichts tun dürfen, das Sie vor ihm erröten ließe.
Koh: Was soll man tun, um ohne Ekel und Scham vor Gottes Antlitz zu wandeln und sich selbst zu besehen?
Sü: Gerecht sein!
Koh: Was weiter?
Sü: Gerecht sein!
Koh: Die Sekte des Sao sagt, daß es weder Gerechte noch Ungerechte gebe, weder Laster noch Tugend!
Sü: Behauptet diese Sekte auch, daß es weder Gesundheit noch Krankheit gebe?
Koh: Nein, so einen großen Irrtum spricht sie nicht aus. 44
Sü: Ein schlimmerer Irrtum ist es zu denken, daß es weder Gesundheit noch Krankheit der Seele gebe, weder Laster noch Tugend. Wer behauptet, alles sei egal, ist ein Monstrum. Ist es gleich, ob man sein Kind ernährt oder mit Steinen erschlägt? Ist es gleich, ob man seine Mutter unterstützt oder ihr einen Dolch ins Herz stößt?
Koh: Ich erschaure! Nun verachte ich die Sekte des Sao. Aber es gibt soviele Stufen des Gerechten und Ungerechten. Wo ist die Gewißheit? Welcher Mensch weiß genau, was erlaubt und was verboten ist? Wer setzt die Grenzen zwischen Gut und Böse? Welche Mittel gibt es, sie zu unterscheiden?
Sü: Konfuzius, mein Meister, hat gelehrt: »Lebe, wie du im Sterben wünschen könntest, gelebt zu haben. Behandle deinen Nächsten, wie du selber behandelt sein möchtest.«
Koh: Das ist das Gesetzbuch des menschlichen Geschlechts. Was aber hab ich im Tod davon, daß ich gerecht gelebt habe? Was gewinne ich dabei! Wenn diese Uhr einmal zerstört ist, wird sie darum glücklicher sein, daß sie genau die Stunden geschlagen hat?
Sü: Diese Uhr fühlt nicht, denkt nicht. Sie kann keine Gewissensbisse spüren wie Sie z. B. 45
Koh: Wenn es mir aber gelingt, nach vielen Mordtaten meine Gewissensbisse kraftlos zu machen?
Sü: Dann muß man Sie erwürgen. Und es werden sich gewiß viele freiheitliebende Menschen finden, die Sie wehrlos machen werden.
Koh: So wird Gott, der in ihnen ist, ihnen erlauben, zu mir böse zu sein, weil er zuließ, daß ich es sei?
Sü: Gott schenkte euch Vernunft; mißbrauchet sie nicht! Beide Parteien nicht! Ihr würdet es nicht nur in diesem Leben büßen – und wer hat bewiesen, daß es kein anderes gibt?
Koh: Wer bewies, daß es eins gibt?
Sü: Im Zweifel muß man so handeln, als ob es eins gäbe.
Koh: Und wenn ich überzeugt bin, daß es keins gibt?
Sü: Das kann kein Mensch. 46
Die Chinesen haben sich keinen Aberglauben, keinen Charlatanismus vorzuwerfen wie die anderen Völker. Die chinesische Regierung beweist den Menschen seit mehr als viertausend Jahren, daß man sie leiten kann, ohne sie zu betrügen, daß mit der Lüge Gott nicht gedient ist, daß Aberglaube nicht nur überflüssig, sondern der Religion schädlich ist. Und nie betete man Gott in so reiner und heiliger Weise an wie in China. Ich spreche nicht von den Sekten im Volk, sondern vom Glauben der Prinzen und der Richter. Nie hat ein Kaiser einen anderen Grundsatz gehabt als: »Liebet den Himmel und seid gerecht!«
Man rechnet Konfuzius immer zu den alten Religionsstiftern. Nein: dieser Mann ist sehr modern. Er lebte nur sechshundertfünfzig Jahre vor unserer Zeitrechnung. Nie gab er einen Kult oder einen Ritus an; nie hat er sich als Besessenen oder Propheten ausgegeben. Sein Werk war, die alten Gesetze der Moral in Einem zu versammeln. 47
Er verlangt von den Menschen, Beleidigungen zu verzeihen und guter Taten zu gedenken; immer über sich nachzudenken, und die gestrigen Vergehen heute gutzumachen. Die Leidenschaften zu zügeln. Die Freundschaft zu pflegen. Unauffällig zu schenken, und nur das äußerst Notwendige ohne Kriecherei anzunehmen.
Nicht sagt er, daß man andern nicht antun solle, was man nicht wolle, das einem selbst geschehe: das ist nämlich nur negativ!
Er aber verlangt das Gute. Behandle den Nächsten, wie du selbst behandelt sein möchtest.
Er lehrt die Bescheidenheit und die Demut: und die sind der Inbegriff aller Tugend. 48
Man schreit uns in die Ohren, daß die menschliche Natur überaus verdorben, daß der Mensch als Kind des Teufels bös und von Anfang schlecht sei. Nichts ist unrichtiger: denn du, mein Freund, der du solche Rede führst und behauptest, alle Welt sei urverdorben, stellst dich ebenso hin und willst, daß ich mich vor dir in acht nehme wie vor einem Fuchs oder einem Krokodil.
»Ah nein,« sagst du, »ich bin neugeboren, regeneriert, weder erblich belastet noch treulos, auf mich kann man sich verlassen!«
Und die anderen Menschen alle, entweder erblich belastete oder treulose, wie du sie nennst, sind wohl nur eine Gesellschaft von Ungeheuern! Jedesmal, wenn du mit einem Lutheraner oder Türken sprichst, mußt du sicher sein, daß sie dich bestehlen und niedermachen werden; denn sie sind aus Teufelsgeschlecht, sind böse geboren: entweder noch nicht regeneriert oder schon degeneriert.
Es wäre aber viel vernünftiger und edler, den 49 Menschen zuzurufen: »Ihr seid alle gut! Aber wißt, wie schrecklich es wäre, die Reinheit eures Wesens zu verderben.« Man müßte mit dem ganzen Menschengeschlecht vorgehen wie mit dem einzelnen Menschen. Wenn ein Abt ein skandalöses Leben führt, sagt man ihm: »Wie können Sie die Würde eines Abtes entehren!« Man flüstert einem Richter zu, daß er doch die Ehre hat, Berater des Königs zu sein, und er das gute Beispiel geben muß. Einen Soldaten muntert man an: »Bedenke, daß du zum eisernen Champagne-Regiment gehörst.« Und so sollte man jedem Individuum zurufen: »Gedenke deiner Menschenwürde!«
Und wahrlich, obwohl jeder sie kennt und hat, was bedeutet dieser in allen Nationen so gebräuchliche Ausdruck: »Geh in dich«? Wenn man ein Teufelskind wäre, von verbrecherischem Geschlecht, mit höllischem Blut in den Adern, könnte das »Geh in dich« nur bedeuten: Gehorch deinen diabolischen Instinkten, betrüge, stiehl, morde, denn das ist das Gesetz deiner Väter.
Der Mensch ist nicht bös geboren: er wird böse, wie man krank wird. Aber Ärzte kommen und sagen: »Du bist krank geboren.« Ist es so, so werden die Ärzte, was sie auch sagen und tun, nicht helfen; aber sie sind dann selber auch sehr krank.
Vereinigt sämtliche Kinder des Erdballs: ihr werdet 50 nur Unschuld, Sanftmut und Furcht finden. Wären sie von Geburt böse, verbrecherisch, grausam, müßte es doch schon bei ihnen einige Anzeichen geben, wie die kleinen Schlangen zu beißen und die jungen Tiger zu zerreißen versuchen. Aber da die Natur dem Menschen nicht mehr Angriffswaffen gab als den Tauben und den Kaninchen, kann sie ihm unmöglich auch Zerstörungsinstinkte zugedacht haben.
Also: der Mensch ist nicht von Geburt böse. Warum sind dann viele von der Bosheitspest infiziert? Weil die an ihrer Spitze Stehenden krank sind und sie die übrigen Menschen anstecken, wie der durch eine amerikanische Frau angesteckte Kolumbus bei seiner Rückkehr ganz Europa verseuchte. Der erste übermütige Mensch hat die Erde verdorben.
Da werdet ihr entgegnen, daß dies erste Monstrum den Keim aller Schlechtigkeiten, der in den anderen lag, nur weckte. Es ist allerdings zuzugeben, daß im allgemeinen alle unsere Brüder diese Laster erwerben können: muß aber jeder das Faulfieber oder den Blasenstein bekommen, weil jeder dem ausgesetzt ist?
Ganze Völkerschaften sind nicht böse: die Philadelphier zum Beispiel haben nie einen Menschen getötet. Die Bewohner von China, Tonking, Lao, Siam und selbst Japan kennen seit hundert Jahren keinen Krieg. Kaum alle zehn Jahre gibt es ein Großverbrechen, das die menschliche Natur in Rom, 51 Venedig, Paris, London und Amsterdam, lauter Städten, wo doch die Habgier, die Mutter aller Laster, grimmig wütet, in Staunen setzt.
Wären alle Menschen im Grunde schlecht und einem ebenso verbrecherischen und unglückseligen Wesen untertan, wofür sich zu rächen sie alle Wutmittel ergreifen würden, dann gäbe es jeden Tag von ihren Gattinnen erdolchte Männer, Väter von ihren Söhnen erdrosselt, wie man bei Morgengrauen von Mardern getötete und ausgesogene Hühner am Wege findet.
Eine Milliarde Menschen gibt es auf Erden, gut gerechnet: also ungefähr fünfhundert Millionen Frauen, welche nähen, weben, ihre Jungen ernähren, den Haushalt sauber führen und ein wenig über die Nachbarin klatschen. Was tun die auf dem Erdboden Böses? Ferner gibt es wenigstens zweihundert Millionen Kinder, die sicher weder töten noch stehlen, und ebensoviel Greise und Kranke, die dazu nicht fähig sind. Bleiben übrig einhundert Millionen junge Leute, die stark und zum Verbrechen gerüstet wären. Davon sind neunzig Millionen mit dem Bebauen der Erde beschäftigt, um in Arbeit Essen und Kleidung herzuschaffen: auch die haben keine Zeit, Böses zu tun.
Die zehn letzten Millionen umfassen viele Müßiggänger oder gute Gesellschaft, die das Leben genießen will; Künstler und Wissenschaftler; 52 Magistratspersonen und Priester, die, wenigstens scheinbar, ein reines Leben führen müssen. Bleiben also als böse Menschen einige Politiker, die immer die Welt in Wirrsal erhalten wollen, und einige Tausend Gauner, die ihnen ihre Dienste vermieten. Doch gibt es nie eine Million dieser wilden besoldeten Tiere beisammen: und zu diesen rechne ich die tatsächlichen Straßendiebe. So existiert im ganzen, sogar zu den schlimmsten Epochen, höchstens ein schlechter Mensch unter tausend: und auch der ist es nicht immer ganz.
So gibt es auf Erden viel weniger Böses als allgemein geglaubt wird. Gewiß gibt es noch Unglücksfälle und schlimme Verbrechen. Aber die Sucht zu übertreiben und zu klagen ist so groß, daß ihr bei der geringsten Anrempelung schon Mord und Zeter schreit. Einmal betrogen, glaubt ihr, alle Menschen seien unehrlich. Ein schwermütiges Wesen, das viel Leid erduldete, sieht in der ganzen Welt nur Verdammte, genau wie ein junger Genießer, der mit einer Dame nach der Oper soupiert, sich nicht vorstellt, daß es noch Hungernde gibt. 53
Der Begriff des Gerechten ist so natürlich und allgemein anerkannt, eine solche Grundwahrheit, daß die größten Verbrechen, die die menschliche Gesellschaft begeht, unter dem falschen Vorwand der Gerechtigkeit ausgeübt werden müssen. Das größte, das unheilvollste aller Verbrechen, das der Natur am meisten widerspricht: der Krieg, wird von keinem Angreifer unternommen, ohne daß er seine Untat mit dem Vorwand der Gerechtigkeit rechtfertigte.
Die römischen Plünderer ließen ihre Überfälle durch Priester für gerecht erklären. Jeder Räuber an der Spitze einer Armee beginnt seine Tat mit einem Manifest und betet zum Gott der Waffen.
Selbst die kleinen Diebe hüten sich, wenn sie gemeinsam ausrücken, zu rufen: »Jetzt wird der Witwe und den kleinen Waisen all ihr Besitztum gestohlen!« Nein, sie schreien: »Gerechtigkeit muß sein! Wir müssen den Reichen unser gestohlenes Gut zurücknehmen.« Und sie haben ein eigenes Diebs-Wörterbuch, in dem sich keineswegs Worte wie 54 »Diebstahl«, »Raub«, »Überfall« befinden, sondern nur: Nehmen, Verdienen, Gewinnen.
In einem Kronrat ist das Wort »Ungerecht« unbekannt, wenn ein Mord anbefohlen wird, und die blutrünstigen Aufrührer rufen: »Rächen wir die Verbrechen des Tyrannen: bestrafen wir die Ungerechtigkeit.« Kurz: ob feige Schmeichler, ob barbarische Minister, haßvolle Verschwörer und gemeine Diebe: alle verehren unbewußt die Tugend, die sie mit Füßen treten.
Ich meine: die Begriffe Gerecht und Ungerecht sind ebenso klar und allgemein, wie die von Gesundheit und Krankheit, Wahrheit und Falschheit, Anständig und Unanständig. Die Grenzen sind schwer zu unterscheiden; in allem gibt es ineinandergehende Nuancen; aber klare Farben prägen sich dem Auge ein. Alle Menschen geben z. B. zu, daß man geliehenes Geld zurückerstatten muß: wenn ich aber weiß, daß zwei von mir geschuldete Millionen dazu dienen würden, einen Zug gegen mein Vaterland zu rüsten, soll ich diese gefährliche Waffe ausliefern? Hier gehen die Meinungen auseinander. Ich will mein Versprechen halten, wenn nichts Böses daraus entspringt. 55
Das Problem »Freiheit« ist das interessanteste von allen, da man wohl sagen darf, daß von ihm allein die ganze Moral abhängt . . .
Ich weiß, daß die Freiheit berühmte Gegner hat. Ich weiß, daß man oft anfangs berückende Urteile über sie gefällt hat; aber die Gründe selber, aus denen es geschah, reizen mich zum Widerspruch.
Man hat eben diesen Stoff so wirr und dunkel behandelt, daß man jetzt erst definieren muß, was Freiheit ist, bevor man über sie spricht und verstanden sein will.
Freiheit ist die Möglichkeit, an etwas zu denken oder nicht zu denken, sich zu bewegen oder sich nicht zu bewegen, je nach der Wahl des eigenen Willens. Alle Einwände, die die Existenz einer Freiheit leugnen, lassen sich auf vier Hauptthesen zurückführen, die ich nacheinander untersuchen will.
Man will den Einfluß unseres Gewissens und den inneren Instinkt, den wir von Freiheit haben, leugnen: wir glauben an solch eingeborenen Instinkt, 56 nur weil wir zu wenig Obacht geben auf das, was in uns vorgeht. Wenn wir aber den Grund unseres Handelns genau beobachteten, erschiene dieses im Gegenteil als immer genau und notwendig vorbestimmt.
Es kann keiner daran zweifeln, daß es Vorgänge in unserem Körper gibt, wie der Blutlauf, der Pulsschlag, die von unserem Willen nicht abhängen; oft auch begehen wir etwas in der Wut oder sonst einem Affekt, das unsere Vernunft verurteilen muß. Unsere Widersprecher wollen durch all diese sichtbaren und beschränkenden Ketten beweisen, daß wir dermaßen auch in allen übrigen Handlungen gehemmt sind.
Sie sagen: Bald ist der Mensch von wilden Leidenschaften gepackt, deren Gewalt er nicht widerstehen kann. Bald leitet ihn ein friedliches Gefühl, das unmerkbar in ihm aufsteigt, und dessen er ebensowenig Herr ist. Also, der Mensch ist ein Sklave, der zwar Gewicht und Schande der Ketten oft überfühlt: aber immerhin ein Sklave.
Wenn man so will, kann man auch sagen: Die Menschen sind zuweilen krank, darum gibt es keine Gesundheit. Während doch im Gegenteil dies Empfinden des Krankseins ein Beweis dafür ist, daß man vorher gesund und frei war!
Im Rausch, in blinder Wutleidenschaft, bei der Zerrüttung einzelner Organe usw., gehorchen unsere 57 Sinne nicht mehr unserer Freiheit: und da sind wir ebensowenig frei wie es unmöglich ist, einen paralysierten Arm zu bewegen.
Freiheit ist die Gesundheit der menschlichen Seele. Wenige Menschen besitzen diese voll und unversehrt. Denn unsere Freiheit hat Schwächen und Schranken wie alle unsere anderen Fähigkeiten: wir stählen sie, indem wir uns gewöhnen, darüber nachzudenken und unsere Leidenschaften zu bezwingen: diese Gymnastik der Seele stärkt unser Freiheitsgefühl. Aber was wir auch tun, es kann uns nie gelingen, es über alle unsere Wünsche zu setzen. Und genau wie unser Körper wird unsere Seele immer ungewollten Regungen untertan sein: denn wir sind weder weise, noch frei, noch gesund, außer in ganz winzigen Augenblicken.
Ich weiß: man kann mit aller Gewalt die Vernunft knebeln und den Tieren die Freiheit wegleugnen, indem man sie wie Maschinen ansieht, ohne Gefühl, Wunsch oder Willen, obwohl sie scheinbar das alles besitzen. Gewiß kann man Systeme, will sagen: Irrtümer, zur Erklärung der Natur aufstellen. Aber wer sich selber einmal die Frage stellt, muß doch zugeben, wenn er nur ein wenig guten Glaubens ist, daß wir einen Willen haben, daß wir fähig sind, zu handeln, unsere Glieder zu rühren, unseren Geist auf bestimmte Gedanken zu richten, unsere Wünsche zu bezwingen usw. 58
Die Feinde der Freiheit müssen also zugeben, daß ein inneres Gefühl uns sagt, wir seien frei. Und ich wage zu behaupten, daß niemand gutgläubig seine eigene Freiheit in Rede stellt, daß keines Menschen Gewissen diese künstliche Theorie anerkennt, wonach sie glauben möchten, in jeder ihrer Handlungen irgendwie genötigt zu sein. Auch wird von diesen Leuten nicht nur die Existenz eines inneren Freiheitsgefühls geleugnet, nein, sie sagen sogar: »Gut, und dieses anerkannt, so ist noch immer nichts bewiesen. Denn unser Empfinden täuscht uns über unsere Freiheit genau so, wie unsere Augen uns über die Größe der Sonne täuschen, wenn wir erklären, dieser Stern habe ungefähr einen Radius von zwei Fuß, obwohl er in Wirklichkeit hundertmal größer ist als der unserer Erde.«
Darauf kann mir entgegnet werden: »Sie vergleichen zwei ganz verschiedene Fälle.« Ich kann und darf die Dinge nur sehen im Verhältnis zu ihrer Größe und im umgekehrten Verhältnis der Quadrate ihrer Entfernung. So ist das mathematische Gesetz der Optik, und so ist auch die Natur unserer Organe: daß, wenn ich die Sonne in ihrer wirklichen Größe sehen könnte, es mir unmöglich wäre, ein Ding auf der Erde zu sehen. Also wäre die erste Fähigkeit mir nur schädlich. Es ist das genau so wie mit dem Gehör und dem Geruch. Der Eindruck auf meine Sinne ist schwach oder stark je nach der Entfernung 59 der geräusch- und gerucherzeugenden Objekte. Auch hat mich Gott keineswegs betrogen, wenn er mir das Entfernte nur in der verhältnismäßigen Größe zur Entfernung zeigt. Aber wenn ich glauben würde, frei zu sein, und es nicht wäre, müßte mich Gott absichtlich geschaffen haben, um mich zu betrügen. Denn unsere Handlungen erscheinen uns frei in genau derselben Weise, wie sie es täten, wenn wir wirklich frei wären.
Meinen Gegenrednern bliebe nur noch ein negatives Argument übrig: nämlich daß wir möglicherweise so geschaffen sind, daß wir uns ohne Ausnahme immer über unsere Freiheit täuschen – was immerhin insofern unsinnig wäre, als aus der somit angenommenen ewigen Illusion alles Geschehens sich herausstellen würde, daß der schöpferische Gott, unser Herr, uns immer hinters Licht geführt hätte, was seiner unnennbaren Weisheit unwürdig wäre.
Ja, ich sage: Gott. Man wird es einem Philosophen bitter anrechnen? Aber da dieses Gottes Existenz unwiderruflich bewiesen ist, so ist auch sicher er der Schöpfer meiner Freiheit, wenn ich frei bin, und der Schöpfer meines Irrtums, wenn er aus mir ein nur passives Wesen gemacht hat, und mir die unerschütterliche Empfindung einer mir verweigerten Freiheit geschenkt hat.
Dies innere Gefühl unserer Freiheit ist so stark, daß wir an ihr zweifeln würden, wenn uns 60 demonstriert werden könnte, daß es ein Widersinn ist, frei zu sein. Aber gewiß gibt es so einen Einspruch nicht.
Zu all diesen Gründen, die die Einwände der Fatalisten über den Haufen werfen, kommt hinzu, daß sie selber in jedem Augenblick ihre Meinung durch ihr eigenes Betragen verleugnen: Man wird nämlich unsere Freiheit durch noch so sichere Beweise aus der Welt deuteln mögen, wir werden uns wenigstens immer so benehmen, als ob wir frei wären, so stark ist das Gefühl davon in unserer Seele verwurzelt; so mächtig wirkt dieses, trotz aller Vorurteile, auf unsere sämtlichen Handlungen. 61
Frage den Frosch, was Schönheit ist, το καλὸν: er wird dir sagen, sein Weibchen mit den zwei runden, aus seinem kleinen Kopf hervorstehenden Augen, dem breiten und platten Maul, dem gelben Bauch und dem braunen Rücken. Fragt einen Neger aus Guinea: Schönheit für ihn ist eine schwarze ölige Haut, tiefliegende Augen, eine Plattnase.
Fragt den Teufel: für ihn ist Schönheit ein Paar Hörner, vier Krallen, ein Schwanz. Und fragt einen Philosophen, er sagt euch Kauderwelsch. Aber alle brauchen einen Grundtyp: το καλὸν.
Einst erlebte ich mit einem Philosophen eine seltsame Tragödie: »Wie schön ist das!« rief er aus. »Was ist daran schön?« fragte ich. »Daß der Künstler sein Ziel erreicht hat.«
Nächsten Tages nahm er eine Medizin zu sich, die ihm wohltat: »Sie hat ihr Ziel erreicht,« rief ich, »welch schöne Medizin!« Und er sah ein, daß man eine Medizin nicht schön nennen könne, daß ein Gegenstand, dem man Schönheit zuspricht, unsere 62 Bewunderung und unsere Freude hervorrufen muß. Daß diese zwei Begriffe der Maßstab für das το καλὸν seien.
Wir reisten nach England. Man spielte dort dasselbe Stück wie in Paris, in guter Übertragung. Aber alle Zuhörer gähnten. »Oh, oh,« meinte er, »ist το καλὸν nicht das gleiche für die Engländer wie für die Franzosen?« Nach tiefer Überlegung entschied er, daß Schönheit sehr relativ ist, genau wie manches, was in Japan erlaubt ist, in Rom verpönt wird, und was in Paris Mode ist, in Peking unverstanden bleibt.
Und er ersparte sich die Mühe, ein langes Traktat über Schönheit zu schreiben. 63
Was ist Tugend? Seinem Nächsten wohltun. Kann ich etwas anderes Tugend nennen als das, was mir guttut?
Ich bin arm, du bist freigebig. Ich schwebe in Gefahr, du eilst mir zu Hilfe. Man betrügt mich, du enthüllst mir die Wahrheit. Ich bin verlassen, du tröstest mich. Ich weiß etwas nicht, du belehrst mich: für dies alles nenne ich dich tugendhaft. Was aber beginnen mit all jenen theologischen und anderen Haupttugenden? Wir lassen sie in den Schulen vermodern.
Was geht es mich an, daß du Temperenzler bist! Das ist ein Gesundheitsrezept, und wenn du dich dabei wohler fühlst: herzlichen Glückwunsch! Du hast den Glauben und die Hoffnung: um so besser, dann kommst du in den Himmel.
Deine Religionstugenden sind ein himmlisches Geschenk. Deine Kardinaltugenden sind glänzende Fähigkeiten. Aber das sind keine Taten deinem Nächsten gegenüber! Der Kluge tut Gutes für sich, 64 der Tugendhafte tut es für die andern. Sankt Paulus hatte recht, als er sagte, daß dem Glauben und der Hoffnung die Wohltätigkeit vorangeht.
Wie aber: ist nur das Tugend, was dem Nächsten Nutzen bringt? Jawohl, sonst wüßt ich nicht, was! Wir leben in Gemeinschaft: also kann nur das gut geheißen werden, was für alle gut ist.
Ein Einsiedler mag mäßig sein, fromm, von einem Talar umfangen, ein Heiliger, ja! Aber tugendhaft wird er für mich erst sein, wenn er für andere eine gute Tat getan hat. Solange er einsam bleibt, ist er weder gut noch schlecht: er existiert nicht für uns. Daß der heilige Bruno Familien glücklich und Arme reich gemacht hat, das ist seine Tugend; daß er fastete und betete, hat ihn nur zum Heiligen gemacht. Die menschliche Tugend ist ein Gutes-Wirken. Wenn ein Heiliger unter die Menschen tritt, wirkt er auch wahrscheinlich Gutes. Einsam geht er uns nichts an.
Aber, könnt ihr mir entgegnen, wenn ein Einsiedler ein Vielfresser, ein Säufer und heimlicher Lüstling ist, muß man ihn doch einen Sünder nennen, und nur tugendhaft, wenn er das Gegenteil ist von alledem? Das stimmt nicht. Wohl ist er ein schmutziges Individuum, wenn er alle die zitierten Fehler hat, aber immerhin noch kein Sünder, kein Schuft, der Strafe verdient, gegenüber der Gemeinschaft, der er nicht schadet. Zwar ist anzunehmen, 65 daß er zum Verbrecher würde, in der Umgebung der Vielen; und noch wahrscheinlicher ist es, daß der zum schlechten Menschen wird, als daß ein mäßiger und frommer Einsiedler gut wird; denn in der Gesellschaft vergrößern sich die Laster und schrumpfen die guten Eigenschaften zusammen.
Eine andere noch stärkere Entgegnung: Nero, der Papst Alexander VI. und andre Monstren dieses Kalibers sind auch hier und da wohltätig gewesen! – Gut: dann behaupte ich, daß sie tugendhaft waren.
Einige Theologen sagen, daß der göttliche Kaiser Antonius nicht tugendhaft war: denn er sei ein störrischer Stoiker gewesen, er habe von den Menschen nicht nur Gehorsam, sondern Hochachtung gefordert, alles Gute, das er tat, habe er sich selber zum Nutzen angerechnet; er sei nur aus Eitelkeit gerecht, fleißig und wohltätig gewesen; kurz und gut, er habe die Menschheit mit seinen Tugenden nur betrogen und hintergangen – ich rufe: »Gott, gib uns nur oft solche Schufte zu Königen!« 66
Ein Bettler aus der Umgebung von Madrid bat hochmütig um ein Almosen. Ein Vorübergehender herrschte ihn an: »Schämen Sie sich nicht, zu betteln, wo Sie doch gut arbeiten könnten?« – »Lieber Herr,« entgegnete der Bettler, »ich bitte Sie um Geld, nicht um gute Ratschläge,« und drehte ihm mit kastilianischer Würde den Rücken. Das war ein eitler Landstreicher, schnell in seiner Würde verletzt. Er bettelte aus Eigenliebe, und duldete keinen Tadel durch eine andere Eigenliebe.
Ein Missionar traf in Indien einen angeketteten Fakir, der, affennackt auf dem Bauch liegend, sich für die Sünden seiner Mitbürger mit Ruten schlagen ließ, wofür er einige Pfennige dortigen Geldes bekam. »Welch eine Selbstaufopferung!« staunte ein Zuschauer. »Selbstaufopferung?« stöhnte der Fakir. »Wisse, Fremder, daß ich mich auf dieser Welt nur deshalb durchhauen lasse, um es dir in der anderen besser heimzuzahlen, wo du Roß sein wirst und ich Reiter!« 67
In Spanien, Indien und der ganzen Welt behalten also die Recht, die behaupten, daß alle unsere Gefühle und unsere Taten auf der Eigenliebe beruhen. Und es ist unnötig zu schreiben, daß die Menschen Eigenliebe haben, wie sie ein Gesicht haben.
Eigenliebe liegt allem unsern Tun zugrunde: sie ist zu unserer Erhaltung und Fortpflanzung nötig. Wir mögen sie auch gern, sie erfreut uns: warum verbergen wir sie immer? 68
Was ist Toleranz?
Das Gottesgeschenk der Menschheit. Wir sind alle voll von Schwächen und Irrtümern: und uns unsere gegenseitigen Dummheiten zu verzeihen, das ist das erste Gebot der Natur.
Mögen sie sich alle überbieten, die Händler an der Börse von Amsterdam, London, Surate oder Bassora, – der Jude, der Mohammedaner, der Chinese, der Brahmane, der griechische Christ, der römische Christ, der protestantische Christ und der Quäker-Christ: um seiner Religion eine Seele zu gewinnen, wird keiner den Dolch zücken! Warum haben wir uns dann, seit dem ersten Konzil von Nicäa, immer ohne Unterlaß alle gegenseitig niedergemacht?
Konstantin erließ zuerst ein Edikt, das alle Religionen zuließ: dann verfolgte er sie. Vor ihm erhob man sich gegen die Christen erst, wenn sie eine Partei im Staate zu werden drohten. Die Römer erkannten alle Kulte an, selbst den jüdischen und den ägyptischen, trotz ihrer großen Verachtung für diese. 69 Warum? Weil weder die Ägypter noch die Juden Roms alte Götter zu stürzen und weder zu Meer noch zu Land Proselyten zu machen suchten: sie wollten nur Geld verdienen. Aber zweifellos wollten die Christen nur ihre Religion als herrschende einsetzen. Die Juden wollten keine Jupiterstatue in Jerusalem haben, aber die Christen auch keine auf dem Kapitol. Sankt Thomas gibt mit großer Ehrlichkeit zu: wenn die Christen die Kaiser nicht entthront haben, so lag es nur daran, daß sie es nicht vermochten. Ihre Überzeugung war, daß die ganze Welt christlich denken müsse. Drum waren sie notwendig aller Welt feind, bis sie bekehrt war.
Sie waren auch untereinander feind in jeglichem Streitfall. Sollte man Christus als Gott ansehen? Diejenigen, die das leugneten, wurden als »Ebioniten« in den Kirchenbann getan von den Verehrern Jesu, die ihrerseits auch einen Bann über sie verhängten.
Wenn einige die Gemeinschaft der Güter fordern, wie sie zur Apostelzeit bestanden haben soll, werden sie von ihren Gegnern Nikolaiten geschimpft und der gräßlichsten Verbrechen angeklagt. Andere, einer Art Mystik ergeben, werden Gnostiker genannt und mit Wut bekämpft. Marcio, der die Dreieinigkeit in Frage stellt, wird als Ketzer verschrieen. Tertullian, Praxeas, Origenes, Novatius, Novatian, Satellius, Donatius werden von ihren Brüdern vor 70 Konstantin verfolgt. Kaum hat Konstantin die christliche Kirche eingesetzt, zerreißen einander Athanasier und Eusebier: seit der Zeit, bis heute, ist die christliche Kirche von Blut überschwemmt.
Ich gebe es zu: die Juden waren ein sehr barbarisches Volk. Sie erdrosselten ohne weiteres die Einwohner kleiner unglücklicher Länder, auf die sie kein größeres Recht hatten als auf Paris oder London. Indes: wenn Naaman, nach seiner Heilung vom Aussatz, die infolge einer siebenmaligen Waschung im Jordan eintrat, dem Propheten Elisa, von dem er das Geheimnis erfahren hatte, bei seiner Dankesbezeugung sagte, daß er zum Judengott beten wolle, sich aber auch das Recht vorbehalte, den Gott seines Königs zu verehren: zögert Elisa keinen Augenblick, es ihm zu gestatten. Die Juden beteten zu ihrem Gott, aber sie wunderten sich niemals, daß jedes Volk den seinen hatte. Sie erkannten es als gerecht an, daß Chamos den Moabitern ein gewisses Gebiet geschenkt hatte, wenn sie nur von ihrem Herrn auch eins bekamen. Jakob heiratete die Tochter eines Ungläubigen. Laban aber hatte einen Gott, wie Jakob auch. Das sind Beispiele von Toleranz bei einem Volk, das das unduldsamste und grausamste des Altertums war. Wir haben seinen absurden Wahn imitiert, aber nicht seine Nachsicht.
Wer einen Menschen, seinen Bruder, verfolgt, weil der seine Ansicht nicht teilt, ist ein Monstrum. Das 71 ist klar. Was aber tun Regierungen, Magistrate, Fürsten gegen solche, die einen andern Glauben haben als sie selbst? Wenn der Fremde mächtig ist, verbünden sie sich mit ihm. Der sehr christliche Franz I. zieht im Bunde mit den Muselmanen gegen den sehr christlichen Karl V. zu Felde. Franz I. gibt den deutschen Lutheranern Geld, um ihre Revolte gegen den Kaiser zu unterstützen; in seinem eigenen Land läßt er die Lutheraner verbrennen. Aus politischen Gründen bezahlt er sie in Sachsen; aus politischen Gründen verbrennt er sie in Paris. Und dann: was geschieht? Die Verfolgungen bringen Proselyten: bald wimmelt es in Frankreich von neuen Protestanten. Erst werden sie gehängt, dann hängen sie auf. Bürgerkrieg, Bartholomäusnacht, und es geht hier schlimmer zu als in allen von Antiken und Modernen erdichteten Höllen.
Sinnlose ihr, die ihr den Gott, der euch schuf, nie mit Reinheit anbeten konntet! Verdammte ihr, die ihr nichts gelernt habt von den Noachiden, von den chinesischen Gelehrten, nichts von den Parsen und allen anderen Weisen! Ungeheuer, die ihr vom Aberglauben lebt wie die Raben vom Aas. Es ist euch schon oft gesagt worden, und man kann es nur immer wiederholen: wenn ihr zwei Religionen bei euch habt, werden sie sich immer in den Haaren liegen. Wenn ihr aber dreißig habt, werden sie alle in Frieden leben. 72
Seht euch den Türken an: er herrscht über griechische und römische Christen und Nestorianer. Wer Streit anfangen will, wird gelyncht. Alle leben sie in Ruhe beisammen. 73