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Es gibt nichts schöneres als den Newskij-Prospekt, wenigstens in Petersburg nicht: für Petersburg bedeutet er alles. Welcher Glanz fehlt noch dieser schönsten Straße unserer Hauptstadt? Ich weiß, daß keiner von den blassen und beamteten Einwohnern Petersburgs diese Straße gegen alle Kostbarkeiten der Welt eintauschen würde. Nicht nur der Fünfundzwanzigjährige, der einen wundervollen Schnurrbart und einen prachtvoll genähten Rock besitzt, sondern auch der, auf dessen Kinn weiße Stoppeln sprießen und dessen Kopf so kahl ist wie ein silbernes Tablett, ist vom Newskij-Prospekt entzückt. Und erst die Damen! Oh, den Damen ist der Newskij-Prospekt noch angenehmer! Und wem ist er nicht angenehm? Kaum hat man den Newskij-Prospekt betreten, so atmet man nichts als müßiges Herumschlendern. Wenn man sogar ein wichtiges, unaufschiebbares Geschäft vorhat, so vergißt man es, sobald man auf dem Newskij ist. Dies ist der einzige Ort, wo die Menschen nicht von irgendeiner Notwendigkeit getrieben erscheinen, nicht vom Geschäftsinteresse, von dem das ganze Petersburg ergriffen ist. Der Mensch, dem man auf dem Newskij-Prospekt begegnet, scheint weniger Egoist zu sein, als einer, den man in der Morskaja-, Gorochowaja-, Litejnaja-, Mjeschtschanskaja- und in jeder anderen Straße trifft, wo Gier und Habsucht auf allen Gesichtern ausgeprägt sind, die vorbeigehen und in Equipagen und in Droschken vorbeijagen. Der Newskij-Prospekt ist die wichtigste Verkehrsader von ganz Petersburg. Ein Bewohner des Petersburger oder des Wyborger Stadtteils, der seinen Freund, welcher im Peski-Stadtteil oder am Moskauer Tor wohnt, schon seit mehreren Jahren nicht besucht hat, kann sicher darauf rechnen, daß er ihm auf dem Newskij-Prospekt begegnet. Kein Adreßbuch und keine Auskunftsstelle können so zuverlässige Nachrichten geben wie der Newskij-Prospekt. Der Newskij-Prospekt ist allmächtig! Er ist die einzige Zerstreuung für das an Spaziergängen so arme Petersburg! Wie sauber sind seine Bürgersteige gekehrt, und, mein Gott, wieviel Füße hinterlassen auf ihm ihre Spuren! Der plumpe schmutzige Stiefel des gedienten Soldaten, unter dem selbst das Granitpflaster zu bersten scheint, das winzige, wie Rauch leichte Schuhchen der jungen Dame, die ihr Köpfchen den glänzenden Schaufenstern zuwendet, wie die Sonnenblume der Sonne, der rasselnde Säbel des von Hoffnungen erfüllten Fähnrichs, der in ihn eine scharfe Spur kratzt, – alles läßt ihn die Macht der Kraft und die Macht der Schwäche fühlen. Wie schnell wechseln hier die phantastischen Bilder im Laufe eines einzigen Tages ab! Wieviel Veränderungen muß er in vierundzwanzig Stunden erleiden! Fangen wir mit dem frühen Morgen an, wo ganz Petersburg nach heißen, frischgebackenen Broten riecht und von alten Weibern in zerrissenen Kleidern und Mänteln wimmelt, die die Kirchen und die mitleidigen Passanten überfallen. Um diese Stunde ist der Newskij-Prospekt leer: die dicken Ladenbesitzer und ihre Kommis schlafen noch in ihren holländischen Hemden, oder seifen sich ihre edlen Wangen ein, oder trinken Kaffee; die Bettler versammeln sich vor den Türen der Konditorei, wo der verschlafene Ganymed, der gestern mit den Tassen Schokolade wie eine Fliege herumgeflogen ist, ohne Halsbinde, mit einem Besen in der Hand erscheint und ihnen ausgetrocknete Kuchen- und Speisereste hinwirft.
Durch die Straßen zieht arbeitendes Volk; manchmal sieht man hier auch einfache russische Bauern, die in kalkbeschmierten Stiefeln, die selbst der Katharinen-Kanal, der wegen seiner Sauberkeit berühmt ist, nicht abwaschen könnte, zur Arbeit eilen. Um diese Stunde sollen sich Damen hier lieber nicht zeigen, denn das russische Volk wendet gerne so kräftige Ausdrücke an, die sie wohl auch nicht im Theater zu hören bekommen. Manchmal sieht man hier auch einen verschlafenen Beamten mit einer Aktentasche unter dem Arm, den der Weg nach seinem Departement zufällig über den Newskij führt. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß um diese Tageszeit, das heißt bis zur Mittagsstunde, der Newskij-Prospekt für niemand ein Ziel bildet; er ist für alle nur ein Mittel: er füllt sich allmählich mit Menschen, die ihre Beschäftigungen, ihre Sorgen und ihren Ärger haben und an ihn gar nicht denken. Der russische Bauer spricht von zehn Kopeken oder von sieben Kupfergroschen, die alten Männer oder Frauen schwingen die Arme oder sprechen mit sich selbst, manchmal mit recht ausdrucksvollen Gebärden, aber niemand hört ihnen zu und niemand lacht über sie, höchstens einige Jungen in bunten Hausröcken, die mit leeren Schnapsflaschen oder fertigen Stiefeln in den Händen wie der Blitz über den Newskij-Prospekt schießen. Um diese Zeit darf man nach Belieben gekleidet sein, – wenn man sogar statt eines Hutes eine Tellermütze aufhat, auch wenn der Kragen zu weit aus der Halsbinde hervorsteht, – niemand wird es merken.
Um zwölf Uhr wird der Newskij-Prospekt von den Hofmeistern aller Nationen mit ihren Zöglingen in Batistkragen überfallen. Die englischen Johns und die französischen Coqs gehen Arm in Arm mit den ihrer väterlichen Obhut anvertrauten Zöglingen und erklären ihnen mit gebührender Würde, daß die Schilder über den Kaufläden zu dem Zwecke angebracht seien, damit man erfahren könne, was in den Kaufläden selbst vorhanden sei. Die Gouvernanten, die blassen Misses und die rosigen Mademoiselles schreiten majestätisch hinter den leichtbeschwingten, koketten kleinen Mädchen einher und befehlen ihnen, die linke Schulter etwas höher zu ziehen und sich besser zu halten; kurz, der Newskij-Prospekt ist um diese Stunde ein pädagogischer Newskij-Prospekt. Aber gegen zwei Uhr nimmt die Zahl der Gouvernanten, der Pädagogen und der Kinder ab; sie werden allmählich von den zärtlichen Vätern der letzteren verdrängt, die Arm in Arm mit ihren buntgekleideten, nervenschwachen Lebensgefährtinnen gehen. Allmählich gesellen sich zu ihnen alle, die mit ihren wichtigen häuslichen Angelegenheiten fertig geworden sind: sie haben mit ihrem Hausarzt über das Wetter und über den kleinen Pickel gesprochen, der sich auf der Nase gebildet hat, haben sich nach dem Befinden ihrer Pferde und ihrer Kinder, die übrigens gute Fähigkeiten an den Tag legen, erkundigt, haben den Theaterzettel und eine wichtige Meldung in der Zeitung über die neueingetroffenen und die abgereisten Personen gelesen und schließlich eine Tasse Kaffee oder Tee getrunken; zu ihnen gesellen sich diejenigen, denen das beneidenswerte Los zugefallen ist, den gesegneten Posten eines Beamten für besondere Aufträge zu bekleiden. Zu ihnen gesellen sich auch diejenigen, die im Auswärtigen Amte dienen und sich durch ihre vornehmen Beschäftigungen und Angewohnheiten auszeichnen. Mein Gott, was gibt es doch für schöne Ämter und Posten! Wie erheben und erquicken sie das Herz! Ich aber stehe leider nicht im Staatsdienste und bin des Vergnügens beraubt, die feine, edle Behandlung durch die Vorgesetzten zu fühlen. Alles, was Sie auf dem Newskij-Prospekt sehen, ist von Wohlanständigkeit erfüllt: die Herren tragen lange Röcke und halten die Hände in den rückwärtigen Taschen, die Damen – rosa, weiße und blaßblaue Atlasmäntel und elegante Hüte. Hier können Sie Backenbärte sehen, die einzigen Backenbärte, die mit ungewöhnlicher und erstaunlicher Kunst hinter die Halsbinden gekämmt sind, samtweiche, atlassene Backenbärte, schwarz wie Zobel oder wie Kohle, die aber leider nur das Privileg des Auswärtigen Amtes allein bilden. Den Beamten der anderen Departements hat die Vorsehung die schwarzen Backenbärte versagt; sie müssen zu ihrem größten Ärger rötliche Backenbärte tragen. Hier sehen Sie Schnurrbärte, so herrlich, wie man sie mit keiner Feder beschreiben, mit keinem Pinsel darstellen kann; Schnurrbärte, denen die bessere Hälfte des Lebens geweiht ist, die den Gegenstand der größten Sorgfalt bei Tag und bei Nacht bilden; Schnurrbärte, mit den herrlichsten Parfüms begossen, mit den kostbarsten und seltensten Pomaden gesalbt; Schnurrbärte, die für die Nacht in das feinste Velinpapier gewickelt werden; Schnurrbärte, die von der rührendsten Anhänglichkeit ihrer Besitzer betreut werden und auf die alle Vorübergehenden neidisch sind. Tausende Sorten von bunten, leichten Hüten, Kleidern, Tüchern, an denen ihre Besitzerinnen zuweilen ganze zwei Tage lang hängen, blenden jeden, der durch den Newskij-Prospekt geht. Es ist, als hätte sich eine ganze Wolke von Schmetterlingen plötzlich von den Blumenstengeln erhoben und schwärme über den schwarzen Käfern des männlichen Geschlechts. Hier kann man solchen Taillen begegnen, wie man sie nicht mal im Traume gesehen hat: es sind feine, dünne Taillen, nicht stärker als ein Flaschenhals, – wenn man ihnen begegnet, tritt man respektvoll auf die Seite, um sie nicht irgendwie unvorsichtig mit dem unhöflichen Ellenbogen anzustoßen; Angst und Scheu übermannen einen, daß man nicht mit einem unvorsichtigen Atemzug dieses herrliche Produkt der Natur und der Kunst zerbreche. Und was für Damenärmeln kann man auf dem Newskij-Prospekt begegnen! Ach, diese Herrlichkeit! Sie haben einige Ähnlichkeit mit zwei Luftballons, so daß die Dame plötzlich in die Luft steigen könnte, wenn der Herr sie nicht festhielte; denn es ist ebenso leicht und angenehm, eine Dame in die Höhe zu heben, wie ein mit Champagner gefülltes Glas an die Lippen zu führen. Nirgends begrüßt man sich bei einer Begegnung so vornehm und so ungezwungen wie auf dem Newskij-Prospekt. Hier kann man das einzige Lächeln sehen, das Lächeln, das der Gipfel der Kunst ist, ein Lächeln, vor dem man zuweilen vor Vergnügen schmelzen kann, vor dem man sich plötzlich so winzig wie ein Grashalm fühlt und die Augen niederschlägt, zuweilen aber auch ein Lächeln, vor dem man sich höher als die Spitze des Admiralitäts-Turmes dünkt und den Kopf hebt. Hier begegnet man Menschen, die über ein Konzert oder über das Wetter mit ungewöhnlichem Anstand und einem ungewöhnlichen Gefühl für eigene Würde sprechen. Hier begegnet man Tausenden von unfaßbaren Charakteren und Erscheinungen. Du lieber Gott, was für seltsame Charaktere trifft man auf dem Newskij-Prospekt! Es gibt hier eine Menge von solchen Menschen, die bei einer Begegnung mit Ihnen unbedingt auf Ihre Stiefel schauen, und, wenn Sie vorbeigegangen sind, sich umwenden, um sich Ihre Rockfalten anzusehen. Ich kann bis jetzt nicht begreifen, woher das kommt. Ich hatte anfangs geglaubt, es seien lauter Schuhmacher, aber das entspricht durchaus nicht den Tatsachen: sie sind zum größten Teil an allerlei Departements angestellt, viele von ihnen sind imstande, ein amtliches Schreiben von einer Amtsstelle an eine andere bestens abzufassen; oder es sind Menschen, die sich mit Spazierengehen und mit dem Lesen von Zeitungen in Konditoreien beschäftigen, – mit einem Worte, es sind zum größten Teil anständige Menschen. In dieser gesegneten Zeit zwischen zwei und drei Uhr nachmittags, die man die Zeit der Bewegung der ganzen Hauptstadt nennen kann, findet die Hauptausstellung der besten menschlichen Erzeugnisse statt: der eine zeigt einen eleganten Überrock mit dem schönsten Biberkragen; der andere eine herrliche griechische Nase; der dritte trägt einen wunderbaren Backenbart zur Schau; die vierte ein Paar schöne Augen und einen wunderbaren Hut; der fünfte – einen Ring mit einem Talisman auf dem gepflegten kleinen Finger; die sechste – ein Füßchen in einem entzückenden Schuh; der siebente – eine staunenswerte Krawatte; der achte – einen verblüffenden Schnurrbart. Aber es schlägt drei, die Ausstellung ist zu Ende, die Menge verzieht sich . . . Um drei Uhr ist eine neue Veränderung. Auf dem Newskij-Prospekt bricht plötzlich der Frühling an: er wimmelt auf einmal ganz von Beamten in grünen Uniformröcken. Die hungrigen Titular-, Hof- und sonstigen Räte bemühen sich, ihre Schritte zu beschleunigen. Die jungen Kollegien-Registratoren, die Gouvernements- und Kollegien-Sekretäre beeilen sich, die Zeit auszunützen und einmal durch den Newskij-Prospekt mit einer Miene zu gehen, als hätten sie beileibe nicht sechs Stunden in der Kanzlei gesessen. Aber die alten Kollegien-Sekretäre, Titular- und Hofräte gehen schnell mit gesenkten Köpfen: sie haben andere Dinge im Sinn, als die Spaziergänger zu mustern; sie haben sich von ihren Sorgen noch nicht ganz losgerissen; in ihren Köpfen ist ein Wirrwarr, ein ganzes Archiv begonnener und nicht beendeter Amtsgeschäfte; statt der Ladenschilder sehen sie lange Zeit nur Aktenschachteln oder das runde Gesicht des Kanzleivorstandes vor sich.
Von vier Uhr ab ist der Newskij-Prospekt leer, und man kann auf ihm kaum noch einem Beamten begegnen. Man sieht höchstens eine Näherin aus dem Wäschegeschäft, die mit einem Karton in den Händen über den Newskij-Prospekt läuft; irgendein unglückliches Opfer eines menschenfreundlichen Winkeladvokaten, das nun in seinem Friesmantel betteln gehen kann; irgendeinen zugereisten Sonderling, dem alle Stunden gleich sind; irgendeine lange Engländerin mit einem Strickbeutel und einem Buch in der Hand; einen Geschäftsdiener, einen Russen im baumwollenen Rock, mit hoher Taille und einem dünnen Bärtchen, der immer auf dem Sprung lebt und an dem sich alles bewegt: der Rücken, die Arme, die Beine und der Kopf, wenn er bescheiden über das Trottoir geht; manchmal auch einen armen Handwerker . . . sonst begegnet man um diese Stunde auf dem Newskij-Prospekt niemand.
Sobald sich aber die Dämmerung auf die Häuser und die Straßen senkt, wenn der in eine Bastmatte gehüllte Nachtwächter auf die Leiter steigt, um die Laternen anzuzünden und in den niederen Ladenfenstern solche Stiche erscheinen, die sich am Tage nicht zu zeigen trauen, – dann wird der Newskij-Prospekt wieder lebendig und beginnt sich zu regen. Dann bricht jene geheimnisvolle Stunde an, wo die Lampen allen Dingen ein verlockendes, wunderbares Licht verleihen. Man begegnet vielen jungen Leuten, zum größten Teil Junggesellen, in warmen Röcken und Mänteln. Um diese Zeit läßt sich ein gewisses Ziel vermuten, oder, besser gesagt, etwas, was einem Ziele ähnlich sieht, etwas außerordentlich Unbewußtes; alle Schritte werden beschleunigt und werden überhaupt ungleichmäßig; lange Schatten gleiten über die Mauern und das Pflaster und erreichen mit ihren Köpfen beinahe die Polizeibrücke. Die jungen Kollegien-Registratoren, Gouvernements- und Kollegien-Sekretäre gehen sehr lange auf und ab; aber die alten Kollegien-Registratoren, Titular- und Hofräte sitzen zum größten Teil zu Hause, denn sie sind verheiratete Leute oder haben bei sich deutsche Köchinnen, die ihnen die Speisen sehr schmackhaft zubereiten. Jetzt begegnet man hier wieder den ehrenwerten Greisen, die mit solcher Würde und so wunderbarem Anstand um zwei Uhr auf dem Newskij-Prospekt spazierengegangen sind. Sie rennen ebensoschnell wie die jungen Kollegien-Registratoren, um einer Dame, die sie schon aus der Ferne bemerkt haben, unter den Hut zu sehen, einer Dame, deren dicke Lippen und dick bemalte Wangen vielen Spaziergängern so sehr gefallen, am meisten aber den Ladenkommis, den Geschäftsdienern und den Kaufleuten, die in deutschen Röcken in einem ganzen Rudel, gewöhnlich Arm in Arm, spazierengehen.
»Halt!« rief um diese Zeit der Leutnant Pirogow und zupfte den neben ihm gehenden, mit einem Frack und einem Mantel bekleideten jungen Mann am Ärmel. »Hast du sie gesehen?«
»Ich habe sie gesehen: herrlich, ganz wie Peruginos Bianca.«
»Von welcher sprichst du?«
»Von ihr, von der mit den dunklen Haaren . . . Was für Augen! Gott, was für Augen! Die ganze Figur, der Umriß, das Oval des Gesichts – ein wahres Wunder!«
»Ich spreche aber von der Blondine, die hinter ihr nach jener Seite ging. Warum folgst du dann nicht der Brünetten, wenn sie dir so gut gefällt?«
»Was denkst du dir!« rief der junge Mann im Frack errötend. »Sie ist doch nicht eine von jenen, die jeden Abend auf dem Newskij-Prospekt herumspazieren; sie muß eine sehr vornehme Dame sein«, fuhr er mit einem Seufzer fort: »der Mantel allein wird seine achtzig Rubel gekostet haben!«
»Einfaltspinsel!« rief Pirogow und stieß ihn gewaltsam nach jener Richtung, wo ihr leuchtender Mantel wehte. »Geh, du Narr, sonst verpaßt du sie! Ich gehe aber der Blondine nach.« Die beiden Freunde trennten sich.
. . . Wir kennen euch alle! – dachte bei sich Pirogow mit einem selbstgefälligen und selbstbewußten Lächeln, überzeugt, daß es keine Schönheit gäbe, die ihm widerstehen könnte.
Der junge Mann im Frack und Mantel ging mit schüchternen und bebenden Schritten nach der Seite, wo der bunte Mantel wehte, bald in grellen Farben leuchtend, wenn sie sich einer Laterne näherte, bald im Dunkel verschwindend, wenn sie sich von der Laterne entfernte. Sein Herz klopfte, und er beschleunigte unwillkürlich seine Schritte. Er wagte nicht einmal daran zu denken, daß er irgendein Recht auf die Aufmerksamkeit der sich entfernenden Schönen erlangen könne, noch viel weniger konnte er den schwarzen Gedanken zulassen, auf den der Leutnant Pirogow angespielt hatte; er wollte nur das Haus sehen, sich merken, wo dieses herrliche Wesen wohnte, das auf den Newskij-Prospekt vom Himmel herabgeflogen schien und das wohl gleich wieder, unbekannt wohin, entschweben wird. Er lief so schnell, daß er unaufhörlich solide Herren mit grauen Backenbärten vom Trottoir stieß. Dieser junge Mann gehörte zu der Klasse, die bei uns eine ziemlich seltene Erscheinung bildet und zu den Bürgern Petersburgs nur im gleichen Maße zählt, in dem eine uns im Traume erscheinende Person zu der Welt der Wirklichkeit gehört. Dieser exklusive Stand ist sehr ungewöhnlich in dieser Stadt, wo fast alle Einwohner entweder Beamte, oder Kaufleute, oder deutsche Handwerker sind. Er war Künstler. Nicht wahr, eine seltsame Erscheinung – ein Petersburger Künstler? Ein Künstler im Lande des Schnees, im Lande der Finnen, wo alles naß, glatt, flach, bleich, grau und neblig ist! Diese Künstler gleichen gar nicht den italienischen Künstlern, die so stolz und heißblütig sind wie Italien und sein Himmel; sie sind vielmehr zum größten Teil ein gutmütiges, sanftes Völkchen, schüchtern und sorglos. So ein Künstler hängt mit einer stillen Liebe an seiner Kunst, trinkt in seinem kleinen Zimmer mit zwei Freunden Tee, spricht bescheiden über den geliebten Gegenstand und denkt niemals an einen Überfluß. So ein Künstler lädt irgendeine alte Bettlerin zu sich ein und zwingt sie, geschlagene sechs Stunden zu sitzen, um ihre elende, ausdruckslose Miene auf die Leinwand zu bannen. Er zeichnet die perspektivische Ansicht seines Zimmers, in dem allerhand künstlerisches Gerümpel herumliegt: Hände und Füße aus Gips, die durch die Zeit und den Staub kaffeebraun geworden sind, zerbrochene Staffeleien, eine umgeworfene Palette; einen Freund, der die Gitarre spielt, mit Farben beschmierte Wände und ein offenes Fenster, durch das man die blasse Newa und arme Fischer in roten Hemden sieht. Sie haben fast alle ein graues, trübes Kolorit – den unauslöschlichen Stempel des Nordens. Dabei hängen sie mit aufrichtigem Entzücken an ihrer Arbeit. Sie haben oft ein wahres Talent, das, wenn es nur in die frische Luft Italiens käme, sich sicher ebenso frei, groß und grell entfalten würde wie eine Pflanze, die man aus dem Zimmer endlich in die frische Luft bringt. Sie sind im allgemeinen schüchtern: ein Ordensstern und eine dicke Epaulette verwirren sie dermaßen, daß sie unwillkürlich den Preis ihrer Werke herabsetzen. Sie tragen sich zuweilen elegant, aber diese Eleganz erscheint bei ihnen zu auffallend und hat einige Ähnlichkeit mit einem Flicken auf einem alten Anzug. Man sieht sie manchmal in einem vorzüglichen Frack und einem schmutzigen Mantel, in einer kostbaren Samtweste und in einem mit Farben beschmierten Rock – so sieht man auch auf ihren unvollendeten Landschaften zuweilen eine mit dem Kopf nach unten gezeichnete Nymphe, die der Künstler, mangels eines anderen Platzes, auf den schmierigen Grund eines früheren Werkes hingeworfen, an dem er einst mit solchem Genuß gearbeitet hatte. Er sieht einem niemals gerade in die Augen; tut er es doch, so blickt er trüb und nichtssagend; es ist niemals der Habichtblick eines Beobachters oder der Falkenblick eines Kavallerieoffiziers. Das kommt daher, weil er zur gleichen Zeit ihre Züge und die Züge irgendeines gipsernen Herkules sieht, der in seinem Zimmer steht, oder weil ihm ein Bild vorschwebt, das er zu malen beabsichtigt. Darum beantwortet er die Fragen oft unzusammenhängend, manchmal falsch, und die sich in seinem Kopf vermischenden Gegenstände vergrößern noch mehr seine Schüchternheit. Zu diesem Schlage gehörte auch der von uns geschilderte junge Mann, der Maler Piskarjow, ein schüchterner und scheuer Mensch, in dessen Seele aber Funken eines Gefühls glommen, die bei einer günstigen Gelegenheit zu einer Flamme auflodern konnten. Mit heimlichem Beben eilte er dem Gegenstande seiner Bewunderung nach, der ihn so tief erschüttert hatte, und er schien selbst über seine Kühnheit zu staunen. Das unbekannte Geschöpf, das seine Augen, Gedanken und Gefühle so mächtig anzog, wandte plötzlich den Kopf und sah ihn an. Mein Gott, was für göttliche Züge! Die blendend weiße entzückende Stirne war von achatgleichen Haaren beschattet. Sie bildeten wunderbare Locken, fielen zum Teil unter dem Hute hervor und berührten die Wangen, die von der abendlichen Kälte leicht gerötet waren. Die Lippen schienen von einem ganzen Schwarm entzückender Träume versiegelt. Alles, was von den Erinnerungen der Kindheit zurückbleibt, was beim Scheine der stillen Lampe Träume und eine stille Begeisterung weckt – alles schien in ihren harmonischen Lippen vereinigt, floß in ihnen zusammen und spiegelte sich in ihnen. Sie blickte Piskarjow an, und unter diesem Blicke erbebte sein Herz; ihr Blick war streng: ihre Züge drückten Entrüstung aus angesichts dieser frechen Verfolgung; aber auf diesem schönen Gesicht war sogar der Zorn berückend. Von Scham und Scheu ergriffen, blieb er stehen und schlug die Augen nieder; wie kann man aber diese Gottheit verlieren, ohne das Heiligtum gefunden zu haben, in dem sie sich niedergelassen hat? Solche Gedanken kamen dem jungen Träumer in den Sinn, und er entschloß sich, sie weiter zu verfolgen. Damit sie es aber nicht merke, blieb er weit hinter ihr zurück, blickte sorglos nach allen Seiten und betrachtete die Ladenschilder, ließ aber dabei keinen Schritt der Unbekannten aus den Augen. Es kamen immer weniger Passanten vorbei, die Straße wurde stiller, die Schöne sah sich um, und es kam ihm vor, als leuchte ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen. Er erzitterte am ganzen Leibe und traute seinen Augen nicht. Nein, es war das trügerische Laternenlicht, das auf ihrem Gesicht eine Art Lächeln hervorgezaubert hatte; es waren seine eigenen Gedanken, die sich über ihn lustig machten. Aber ihm stockte der Atem, alles in ihm wurde zu einem einzigen Zittern, alle seine Gefühle glühten, und alles vor ihm war von einem Nebel umfangen; das Trottoir enteilte unter seinen Füßen, die Equipagen mit den galoppierenden Pferden schienen unbeweglich, die Brücke zog sich in die Länge und brach in ihrer Wölbung, das Haus stand auf dem Dache, ein Schilderhäuschen fiel auf ihn nieder, und die Hellebarde des Schutzmanns schien zugleich mit den goldenen Lettern des Ladenschildes und der gemalten Schere auf der Wimper seines Auges zu glänzen. Dies alles hatte ein einziger Blick, eine einzige Wendung des hübschen Köpfchens bewirkt. Ohne etwas zu hören, zu sehen und zu verstehen, folgte er den leichten Spuren der schönen Füßchen und bemühte sich, die Schnelligkeit seiner Schritte zu hemmen, die sich im gleichen Takte wie sein Herz bewegten. Zuweilen packte ihn ein Zweifel, ob ihr Gesichtsausdruck in der Tat so wohlwollend gewesen sei, und dann blieb er für einen Augenblick stehen; aber das Herzklopfen, eine unüberwindliche Gewalt und die Aufregung aller seiner Gefühle trieben ihn vorwärts. Er bemerkte sogar nicht, wie vor ihm plötzlich ein vierstöckiges Haus auftauchte, wie alle vier erleuchteten Fensterreihen ihn zugleich anblickten und wie das Geländer vor der Einfahrt ihn eisern abwehrte. Er sah, wie die Unbekannte die Treppe hinaufflog, wie sie sich umwandte, den Finger auf die Lippen legte und ihm bedeutete, ihr zu folgen. Seine Knie zitterten, seine Gedanken glühten; ein Blitz der Freude durchzuckte sein Herz: nein, es war kein Traum mehr! Gott, wieviel Freude in einem einzigen Augenblick! Ein so herrliches Leben in diesen zwei Minuten!
Aber war das alles kein Traum? War denn sie, für deren himmlischen Blick allein er sein ganzes Leben hingeben könnte, in der Nähe deren Wohnung zu sein er schon für eine unsagbare Seligkeit hielt, war sie denn ihm soeben wirklich so wohl gewogen? Er flog die Treppe hinauf. Er empfand keinen einzigen irdischen Gedanken, er war nicht von der Flamme einer irdischen Leidenschaft entzündet, – nein, er war in diesem Augenblick rein und sündlos wie ein keuscher Jüngling, der noch das ungewisse, geistige Bedürfnis nach Liebe atmet. Das, was in einem verdorbenen Menschen kühne Wünsche geweckt haben würde, das heiligte seine Gedanken noch mehr. Dieses Vertrauen, das ihm dieses schwache, schöne Geschöpf entgegenbrachte, dieses Vertrauen hatte ihm das Gebot einer strengen Ritterlichkeit auferlegt, das Gelübde, alle ihre Befehle sklavisch zu befolgen. Er wollte nur, daß diese Befehle möglichst schwer und unerfüllbar seien, damit er sie mit einer noch größeren Anspannung seiner Kräfte befolgen könnte. Er zweifelte nicht daran, daß irgendein geheimes und zugleich wichtiges Ereignis die Unbekannte bewogen hatte, sich ihm anzuvertrauen; daß sie von ihm irgendwelche wichtigen Dienste verlangen würde, und er fühlte schon in sich eine Kraft und eine Entschlossenheit, alles zu wagen.
Die Treppe wand sich hinauf, und zugleich mit ihr wanden sich seine schnellen Gedanken. »Vorsichtiger!« erklang wie eine Harfe ihre Stimme und erfüllte alle seine Adern mit einem neuen Beben. In der dunklen Höhe des vierten Stockes klopfte die Unbekannte an die Tür; die Tür öffnete sich, und sie traten zusammen ein. Eine Frau von gar nicht üblem Aussehen empfing sie mit der Kerze in der Hand und sah Piskarjow so sonderbar und so frech an, daß er unwillkürlich seine Augen niederschlug. Sie traten in ein Zimmer. Drei weibliche Gestalten in drei verschiedenen Ecken boten sich seinen Blicken. Die eine legte Karten; die andere saß am Pianino und spielte mit zwei Fingern eine Art alte Polonäse; die dritte saß vor einem Spiegel, kämmte mit einem Kamme ihr langes Haar und dachte gar nicht daran, beim Eintritt eines Unbekannten diese Beschäftigung zu unterbrechen. Eine eigentümliche, unangenehme Unordnung, wie man sie sonst nur im Zimmer eines gleichgültigen Junggesellen trifft, herrschte hier überall. Die recht guten Möbelstücke waren von Staub bedeckt; die Spinne hatte die Stuckverzierungen des Plafonds mit ihrem Gewebe überzogen; durch die halbgeöffnete Tür sah man im Nebenzimmer einen mit einem Sporn versehenen Stiefel und den roten Vorstoß einer Uniform leuchten; eine laute Männerstimme und weibliches Lachen klangen ganz ungezwungen.
Mein Gott, wo war er hingeraten! Anfangs wollte er seinen Wahrnehmungen nicht trauen und musterte aufmerksamer die Gegenstände, die das Zimmer füllten; aber die kahlen Wände und die Fenster ohne Vorhänge wiesen auf das Fehlen einer sorgenden Hausfrau hin; die abgelebten Gesichter dieser elenden Geschöpfe, von denen sich das eine dicht vor seiner Nase hinsetzte und ihn ebenso ruhig betrachtete, wie einen Fleck auf einem fremden Kleide, – dies alles gab ihm die Überzeugung, daß er in eine ekelhafte Spelunke geraten war, wo das von der oberflächlichen Bildung und der schrecklichen Übervölkerung der Hauptstadt gezeugte elende Laster nistete, in eine Behausung, wo der Mensch alles Reine und Heilige, was das Leben schmückt, gotteslästerlich erdrückt und verspottet hat, wo die Frau, diese Zierde der Welt, diese Krone der Schöpfung sich in ein seltsames, doppelsinniges Geschöpf verwandelt, wo sie zugleich mit der Reinheit der Seele alles Weibliche eingebüßt und sich alle ekelhaften Manieren und die Frechheit des Mannes angeeignet und schon aufgehört hat, jenes schwache, jenes herrliche, und von uns so verschiedene Wesen zu sein. Piskarjow maß sie vom Kopf bis zu den Füßen mit seinen erstaunten Blicken, als wolle er sich überzeugen, ob es dieselbe sei, die ihn auf dem Newskij-Prospekt bezaubert und hingerissen hatte. Aber sie stand vor ihm noch ebenso schön; ebenso schön waren noch ihre Haare und ebenso himmlisch schienen ihre Augen. Sie war noch recht frisch; sie war erst siebzehn Jahre alt; man konnte ihr ansehen, daß sie erst vor kurzer Zeit von dem schrecklichen Laster ergriffen worden war: es wagte noch nicht an ihren Wangen zu rühren, sie waren noch frisch und leicht gerötet; sie war schön.
Er stand unbeweglich vor ihr und war schon bereit, sich ebenso einfältigen Träumereien hinzugeben wie früher. Aber dieses lange Schweigen langweilte die Schöne, und sie lächelte vielsagend, ihm gerade in die Augen blickend. Doch dieses Lächeln war von einer eigenen, elenden Frechheit erfüllt: es war so seltsam und paßte ebenso zu ihrem Gesicht, wie der Ausdruck von Frömmigkeit zu der Fratze eines Wucherers oder ein Kontobuch zu einem Dichter. Er erbebte. Sie öffnete ihren hübschen Mund und begann etwas zu sprechen, aber es war so dumm, so abgeschmackt . . . Es war, als ob zugleich mit der Unschuld auch der Verstand den Menschen verließe! Er wollte nichts hören. Er war außerordentlich komisch und einfältig wie ein Kind. Statt dieses Wohlwollen auszunützen, statt sich über diesen Zufall zu freuen, wie sich an seiner Stelle wohl jeder andere gefreut haben würde, stürzte er wie eine Gazelle aus dem Zimmer und lief auf die Straße.
Mit gesenktem Kopf und herabhängenden Armen saß er in seinem Zimmer wie ein Bettler, der eine kostbare Perle gefunden und sie gleich wieder ins Meer hat fallen lassen. »Eine solche Schönheit, so göttliche Züge! Und wo? An welchem Ort? . . .« Das war alles, was er sagen konnte.
In der Tat, nie empfinden wir schmerzvolleres Mitleid als beim Anblick einer Schönheit, die vom verderblichen Odem des Lasters berührt worden ist. Wenn sich zum Laster noch die Häßlichkeit gesellt; aber die Schönheit, eine zarte Schönheit . . . Wir können sie in unseren Gedanken doch nur mit Sündlosigkeit und Reinheit verbinden. Die Schöne, die den armen Piskarjow so bezaubert hatte, war in der Tat eine wunderbare, ungewöhnliche Erscheinung. Ihre Anwesenheit in dieser verächtlichen Gesellschaft schien um so ungewöhnlicher. Alle ihre Züge waren so rein geformt, der ganze Ausdruck des schönen Gesichts war von solchem Adel gezeichnet, daß man sich unmöglich denken konnte, das Laster hätte schon seine schrecklichen Krallen in sie geschlagen. Sie hätte für einen leidenschaftlichen Gatten eine kostbare Perle, eine ganze Welt, ein ganzes Paradies, ein ganzer Reichtum sein können; sie wäre ein herrlicher, stiller Stern in einem bescheidenen Familienkreise, wo sie mit einer einzigen Bewegung ihrer herrlichen Lippen süße Befehle erteilen würde. Sie könnte eine Gottheit in einem überfüllten Saale sein, auf dem strahlenden Parkett, im Scheine der Kerzen, unter der stummen Andacht der zu ihren Füßen liegenden Schar von Verehrern. Aber ach! Der schreckliche Wille eines Höllengeistes, der danach strebt, die Harmonie des Lebens zu stören, hatte sie mit Hohngelächter in diesen schrecklichen Abgrund geworfen.
Von einem herzzerreißenden Mitleid erfüllt, saß er vor der heruntergebrannten Kerze. Die Mitternacht war längst vorüber, die Turmuhr schlug halb eins, er aber saß unbeweglich, schlaflos, untätig. Der Schlummer benützte seine Unbeweglichkeit und fing schon an, sich seiner langsam zu bemächtigen, das Zimmer fing an zu verschwinden, nur noch die Kerzenflamme allein leuchtete durch die Visionen, als plötzlich ein Klopfen an der Tür ihn auffahren und zu sich kommen ließ. Die Tür ging auf, und ein Lakai in reicher Livree trat ein. In sein einsames Zimmer hatte noch niemals eine reiche Livree hineingeblickt, zudem zu einer so ungewöhnlichen Stunde . . . Er konnte nichts begreifen und starrte mit Ungeduld und Neugierde den Lakai an.
»Die Dame«, sagte der Lakai mit einer höflichen Verbeugung, »bei der Sie vor einigen Stunden gewesen sind, läßt Sie zu sich bitten und schickt einen Wagen nach Ihnen.«
Piskarjow stand in stummem Erstaunen da: einen Wagen, ein livrierter Lakai! . . . Nein, es ist wohl ein Mißverständnis . . .
»Hören Sie einmal, mein Lieber«, sagte er schüchtern, »Sie haben sich wohl in der Adresse geirrt. Die Dame hat sie zweifellos nach jemand anders geschickt und nicht nach mir.«
»Nein, mein Herr, ich habe mich nicht geirrt. Sie haben doch geruht, die Dame zu Fuß zum Hause in der Litejnaja, ins Zimmer im vierten Stocke zu begleiten?«
»Ja, ich.«
»Nun, dann kommen Sie bitte schnell mit. Die Gnädige will Sie unbedingt sehen und bittet Sie, zu ihr ins Haus zu kommen.«
Piskarjow lief die Treppe hinunter. Draußen wartete wirklich ein Wagen. Er stieg ein, der Schlag wurde zugeklappt, die Pflastersteine dröhnten unter den Rädern und Hufen, und die erleuchtete Perspektive der Häuser mit den Laternen und den Ladenschildern flog an den Wagenfenstern vorbei. Piskarjow dachte während der ganzen Fahrt nach und wußte nicht, wie sich dieses Abenteuer zu erklären. Ein eigenes Haus, ein Wagen, ein Lakai in einer reichen Livree . . . Dies alles reimte sich gar nicht mit dem Zimmer im vierten Stock, mit den staubigen Fenstern und dem verstimmten Pianino zusammen. Die Equipage hielt vor einer hell erleuchteten Einfahrt, und er war ganz erstaunt über die Reihe von Equipagen, das Stimmengewirr der vielen Kutscher, die hellerleuchteten Fenster und die Töne der Musik. Der Lakai in der reichen Livree half ihm aus dem Wagen und führte ihn respektvoll in einen Flur mit Marmorsäulen, in dem ein goldstrotzender Portier stand, überall Mäntel und Pelze herumlagen und eine helle Lampe brannte. Eine luftige Treppe mit glänzendem Geländer führte inmitten von Wohlgerüchen hinauf. Schon war er auf der Treppe, schon trat er in den ersten Saal und erschrak und taumelte vor den vielen Leuten zurück. Die ungewöhnliche Buntheit der Gäste verwirrte ihn; es war ihm, als hätte irgendein Dämon die ganze Welt in eine Menge verschiedener Stücke zerbröckelt und diese Stücke ohne jeden Sinn und Plan vermischt. Strahlende Damenschultern und schwarze Fräcke, Lüster, Lampen, luftige, schwebende Tüllgewebe, ätherleichte Bänder und die dicke Baßgeige, die hinter dem Geländer des wundervollen Chors hervorschaute, – alles blendete ihn. Er sah auf einmal eine solche Menge ehrenwerter Greise und Halbgreise mit Ordenssternen auf den Fräcken, von Damen, die so leicht, stolz und graziös über das Parkett glitten, oder in Reihen nebeneinander saßen; er hörte so viele französische und englische Worte; außerdem waren die jungen Männer in den schwarzen Fräcken von einem solchen Anstand erfüllt, sprachen und schwiegen mit solcher Würde, verstanden so ausgezeichnet, nichts Überflüssiges zu sagen, scherzten so majestätisch, lächelten so ehrfurchtsvoll, trugen so wunderbare Backenbärte zur Schau und verstanden so kunstvoll ihre schönen Hände zu zeigen, indem sie ihre Halsbinden zurechtzupften; die Damen waren so luftig, so tief in vollkommene Zufriedenheit und Wonne versunken, schlugen so entzückend die Augen nieder, – daß . . . aber schon das demütige Aussehen Piskarjows, der sich ängstlich an eine Säule lehnte, zeigte, daß er ganz die Fassung verloren hatte. In diesem Augenblick drängte sich die Menge um eine tanzende Gruppe. Die Tänzerinnen waren in durchsichtige Schöpfungen von Paris gehüllt, in Kleider, die aus Luft gewebt schienen; flüchtig berührten sie mit ihren funkelnden Füßchen das Parkett und schienen noch ätherischer, als wenn sie es überhaupt nicht berührten. Aber eine von ihnen war schöner als alle, prachtvoller und glänzender als alle gekleidet. Ein unsagbarer feiner Geschmack spiegelte sich in ihrem ganzen Aufputz, und dabei hatte man den Eindruck, als kümmere sie sich gar nicht um ihn, als sei alles ganz von selbst entstanden. Sie sah und sah zugleich auch nicht auf die Zuschauer, die sich um sie drängten, sie hielt ihre langen Wimpern gleichgültig gesenkt, und das blendende Weiß ihres Gesichtes erschien noch blendender, wenn sich bei einer Senkung des Kopfes ein leichter Schatten auf ihre entzückende Stirn legte.
Piskarjow wandte alle Mühe an, um sich durch die Menge zu schieben und die Schöne näher zu sehen; aber irgendein großer Kopf mit dunklem Kraushaar verdeckte sie zu seinem größten Ärger immer wieder vor ihm; außerdem hatte ihn die Menge so eingezwängt, daß er weder sich vorwärtszudrängen, noch zurückzuweichen wagte, aus Furcht, irgendeinen Geheimrat anzustoßen. Da hat er sich aber doch vorgedrängt und einen Blick auf seine Kleidung geworfen, um sie etwas in Ordnung zu bringen. Du lieber Himmel, was ist denn das?! Er hat ja einen über und über mit Farben beschmierten Rock an: in der Eile hatte er ganz vergessen, sich vor dem Aufbruch anständig umzuziehen. Er errötete bis über die Ohren, senkte den Kopf und wollte in die Erde versinken; aber auch das war ganz unmöglich: hinter ihm stand eine ganze Mauer von Kammerjunkern in glänzenden Uniformen. Er wünschte sich weit fort von der Schönen mit der herrlichen Stirne und den schönen Wimpern. Voller Angst hob er die Augen, um festzustellen, ob sie ihn nicht ansehe. Mein Gott, sie stand ja vor ihm! . . . Aber was ist das, was ist das? »Das ist sie!« rief er plötzlich ganz laut. Es war in der Tat sie, dieselbe, der er auf dem Newskij begegnet war und die er bis zu ihrer Wohnung begleitet hatte.
Sie hob indessen ihre Wimpern und sah alle mit ihrem heiteren Blick an. »Ach, wie schön! . . .« das war alles, was er mit stockendem Atem sagen konnte. Sie ließ ihre Blicke im Kreise schweifen, – ein jeder wollte ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken, aber sie wandte mit einer eigentümlichen Ermüdung und Gleichgültigkeit die Blicke von allen ab und richtete sie auf Piskarjow. Oh, welch ein Himmel! Welch ein Paradies! Schöpfer, gib mir die Kraft, es zu ertragen! Das Leben kann es nicht fassen, dieser Blick muß es zerstören und die Seele entführen! Sie gab ihm ein Zeichen, aber nicht mit der Hand und nicht durch ein Nicken des Kopfes, nein, in ihren alles zermalmenden Augen kam dieses Zeichen so leise, so unmerklich zum Ausdruck, daß niemand es wahrnehmen konnte; er aber sah und verstand es. Der Tanz dauerte lange; die müde Musik schien allmählich zu ersterben und zu erlöschen, schwang sich dann wieder auf, kreischte und dröhnte; endlich war der Tanz zu Ende. Sie setzte sich; ihre ermüdete Brust hob sich unter den zarten Tüllwolken; ihre Hand (Schöpfer, was für eine wundervolle Hand!) sank auf ihre Knie, fiel auf ihr luftiges Gewand, und ihr Kleid schien unter der Last dieser Hand Musik zu atmen, und seine zarte Fliederfarbe unterstrich noch mehr das blendende Weiß dieser herrlichen Hand. Nur einmal diese Hand berühren, – und nichts mehr! Keine anderen Wünsche, – alle anderen Wünsche sind zu kühn . . . Er stand hinter ihrem Stuhl und wagte nicht, zu sprechen, wagte nicht, zu atmen. »Sie haben sich wohl gelangweilt?« sagte sie. »Auch ich habe mich gelangweilt. Ich merke, daß Sie mich hassen . . .« fügte sie hinzu, indem sie ihre langen Wimpern senkte.
»Sie hassen? Ich? . . . Ich? . . .« wollte der ganz fassungslose Piskarjow sagen; er hätte auch gewiß eine Menge unzusammenhängender Worte gesagt, aber in diesem Augenblick nahte ihr ein Kammerherr mit einem schön frisierten Toupet und machte einige witzige und angenehme Bemerkungen. Er zeigte nicht ohne Anmut eine Reihe recht schöner Zähne und trieb mit jedem Witz einen spitzen Nagel in Piskarjows Herz. Endlich wandte sich zum Glück jemand an den Kammerherrn mit irgendeiner Frage.
»Wie unerträglich!« sagte sie und richtete auf ihn ihre himmlischen Augen. »Ich werde mich am anderen Ende des Saales hinsetzen: finden Sie sich dort ein!« Sie glitt durch die Menge und verschwand. Er bahnte sich wie wahnsinnig den Weg durch das Gedränge und stand schon neben ihr.
Sie war es wirklich! Sie saß wie eine Königin, schöner und herrlicher als alle, und suchte ihn mit den Augen.
»Sie sind hier?« sagte sie leise. »Ich will mit Ihnen aufrichtig sein: die Umstände unserer Begegnung sind Ihnen wohl merkwürdig vorgekommen. Glauben Sie denn, daß ich zu den verächtlichen Geschöpfen gehören könne, unter denen Sie mich trafen? Ihnen erscheinen meine Handlungen wohl sonderbar, aber ich will Ihnen das Geheimnis enthüllen. Sind Sie imstande«, sagte sie, indem sie auf ihn ihre Augen richtete, »es niemand zu verraten?«
»Oh, gewiß, gewiß, gewiß! . . .«
In diesem Augenblick trat aber an sie ein älterer Herr heran; er begann mit ihr in einer Sprache zu reden, die Piskarjow unverständlich war, und reichte ihr den Arm. Sie warf einen flehenden Blick auf Piskarjow und bedeutete ihm durch ein Zeichen, auf seinem Platze zu bleiben und auf sie zu warten; aber er war in seiner Ungeduld nicht imstande, irgendwelche Befehle, selbst solche aus ihrem Munde, zu befolgen. Er ging ihr nach, aber die Menge drängte sich zwischen sie. Er konnte ihr fliederfarbenes Kleid nicht mehr sehen; von Unruhe ergriffen, drängte er sich von einem Zimmer ins andere und stieß alle unbarmherzig zur Seite; aber in allen Zimmern saßen lauter große Tiere beim Whist, in vollkommenes Schweigen gehüllt. In der Ecke eines Zimmers stritten einige ältere Herren über die Vorzüge des Militärdienstes gegenüber dem Zivildienste; in einer anderen Ecke machten einige junge Männer in gutsitzenden Fräcken flüchtige Bemerkungen über das mehrbändige Werk eines ernsten Dichters. Piskarjow fühlte, wie ein älterer Herr von respektgebietendem Aussehen ihn am Knopfe seines Fracks festhielt und sein Urteil über eine recht treffende Bemerkung, die er gemacht, hören wollte; er stieß ihn aber roh zur Seite und merkte sogar nicht, daß jener einen ziemlich hohen Orden am Halse hatte. Er lief in ein anderes Zimmer, – sie war dort nicht, in ein drittes, – auch dort war sie nicht. »Wo ist sie denn? Gebt sie mir! Oh, ich kann nicht leben, ohne sie zu sehen! Ich will hören, was sie mir sagen wollte!« Aber all sein Suchen war vergeblich. Unruhig, ermüdet drückte er sich in eine Ecke und blickte in die Menge; seine gespannten Augen sahen aber alles getrübt. Endlich sah er um sich deutlich die Wände seines eigenen Zimmers. Er hob die Augen: vor ihm stand der Leuchter mit fast erloschener Flamme; die ganze Kerze war geschmolzen; der Talg hatte sich auf seinen alten Tisch ergossen . . .
Er hatte also nur geschlafen! Mein Gott, welch ein herrlicher Traum! Wozu mußte er auch erwachen? Warum hatte es nicht noch eine Minute gedauert? Sie wäre doch sicher wieder erschienen! Das Morgengrauen blickte mit seinem unangenehmen, trüben Scheine zu ihm ins Zimmer und ärgerte ihn. Das Zimmer lag so grau und unordentlich vor ihm . . . O wie abstoßend ist doch die Wirklichkeit! Was ist sie im Vergleich zu einem Traume. Er entkleidete sich schnell, legte sich ins Bett und hüllte sich in die Decke: er wollte unbedingt das entschwundene Traumbild zurückrufen. Ihn überkam wieder der Schlaf, er träumte aber von Dingen, die er gar nicht sehen wollte: bald erschien ihm der Leutnant Pirogow mit einer Pfeife, bald ein Diener der Kunstakademie, bald ein wirklicher Staatsrat, bald der Kopf einer Finnin, deren Bildnis er einmal gemalt hatte, und ähnlicher Unsinn.
Er lag bis zur Mittagstunde im Bett und bemühte sich, wieder einzuschlafen, sie erschien aber nicht. Wenn sie doch nur für einen Augenblick ihre herrlichen Züge zeigen wollte, wenn er doch nur einen Augenblick ihre leichten Schritte hören, ihre bloße, wie der Schnee auf den höchsten Bergesgipfeln leuchtende Hand sehen könnte!
Er hatte alles von sich geworfen, alles vergessen, und saß mit bestürzter, hoffnungsloser Miene, nur von dem einen Traumbilde erfüllt. Er wollte nichts anrühren; seine Augen blickten teilnahmslos und leblos durchs Fenster auf den Hof, wo ein schmutziger Wasserführer Wasser ausschenkte, das in der Luft einfror, und die Stimme eines Hausierers meckerte: »Alte Kleider zu verkaufen!« Alles Alltägliche und Wirkliche berührte seltsam sein Ohr. So saß er bis zum Abend und warf sich dann voller Sehnsucht ins Bett. Lange kämpfte er gegen die Schlaflosigkeit, und schließlich überwand er sie. Wieder hatte er einen Traum, einen gemeinen, häßlichen Traum. »Gott, erbarme dich meiner, zeig sie mir, wenn auch nur für einen Augenblick.« Er wartete wieder auf den Abend, er schlief wieder ein, und träumte wieder von irgendeinem Beamten, der ein Beamter und zugleich ein Fagott war. Oh, das war unerträglich! Endlich erschien sie! Er sah ihren Kopf, ihre Locken . . . sie sah ihn an . . . Oh, wie kurz! Und wieder versank alles in einem Nebel und wurde von einem dummen Traumgesicht verdeckt.
Endlich wurden diese Traumgesichte zu seinem eigentlichen Leben, und sein ganzes Leben nahm von nun an eine merkwürdige Form an: er schlief, sozusagen, im Wachen und wachte im Schlafen. Hätte ihn jemand stumm vor seinem leeren Tische sitzen oder durch die Straßen gehen sehen, so mußte er ihn für einen Nachtwandler halten oder für einen vom Alkohol vergifteten Menschen: so ausdruckslos war sein Blick. Seine angeborene Zerstreutheit entwickelte sich noch mehr und verjagte von seinem Gesicht gewaltsam alle Gefühle und Regungen. Nur beim Anbruch der Nacht wurde er wieder lebendig.
Dieser Zustand zerrüttete seine Kräfte, und seine schrecklichste Qual war, daß der Schlaf anfing, ihn ganz zu fliehen. Um seinen einzigen Reichtum zu erhalten, wandte er alle Mittel an, um den Schlaf wiederzuerlangen. Er hatte gehört, es gäbe wohl ein Mittel, den Schlaf wiederzuerlangen – man brauche nur Opium einzunehmen. Wo verschafft man sich aber Opium? Er erinnerte sich eines persischen Kaufmanns, der mit Schals handelte und der ihn bei fast jeder Begegnung bat, ihm eine junge Schöne zu malen. Er beschloß, zu diesem Perser zu gehen, in der Annahme, daß jener wohl sicher Opium habe.
Der Perser empfing ihn, mit untergeschlagenen Beinen auf einem Sofa sitzend. »Wozu brauchst du denn Opium?« fragte er ihn.
Piskarjow erzählte ihm von seiner Schlaflosigkeit.
»Gut, ich will dir Opium geben, du mußt mir aber eine junge Schöne malen. Sie muß sehr schön sein! Die Brauen schwarz, und die Augen groß wie Oliven; ich selbst soll aber neben ihr liegen und eine Pfeife rauchen! Hörst du, sie muß schön sein, sehr schön!«
Piskarjow versprach ihm alles. Der Perser ging für einen Augenblick hinaus und brachte ein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit. Er goß einen Teil davon in ein Fläschchen und gab es Piskarjow mit der Weisung, nicht mehr als sieben Tropfen in Wasser zu nehmen. Piskarjow ergriff gierig das Gläschen, das er auch nicht für einen Haufen Goldes wieder hergegeben hätte, und stürzte nach Hause.
Zu Hause angelangt, goß er einige Tropfen in ein Glas Wasser, nahm es ein und warf sich aufs Bett.
Gott, diese Freude! Sie! Wieder sie, aber schon in einer ganz anderen Welt! Wie schön sitzt sie am Fenster eines freundlichen Landhäuschens! Ihre Kleidung atmet solche Schlichtheit, wie sie nur ein Dichter ersinnen kann. Das Haar auf ihrem Kopfe . . . Gott, wie einfach ist ihre Haartracht und wie gut steht sie zu ihrem Gesicht! Ein knappes Tüchlein liegt ganz lose auf ihrem schlanken Halse; alles an ihr ist so bescheiden, alles von einem geheimnisvollen, unbeschreiblichen Geschmack erfüllt. Wie lieblich ist ihr graziöser Gang! Wie musikalisch der Tritt ihrer Füße und das Rascheln ihres einfachen Kleides! Wie schön ihre Hand mit dem aus Haaren geflochtenen Armband. Sie spricht zu ihm mit Tränen in den Augen: »Verachten Sie mich nicht: ich bin gar nicht die, für die Sie mich halten. Sehen Sie mich doch aufmerksamer an und sagen Sie mir: bin ich denn dessen fähig, was Sie von mir denken?« – »Oh, nein, nein, soll jeder, der solches zu denken wagt . . .«
Er erwachte aber gerührt, zerquält, mit Tränen in den Augen. – Es wäre besser, wenn du gar nicht existiertest, wenn du in dieser Welt nicht lebtest, sondern nur die Schöpfung eines begeisterten Künstlers wärest! Ich würde dann niemals von der Leinwand weichen, ich würde dich ewig anschauen und dich küssen, ich würde nur durch dich leben und atmen wie in einem schönen Traum, und dann wäre ich glücklich; andere Wünsche hätte ich nicht. Ich würde dich vor dem Einschlafen und vor dem Erwachen wie meinen Schutzengel anrufen, ich würde auf dich warten, wenn ich etwas Göttliches und Heiliges darzustellen hätte. Aber jetzt . . . welch ein schreckliches Leben! Was nützt es mir, daß sie lebt? Ist denn das Leben eines Wahnsinnigen seinen Verwandten und Freunden, die ihn einst geliebt haben, angenehm! Gott, was ist unser Leben! Ein ewiger Kampf zwischen Traum und Wirklichkeit! –
Beiläufig solche Gedanken beschäftigten ihn ununterbrochen. Er dachte sonst an nichts, er nahm fast keine Speise zu sich und wartete mit der Ungeduld und der Leidenschaftlichkeit eines Liebhabers auf den Abend und auf das ersehnte Traumgesicht. Die ständige Richtung seiner Gedanken auf ein Ziel erlangte schließlich eine solche Gewalt über sein ganzes Sein und seine Phantasie, daß das ersehnte Bild ihm fast jeden Tag erschien, und zwar immer in einer, der Wirklichkeit gerade entgegengesetzten Lage, denn seine Gedanken waren vollkommen rein wie die Gedanken eines Kindes. Durch diese Träume wurde der Gegenstand seiner Sehnsucht selbst geläutert und verklärt.
Das Opium erhitzte seine Gedanken noch mehr, und wenn es je einen bis zum höchsten Grade des Wahnsinns, ungestüm, schrecklich, allverzehrend und stürmisch Liebenden gegeben hat, so war dieser Unglückliche er.
Von allen seinen Traumgesichten freute ihn eines mehr als alle anderen: er sah sein Atelier vor sich. Er war so heiter und saß so frohgemut mit der Palette in der Hand! Und auch sie war dabei. Sie war schon seine Frau. Sie saß an seiner Seite, den reizenden Ellenbogen auf die Stuhllehne gestützt, und sah seiner Arbeit zu. In ihren schmachtenden, müden Augen lag eine Last von Glück; alles im Zimmer atmete paradiesische Seligkeit; es war so hell, so schön aufgeräumt. Gott, sie lehnte ihr reizendes Köpfchen an seine Brust . . . Einen schöneren Traum hatte er noch nie gehabt. Er erwachte diesmal irgendwie frischer und weniger zerstreut als sonst. In seinem Kopfe schwirrten seltsame Gedanken. – Vielleicht ist sie durch einen unverschuldeten, schrecklichen Zufall in das Laster hineingezogen –, dachte er sich. – Vielleicht sehnt sich ihre Seele nach Reue; vielleicht möchte sie sich selbst aus ihrem schrecklichen Zustande befreien. Darf ich denn gleichgültig ihrem Untergange zusehen, während ich ihr doch bloß die Hand zu reichen brauche, um sie vor dem Ertrinken zu retten? –
Seine Gedanken gingen noch weiter. – Mich kennt niemand –, sagte er zu sich selbst, – niemand kümmert sich um mich, und auch ich kümmere mich um niemand. Wenn sie aufrichtige Reue äußert und ihren Lebenswandel ändert, werde ich sie heiraten. Ich muß sie heiraten und werde sicher viel besser tun, als viele, die ihre Haushälterinnen und oft sogar die verächtlichsten Geschöpfe heiraten. Meine Tat wird aber uneigennützig und vielleicht sogar groß sein; ich werde der Welt ihre schönste Zierde wiedergeben! –
Als er einen so leichtsinnigen Plan gefaßt, fühlte er, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß; er trat vor den Spiegel und erschrak selbst vor seinen eingefallenen Wangen und seinem blassen Gesicht. Er kleidete sich sorgfältig an, wusch sich, kämmte sich das Haar, zog einen neuen Frack und eine elegante Weste an, warf sich den Mantel um und trat auf die Straße. Er atmete die frische Luft und fühlte sein Herz erfrischt wie ein Genesender, der zum erstenmal nach einer langen Krankheit ins Freie tritt. Sein Herz klopfte, als er sich der Straße näherte, die sein Fuß seit jener verhängnisvollen Begegnung nicht mehr betreten hatte.
Lange suchte er das Haus; sein Gedächtnis schien ihn im Stich zu lassen. Er ging zweimal durch die Straße und wußte nicht, vor welchem Haus sollte er stehenbleiben. Endlich kam ihm eines bekannt vor. Er lief schnell die Treppe hinauf und wer trat ihm entgegen? Sein Ideal, das geheimnisvolle Bild, das Original seiner Traumgesichte, diejenige, die sein Leben, sein schreckliches, qualvolles, süßes Leben ausgemacht hatte, – sie, sie selbst stand vor ihm. Er erzitterte; er war von Freude ergriffen und konnte sich vor Schwäche kaum auf den Füßen halten. Sie stand vor ihm noch ebenso schön da, obwohl ihre Augen verschlafen waren, obwohl ihr nicht mehr ganz frisches Gesicht blaß war; aber sie war immer noch herrlich.
»Ach!« rief sie, als sie Piskarjow erblickte, und rieb sich ihre verschlafenen Augen (es war aber schon zwei Uhr): »Warum sind Sie damals von uns weggelaufen?«
Er setzte sich erschöpft auf einen Stuhl und sah sie an.
»Ich bin eben aufgewacht; man hat mich erst um sieben Uhr früh heimgebracht. Ich war ganz betrunken«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
Ach, wäre sie doch lieber stumm und der Sprache beraubt, statt solche Reden zu führen! Sie hatte ihm plötzlich wie in einem Panorama ihr ganzes Leben gezeigt. Aber er faßte sich dennoch ein Herz und entschloß sich, zu versuchen, auf sie durch Ermahnungen einzuwirken. Er nahm sich zusammen und hielt ihr mit zitternder und zugleich leidenschaftlicher Stimme das Schreckliche ihrer Lage vor. Sie hörte ihm mit aufmerksamem Gesicht und mit jenem Erstaunen zu, das wir bei einem unerwarteten und seltsamen Anblick zeigen. Sie blickte mit einem leisen Lächeln auf ihre Freundin, die, in einer Ecke sitzend, in ihrer Beschäftigung – sie reinigte einen Kamm – innehielt und ebenso aufmerksam dem neuen Prediger zuhörte.
»Ich bin allerdings arm«, sagte Piskarjow nach einer langen, belehrenden Ermahnung, »wir werden aber arbeiten, wir werden uns bemühen, unser Leben zu verbessern. Es gibt nichts Angenehmeres, als alles nur sich selbst zu verdanken. Ich werde an meinen Bildern arbeiten, du wirst, an meiner Seite sitzend, mich zur Arbeit begeistern und dabei sticken oder irgendeine andere Handarbeit machen – so werden wir keinen Mangel leiden.«
»Unmöglich!« unterbrach sie ihn mit einem Ausdruck von Verachtung. »Ich bin keine Wäscherin und keine Näherin, daß ich arbeiten sollte.«
Gott, in diesen Worten kam ihr ganzes gemeines, verächtliches Wesen zum Ausdruck, das Leben voller Leere und Müßiggang, diesen beiden getreuen Begleitern des Lasters.
»Heiraten Sie doch mich!« rief mit frecher Miene ihre Freundin, die bisher in der Ecke geschwiegen hatte. »Wenn ich Ihre Frau geworden bin, so werde ich so sitzen!« Bei diesen Worten verzerrte sie ihr elendes Gesicht zu einer dummen Grimasse, die die Schöne zum Lachen brachte.
Ach, das war schon zu viel! Das ging über seine Kraft! Er stürzte hinaus, als hätte er alle Gefühle und Gedanken verloren. Sein Verstand hatte sich getrübt: er irrte den ganzen Tag durch die Straßen, ohne Ziel, ohne etwas zu sehen, zu hören oder zu fühlen. Niemand wußte, ob er irgendwo übernachtet hatte oder nicht; von einem niedrigen Instinkt getrieben, kam er erst am nächsten Tag, blaß, in schrecklichem Zustande, mit zerzaustem Haar und mit dem Ausdruck von Wahnsinn im Gesicht in seine Wohnung zurück. Er schloß sich in sein Zimmer ein, ließ niemand herein und verlangte nichts.
Es vergingen vier Tage, und die Türe seines Zimmers wurde noch immer nicht geöffnet; schließlich war eine ganze Woche vergangen, – das Zimmer blieb immer noch verschlossen. Man stürzte zu seiner Türe, man rief ihn, er gab aber keine Antwort; endlich brach man die Türe auf und fand seinen leblosen Körper mit durchschnittener Kehle. Ein blutiges Rasiermesser lag auf dem Boden. An den krampfhaft ausgestreckten Armen und dem schrecklich verzerrten Gesichtsausdruck konnte man erkennen, daß seine Hand gezittert und daß er sich noch lange gequält hatte, ehe seine sündige Seele seinen Leib verlassen.
So ging das Opfer einer wahnsinnigen Leidenschaft, der arme Piskarjow zugrunde, der stille, schüchterne, bescheidene, kindlich einfältige Mensch, der in sich einen Funken von Talent trug, das sich vielleicht mit der Zeit zu einer großen und hellen Flamme entwickelt haben würde. Niemand beweinte ihn; niemand zeigte sich bei seiner entseelten Leiche, außer der gewöhnlichen Figur des Revieraufsehers und des gleichgültigen Polizeiarztes. Sein Sarg wurde in aller Stille, sogar ohne irgendwelche Riten, auf die Ochta geschafft. Hinter ihm folgend, weinte nur ein einziger Mensch, ein alter Soldat, und das auch nur, weil er ein Glas Branntwein zuviel getrunken hatte. Sogar der Leutnant Pirogow kam nicht, um die Leiche des Unglücklichen zu sehen, dem er bei Lebzeiten hohe Gunst erwiesen hatte. Übrigens hatte er ganz andere Dinge im Sinn: ihn beschäftigte ein außerordentliches Erlebnis. Wollen wir uns aber ihm zuwenden.
Ich mag keine Leichen, und es ist mir immer unangenehm, wenn ich einem langen Leichenzuge begegne und ein alter, als eine Art Kapuziner verkleideter Soldat sich mit der linken Hand eine Prise nimmt, weil die Rechte die Fackel halten muß. Ich fühle immer Ärger, wenn ich einen reichen Katafalk und einen mit Samt überzogenen Sarg sehe; aber mein Ärger vermischt sich mit Trauer, wenn ich sehe, wie auf einem Lastfuhrwerke ein gewöhnlicher, ungestrichener und unbedeckter Sarg eines armen Mannes geführt wird, dem nur irgendein armes Bettelweib, das ihm an einer Wegkreuzung begegnet, folgt, weil sie nichts anderes zu tun hat.
Ich glaube, wir haben den Leutnant Pirogow in dem Augenblick verlassen, als er sich von dem armen Piskarjow trennte und der Blondine vor ihnen nacheilte. Diese Blondine war ein zierliches und recht interessantes kleines Geschöpf. Sie blieb vor jedem Laden stehen und betrachtete die ausgestellten Gürtel, Halstücher, Ohrringe, Handschuhe und andere Bagatellen, sie drehte sich ununterbrochen hin und her, blickte nach allen Seiten und auch zurück. »Du meine Liebe!« sagte Pirogow, seiner selbst sicher, indem er die Verfolgung fortsetzte und das Gesicht mit dem Mantelkragen verdeckte, um nicht von einem seiner Bekannten gesehen zu werden. Aber es ist wohl nicht überflüssig, dem Leser zu melden, was für ein Mensch der Leutnant Pirogow war.
Bevor wir erklären, was für ein Mensch der Leutnant Pirogow war, wollen wir einiges über die Gesellschaft sagen, zu der Pirogow gehörte.
Es gibt Offiziere, die in Petersburg eine eigene, mittlere Gesellschaftsschicht darstellen. Bei einer Abendunterhaltung oder einem Diner im Hause eines Staatsrats oder Wirklichen Staatsrats, der diesen Dienstrang nach vierzigjähriger Mühe erlangt hat, kann man immer einen von ihnen treffen. Einige Töchter, so bleich und farblos wie Petersburg selbst, von denen einige schon überreif sind, ein Teetisch, ein Klavier und eine häusliche Tanzunterhaltung sind undenkbar ohne ein leuchtendes Epaulett, das beim Lampenlicht zwischen einer wohlerzogenen Blondine und dem schwarzen Frack eines Bruders oder eines Hausfreundes glänzt. Es ist außerordentlich schwer, so ein kaltblütiges junges Mädchen in Stimmung und zum Lachen zu bringen; es gehört eine große Kunst dazu, oder richtiger, gar keine Kunst. Man muß so sprechen, daß es weder allzu klug, noch allzu komisch sei, und dabei stets an die Bagatellen denken, die die Frauen so lieben. Das muß man den erwähnten Herren lassen: sie haben ein besonderes Talent, diese farblosen Schönen zum Lachen und zum Zuhören zu zwingen. Die vom Lachen erstickten Ausrufe: »Ach, hören Sie auf! Schämen Sie sich doch, einen so zum Lachen zu bringen!« sind oft ihr bester Lohn. In der höheren Gesellschaft kommen sie nur selten vor, oder richtiger gesagt, nie. Hier sind sie ganz von den Menschen verdrängt, die man in dieser Gesellschaft Aristokraten nennt. Im übrigen gelten sie als gebildete und wohlerzogene Menschen. Sie sprechen gerne über die Literatur, loben Bulgarin, Puschkin und Gretsch und fertigen Orlow mit Verachtung und geistreichen Sticheleien ab. Sie versäumen keinen einzigen öffentlichen Vortrag, und wenn er auch nur von der Buchhaltung oder sogar vom Forstwesen handelt. Im Theater begegnet man ihnen bei jedem Stück, höchstens solche Stücke ausgenommen, die wie »Filatka« ihren wählerischen Geschmack verletzen.
Im Theater sind sie immer anwesend. Für die Theaterdirektion sind sie die nützlichsten Menschen. Sie schätzen in den Stücken hauptsächlich schöne Verse, und lieben es, die Schauspieler laut vor die Rampe zu rufen; viele von ihnen, die in staatlichen Lehranstalten unterrichten oder junge Leute zum Eintritt in diese Lehranstalten vorbereiten, schaffen sich zuletzt ein Kabriolett und ein Paar Pferde an. Dann wird ihr Wirkungskreis noch weiter; schließlich bringen sie es so weit, daß sie eine Kaufmannstochter heiraten, die Klavier zu spielen versteht, an die hunderttausend Rubel mitbekommt und eine Menge bärtiger Verwandter hat. Diese Ehre können sie jedoch nicht früher erlangen, als bis sie es wenigstens zum Obersten gebracht haben, denn die russischen Kaufleute, deren Bärte immer noch etwas nach Sauerkohl riechen, wollen ihre Töchter unbedingt mit Generälen oder wenigstens Obersten verheiratet sehen.
Das sind die wichtigsten Charakterzüge der jungen Leute dieser Art. Der Leutnant Pirogow verfügte aber außerdem noch über eine Menge anderer Talente, die nur ihm allein eigen waren. Er deklamierte vorzüglich Verse aus dem »Dmitrij Donskoi« und aus »Verstand schadet« und verstand ausgezeichnet, Rauchringe aus seiner Pfeife steigen zu lassen, von denen er zuweilen ganze zehn Stück aufeinanderreihen konnte. Er verstand auch sehr angenehm den bekannten Witz zu erzählen, daß »die Kanone ein Ding für sich und auch das Einhorn ein Ding für sich sei«.
Es ist übrigens ziemlich schwer, alle Talente aufzuzählen, mit denen das Schicksal den Leutnant Pirogow ausgestattet hatte. Er liebte es, über eine Schauspielerin oder Tänzerin zu sprechen, drückte sich aber dabei viel weniger scharf aus, als über dieses Thema junge Fähnriche gewöhnlich zu sprechen pflegen. Er war mit seinem Dienstrang, den er erst vor kurzem bekommen hatte, sehr zufrieden; er pflegte zwar manchmal, wenn er sich aufs Sofa legte, zu sagen: »Ach, ach, ach! Alles ist eitel, was ist denn dabei, daß ich Leutnant bin?«, aber in seinem Inneren schmeichelte ihm doch seine neue Würde; beim Gespräch versuchte er oft wie nebenbei darauf anzuspielen, und als er einmal auf der Straße einem Regimentsschreiber begegnete, der ihm nicht höflich genug erschien, hielt er ihn sofort an und gab ihm in wenigen, aber eindringlichen Worten zu verstehen, daß er einen Leutnant und nicht etwa einen anderen Offizier vor sich habe. Er bemühte sich, dies besonders schön auszudrücken, da in diesem Augenblick gerade zwei gar nicht üble Damen vorbeigingen. Pirogow hatte überhaupt eine Leidenschaft für alles Schöne und erwies dem Maler Piskarjow seine Gunst; dies kam vielleicht auch daher, weil er zu gerne sein männliches Antlitz auf einem Bilde abkonterfeit gesehen hätte. Aber genug von den Eigenschaften Pirogows. Der Mensch ist ein so merkwürdiges Geschöpf, daß es ganz unmöglich ist, alle seine Vorzüge auf einmal darzulegen; je genauer man ihn betrachtet, um so mehr neue Eigenschaften entdeckt man an ihm, so daß man mit der Aufzählung nie zu Ende käme. Pirogow verfolgte also unausgesetzt die Unbekannte und unterhielt sie ab und zu mit Fragen, die sie nur selten, kurz und mit unartikulierten Lauten beantwortete. Sie gelangten durch das nasse Kasan-Tor in die Mjeschtschanskaja-Straße – die Straße der Tabak- und Kramläden, der deutschen Handwerker und der finnischen Nymphen. Die Blondine beschleunigte ihre Schritte und schlüpfte in das Tor eines ziemlich schmierigen Hauses. Pirogow folgte ihr. Sie lief eine enge, dunkle Treppe hinauf und trat in eine Tür, durch die ihr auch Pirogow kühn folgte. Er sah sich in einem großen Zimmer mit schwarzen Wänden und verräucherter Decke. Auf dem Tische lag ein Haufen eiserner Schrauben, Schlosserwerkzeuge, glänzender Kaffeekannen und Leuchter; der Fußboden war mit Messing- und Eisenspänen bedeckt. Pirogow merkte sofort, daß es die Wohnung eines Handwerkers war. Die Unbekannte flatterte graziös wie ein Vogel in eine Seitentüre. Pirogow besann sich einen Augenblick, entschloß sich aber dann, der russischen Regel zu folgen und weiter vorzudringen. Er kam in ein anderes Zimmer, das dem ersten gar nicht glich: es war sauber und ordentlich, was darauf hinwies, daß der Wirt ein Deutscher war. Pirogow sah vor sich ein Bild, das ihn in Erstaunen versetzte. Vor ihm saß Schiller – nicht der Schiller, der den »Wilhelm Tell« und die »Geschichte des Dreißigjährigen Krieges« geschrieben hatte, sondern der bekannte Klempnermeister Schiller aus der Mjeschtschanskaja-Straße. Neben Schiller stand Hoffmann, nicht der Dichter Hoffmann, sondern der recht tüchtige Schuhmachermeister aus der Offiziersstraße, ein großer Freund Schillers. Schiller saß betrunken auf einem Stuhle, stampfte mit dem Fuß und sprach etwas mit großem Eifer. Dies alles hätte Pirogow noch nicht so sehr in Erstaunen gesetzt, wie die außerordentlich seltsame Stellung dieser beiden Personen. Schiller saß da mit erhobenem Kopf, die ziemlich dicke Nase vorgestreckt, und Hoffmann hielt diese Nase mit zwei Fingern fest und bewegte die Schneide seines Schuhmachermessers auf der Oberfläche der Nase. Die beiden Herren sprachen deutsch, und darum konnte der Leutnant Pirogow, der von der deutschen Sprache nur »guten Morgen« verstand, von der ganzen Sache nichts verstehen. Schiller sagte übrigens, heftig gestikulierend, folgendes: »Ich will sie nicht, ich brauche die Nase nicht! Die Nase allein kostet mich drei Pfund Tabak im Monat. Ich zahle im schlechten russischen Laden, denn im deutschen Laden gibt es keinen russischen Tabak –, ich zahle im schlechten russischen Laden für jedes Pfund vierzig Kopeken; das macht im Monat einen Rubel und zwanzig Kopeken; zwölf mal ein Rubel zwanzig Kopeken macht vierzehn Rubel vierzig Kopeken. Hörst du, mein Freund Hoffmann? Für die Nase allein vierzehn Rubel vierzig Kopeken! An Feiertagen schnupfe ich aber Rapé, denn ich will nicht an Feiertagen schlechten russischen Tabak schnupfen. Im Jahre verschnupfe ich drei Pfund Rapé, zu zwei Rubel das Pfund. Sechs Rubel und vierzehn Rubel vierzig Kopeken macht zwanzig Rubel vierzig Kopeken für den Tabak allein! Das ist ja Raub am hellichten Tag! Ich frage dich, mein Freund Hoffmann, habe ich nicht recht?« Hoffmann, der auch selbst betrunken war, antwortete bejahend. – »Zwanzig Rubel vierzig Kopeken! Ich bin ein Schwabe; ich habe in Deutschland einen König. Ich will die Nase nicht! Schneide mir die Nase ab! Hier ist meine Nase!«
Wäre nicht das plötzliche Erscheinen des Leutnants Pirogow gewesen, hätte Hoffmann seinem Freund Schiller zweifellos so mir nichts, dir nichts die Nase abgeschnitten, denn er hielt das Messer schon so in der Hand, als wolle er eine Sohle zuschneiden.
Schiller ärgerte sich sehr darüber, daß eine unbekannte, ungebetene Person so ungelegen dazwischenkam. Obwohl er sich im angenehmen Zustande des Bier- und Weinrausches befand, fühlte er doch, daß die Anwesenheit eines fremden Zeugen in dieser Situation und bei dieser Beschäftigung etwas unpassend sei. Pirogow machte indessen eine leichte Verbeugung und sagte mit dem ihm eigenen Anstand: »Entschuldigen Sie bitte . . .«
»Marsch hinaus!« antwortete Schiller gedehnt.
Dies verdutzte den Leutnant Pirogow. Eine solche Behandlung war ihm ganz neu. Das Lächeln, das auf seinem Gesicht gespielt hatte, war plötzlich verschwunden. Er sagte mit dem Gefühl gekränkter Würde: »Es kommt mir so merkwürdig vor, mein Herr . . . Sie haben es wohl nicht bemerkt . . . ich bin Offizier . . .«
»Was ist ein Offizier! Ich bin ein deutscher Schwabe. Ich selbst« – Schiller schlug hierbei mit der Faust auf den Tisch – »ich selbst werde Offizier sein: anderthalb Jahre Junker, zwei Jahre Leutnant, und ich bin gleich morgen Offizier. Aber ich will nicht dienen! Mit einem Offizier mache ich es so: pfff!« Schiller hielt sich bei diesen Worten die Hand vor den Mund und blies darauf.
Der Leutnant Pirogow merkte, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als sich zu entfernen; aber diese Behandlung, die für seinen Dienstgrad so beleidigend war, berührte ihn unangenehm. Er blieb auf der Treppe einige Male stehen, als wolle er Mut fassen und sich überlegen, auf welche Weise er Schiller seine Frechheit heimzahlen könne. Schließlich sagte er sich, daß er Schiller entschuldigen könne, da sein Kopf so von Bier- und Weindämpfen angefüllt sei; zudem erinnerte er sich der hübschen Blondine, und er entschloß sich, die Angelegenheit zu vergessen. Am nächsten Tage erschien der Leutnant Pirogow früh des Morgens in der Klempnerwerkstätte Schillers. Im Vorzimmer empfing ihn die hübsche Blondine und fragte mit ziemlich strenger Stimme, die zu ihrem Gesichtchen so gut paßte: »Was wünschen Sie?«
»Ah, guten Morgen, meine Schöne! Haben Sie mich nicht erkannt? Dieser Schelm, diese hübschen Äuglein!«
Bei diesen Worten versuchte Pirogow mit artiger Gebärde ihr Kinn zu fassen; aber die Blondine schrie erschrocken auf und fragte ebenso streng: »Was wünschen Sie?«
»Nur Sie zu sehen, sonst wünsche ich nichts«, sagte der Leutnant Pirogow mit einem recht liebenswürdigen Lächeln und ging auf sie zu; als er aber merkte, daß die scheue Blondine durch die Türe schlüpfen wollte, fügte er hinzu: »Meine Liebe, ich muß mir Sporen machen lassen. Können Sie mir Sporen anfertigen?
Um Sie zu lieben, braucht man übrigens keine Sporen, sondern eher einen Zaum. Was für hübsche Händchen!«
Der Leutnant Pirogow war bei Erklärungen dieser Art immer außergewöhnlich liebenswürdig.
»Ich will gleich meinen Mann rufen«, rief die Deutsche und ging hinaus. Nach einigen Minuten erblickte Pirogow Schiller, der mit verschlafenen Augen vor ihn trat; er schien den gestrigen Rausch noch nicht ganz ausgeschlafen zu haben.
Als er den Offizier erblickte, erinnerte er sich an die Vorgänge von gestern wie an einen Traum. Seine Erinnerungen entsprachen zwar in keiner Weise der Wirklichkeit, aber er fühlte, daß er irgendeine Dummheit begangen hatte, und trat daher dem Offizier mit sehr strenger Miene entgegen. »Ich kann für die Sporen nicht weniger als fünfzehn Rubel verlangen«, sagte er, um Pirogow loszuwerden, denn es war ihm, als einem ordentlichen Deutschen sehr unangenehm, einen Menschen vor sich zu haben, der ihn in einer unanständigen Verfassung gesehen hatte. Schiller liebte es, ganz ohne Zeugen, mit nur zwei oder drei Freunden zu trinken und schloß sich sogar von seinen Gesellen ab.
»Warum denn so teuer?« fragte Pirogow freundlich.
»Es ist eben deutsche Arbeit«, versetzte Schiller kaltblütig, sich das Kinn streichelnd. »Ein Russe wird es wohl für zwei Rubel machen.«
»Schön, um Ihnen zu zeigen, daß ich Sie liebe und Ihre Bekanntschaft machen möchte, will ich die fünfzehn Rubel bezahlen.«
Schiller sann eine Minute lang nach: als ehrlicher Deutscher hatte er doch Gewissensbisse. Um Pirogow zu bewegen, den Auftrag zurückzuziehen, erklärte er, er könne die Sporen nicht früher als in zwei Wochen herstellen. Aber Pirogow erklärte sich ohne Widerspruch damit einverstanden.
Der Deutsche wurde wieder nachdenklich und überlegte sich, wie er diese Arbeit so ausführen könne, daß sie wirklich fünfzehn Rubel wert sei.
In diesem Augenblick trat die Blondine in die Werkstätte und suchte etwas auf dem Tisch, auf dem die vielen Kaffeekannen standen. Der Leutnant benutzte Schillers Versunkenheit, ging auf sie zu und drückte ihren Arm, der bis zur Schulter entblößt war.
Das gefiel Schiller gar nicht. »Frau!« schrie er.
»Was wollen Sie denn?« entgegnete die Blondine.
»Geh in die Küche!« Die Blondine entfernte sich.
»Also in zwei Wochen?« sagte Pirogow.
»Ja, in zwei Wochen«, antwortete Schiller nachdenklich. »Ich habe jetzt sehr viel Arbeit.«
»Auf Wiedersehen, ich komme noch vorbei!«
»Auf Wiedersehen!« antwortete Schiller und schloß hinter ihm die Tür.
Der Leutnant Pirogow entschloß sich, seine Bemühungen nicht aufzugeben, obwohl ihn die Deutsche sehr energisch abwies. Er konnte gar nicht begreifen, daß man ihm widerstehen könnte, um so weniger, als seine Liebenswürdigkeit und sein hoher Rang ihm alles Recht auf Aufmerksamkeit verliehen. Es ist allerdings auch zu bemerken, daß Schillers Frau bei ihrer Anmut sehr dumm war. Übrigens verleiht die Dummheit einer hübschen Gattin einen besonderen Reiz. Ich habe jedenfalls viele Männer gekannt, die über die Dummheit ihrer Frauen entzückt waren und in ihr alle Anzeichen kindlicher Unschuld sahen.
Die Schönheit wirkt Wunder. Alle inneren Mängel einer schönen Frau erscheinen nicht abstoßend, sondern im Gegenteil besonders anziehend; sogar das Laster selbst atmet an ihnen Anmut; ist aber diese Anmut nicht vorhanden, so muß die Frau zwanzigmal klüger sein als der Mann, um, wenn nicht Liebe, so doch wenigstens Achtung zu wecken. Schillers Frau war übrigens, trotz ihrer Dummheit, ihrer Pflicht als Gattin treu, und darum fiel es Pirogow ziemlich schwer, bei seinem kühnen Unternehmen einen Erfolg zu erringen. Die Überwindung von Hindernissen ist aber immer mit einem eigenen Genuß verbunden, und die Blondine wurde für ihn von Tag zu Tag interessanter. Er erkundigte sich recht oft nach seinen Sporen, und das wurde Schiller auf die Dauer lästig. Er wandte alle Mühe an, um mit den Sporen fertig zu werden; endlich waren sie fertig.
»Ach, was für eine wunderbare Arbeit!« rief der Leutnant Pirogow, als er die Sporen sah. »Gott, wie schön sind sie gemacht! Unser General besitzt keine solchen Sporen.«
Ein Gefühl von Selbstzufriedenheit ergriff Schillers Seele. Seine Augen blickten ziemlich vergnügt, und er fing an, sich mit Pirogow innerlich auszusöhnen.– Der russische Offizier ist ein kluger Mann! – dachte er bei sich.
»Nicht wahr, Sie könnten mir auch eine Fassung für einen Dolch oder für einen anderen Gegenstand anfertigen?«
»Oh ja, gewiß kann ich das!« antwortete Schiller mit einem Lächeln.
»Dann machen Sie mir eine Fassung für einen Dolch. Ich werde ihn Ihnen bringen. Ich habe einen guten türkischen Dolch, aber ich möchte mir für ihn eine andere Fassung machen lassen.«
Dies wirkte auf Schiller wie eine Bombe. Er runzelte die Stirne. – Da haben wir es! – sagte er zu sich und verwünschte sich innerlich, weil er diesen Auftrag selbst herausgefordert hatte. Er hielt es für unehrlich, ihn jetzt abzulehnen; außerdem hatte der russische Offizier seine Arbeit gelobt. – Er schüttelte einigemal den Kopf und erklärte sich einverstanden; aber der Kuß, den Pirogow beim Weggehen ganz frech der hübschen Blondine mitten auf den Mund drückte, brachte ihn ganz aus der Fassung.
Ich halte es nicht für überflüssig, den Leser mit Schiller etwas näher bekannt zu machen. Schiller war ein echter Deutscher im vollen Sinne des Wortes. Schon als Zwanzigjähriger, in jenem glücklichen Alter, wo der Russe in den Tag hinein zu leben pflegt, hatte Schiller sein ganzes Leben im voraus eingeteilt und wich dann von dieser Einteilung unter keinen Umständen ab. Er hatte sich vorgenommen, jeden Morgen um sieben Uhr aufzustehen, um zwei Uhr zu Mittag zu essen, in allen Dingen pünktlich zu sein und sich jeden Sonntag zu betrinken. Er hatte sich vorgenommen, im Laufe von zehn Jahren ein Kapital von fünfzigtausend Rubeln zusammenzusparen, und dieser Vorsatz war ebenso unabänderlich wie das Schicksal selbst, denn eher wird der Beamte vergessen, in das Portierzimmer seines Vorgesetzten hineinzublicken, als daß ein Deutscher sich entschließt, seinen Vorsatz zu ändern. Niemals und unter keinen Umständen überschritt er die ein für allemal festgesetzten Auslagen, und wenn der Kartoffelpreis stieg, so gab er keine Kopeke mehr aus, sondern setzte nur das Quantum herab; er blieb dabei zwar etwas hungrig, aber er gewöhnte sich daran. Seine Pünktlichkeit ging so weit, daß er sich vorgenommen hatte, seine Frau nicht mehr als zweimal im Laufe von vierundzwanzig Stunden zu küssen; um diese Zahl einzuhalten, und ihr ja keinen überzähligen Kuß zu geben, tat er nie mehr als einen Teelöffel Pfeffer in seine Suppe; an Sonntagen wurde diese Regel übrigens nicht so streng befolgt, denn Schiller trank an diesem Tage zwei Flaschen Bier und eine Flasche Kümmel, auf den er übrigens immer schimpfte. Er trank ganz anders als ein Engländer, der gleich nach dem Mittagessen seine Türe zuriegelt und sich ganz allein betrinkt. Als Deutscher trank er vielmehr immer mit Begeisterung und in Gesellschaft des Schuhmachermeisters Hoffmann oder des Tischlermeisters Kunz, der ebenfalls ein Deutscher und ein großer Säufer war. So war der Charakter des edlen Schiller, der schließlich in eine äußerst schwierige Lage geraten war. Er war zwar Phlegmatiker und ein Deutscher, aber die Handlungsweise Pirogows erregte in ihm zuletzt etwas wie Eifersucht. Er zerbrach sich den Kopf und konnte doch nichts ausdenken, auf welche Weise er sich von diesem russischen Offizier befreien könnte. Pirogow rauchte indessen im Kreise seiner Kameraden die Pfeife – die Vorsehung selbst hat es schon einmal so eingerichtet, daß Offiziere und Pfeife unzertrennlich sind – er rauchte also im Kreise seiner Kameraden die Pfeife und spielte mit bedeutungsvoller Miene und einem angenehmen Lächeln auf das Techtelmechtel mit einer hübschen Deutschen an, mit der er schon sehr intim zu sein behauptete, während er in Wirklichkeit fast jede Hoffnung aufgegeben hatte, sie jemals zu erobern.
Eines Tages spazierte er mal durch die Mjeschtschanskaja und blickte immer wieder auf das Haus, an dem das Schild Schillers mit den Kaffeekannen und den Samowars prangte; zu seiner größten Freude erblickte er das Köpfchen der Blondine, die sich aus einem Fenster beugte und die Vorübergehenden musterte. Er blieb stehen, warf einen Handkuß hinauf und rief: »Guten Morgen!« Die Blondine nickte ihm wie einem Bekannten zu.
»Ist Ihr Mann eigentlich zu Hause?«
»Er ist zu Hause«, antwortete die Blondine.
»Und wann ist er nicht zu Hause?«
»An Sonntagen pflegt er nicht zu Hause zu sein«, antwortete die einfältige Blondine.
– Das ist nicht schlecht –, dachte Pirogow bei sich – diesen Umstand müßte man ausnützen. – Am folgenden Sonntag schneite er zu der Blondine ins Haus hinein. Schiller war tatsächlich nicht zu Hause. Die hübsche Hausfrau erschrak; aber Pirogow ging diesmal sehr vorsichtig vor. Er behandelte sie mit dem größten Respekt und zeigte, indem er sich verbeugte, die ganze Schönheit seiner biegsamen, enggeschnürten Taille. Er scherzte sehr nett und höflich, aber die dumme Deutsche antwortete ihm auf alles sehr einsilbig. Nachdem er alles Mögliche versucht und eingesehen hatte, daß er sie für nichts zu interessieren vermochte, machte er ihr schließlich den Vorschlag, etwas zu tanzen. Die Deutsche erklärte sich damit augenblicklich einverstanden, denn alle deutschen Frauen und Mädchen tanzen überaus gern. Pirogow gründete darauf viele Hoffnungen: erstens machte ihr das Vergnügen; zweitens konnte er dabei seine ganze Gewandtheit und Geschicklichkeit zeigen; drittens kann man beim Tanzen leicht intim werden: man kann die hübsche Deutsche umarmen und damit den Anfang machen; kurz, er hoffte auf einen vollständigen Erfolg. Er fing an, eine Gavotte zu trällern, denn er wußte, daß man bei deutschen Frauen und Mädchen ganz allmählich vorgehen müsse. Die hübsche Deutsche trat in die Mitte des Zimmers und hob das schöne Füßchen. Diese Stellung entzückte Pirogow dermaßen, daß er über sie herfiel, um sie zu küssen; die Deutsche fing zu schreien an und erhöhte dadurch ihren Reiz in den Augen Pirogows. Er überschüttete sie mit Küssen, als plötzlich die Tür aufging, und Schiller in Begleitung Hoffmanns und des Tischlermeisters Kunz ins Zimmer trat. Diese ehrwürdigen Handwerker waren alle so betrunken wie die Schuster.
Aber . . . ich überlasse es den Lesern selbst, sich den Zorn und die Entrüstung Schillers auszumalen.
»Rohling!« schrie er in höchster Empörung: »Wie wagst du es, meine Frau zu küssen? Du bist ein Schuft und kein russischer Offizier. Hol mich der Teufel! Nicht wahr, mein Freund Hoffmann? Ich bin ein Deutscher und kein russisches Schwein.« (Hoffmann antwortete bejahend.) »Oh, ich will keine Hörner tragen! Mein Freund Hoffmann, pack ihn am Kragen; ich will nicht!« fuhr er fort, heftig mit den Händen fuchtelnd, wobei sein Gesicht dem roten Tuche seiner Weste ähnlich wurde. »Ich lebe seit acht Jahren in Petersburg, ich habe in Schwaben eine Mutter und in Nürnberg einen Onkel; ich bin ein Deutscher und kein gehörntes Rindvieh! Zieh ihm alles aus, mein Freund Hoffmann! Halt ihn an Armen und Beinen fest, mein Kamerad Kunz!«
Und die Deutschen packten Pirogow an Armen und Beinen.
Vergeblich versuchte er sich frei zu machen; diese drei Handwerker waren die kräftigsten unter allen Petersburger Deutschen und behandelten ihn so roh und unhöflich, daß ich, offen gestanden, gar keine Worte finde, um dieses beklagenswerte Ereignis zu schildern.
Ich bin überzeugt, daß Schiller am nächsten Tag von einem heftigen Fieber geschüttelt wurde und wie ein Espenblatt zitterte, indem er jeden Augenblick das Erscheinen der Polizei erwartete, und daß er Gott weiß was alles dafür gegeben hätte, wenn das gestrige Erlebnis nur ein Traum gewesen wäre. Nun ließ sich aber nichts mehr ändern. Nichts läßt sich mit dem Zorn und der Empörung Pirogows vergleichen. Schon der bloße Gedanke an die fürchterliche Beschimpfung brachte ihn in Raserei. Sibirien und Knute hielt er für die geringste Strafe, die Schiller verdiente. Er eilte nach Hause, um sich umzuziehen und dann direkt zum General zu gehen und diesem in den grellsten Farben den von den deutschen Handwerkern verübten groben Unfug zu schildern. Zugleich wollte er auch eine schriftliche Anzeige beim Generalstab machen; und wenn die zudiktierte Strafe ungenügend ausfiele, wollte er sich an noch höhere Instanzen wenden.
Aber die Sache endete doch sonderbar: Auf dem Heimwege kehrte er in einer Konditorei ein, aß zwei Blätterteigkuchen, las einiges in der »Nordischen Biene« und verließ das Lokal mit weniger Zorn. Außerdem verführte ihn der recht angenehme kühle Abend, ein wenig durch den Newskij-Prospekt zu spazieren; um neun Uhr hatte er sich schon beruhigt und war zur Einsicht gekommen, daß es nicht gut gehe, den General an einem Sonntag zu belästigen. Außerdem sei dieser zweifellos irgendwohin abberufen worden. Darum begab er sich zu einem Gesellschaftsabend bei einem Vorsitzenden einer Kontrollkommission, wo er eine recht angenehme Gesellschaft von vielen Beamten und Offizieren seines Regiments antraf. Dort verbrachte er vergnügt den Abend und zeichnete sich bei der Mazurka so aus, daß nicht nur die Damen, sondern auch die Herren entzückt waren.
– Wie wunderbar ist doch unsere Welt eingerichtet! – dachte ich mir, als ich vorgestern durch den Newskij-Prospekt schlenderte und mich dieser beiden Ereignisse erinnerte. – Wie seltsam, wie unfaßbar spielt doch unser Schicksal mit uns! Erlangen wir je das, was wir uns wünschen? Erreichen wir das, wozu uns unsere Kräfte zu befähigen scheinen? Alles kommt immer anders. Dem einen hat das Schicksal die herrlichsten Pferde geschenkt, und er fährt mit ihnen gleichgültig spazieren, ohne auf ihre Schönheit zu achten, während ein anderer, dessen Herz von Leidenschaft für Pferde glüht, zu Fuß gehen muß und sich damit begnügt, daß er mit der Zunge schnalzt, wenn an ihm ein schöner Traber vorbeigeführt wird. Der eine hat einen vorzüglichen Koch, aber leider einen so kleinen Mund, daß er nicht mehr als zwei Stückchen verzehren kann; der andere hat einen Mund in der Größe des Schwibbogens am Generalstabsgebäude und muß sich leider mit einem deutschen Mittagessen aus Kartoffeln begnügen. Wie seltsam spielt doch das Schicksal mit uns! –
Am seltsamsten sind aber die Ereignisse, die sich auf dem Newskij-Prospekt abspielen. Oh, traut diesem Newskij-Prospekt nicht! Ich hülle mich immer in meinen Mantel, wenn ich über ihn gehe, und bemühe mich, die Gegenstände, denen ich begegne, gar nicht anzusehen. Alles ist Trug, alles ist Traum, alles ist ganz anders, als es erscheint! Ihr glaubt wohl, dieser Herr, der in dem vorzüglich genähten Rock spazierengeht, sei sehr reich? – keine Spur: er besteht nur aus seinem Rock. Ihr denkt wohl, daß diese beiden dicken Herren, die vor der im Bau befindlichen Kirche stehen geblieben sind, über ihre Architektur sprechen? – durchaus nicht: sie sprechen davon, wie merkwürdig die beiden Krähen einander gegenübersitzen. Ihr meint, dieser Enthusiast, der mit den Händen fuchtelt, spräche darüber, daß seine Frau aus dem Fenster mit einem Papierball auf einen ihm gänzlich unbekannten Offizier geworfen habe? – durchaus nicht: er spricht über Lafayette. Ihr glaubt, daß diese Damen . . . aber den Damen soll man am allerwenigsten trauen. Schaut möglichst wenig in die Schaufenster hinein: die Bagatellen, die da ausgestellt sind, sind wohl schön, schmecken aber nach einer furchtbaren Menge von Banknoten. Gott behüte euch davor, den Damen unter die Hüte zu blicken. Wie anziehend auch in der Ferne der Mantel einer Schönen des Abends weht, niemals werde ich ihr aus Neugierde folgen. Man gehe um Gottes willen möglichst weit von der Laterne weg! Man gehe an ihr so schnell als möglich vorüber! Es ist noch ein Glück, wenn sie euch euren eleganten Rock mit ihrem stinkenden Öl betropft. Aber auch abgesehen von der Laterne, alles atmet hier Betrug. Er lügt zu jeder Stunde, dieser Newskij-Prospekt, am meisten aber dann, wenn die Nacht sich als dichte Masse über ihn senkt und die weißen und gelben Hausmauern hervortreten läßt, wenn die ganze Stadt dröhnt und blitzt, wenn Myriaden von Equipagen sich über die Brücken wälzen, die Vorreiter schreien und im Sattel hüpfen, und wenn der Dämon selbst die Lampen entzündet, nur um alles in einem falschen Lichte erscheinen zu lassen.