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Alles auf der Welt besorgt seine Geschäfte. »Was einer braucht, das sucht er zu erlangen«, sagt das Sprichwort. Die Untersuchung der Koffer wurde mit Erfolg durchgeführt, und nach dieser Expedition wanderte manches in seine eigene Schatulle. Mit einem Wort, das Ganze wurde aufs beste besorgt. Tschitschikow hatte nichts gestohlen, er hatte nur aus der Situation Nutzen gezogen. Ein jeder von uns sucht Nutzen zu ziehen: der eine aus Staatswaldungen, der andere aus ersparten Staatsgeldern; der eine bestiehlt seine eigenen Kinder wegen einer zugereisten Schauspielerin, der andere – seine Bauern wegen Möbeln von Hambs oder wegen einer Equipage. Was soll man machen, wenn es in der Welt so viel Verlockungen gibt? Teure Restaurants mit verrückten Preisen, Maskenbälle, Feste und Zigeunertänze. Es ist doch schwer, sich zu beherrschen, wenn alle ringsherum dasselbe tun und auch die Mode es so haben will – da soll man sich noch beherrschen! Tschitschikow hätte schon abreisen sollen, aber die Straßen waren unwegsam geworden. In der Stadt sollte eben der zweite Jahrmarkt beginnen, der hauptsächlich für den Adel bestimmt war. Auf dem ersten wurde mit Pferden, Vieh, Rohprodukten und allerlei Bauernwaren gehandelt, die von Viehhändlern und Dorfkrämern eingekauft wurden. Auf den zweiten Jahrmarkt kam aber alles, was die Kaufleute auf der Messe von Nishnij-Nowgorod an Luxuswaren eingekauft hatten. Alle Plünderer der russischen Geldbeutel, die Franzosen mit ihren Pomaden, die Französinnen mit ihren Hüten, die Plünderer des mit Blut und Mühe erworbenen Geldes kamen zusammengefahren, diese ägyptischen Heuschrecken, die, wie Kostanschoglo zu sagen pflegte, nicht nur alles auffressen, sondern auch noch ihre Eier in der Erde zurücklassen.
Nur die Mißernte und der unglückliche . . . hielten viele Gutsbesitzer auf dem Lande zurück. Dafür zeigten die Beamten, die ja unter den Mißernten nicht zu leiden haben, was sie sich leisten konnten; ihre Frauen leider ebenfalls. Nachdem sie alle die Bücher gelesen hatten, die in der letzten Zeit verbreitet werden, um in der Menschheit neue Bedürfnisse zu wecken, spürten sie einen heftigen Durst nach all den neuen Genüssen. Ein Franzose eröffnete ein neues Lokal, ein Vergnügungsetablissement, wie man es im Gouvernement noch nie gesehen hatte, mit angeblich ungemein billigen Soupers, wobei man die Hälfte auch noch schuldig bleiben durfte. Dies genügte, damit nicht nur die Abteilungsvorstände, sondern auch die kleineren Kanzleibeamten in der Hoffnung auf die künftigen Geldgeschenke der Bittsteller . . . Es kam das Bedürfnis auf, einander durch elegante Equipagen mit schönen Pferden und Kutschern zu übertrumpfen. Schon dieser Wettkampf der Stände in der Vergnügungssucht! . . . Trotz des schlechten Wetters und des Straßenschmutzes flogen die elegantesten Equipagen nur so hin und her. Woher sie plötzlich gekommen waren, weiß Gott allein, aber sie würden auch das Petersburger Straßenbild nicht verderben . . . Die Kaufleute und Kommis lüfteten elegant die Hüte und luden die vorbeigehenden Damen in ihre Geschäfte ein. Nur hier und da sah man bärtige Männer in altmodischen Pelzmützen. Sonst sah alles europäisch aus, rasierte sich den Bart, alles . . . und mit faulen Zähnen.
»Bitte, bitte! Belieben Sie doch nur in den Laden zu treten! Herr! Herr!« schrien hier und da die Lehrlinge.
Aber nur mit Verachtung blickten auf sie die schon mit Europa vertrauten . . . nur ab und zu sagten sie mit großer Würde: . . . oder: »Hier gibt es Tuche: clair, dunkel und schwarz!«
»Haben Sie preißelbeerfarbene Tuche mit Glanz?« fragte Tschitschikow.
»Wir haben vortreffliche Tuche«, sagte der Kaufmann, mit der einen Hand die Mütze lüftend und mit der anderen ins Innere des Ladens weisend. Tschitschikow trat in den Laden. Der Kaufmann hob geschickt das Brett und stand plötzlich auf der anderen Seite, mit dem Rücken zu den Waren, die Stück auf Stück bis zur Decke aufgeschichtet lagen, und mit dem Gesicht zum Kunden. Die Hände gegen die Tischplatte gestemmt, wiegte er sich mit dem Oberkörper hin und her und fragte: »Was für ein Tuch wünschen Sie?«
»Olivenfarben oder flaschengrün mit Glanz, mit einem Stich ins Preißelbeerfarbene«, sagte Tschitschikow.
»Ich darf wohl sagen, daß Sie etwas von der besten Sorte bekommen werden, wie Sie es höchstens in den aufgeklärten Residenzen finden können. He, Bursche! Reich' mal das Tuch Nummer 34 herunter! Es ist nicht das richtige, Bester! Warum strebst du ewig über deine Sphäre hinaus, wie so ein Proletarier? Wirf es mal her. Das ist ein Tuch!« Der Kaufmann rollte das Stück vom anderen Ende auf und hielt es Tschitschikow dicht vor die Nase, daß jener den seidigen Glanz nicht nur befühlen, sondern auch beschnüffeln konnte.
»Es ist ganz schön, aber doch nicht das, was ich suche«, sagte Tschitschikow. »Ich habe ja im Zollamt gedient, also brauche ich die beste Sorte, die es überhaupt gibt. Außerdem mehr rötlich, eine Nuance, die weniger ins Flaschengrüne als ins Preißelbeerfarbene geht.«
»Ich verstehe: Sie wünschen gerade die Farbe, die jetzt in Mode kommt. Ich habe wohl ein Tuch von hervorragendster Güte da. Allerdings muß ich Sie aufmerksam machen, daß es nicht billig ist, dafür aber auch von bester Qualität.«
Der Europäer kletterte hinauf. Ein neuer Tuchballen fiel auf den Ladentisch. Er rollte ihn mit der Fixigkeit der guten alten Zeit auf und schien ganz vergessen zu haben, daß er einer späteren Generation angehörte. Er trug das Stück sogar aus dem Laden ans Licht, kniff die Augen zusammen und sagte: »Eine hervorragende Farbe! Pulverdampf von Navarino mit Flammenschein!«
Das Tuch gefiel; sie einigten sich über den Preis, obwohl dieser »prix fix« war, wie der Kaufmann behauptete. Das Stück wurde mit beiden Händen gewandt abgetrennt. Dann auf echt russische Manier, mit unglaublicher Geschwindigkeit, in Papier eingewickelt. Das Paket machte einige schnelle Drehungen unter dem dünnen Bindfaden, der es wie lebendig umschlang. Die Schere durchschnitt den Bindfaden, und das Paket befand sich schon im Wagen. Der Kaufmann lüftete die Mütze. Einer, der die Mütze zieht . . . die Gründe: Tschitschikow holte aus der Tasche das Geld.
»Zeigen Sie mir schwarzes Tuch«, sagte eine Stimme.
– Hol's der Teufel, das ist Chlobujew, – sagte sich Tschitschikow und wandte ihm den Rücken, um ihn nicht zu sehen: er hielt es für vernünftiger, einer Auseinandersetzung wegen der Erbschaft aus dem Wege zu gehen. Chlobujew hatte ihn aber schon bemerkt.
»Pawel Iwanowitsch, fliehen Sie vielleicht absichtlich vor mir? Ich konnte Sie nirgends finden, die Dinge liegen aber so, daß wir ernsthaft sprechen müssen.«
»Verehrtester, Verehrtester,« sagte Tschitschikow, ihm beide Hände drückend, »glauben Sie es mir, auch ich möchte mit Ihnen sprechen, finde aber immer keine Zeit.« Dabei dachte er sich aber: – Hol' dich der Teufel! – Plötzlich erblickte er den in den Laden tretenden Murasow. »Ach, mein Gott, Afanassij Wassiljewitsch! Wie ist das werte Befinden?«
»Und wie geht es Ihnen?« fragte Murasow und zog den Hut. Auch der Kaufmann und Chlobujew zogen ihre Hüte.
»Ich habe Kreuzschmerzen, auch schlafe ich nicht gut. Vielleicht kommt es daher, weil ich mir zu wenig Bewegung mache . . .«
Murasow wandte sich aber, statt sich in Erörterungen über den Gesundheitszustand Tschitschikows einzulassen, an Chlobujew: »Ssemjon Ssemjonowitsch, als ich Sie in den Laden treten sah, ging ich Ihnen nach. Ich habe mit Ihnen etwas zu besprechen, wollen Sie mich nicht besuchen?«
»Gewiß, gewiß!« antwortete Chlobujew eilig und verließ mit ihm den Laden.
– Worüber mögen die wohl reden? – fragte sich Tschitschikow.
»Afanassij Wassiljewitsch ist ein ehrwürdiger und kluger Mann,« sagte der Kaufmann, »er kennt sein Geschäft, läßt aber in puncto Aufklärung viel zu wünschen übrig. Ein Kaufmann ist doch ein Negoziant und nicht bloß Kaufmann. Damit hängen auch das Budget und die Reaktion zusammen, sonst führt es zum Pauperismus.« Tschitschikow winkte nur mit der Hand.
»Pawel Iwanowitsch, ich suche Sie überall«, erklang hinter ihm die Stimme Ljenizyns. Der Kaufmann zog respektvoll den Hut.
»Ach, Fjodor Fjodorowitsch!«
»Um Gotteswillen, kommen Sie zu mir, ich muß mit Ihnen reden«, sagte er. Tschitschikow blickte ihn an: er sah ganz verstört aus. Nachdem er mit dem Kaufmann abgerechnet hatte, verließ er den Laden.
»Ich erwarte Sie, Ssemjon Ssemjonowitsch«, sagte Murasow, als er Chlobujew eintreten sah; »ich bitte Sie ins Nebenzimmer.« Und er geleitete Chlobujew ins kleine Zimmer, das dem Leser schon bekannt ist; ein bescheideneres Zimmer hätte man auch bei einem Beamten mit nur siebenhundert Rubel Jahresgehalt nicht finden können.
»Sagen Sie doch, ich meine, Ihre Verhältnisse haben sich jetzt wohl gebessert? Ihre Tante hat Ihnen doch sicher was hinterlassen?«
»Was soll ich Ihnen sagen, Afanassij Wassiljewitsch? Ich weiß selbst nicht, ob sich meine Verhältnisse gebessert haben. Ich habe nur fünfzig Leibeigene und dreißigtausend Rubel bar geerbt und mit diesen einen Teil meiner Schulden bezahlen müssen – so ist mir nichts geblieben. Die Hauptsache aber ist, daß die Geschichte mit der Erbschaft nicht ganz sauber ist. Es stecken manche Gaunereien dahinter, Afanassij Wassiljewitsch! Ich werde es Ihnen gleich erzählen, und Sie werden staunen, was für Dinge vorkommen. Dieser Tschitschikow . . .«
»Verzeihen Sie, Ssemjon Ssemjonowitsch; ehe wir über diesen Tschitschikow reden, wollen wir erst Ihre Lage besprechen. Sagen Sie mir: welche Summe wäre wohl nach Ihrer Meinung erforderlich und hinreichend, um Ihnen vollkommen aus der Klemme zu helfen?«
»Meine Verhältnisse sind recht schwierig«, sagte Chlobujew. »Um ganz aus der Klemme zu kommen, alle Schulden zu bezahlen und die Möglichkeit zu haben, ganz bescheiden zu leben, brauche ich mindestens hunderttausend Rubel, wenn nicht mehr – mit einem Worte, ich kann mir nicht helfen.«
»Nun, wenn Sie aber das Geld hätten, wie würden Sie dann Ihr Leben gestalten?«
»Ich würde mir eine kleine Wohnung mieten und mich ganz der Erziehung meiner Kinder widmen. An mich selbst denke ich nicht mehr: meine Karriere ist abgeschlossen, ich kann auch nicht mehr dienen: ich tauge zu nichts mehr.«
»Dann wäre Ihr Leben doch müßig, und ein Müßiggänger unterliegt leicht Versuchungen, die einem beschäftigten Menschen gar nicht einfallen.«
»Ich kann nicht, ich tauge zu nichts mehr: ich bin ganz dumm geworden und habe Kreuzschmerzen.«
»Wie kann man nur ohne Arbeit leben? Wie kann man in der Welt ohne ein Amt, ohne eine Tätigkeit existieren? Ich bitte Sie! Beachten Sie doch jede Kreatur Gottes: eine jede dient zu etwas, eine jede hat ihre Bestimmung. Selbst der Stein existiert nur dazu, um zu etwas verwendet zu werden; ist es aber möglich, daß der Mensch, das vernünftigste Wesen, sein Leben nutzlos verbringe?«
»Nun, ich bleibe doch nicht ganz ohne Arbeit. Ich kann mich mit der Erziehung meiner Kinder befassen.«
»Nein, Ssemjon Ssemjonowitsch, nein! Das ist das allerschwierigste. Wie soll einer, der sich selbst nicht zu erziehen vermochte, seine Kinder erziehen? Man kann die Kinder nur durch das Beispiel seines eigenen Lebens erziehen. Kann aber Ihr Leben als ein Vorbild dienen? Damit sie lernen, ihre Zeit müßig zu verbringen und Karten zu spielen? Nein, Ssemjon Ssemjonowitsch, geben Sie Ihre Kinder mir: Sie können sie nur verderben. Bedenken Sie es doch ernstlich: Sie sind an Ihrem Müßiggang zugrunde gegangen – also müssen Sie ihn fliehen. Wie kann man nur auf der Welt ohne jeden Halt leben? Ein jeder muß doch irgendwelche Pflicht erfüllen. Selbst der Tagelöhner dient. Er ißt sein karges Brot, doch er verdient es mit eigenen Händen und hat Interesse an seiner Tätigkeit.«
»Bei Gott, Afanassij Wassiljewitsch, ich habe es schon probiert, ich habe mich selbst zu überwinden versucht! Was soll ich machen! Ich bin alt geworden und zu nichts mehr fähig. Was soll ich nun anfangen! Soll ich denn wirklich in den Staatsdienst treten? Wie kann ich mich mit meinen fünfundvierzig Jahren an den gleichen Tisch mit den jüngsten Kanzleibeamten setzen? Auch bin ich nicht fähig, mich bestechen zu lassen – ich werde nur mir selbst und auch den anderen schaden. In den Kanzleien haben sich schon eigene Kasten gebildet. Nein, Afanassij Wassiljewitsch, ich habe schon nachgedacht, ich habe alles versucht und alles durchgenommen, aber ich tauge zu nichts. Höchstens passe ich in ein Altersheim . . .«
»Das Altersheim ist für solche bestimmt, die gearbeitet haben; denjenigen aber, die sich in ihrer Jugend nur amüsiert haben, sagt man dasselbe, was die Ameise in der Fabel zur Grille sagt: ›Geh und tanz'!‹ Und selbst im Altersheim wird gearbeitet und nicht Whist gespielt. Ssemjon Ssemjonowitsch,« sagte Murasow, ihm durchdringend ins Gesicht blickend, »Sie betrügen sich und mich.«
Murasow sah ihm unverwandt ins Gesicht; doch der arme Chlobujew konnte ihm nichts antworten, und Murasow spürte Mitleid mit ihm.
»Hören Sie mal, Ssemjon Ssemjonowitsch . . . Sie beten doch, Sie gehen zur Kirche, Sie versäumen, wie ich weiß, keine Frühmesse und keinen Abendgottesdienst. Sie haben zwar wenig Lust, früh aufzustehen, aber Sie stehen doch auf und gehen zur Kirche um vier Uhr früh, wo alle schlafen.«
»Das ist eine andere Sache, Afanassij Wassiljewitsch. Ich weiß, daß ich es nicht für die Menschen tue, sondern für den, der uns allen das Leben befohlen hat. Was soll ich machen! Ich glaube, daß Er mir gnädig ist, daß Er, so schlecht und häßlich ich auch bin, mir verzeihen und mich aufnehmen wird, während die Menschen mich mit dem Fuße fortstoßen und der beste meiner Freunde mich verrät und hinterher noch sagt, er hätte mich eines guten Zwecks wegen verraten.«
Chlobujews Gesicht zeigte einen bitteren Ausdruck. Der Alte vergoß einige Tränen, ohne jedoch . . .
»Dienen Sie dann Dem, der so barmherzig ist. Ihm ist die Arbeit ebenso gefällig wie das Gebet. Übernehmen Sie irgendeine Beschäftigung, doch so, als täten Sie es für Ihn und nicht für die Menschen. Und wenn es auch die nutzloseste Tätigkeit ist, denken Sie aber dann, daß Sie es für Ihn tun. Das hat schon den einen Nutzen, daß Ihnen dann keine Zeit bleibt, Böses zu tun, keine Zeit, um Geld im Kartenspiel zu verlieren, mit Fressern zu schlemmen und sich in Salons herumzutreiben. Ach, Ssemjon Ssemjonowitsch! Kennen Sie den Iwan Potapytsch?«
»Ich kenne und schätze ihn.«
»Was war der für ein guter Kaufmann; er besaß eine halbe Million; als er aber sah, daß ihm alles gelang, ließ er sich gehen. Seinem Sohn gab er französischen Unterricht und verheiratete seine Tochter mit einem General. Nie saß er mehr in seinem Laden, nie sah man ihn auf der Börse; er suchte nur, einen Freund zu treffen und mit ihm ins Wirtshaus zum Teetrinken zu gehen; tagelang trank er Tee, und die Sache endete mit einem Bankerott. Da schickte ihm aber Gott ein Unglück: sein Sohn . . . Jetzt dient er bei mir im Geschäft als Kommis. Er hat ganz von Anfang angefangen. Jetzt geht es ihm besser. Er könnte wieder handeln und vielleicht auch fünfhunderttausend Rubel umsetzen. Aber er sagt: ›Ich war Kommis und will als Kommis sterben. Jetzt bin ich frisch und gesund, aber damals hatte ich einen dicken Bauch und hätte beinahe die Wassersucht gekriegt . . . Nein!‹ sagt er. Jetzt nimmt er keinen Schluck Tee in den Mund. Ißt nichts als Kohlsuppe und Grütze, jawohl! Er betet so andächtig, wie keiner von uns; gibt auch Almosen, wie keiner von uns; ein anderer möchte wohl gerne den Armen helfen, hat aber schon sein ganzes Geld durchgebracht.«
Der arme Chlobujew wurde nachdenklich.
Der Alte ergriff seine beiden Hände. »Ssemjon Ssemjonowitsch! Wenn Sie nur wüßten, wie leid Sie mir tun! Ich habe die ganze Zeit an Sie gedacht. Hören Sie also. Sie wissen, hier im Kloster lebt ein Mönch, der sich keinem Menschen zeigt. Er ist ein Mann von großem Verstand, von einem solchen Verstand, daß ich es Ihnen gar nicht sagen kann. Er spricht nie, aber wenn er mal einem einen Rat gibt . . . Ich fing ihm zu erzählen an, daß ich so einen Freund habe, doch seinen Namen . . . daß er daran kranke. Er hörte mir zu und unterbrach mich mit den Worten: ›Zuerst muß man an Gottes Sache denken und dann an die seinige. Man baut eine Kirche, hat aber kein Geld: man muß Geld für den Kirchenbau sammeln!‹ Und er schlug die Türe zu. Ich frage mich, was das wohl zu bedeuten habe. Offenbar will er keinen Rat geben. Nun ging ich zum Archimandriten. Kaum war ich bei ihm eingetreten, als er mich gleich fragte, ob ich nicht einen Menschen wüßte, dem man den Auftrag geben könne, Geld für den Kirchenbau zu sammeln; der Mann müßte entweder vom Adel oder aus dem Kaufmannsstande und wohlerzogener als die anderen sein; er müßte diesen Auftrag als seine Rettung auffassen. Ich war ganz bestürzt. Ach, mein Gott! Der Mönch hat ja dieses Amt für Ssemjon Ssemjonowitsch ausersehen. Die Wanderschaft ist für seine Krankheit sehr gut. Wenn er mit dem Sammelbuch vom Gutsbesitzer zum Bauern und vom Bauern zum Kleinbürger kommt, wird er erfahren, wie jedermann lebt und was jedermann braucht; wenn er einige Gouvernements durchwandert hat und heimkehrt, so wird er das Land besser kennen als alle Menschen, die in den Städten wohnen . . . Solche Menschen brauchen wir jetzt. Da hat mir auch der Fürst neulich gesagt, er gäbe viel dafür, wenn er einen Beamten auftreiben könnte, der die Angelegenheit nicht aus den Akten kennt, sondern wie sie in Wirklichkeit ist, denn aus den Akten kann man, wie es heißt, nichts mehr ersehen: so verwickelt ist die ganze Geschichte.«
»Sie haben mich vollkommen verwirrt, Afanassij Wassiljewitsch«, sagte Chlobujew, ihn erstaunt anblickend. »Ich kann gar nicht glauben, daß Sie sich damit an mich wenden: dazu braucht man einen unermüdlichen, tatkräftigen Menschen. Und wie soll ich dann auch Frau und Kinder zurücklassen, die nichts zu essen haben?«
»Um Ihre Gattin und Ihre Kinder brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Die nehme ich auf mich, und Ihre Kinder sollen Lehrer bekommen. Es ist doch edler und besser, für Gott zu bitten, als für sich selbst zu betteln. Ich werde Ihnen einen einfachen Wagen geben; vor dem Rütteln brauchen Sie keine Angst zu haben: das ist gut für Ihre Gesundheit. Ich werde Ihnen auch Geld mitgeben, damit Sie unterwegs denen geben können, die mehr Not als die anderen leiden. Sie können viele gute Werke tun: Sie werden keine Fehler machen und nur solchen geben, die wirkliche Not leiden. Wenn Sie so durchs Land fahren, werden Sie alle genau kennenlernen, auch wer . . . Das ist doch was ganz anderes, als wenn es ein Beamter tut, den alle fürchten und von dem . . .; mit Ihnen aber wird man gerne ins Gespräch kommen, wenn man weiß, daß Sie für den Kirchenbau sammeln.«
»Ich sehe, es ist ein vortrefflicher Gedanke, und ich möchte sehr gern auch nur einen Teil davon ausführen; aber ich glaube wirklich, es geht über meine Kraft.«
»Was entspricht denn unserer Kraft?« sagte Murasow. »Es gibt doch nichts, was unseren Kräften entspräche; alles geht über unsere Kraft. Ohne Hilfe von oben kann man überhaupt nichts anfangen. Doch das Gebet verleiht uns Kräfte. Der Mensch bekreuzigt sich, sagt: ›Herr, sei mir gnädig!‹, rudert mit den Armen und schwimmt ans Ufer. Darüber soll man nicht lange nachdenken; man muß es einfach als Gottes Willen hinnehmen. Der Wagen wird für Sie gleich fertig sein; gehen Sie nur zum Archimandriten, um das Sammelbuch und seinen Segen zu holen, und machen Sie sich dann gleich auf den Weg.«
»Ich gehorche und nehme es als eine göttliche Fügung auf.« – Herr, segne mich! – sagte er zu sich selbst und fühlte, wie ihm Kraft und Mut ins Herz drangen. Sein Geist erwachte gleichsam aus dem Schlafe, von der Hoffnung auf einen Ausweg aus seiner traurigen Lage geweckt. Ein Licht winkte ihm in der Ferne . . .
Wir wollen aber Chlobujew verlassen und uns zu Tschitschikow wenden.Hier endet der von Gogol überarbeitete Text und beginnt die ursprüngliche, nicht überarbeitete Fassung.
Indessen liefen bei den Gerichten immer neue Klagen und Gesuche ein. Es meldeten sich Verwandte, von denen niemand etwas gehört hatte. Wie die Vögel sich auf ein Aas stürzen, so stürzte sich alles auf das Riesenvermögen, das die Alte hinterlassen hatte; es kamen Anzeigen gegen Tschitschikow, man erklärte, daß das letzte Testament gefälscht sei, daß auch das erste gefälscht sei, man bezichtigte ihn des Diebstahls und der Unterschlagung großer Summen. Man brachte sogar Beweise vor, daß Tschitschikow tote Seelen gekauft und während seiner Anstellung im Zollamte Konterbande durchgeschmuggelt habe. Man wühlte alles auf und erfuhr sein ganzes Vorleben. Gott allein weiß, wie man das alles erfahren hatte, es kamen aber auch solche Dinge auf, von denen Tschitschikow glaubte, daß sie keinem Menschen außer ihm und seinen vier Wänden bekannt seien. Vorläufig wurde das alles vom Gericht geheimgehalten und kam ihm nicht zu Ohren, obwohl ihm ein vertrauliches Billett seines Rechtsbeistandes, das er bald darauf erhielt, zu verstehen gab, daß der Tanz begonnen hatte. Das Billett war ganz kurz: »Ich beeile mich, Sie zu benachrichtigen, daß es viele Scherereien geben wird, merken Sie sich aber, daß Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die Hauptsache ist Ruhe. Wir werden schon alles machen.« Dieses Billett beruhigte ihn vollkommen. »Wirklich ein Genie!« sagte Tschitschikow. Um das Schöne noch zu vervollständigen, brachte ihm der Schneider den Anzug. Er verspürte große Lust, sich in dem neuen Frack von der Navarinoschen Flammenfarbe mit Pulverrauch zu sehen. Er zog die Hose an, die seine Beine so wunderbar umspannte, daß man sie malen könnte. Das Tuch schmiegte sich wunderbar um die Schenkel, um die Waden und um alle Details und verlieh ihnen eine noch größere Elastizität. Als er hinten die Schnalle anzog, wurde sein Bauch zu einer Trommel. Er schlug mit der Kleiderbürste darauf und sagte: »So ein Narr, wirkt aber im ganzen doch sehr malerisch.« Der Frack schien noch besser zu sitzen als die Hose: nirgends gab es eine Falte, die Hüften waren vollkommen umspannt, und die Taille war schön geschwungen. Auf Tschitschikows Bemerkung, daß es in der rechten Achsel etwas spanne, lächelte der Schneider bloß: deswegen sitzt der Frack in der Taille noch besser. »Sie können wegen der Arbeit ganz unbesorgt sein,« sagte der Schneider mit unverhohlenem Triumph, »außer in Petersburg wird man Ihnen nirgends so einen Frack machen können.« Der Schneider stammte selbst aus Petersburg und hatte auf seinem Schild stehen: »Ausländer aus London und Paris«. Er verstand keinen Spaß und wollte mit diesen beiden Städten allen anderen Schneidern den Mund verstopfen, damit in Zukunft keiner mit solchen Städten komme; sollen die anderen nur »Karlsruhe« oder »Kopenhagen« auf ihre Schilder setzen.
Tschitschikow rechnete mit dem Schneider auf die vornehmste Weise ab und begann, als er allein geblieben, mit Muße, sich wie ein Künstler mit ästhetischem Gefühl und con amore im Spiegel zu betrachten. Alles schien jetzt noch viel schöner als früher: die Wangen noch interessanter, das Kinn noch verführerischer, der weiße Kragen unterstrich den schönen Ton der Wange, die blaue Atlasbinde – den Ton des Kragens, das Vorhemd mit dem modernen Fältchen – die Farbe der Binde, und die prachtvolle Samtweste die Schönheit des Vorhemdes; aber der Frack von der Navarinoschen Flammenfarbe mit Pulverrauch glänzte wie Seide und gab allem den Ton. Er drehte sich nach rechts – wunderschön! Er drehte sich nach links – noch schöner! Die Taille war so schlank wie bei einem Kammerherrn oder einem Mann, der nur Französisch redet und selbst im Zorne kein russisches Schimpfwort gebraucht, sondern auf Französisch flucht: diese Vornehmheit! Er versuchte, den Kopf etwas auf die Seite zu neigen und eine Pose anzunehmen, als wende er sich an eine Dame in mittleren Jahren von modernster Bildung: es war einfach zum Malen! Künstler, nimm deinen Pinsel und verewige es auf der Leinwand! Vor Freude machte er einen leichten Sprung. Die Kommode erzitterte, und die Flasche mit Kölnischem Wasser fiel zu Boden: dies verursachte aber nicht die geringste Störung. Er nannte die Flasche, wie es sich gehörte, eine dumme Gans und fragte sich: – Zu wem soll ich jetzt zuallererst gehen? Am besten . . . – Plötzlich ertönte im Vorzimmer etwas wie Sporengeklirr, und ins Zimmer trat ein Gendarm in voller Bewaffnung, als verkörpere er das ganze Heer. »Sie sollen sofort zum Generalgouverneur kommen!« Tschitschikow erstarrte zu Stein. Vor ihm stand ein Schreckbild mit Schnurrbart, mit einem Pferdeschweif auf dem Helm, einem Säbelriemen über der einen Schulter, einem Säbelriemen über der anderen Schulter und einem mächtigen Pallasch an der Hüfte. Tschitschikow kam es vor, als hinge an der anderen Hüfte ein Gewehr und weiß der Teufel was alles: ein ganzes Heer steckte in diesem einen Mann! Er versuchte etwas zu entgegnen, doch das Schreckbild fuhr ihn grob an: »Sofort!« Durch die Türe sah er im Vorzimmer ein anderes Schreckbild stehen; er warf einen Blick durchs Fenster: draußen wartete ein Wagen. Was war da zu machen? So wie er war, im Frack von Navarinoscher Flammenfarbe mit Pulverrauch, mußte er in den Wagen steigen und, am ganzen Leibe zitternd, in Begleitung der Gendarme zum Generalgouverneur fahren.
Im Vorsaal ließ man ihn gar nicht zu sich kommen. »Gehen Sie! Der Fürst wartet schon!« sagte der diensthabende Beamte. Wie durch einen Nebel sah er das Vorzimmer mit den Kurieren, welche Pakete in Empfang nahmen, dann den Saal, den er passierte, und dachte sich nur: – Wie, wenn er mich verhaftet und ohne jede Gerichtsverhandlung direkt nach Sibirien schickt! – Sein Herz klopfte so heftig, wie es selbst beim eifersüchtigsten Liebhaber nicht klopft. Endlich ging die verhängnisvolle Türe auf: er sah vor sich das Kabinett mit dem Portefeuilles, Schränken und Büchern und den Fürsten so zornig, wie der Zorn selbst.
– Es ist das Verderben! – sagte sich Tschitschikow. – Er wird mich umbringen wie der Wolf das Lamm. – »Ich habe Sie geschont, ich habe Ihnen erlaubt, in der Stadt zu bleiben, während Sie ins Zuchthaus gesperrt zu werden verdienten; Sie haben sich aber wieder durch die ruchloseste Missetat befleckt, mit der sich je ein Mensch befleckt hat!« Die Lippen des Fürsten bebten vor Zorn.
»Durch welche ruchlose Missetat, Durchlaucht?« fragte Tschitschikow, am ganzen Leibe zitternd.
»Die Frau,« sagte der Fürst, etwas näher tretend und Tschitschikow gerade in die Augen blickend, »die Frau, die das Testament nach Ihrem Diktat unterschrieben hat, ist verhaftet worden und wird mit Ihnen konfrontiert werden.«
Tschitschikow wurde es finster vor den Augen.
»Durchlaucht! Ich will Ihnen die reinste Wahrheit sagen. Ich bin schuldig, in der Tat schuldig, doch nicht so schuldig: meine Feinde haben mich verleumdet.«
»Niemand kann Sie verleumden, denn in Ihnen steckt viel mehr Niedertracht, als der größte Lügner erfinden kann. Ich meine, Sie haben in Ihrem ganzen Leben keine Tat vollbracht, die nicht ruchlos wäre. Jede Kopeke, die Sie erworben haben, haben Sie auf die ruchloseste Weise erworben; es liegt Diebstahl und ein gemeines Verbrechen vor, auf das die Knute und Sibirien stehen! Nein, jetzt ist's genug! Du wirst sofort ins Zuchthaus abgeführt werden und mit den schlimmsten Verbrechern und Räubern auf die Entscheidung deines Schicksals warten. Und das ist auch noch eine Gnade: denn du bist viel schlimmer als sie; sie tragen einfache Bauernröcke, du aber . . .« Er warf einen Blick auf den Frack von der Navarinoschen Flammenfarbe mit Pulverrauch und zog die Glockenschnur.
»Durchlaucht,« rief Tschitschikow, »lassen Sie Gnade walten! Sie sind doch Familienvater. Erbarmen Sie sich nicht meiner, sondern meiner alten Mutter!«
»Du lügst!« schrie der Fürst zornig. »Ebenso hast du mich damals bei deinen Kindern und deiner Familie angefleht, die du niemals besessen hast, und jetzt kommst du mit deiner Mutter!«
»Durchlaucht! Ich bin ein Schurke, ein ruchloser Schuft!« sagte Tschitschikow mit einer Stimme, die . . . »Ich habe wirklich gelogen, ich habe weder Kinder noch Familie gehabt; doch Gott sei mein Zeuge: ich hatte immer den Wunsch, mich zu verheiraten, die Pflicht des Menschen und des Bürgers zu erfüllen, um dann tatsächlich die Achtung der Bürger und der Obrigkeit zu verdienen . . . Aber dieses unglückliche Zusammentreffen widriger Umstände! Durchlaucht! Mit meinem Blut mußte ich mir mein tägliches Brot verdienen. Auf Schritt und Tritt Versuchungen und Verführungen . . . Feinde, Widersacher, Räuber. Mein ganzes Leben war wie ein wilder Sturmwind oder wie ein Schiff inmitten der Wellen, allen Winden preisgegeben. Ich bin nur ein Mensch, Durchlaucht!«
Tränenbäche stürzten plötzlich aus seinen Augen. Er fiel dem Fürsten zu Füßen, so wie er war: im Frack von der Navarinoschen Flammenfarbe mit Pulverrauch, in der Samtweste mit der Atlasbinde, in der wunderbar sitzenden Hose und mit der sorgfältigen Frisur, der ein süßer Wohlgeruch vom feinsten Kölnischen Wasser entströmte, und schlug mit dem Kopf gegen den Fußboden.
»Fort von mir! Man rufe Soldaten her, damit sie ihn abführen!« sagte der Fürst zu den Eintretenden.
»Durchlaucht!« rief Tschitschikow und umfaßte mit beiden Händen einen Stiefel des Fürsten.
Ein Beben lief durch alle Adern des Fürsten.
»Fort von mir, sage ich Ihnen!« rief er, indem er sich bemühte, seinen Fuß aus der Umarmung Tschitschikows zu befreien.
»Durchlaucht! Ich weiche nicht von diesem Fleck, bis ich Ihre Verzeihung erfleht habe!« sagte Tschitschikow, ohne den Stiefel des Fürsten loszulassen, und rutschte in seinem Frack von der Navarinoschen Flammenfarbe mit Pulverrauch zusammen mit dem Fuß des Fürsten über den Fußboden.
»Gehen Sie fort, sage ich Ihnen!« sagte der Fürst mit jenem unsagbaren Ekelgefühl, das der Mensch beim Anblick eines häßlichen Insekts empfindet, das er nicht zu zertreten wagt. Er schüttelte so heftig den Fuß, daß Tschitschikow einen Schlag mit dem Stiefel auf der Nase, den Lippen und dem rundlichen Kinn verspürte; aber er ließ den Stiefel nicht los und umklammerte ihn noch fester. Zwei kräftige Gendarmen schleppten ihn mit Mühe weg, nahmen ihn unter die Arme und führten ihn durch alle Zimmer. Er war blaß, wie erschlagen, und befand sich in jenem schrecklichen gefühllosen Zustand, in den der Mensch verfällt, wenn er vor sich den schwarzen, unabwendbaren Tod sieht, dieses Schreckbild, dem unsere ganze Natur widerstrebt.
In der Türe, die auf die Treppe führte, kam ihm Murasow entgegen. Es war wie ein Hoffnungsstrahl. Augenblicklich riß er sich mit einer beinahe unnatürlichen Kraft aus den Händen der beiden Gendarme und stürzte dem erstaunten Alten zu Füßen.
»Väterchen, Pawel Iwanowitsch! Was ist mit Ihnen los?«
»Retten Sie mich! Man führt mich ins Gefängnis, in den Tod . . .« Die Gendarmen packten ihn und führten ihn weiter und ließen ihn gar nicht die Antwort Murasows hören.
Eine dumpfe feuchte Kammer mit dem Geruch von Stiefeln und Fußlappen der Garnisonsoldaten, ein ungestrichener Tisch, zwei elende Stühle, ein eisernes Gitter vor dem Fenster, ein baufälliger Ofen, aus dessen Ritzen nur Rauch, aber keine Wärme kam – das war die Behausung, in die unser Held kam, der schon begonnen hatte, die Süße des Lebens zu kosten und in seinem feinen neuen Frack von Navarinoscher Flammenfarbe mit Pulverrauch die Aufmerksamkeit der Mitbürger auf sich zu lenken. Man hatte ihm keine Zeit gelassen, seine Angelegenheiten zu ordnen, die notwendigen Sachen mitzunehmen, die Schatulle mit dem Geld, das er vielleicht . . . erworben hatte. Die Papiere, die Kaufverträge über die Toten – alles befand sich jetzt in Händen der Beamten. Er stürzte zu Boden, und eine hoffnungslose Trauer wand sich wie ein gieriger Wurm um sein Herz. Immer gieriger nagte sie an diesem wehrlosen Herzen. Noch solch ein Tag, nur noch ein Tag voll solcher Trauer, und Tschitschikow wäre vielleicht aus diesem Leben geschieden. Aber auch über ihm wachte eine rettende Hand. Nach einer Stunde ging die Kerkertüre auf, und vor Tschitschikow stand der alte Murasow.
Wenn man einem von brennendem Durst gequälten, mit dem Staube des Weges bedeckten, müden und erschöpften Wanderer frisches Brunnenwasser in die trockene Kehle gösse, so könnte ihn dies nicht so erquicken und erfrischen, wie der Besuch Murasows den armen Tschitschikow erquickte.
»Mein Retter!« sagte Tschitschikow, indem er plötzlich vom Fußboden aus, auf den er sich in seinem erdrückenden Schmerze hingeworfen hatte, nach seiner Hand griff, sie schnell küßte und an seine Brust drückte. »Gott lohne es Ihnen, daß Sie den Unglücklichen aufgesucht haben!«
Er brach in Tränen aus.
Der Alte sah ihn mit traurigen und schmerzlichen Blicken an und sagte bloß: »Ach, Pawel Iwanowitsch! Pawel Iwanowitsch, was haben Sie angestellt!«
»Was sollte ich machen! Sie hat mich zugrunde gerichtet, die Verfluchte! Ich konnte nicht Maß halten, ich konnte nicht zur rechten Zeit aufhören. Der verfluchte Satan hat mich verführt, hat mir die Vernunft genommen, hat mich aus den Grenzen der menschlichen Vernunft gelockt. Ich habe mich vergangen! Wie durfte aber er so handeln? Einen Edelmann, einen Edelmann ohne Gericht und ohne Untersuchung ins Gefängnis zu werfen! . . . Einen Edelmann, Afanassij Wassiljewitsch! Durfte man mir denn keine Zeit lassen, nach Hause zu gehen und meine Sachen zu ordnen? Meine ganze Habe ist ja ohne jede Aufsicht geblieben. Meine Schatulle, Afanassij Wassiljewitsch, meine Schatulle! Mein ganzes Vermögen steckt doch in ihr. Ich habe es mit Schweiß und Blut erworben, durch viele Jahre von Mühe und Entbehrungen . . . Meine Schatulle, Afanassij Wassiljewitsch! Man wird ja alles stehlen und fortschleppen! Oh, mein Gott!«
Er konnte den neuen Ansturm von Schmerz, der sein Herz zusammenpreßte, nicht überwinden und schluchzte laut mit einer Stimme, die durch die dicken Zuchthausmauern drang und dumpf in der Ferne widerhallte. Dann riß er sich die Atlasbinde vom Halse, ergriff mit der Hand den Kragen und zerriß den Frack von Navarinoscher Flammenfarbe mit Pulverrauch.
»Ach, Pawel Iwanowitsch! Wie hat Sie doch dieses Vermögen geblendet! Seinetwegen sahen Sie gar nicht das Schreckliche Ihrer Lage.«
»Wohltäter, retten Sie mich, retten Sie mich!« schrie der arme Pawel Iwanowitsch verzweifelt, ihm zu Füßen stürzend. »Der Fürst liebt Sie, für Sie wird er alles tun.«
»Nein, Pawel Iwanowitsch, ich kann es nicht, wie sehr ich es auch möchte. Sie sind unter die Gewalt eines unerbittlichen Gesetzes und nicht unter die eines Menschen geraten.«
»Er hat mich verführt, der listige Satan, der Verderber des Menschengeschlechts!«
Er schlug mit dem Kopf gegen die Wand und hieb so stark mit der Faust auf den Tisch, daß ihm die Hand blutete; er spürte aber weder den Schmerz im Kopfe noch den furchtbaren Schlag.
»Pawel Iwanowitsch, beruhigen Sie sich, denken Sie nur daran, wie Sie sich mit Gott aussöhnen könnten und nicht mit den Menschen; denken Sie doch an Ihre arme Seele.«
»Aber welch ein Schicksal, Afanassij Wassiljewitsch! Hat denn auch nur ein Mensch solch ein Schicksal erlebt? Ich habe doch sozusagen mit blutender Geduld jede Kopeke erworben, mit Mühe und Arbeit; ich habe niemand beraubt oder gar die Staatskasse bestohlen, wie es manche tun. Wozu habe ich aber Kopeke auf Kopeke gespart? Doch nur, um den Rest meiner Tage in Wohlstand zu verbringen, um meiner Frau und meinen Kindern, die ich zum Wohle des Vaterlandes, für den Staatsdienst hatte zeugen wollen, ein Vermögen zu hinterlassen. Nur das bewog mich, mich zu bereichern! Ich habe mich wohl vergangen, ich leugne es nicht . . . Wie soll ich es auch? Aber ich tat es nur, als ich sah, daß man auf geradem Wege nichts erreichen kann und daß der krumme Weg der kürzere ist. Ich habe mich aber bemüht, ich habe meinen Geist angestrengt. Wenn ich etwas Fremdes genommen habe, so doch nur von den Reichen. Aber diese Schurken beim Gericht bestehlen den Staat um Tausende, berauben die Armen, nehmen einem, der nichts hat, die letzte Kopeke weg! . . . Sagen Sie doch, was ist das für ein böses Verhängnis: jedesmal, wenn man die Früchte zu erreichen glaubt und sie sozusagen mit der Hand berührt, kommt ein Sturm, kommt ein Riff, an dem das ganze Schiff zerschellt! Ich besaß ja schon an die dreihunderttausend Rubel Kapital; einmal besaß ich auch ein zweistöckiges Haus; zweimal hatte ich mir Güter gekauft . . . Ach, Afanassij Wassiljewitsch! Wofür kommt denn dies . . . ? Wofür diese Schicksalsschläge? War denn mein Leben nicht schon ohnehin wie ein Schiff inmitten der Wellen? Wo bleibt die himmlische Gerechtigkeit? Wo der Lohn für die Geduld, für die beispiellose Ausdauer? Dreimal habe ich schon von neuem angefangen; nachdem ich alles verloren, fing ich immer wieder mit der Kopeke an, während ein anderer an meiner Stelle vor Verzweiflung dem Trunke verfallen und in der Schenke verfault wäre. Wieviel mußte ich in mir unterdrücken, wieviel ertragen! Jede Kopeke ist ja, sozusagen, mit allen Kräften meiner Seele erworben! . . . Die anderen haben es leicht gehabt, für mich war aber ›jede Kopeke mit einem Dreikopekennagel festgenagelt‹, wie das Sprichwort sagt, und diese mit dem Dreikopekennagel festgenagelte Kopeke errang ich mir, bei Gott, mit einer eisernen Unermüdlichkeit! . . .«
Er fing vor unerträglichem Herzweh laut zu schluchzen an, fiel vom Stuhl, riß den herabhängenden zerfetzten Frackschoß ganz ab, schleuderte ihn weit von sich, fuhr sich mit beiden Händen in die Haare, um deren Erhaltung er sonst so sehr besorgt war, und raufte unbarmherzig daran, sich am Schmerze weidend, mit dem er das unstillbare Herzweh betäuben wollte.
Murasow saß lange stumm vor ihm und blickte auf dieses ungewöhnliche . . ., das er zum erstenmal sah. Der unglückliche, erbitterte Mensch, der erst vor kurzem mit der ungezwungenen Gewandtheit eines Salonmenschen oder Militärs herumgesprungen war, warf sich jetzt zerzaust, in einem unanständigen Aufzug, im zerrissenen Frack, in aufgeknöpfter Hose, mit blutender Faust hin und her und stieß Lästerungen gegen die feindlichen Mächte aus, die dem Menschen alles verderben!
»Ach, Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch! Was wäre doch aus Ihnen für ein Mensch geworden, wenn Sie die gleiche Kraft und die gleiche Geduld auf ein nützlicheres Werk verwendeten und ein besseres Ziel verfolgten! Mein Gott, wieviel Gutes hätten Sie tun können! Wenn nur einer von den Menschen, die das Gute lieben, die Mühe darauf verwendete, mit der Sie jede Kopeke erwarben, und es verstünde, für das Gute seinen Ehrgeiz und seine Eigenliebe so selbstlos zu opfern, wie Sie es taten, als Sie jede Kopeke erwarben – mein Gott, wie würde dann unser Land aufblühen! . . . Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch! Es ist weniger zu bedauern, daß Sie sich an den anderen, als daß Sie sich an sich selbst vergangen haben, an den reichen Gaben und Fähigkeiten, die Ihnen zuteil wurden. Ihre Bestimmung war, ein großer Mann zu werden, Sie aber haben sich selbst zugrunde gerichtet.«
Es gibt merkwürdige Rätsel in der Menschenseele: wie weit auch ein Mensch vom geraden Weg abgeirrt ist, wie verstockt ein unverbesserlicher Verbrecher in seinen Gefühlen auch ist, wie hartnäckig er an seinem verbrecherischen Leben auch festhält – wenn man ihm seine eigenen, von ihm geschändeten Tugenden vorhält, so kommt in ihm alles ins Wanken, und er wird unwillkürlich aufs tiefste erschüttert.
»Afanassij Wassiljewitsch«, sagte der arme Tschitschikow und ergriff mit beiden Händen seine Hände. »Oh, wenn es mir gelänge, freizukommen und mein Vermögen wiederzubekommen! Ich schwöre Ihnen, ich würde ein ganz neues Leben anfangen! Retten Sie mich, Wohltäter, retten Sie mich!«
»Wie kann ich das machen? Ich müßte gegen das Gesetz kämpfen. Selbst wenn ich mich dazu entschließen würde – der Fürst ist gerecht – er wird niemals nachgeben.«
»Wohltäter! Sie können alles erreichen. Das Gesetz schreckt mich nicht – gegen das Gesetz werde ich schon Mittel finden; aber daß ich unschuldig ins Gefängnis geworfen bin, daß ich hier wie ein Hund zugrunde gehe, daß mein ganzes Vermögen, meine Papiere, meine Schatulle . . . Retten Sie mich!«
Er umschlang die Füße des Alten mit den Armen und benetzte sie mit seinen Tränen.
»Ach, Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch!« sagte der alte Murasow, den Kopf schüttelnd: »Wie furchtbar hat Sie dieses Vermögen geblendet! Seinetwegen dachten Sie nicht an Ihre arme Seele.«
»Ich werde auch an meine Seele denken, aber retten Sie mich!«
»Pawel Iwanowitsch! . . .« begann der alte Murasow und hielt inne. »Sie zu retten, liegt nicht in meiner Macht – das sehen Sie selbst. Ich werde aber jede Mühe aufwenden, um Ihr Los zu erleichtern und Sie zu befreien. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, aber ich werde mir Mühe geben. Wenn es mir aber, was ich nicht glaube, gelingen wird, so werde ich Sie um eine Belohnung für meine Mühe bitten, Pawel Iwanowitsch: geben Sie ihre Jagd nach Erwerb auf. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: wenn ich mein ganzes Vermögen verlöre – und es ist bedeutend größer als das Ihrige – ich würde nicht weinen. Bei Gott, es kommt nicht auf dieses Vermögen an, das man bei mir konfiszieren kann, sondern auf andere Dinge, die mir niemand stehlen und nehmen kann! Sie haben lange genug auf der Welt gelebt. Sie selbst nennen Ihr Leben ein Schiff inmitten der Wellen. Sie haben genug, um den Rest Ihrer Tage leben zu können. Lassen Sie sich in einem stillen Winkel, in der Nähe einer Kirche, in der Nähe von einfachen, guten Menschen nieder; oder, wenn Sie schon ein so großes Bedürfnis haben, Nachkommen zu hinterlassen, so heiraten Sie ein armes, gutes Mädchen, das an ein mäßiges und einfaches Leben gewöhnt ist. Vergessen Sie diese lärmende Welt und alle ihre verführerischen Launen: soll auch die Welt Sie vergessen; in der Welt können Sie keine Ruhe finden. Sie sehen: alles in der Welt ist uns feind, alles ist Versuchung oder Verrat.«
»Unbedingt, unbedingt! Ich hatte schon längst die Absicht, ein ordentliches Leben zu beginnen, mich der Wirtschaft zu widmen, meine Lebensweise einzuschränken. Doch der Dämon der Versuchung hat mich verführt, der Satan, der Teufel, die Ausgeburt der Hölle!«
Neue, ihm bisher unbekannte Gefühle, die er sich gar nicht erklären konnte, erfüllten plötzlich seine Seele, als wollte in ihm etwas erwachen, etwas Fernes, etwas . . . etwas, was in seiner frühesten Kindheit von den strengen toten Predigten, von der Freudlosigkeit der langweiligen Kinderjahre, der Öde des Vaterhauses, der Einsamkeit, der Armut der ersten Eindrücke erstickt worden war; als wollte sich das, was . . . war, vom strengen Auge des Schicksals, das ihn traurig durch ein trübes, schneeverwehtes Fenster angeblickt hatte, nun in die Freiheit drängen. Ein Stöhnen entrang sich seinen Lippen, er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und sagte mit schmerzlicher Stimme: »Es ist wahr, es ist wahr!«
»Auch die Menschenkenntnis und Ihre ganze Erfahrung haben Ihnen auf dem Wege des Unrechts nicht helfen können. Wenn Sie aber auf dem Wege des Rechts stünden! . . . Ach, Pawel Iwanowitsch, warum haben Sie sich zugrunde gerichtet? Erwachen Sie doch: es ist noch nicht zu spät, es ist noch Zeit! . . .«
»Nein, es ist zu spät, es ist zu spät!« stöhnte er mit einer Stimme, vor der Murasows Herz beinahe entzweiriß. »Ich fange an zu fühlen, daß ich einen falschen Weg gehe, daß ich mich vom wahren Wege weit entfernt habe, aber ich kann nicht mehr zurück! Nein, ich bin nicht so erzogen. Mein Vater erteilte mir Lehren, schlug mich, zwang mich schöne Moralvorschriften abzuschreiben; dabei stahl er vor meinen Augen bei den Nachbarn Holz und zwang mich, ihm dabei zu helfen. Vor meinen Augen strengte er einen falschen Prozeß an und verführte ein Waisenkind, dessen Vormund er war. Das Beispiel ist immer stärker als jede Vorschrift. Ich sehe, ich fühle, Afanassij Wassiljewitsch, daß ich nicht so lebe, wie man leben muß, doch mein Abscheu vor dem Laster ist nicht groß genug: meine Natur ist verroht, mir fehlt die Liebe für das Gute, jene schöne Neigung zu gottgefälligen Werken, die bald zur zweiten Natur, zur Gewohnheit wird . . . Ich habe nicht den gleichen Eifer, für das Gute zu wirken, wie in meinem Streben nach Gewinn. Ich spreche die Wahrheit – was soll ich machen!«
Der Alte seufzte tief auf . . .
»Pawel Iwanowitsch! Sie haben doch soviel Willenskraft, soviel Geduld. Die Arznei ist bitter, aber der Kranke nimmt sie, weil er weiß, daß er anders nicht genesen kann. Ihnen fehlt die Liebe für das Gute – tun Sie dann das Gute gewaltsam, ohne es zu lieben. Das wird Ihnen noch höher angerechnet werden, als einem, der das Gute aus Liebe für das Gute tut. Zwingen Sie sich nur einigemal dazu, dann wird auch die Liebe kommen. Glauben Sie mir, das kommt vor. Es ist uns gesagt worden: ›Jedermann dringt in das Reich Gottes mit Gewalt hinein.‹ Nur indem man es sich erkämpft . . . Man muß gewaltsam nach ihm streben, man muß es mit Gewalt erzwingen. Ach, Pawel Iwanowitsch! Sie haben doch diese Kraft, Pawel Iwanowitsch! Sie haben doch diese Kraft, die die anderen nicht haben, diese eiserne Geduld – ist es möglich, daß Sie es nicht erringen? Sie würden, glaube ich, die Kräfte eines Helden aufbringen. Sonst sind die Menschen heute so willenlos und schwach.«
Man sah, wie diese Worte Tschitschikow tief in die Seele drangen und auf ihrem Grunde etwas wie Ehrgeiz weckten. Aus seinen Augen leuchtete etwas: wenn es auch kein Entschluß war, so war es doch etwas Mächtiges, was einem Entschlusse ähnlich sah . . .
»Afanassij Wassiljewitsch!« sagte er mit fester Stimme. »Wenn Sie mir nur die Freiheit und die Möglichkeit erwirken, von hier auch mit dem kleinsten Vermögen zu entkommen, so gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich ein neues Leben beginnen werde: ich kaufe mir damit ein kleines Gut, werde Landwirt; werde Geld sparen, doch nicht für mich, sondern um den anderen zu helfen, werde nach Kräften Gutes tun; ich werde mich selbst und alle die städtischen Schlemmereien und Trinkgelage vergessen und ein einfaches, nüchternes Leben führen.«
»Gott gebe Ihnen die Kraft zu diesem Entschluß!« sagte der Alte erfreut. »Ich will mein möglichstes tun, um beim Fürsten Ihre Befreiung zu erwirken. Ob es mir gelingen wird, weiß Gott allein. Jedenfalls wird Ihr Los erleichtert werden. Ach, mein Gott! Umarmen Sie mich! Lassen Sie sich umarmen. Eine große Freude haben Sie mir bereitet! Nun, mit Gott, ich gehe sofort zum Fürsten.«
Tschitschikow blieb allein.
Sein ganzes Wesen war erschüttert und erweicht. Selbst das Platin, das härteste der Metalle, das dem Feuer am längsten widersteht, schmilzt, wenn man die Flammen mit dem Blasebalg zur unerträglichen Glut anfacht – das eigensinnige Metall wird weiß und verwandelt sich in Flüssigkeit; auch der stärkste Mensch gibt im Schmelzofen der Schicksalsschläge nach, wenn sie, immer stärker werdend, seine verhärtete Natur mit ihren Flammen belecken . . .
›– Ich verstehe und fühle es zwar nicht, werde aber alle Kräfte aufwenden, damit es die anderen fühlen; ich selbst bin schlecht und . . . nichts, werde aber alle Kräfte aufwenden, um die anderen umzustimmen; ich bin selbst ein schlechter Christ, werde aber alle Kräfte aufwenden, um kein Ärgernis zu geben. Ich werde mich bemühen, werde auf dem Lande im Schweiße meines Angesichts arbeiten und rechtschaffen sein, um einen guten Einfluß auf die anderen auszuüben. Tauge ich denn wirklich zu nichts mehr? Ich habe doch Fähigkeiten, die man in der Landwirtschaft braucht; ich bin sparsam, geschickt, vernünftig, sogar ausdauernd. Ich muß nur den Entschluß fassen . . .‹ –
So dachte Tschitschikow und schien mit den halb erwachten Kräften seiner Seele etwas zu erfassen. Seine Natur schien dunkel zu ahnen, daß es eine Pflicht gibt, die der Mensch auf Erden erfüllen muß, die er überall, in jedem Winkel erfüllen kann, trotz aller widrigen Umstände, Verwirrungen und Einflüsse, die den Menschen umschwirren, wo er auch steht. Er sah schon das fleißige Leben, fern vom Lärm der Städte, fern von den Versuchungen, die der müßige, der Arbeit entwöhnte Mensch erfunden hat, so deutlich vor sich, daß er das Unangenehme seiner Lage beinahe vergaß und vielleicht auch bereit war, der Vorsehung für diesen harten Schlag zu danken, wenn man ihn nur herausließe und ihm auch nur einen Teil seines Vermögens zurückgäbe . . . Die schmale Türe seiner schmutzigen Zelle ging aber auf, und herein trat eine beamtete Person – Ssamoswitow, ein Epikuräer, ein flotter Kerl mit breiten Schultern und langen Beinen, ein guter Kamerad, Bummler und eine geriebene Bestie, wie ihn seine Kollegen nannten. Zu Kriegszeiten hätte der Mensch wahre Wunder vollbringen können; ihn könnte man beauftragen, sich durch eine unwegsame und gefährliche Gegend durchzuschlagen, dem Feinde eine Kanone vor der Nase zu stehlen – das wäre was für ihn. Doch aus Ermanglung einer kriegerischen Schaubühne, auf der er vielleicht ein ehrlicher Mensch geworden wäre, verwendete er alle seine Kräfte auf schlechte Streiche. Eine seltsame Sache! So sonderbar waren seine Überzeugungen und Moralregeln: seinen Kameraden gegenüber benahm er sich tadellos; er verriet niemand und hielt stets sein Wort; doch die Vorgesetzten betrachtete er als eine Art feindliche Batterie, durch die er sich durchschlagen mußte, indem er sich jede schwache Stelle, jede Bresche und Nachlässigkeit zunutze machen durfte.
»Wir sind über Ihre Lage unterrichtet, wir haben alles gehört!« sagte er, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Türe hinter ihnen fest verschlossen war. »Macht nichts, macht nichts! Verzagen Sie nicht: alles kommt in Ordnung. Wir alle werden für Sie arbeiten und stehen zu Ihren Diensten. Dreißigtausend Rubel für alle, und fertig.«
»Wirklich?« rief Tschitschikow aus. »Und ich werde ganz freigesprochen?«
»Vollkommen! Sie werden sogar eine Entschädigung für Ihre Verluste bekommen.«
»Und für Ihre Mühe?«
»Dreißigtausend. Für alle: für die Unserigen, für die Beamten des Generalgouverneurs und für den Sekretär.«
»Aber erlauben Sie, wie kann ich es machen? . . . Alle meine Sachen . . . die Schatulle . . . alles ist versiegelt und beschlagnahmt . . .«
»In einer Stunde haben Sie alles wieder. Also abgemacht?«
Tschitschikow schlug ein. Sein Herz klopfte, und er traute nicht recht, daß es möglich sei . . .
»Inzwischen leben Sie wohl! Unser gemeinsamer Freund ließ Ihnen sagen, daß das Wichtigste jetzt Ruhe und Geistesgegenwart sind.«
– Hm! – dachte sich Tschitschikow, – ich verstehe: der Rechtsbeistand! –
Ssamoswitow verschwand. Als Tschitschikow allein geblieben war, konnte er seinen Worten noch immer nicht trauen; aber es war keine halbe Stunde nach diesem Gespräch vergangen, als ihm seine Schatulle gebracht wurde: die Papiere, das Geld – alles war in der schönsten Ordnung. Ssamoswitow erschien in der Rolle eines Aufsichtsbeamten: er erteilte den Wachtposten eine Rüge, weil sie nicht wachsam genug seien, befahl dem Aufseher, noch einige Soldaten zur Verstärkung kommen zu lassen, nahm nicht nur die Schatulle, sondern auch alle Papiere, die Tschitschikow irgendwie kompromittieren konnten, zu sich, schnürte alles zusammen, versiegelte es und schickte das alles mit einem Soldaten zu Tschitschikow unter der Vorspiegelung, daß es Dinge seien, die der Verhaftete für die Nacht brauche; so erhielt Tschitschikow zugleich mit den Papieren auch noch warme Sachen, um seinen sterblichen Leib zu bedecken. Diese schnelle Zustellung machte ihm unsagbare Freude. Er faßte Hoffnung, und schon schwebten ihm allerlei schöne Dinge vor: am Abend Theater und die Tänzerin, der er die Cour machte. Das Landleben und die Stille erschienen ihm wieder blasser, die Stadt und der Lärm dagegen leuchtender und klarer . . . Oh, Leben!
Unterdessen war in den Gerichten und Kanzleien eine Affäre von grenzenlosen Dimensionen entstanden. Die Federn der Schreiber arbeiteten unermüdlich; gewitzigte Rechtsverdreher mühten sich ab, hier und da eine Prise nehmend und jede knifflige Zeile mit einem geradezu künstlerischen Genuß betrachtend. Der Rechtsbeistand lenkte wie ein verborgener Magier den ganzen Mechanismus; ehe sich es jemand versah, hatte er schon alle mit seinen Netzen umgarnt. Der Wirrwarr wurde immer größer. Ssamoswitow übertraf sich selbst an Kühnheit und unerhörter Frechheit. Nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, wo die verhaftete Frau saß, ging er direkt hin und trat so keck als Vorgesetzter auf, daß der Posten salutierte und stramm stand. »Stehst du schon lange hier?« – »Seit heute früh, Euer Wohlgeboren.« – »Wann kommt die Ablösung?« – »In drei Stunden, Euer Wohlgeboren.« – »Ich werde dich brauchen. Ich will dem Offizier sagen, daß er statt deiner einen anderen herkommandiert.« – »Zu Befehl, Euer Wohlgeboren!« Ssamoswitow fuhr sofort nach Hause und verkleidete sich selbst, um niemand anderen in die Sache zu verwickeln, als Gendarm; plötzlich hatte er Schnurr- und Backenbart – der Teufel selbst würde ihn nicht erkennen. Er ging ins Haus, wo Tschitschikow wohnte, packte das erste beste Weib, das ihm in die Hände fiel, übergab es zwei geschickten Beamten, die ebenso gerieben waren wie er selbst, und begab sich mit seinem Schnurrbart und mit dem Gewehr, ganz wie es sich gehört, zu dem Wachtposten: »Geh zu . . . Der Kommandant hat mich hergeschickt, um dich abzulösen!« Er löste ihn ab und stellte sich selbst mit dem Gewehr hin. Das war alles, was er brauchte. Währenddessen kam an die Stelle des früheren Weibes ein anderes, das nichts wußte und nichts verstand. Das erste Weib versteckte man inzwischen so gründlich, daß man auch später nicht mehr erfahren konnte, wo es hingekommen war. Während Ssamoswitow sich in der Verkleidung eines Kriegers auf diese Weise betätigte, vollbrachte der Rechtsbeistand wahre Wunder auf dem Gebiete der Zivilverwaltung: er ließ den Gouverneur auf Umwegen wissen, daß der Staatsanwalt eine geheime Anzeige gegen ihn schreibe; dem Gendarmerieoberst ließ er mitteilen, daß ein sich in der Stadt geheim aufhaltender Beamter gegen ihn Anzeigen schreibe; den sich geheim aufhaltenden Beamten überzeugte er, daß es einen noch geheimeren Beamten gebe, der ihn denunziere – so versetzte er alle in eine solche Lage, daß sie sich von ihm Ratschläge holen mußten. Es gab einen furchtbaren Wirrwarr: eine geheime Anzeige folgte der anderen, und es kamen solche Dinge an den Tag, wie sie die Sonne nie gesehen hatte, und selbst solche, die überhaupt nicht existierten. Alles kam auf und wurde mit verwertet: wer unehelich geboren war, aus welchem Stande wer stammte, wer eine Geliebte hatte und wessen Frau wem nachlief. Zahllose ärgerniserregende Skandalgeschichten wurden bekannt, und alles vermengte sich dermaßen mit dem Falle Tschitschikows und mit den toten Seelen, daß man unmöglich entscheiden konnte, welche von diesen Affären die unsinnigste war: beide schienen von gleicher Güte. Schließlich liefen auch beim Generalgouverneur allerlei Papiere ein, und der arme Fürst konnte nichts begreifen. Ein sehr kluger und geschickter Beamter, der beauftragt war, einen Auszug aus allen Akten zu machen, wurde beinahe verrückt, da er unmöglich den Kern der Sache erfassen konnte. Der Fürst hatte um jene Zeit auch noch verschiedene andere Sorgen, eine unangenehmer als die andere. In einem Teil des Gouvernements herrschte Hungersnot. Die Beamten, die man hingeschickt hatte, um Brot zu verteilen, führten diesen Auftrag nicht so aus, wie sie sollten. Im anderen Teil des Gouvernements regten sich die Sektierer. Jemand ließ unter ihnen das Gerücht los, daß der Antichrist erschienen sei, der auch die Toten nicht in Ruhe lasse und tote Seelen aufkaufe. Sie taten Buße und sündigten und brachten unter dem Vorwande, den Antichrist einfangen zu wollen, mehrere Nichtantichristen um. In einer anderen Gegend empörten sich die Bauern gegen die Gutsbesitzer und die Polizeihauptleute. Irgendwelche Vagabunden verbreiteten unter ihnen das Gerücht, daß die Zeit anbreche, wo die Bauern Gutsbesitzer werden und Fräcke anziehen müßten; die Gutsbesitzer würden aber Bauernkittel anziehen und Bauern werden; eine ganze große Gemeinde weigerte sich, ohne zu überlegen, daß es dann viel zu viele Gutsbesitzer und Polizeihauptleute geben würde . . . die Steuern zu bezahlen. Man mußte zu Zwangsmaßregeln greifen. Der arme Fürst war in der übelsten Laune. Da meldete man ihm den Besuch des Branntweinpächters. »Soll er nur kommen«, sagte der Fürst. Der Alte trat ein.
»Da haben Sie Ihren Tschitschikow! Sie sind immer für ihn eingetreten und haben ihn verteidigt. Jetzt hat man ihn aber bei einer Sache erwischt, für die auch der schlimmste Gauner nicht zu haben wäre.«
»Gestatten Sie mir die Bemerkung, Durchlaucht, daß ich diese ganze Angelegenheit nicht recht verstehe.«
»Die Fälschung eines Testaments, und was für eine! . . . Darauf steht öffentliche Knutenstrafe!«
»Durchlaucht, ich will Tschitschikow nicht verteidigen, aber ich muß sagen, daß die Sache noch nicht bewiesen ist: die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.«
»Es gibt Beweise: die Frau, die die Rolle der Verstorbenen spielen mußte, ist verhaftet. Ich will sie sofort in Ihrer Gegenwart vernehmen.« Der Fürst klingelte und befahl die Frau zu holen.
Murasow schwieg.
»Eine ganz ehrlose Sache! Zu unserer Schande sind auch die höchsten Beamten der Stadt verwickelt, sogar der Gouverneur. Er dürfte doch nichts mit den Dieben und Spitzbuben zu tun haben!« sagte der Fürst erregt.
»Der Gouverneur ist ja auch Erbe; er durfte wohl gewisse Ansprüche erheben; und daß die anderen sich von allen Seiten an die Affäre geklammert haben, ist doch nur menschlich, Durchlaucht! Eine reiche Frau ist, ohne eine kluge und gerechte letztwillige Verfügung zu hinterlassen, gestorben; nun sind von allen Seiten Leute herbeigestürzt, die gern einen Bissen erwischen möchten – das ist nur menschlich . . .«
»Aber wozu alle die Gemeinheiten? . . . Diese Schurken!« sagte der Fürst empört. »Ich habe keinen einzigen anständigen Beamten, alle sind Schurken!«
»Durchlaucht! Wer von uns ist denn wirklich anständig? Alle Beamten unserer Stadt sind nur Menschen; alle haben ihre Vorzüge, viele sind in ihrem Fach sehr tüchtig, sündigen kann aber ein jeder!«
»Hören Sie, Afanassij Wassiljewitsch: sagen Sie mir – ich kenne Sie als einen ehrlichen Menschen – was haben Sie für eine merkwürdige Leidenschaft, alle Schurken in Schutz zu nehmen?«
»Durchlaucht,« sagte Murasow, »wenn Sie jemand auch einen Schurken nennen, so ist er doch immerhin ein Mensch. Wie soll man den Menschen nicht verteidigen, wenn man weiß, daß er die Hälfte seiner Verbrechen aus Roheit und Unbildung verübt? Wir alle begehen auf Schritt und Tritt Ungerechtigkeiten und verschulden jeden Augenblick das Unglück unserer Mitmenschen, selbst ohne jede böse Absicht. Auch Eure Durchlaucht haben eine große Ungerechtigkeit begangen.«
»Wie!« rief der Fürst erstaunt aus, bestürzt über diese unerwartete Wendung des Gesprächs.
Murasow schwieg eine Weile, als überlegte er sich etwas und sagte schließlich: »Nun, zum Beispiel in der Affäre Djerpjennikow.«
»Afanassij Wassiljewitsch! Das war doch ein Verbrechen gegen die Grundgesetze des Staates, beinahe Landesverrat!«
»Ich verteidige ihn nicht. War es aber gerecht, einen Jüngling, der sich in seiner Unerfahrenheit von anderen hatte verführen und verlocken lassen, ebenso zu bestrafen, wie einen der Rädelsführer? Djerpjennikow hat ja dasselbe Schicksal erfahren, wie ein Woronnoj-Drjannoj; ihre Verbrechen waren aber nicht gleich.«
»Um Gottes willen . . .« sagte der Fürst in sichtbarer Erregung. »Wissen Sie etwas darüber? Sagen Sie es mir. Ich habe erst kürzlich nach Petersburg geschrieben und um die Milderung seines Loses gebeten.«
»Nein, Durchlaucht, ich will nicht gesagt haben, daß ich etwas weiß, was Sie nicht wissen. Obwohl es wirklich einen Umstand gibt, der ihm nützen könnte; er wird aber von ihm keinen Gebrauch machen wollen, weil darunter ein anderer leiden könnte. Ich frage mich bloß, ob Sie damals nicht doch etwas voreilig gehandelt haben? Entschuldigen Sie, Durchlaucht, ich urteile nur nach meinem schwachen Verstande. Sie haben mich mehrmals aufgefordert, aufrichtig zu sprechen. Als ich noch selbst Vorgesetzter war, hatte ich allerlei Arbeiter unter mir, gute und schlechte. Man muß auch das Vorleben eines Menschen mit in Betracht ziehen. Wenn man nicht alles kaltblütig untersucht, sondern gleich zu schreien anfängt – so schüchtert man den Menschen nur ein und bekommt von ihm kein Geständnis zu hören; wenn man ihn aber mit Teilnahme, wie einen Bruder, ausfragt – so sagt er alles von selbst und bittet nicht mal um Milderung der Strafe; er ist auch gegen niemand erbittert, denn er sieht klar, daß nicht ich ihn bestrafe, sondern das Gesetz.«
Der Fürst wurde nachdenklich. In diesem Augenblick trat ein junger Beamter ins Zimmer und blieb respektvoll mit seinem Portefeuille in der Hand stehen. Sorge und Anstrengung spiegelten sich in seinem jugendlichen, noch frischen Gesicht. Offenbar wurde er nicht umsonst für besondere Aufträge verwendet. Er war einer der wenigen Beamten, die ihr Amt con amore versahen. Weder von Ehrgeiz noch von Habgier bewegt, auch nicht um es den anderen gleichzutun, tat er seinen Dienst nur aus dem Grunde, weil er überzeugt war, daß er für diese und keine andere Stellung geschaffen war, daß er überhaupt nur dazu lebte. Eine Sache erforschen, in allen Teilen untersuchen, alle Fäden eines verwickelten Falles entwirren – das war seine Sache. Er war für alle seine Mühen, alle schlaflosen Nächte und Anstrengungen reichlich belohnt, wenn die Sache sich zu klären begann, wenn die verborgensten Gründe ans Licht kamen und er sich imstande fühlte, das Ganze mit wenigen Worten deutlich und klar darzustellen, so daß es einem jeden offenbar und verständlich sein würde. Man kann wohl sagen, kein Schüler hat sich noch so sehr gefreut, wenn es ihm gelang, irgendeinen schwierigen Satz zu entwirren und den Sinn des Gedankens eines großen Schriftstellers zu erfassen, wie er sich freute, wenn sich vor seinen Blicken eine verworrene Sache klärte . . .
». . . mit Brot in den Gegenden, die von der Hungersnot betroffen sind; ich kenne dieses Gebiet besser als alle Beamten; ich werde persönlich untersuchen, was jeder braucht. Wenn Eure Durchlaucht mir gestatten, will ich auch mit den Sektierern sprechen. Mit unsereinem, einem einfachen Mann, werden sie viel eher reden wollen, und so wird die Sache, so Gott will, vielleicht auf friedlichem Wege erledigt werden. Die Beamten werden es aber niemals fertigbringen: es wird gleich eine Schreiberei beginnen, und sie werden sich so in die Akten vergraben, daß sie die Sache selbst nicht mehr sehen werden. Das Geld werde ich aber von Ihnen nicht annehmen, denn es ist, bei Gott, eine Schande, an seinen eigenen Vorteil zu denken, zu einer Zeit, wo die Menschen Hungers sterben. Ich habe noch einige Getreidevorräte; auch habe ich schon meine Leute nach Sibirien geschickt, und zum nächsten Sommer werden sie mir neues Getreide bringen.«
»Gott allein kann Sie für diesen Dienst belohnen, Afanassij Wassiljewitsch. Ich aber werde Ihnen kein Wort sagen, denn jedes Wort ist, wie Sie es wohl selbst fühlen, ohnmächtig. Aber gestatten Sie mir nur eines zu Ihrer Bitte zu bemerken. Sagen Sie selbst: habe ich das Recht, an dieser Sache achtlos vorüberzugehen, und wird es gerecht und ehrlich von mir sein, wenn ich diesen Schurken verzeihe?«
»Durchlaucht, bei Gott, man darf sie so nicht nennen, um so mehr, als unter ihnen auch viele würdige Männer sind. Schwierig ist zuweilen die Lage des Menschen, Durchlaucht, furchtbar schwierig. Es kommt vor, daß der Mensch die ganze Schuld zu tragen scheint; wenn man aber genauer hinsieht, so ist er unschuldig.«
»Aber was werden sie selbst sagen, wenn ich die Sache niederschlage? Viele von ihnen werden noch hochnäsiger werden und sogar sagen, sie hätten uns Angst eingejagt. Sie werden die ersten sein, die allen Respekt verlieren . . .«
»Durchlaucht, erlauben Sie mir, Ihnen meine Meinung zu sagen: Lassen Sie sie alle kommen, sagen Sie ihnen, daß Sie alles wissen; schildern Sie ihnen Ihre eigene Lage genau so, wie Sie sie soeben mir geschildert haben, und fragen Sie sie um Rat: was ein jeder von ihnen an Ihrer Stelle wohl tun würde.«
»Sie meinen wohl, daß ihnen edlere Regungen mehr eigen sind, als Ränke und Habgier? Glauben Sie mir: sie werden mich auslachen.«
»Das glaube ich nicht, Durchlaucht. Jeder Mensch, selbst der schlechte Mensch, hat doch einen Instinkt für die Gerechtigkeit. Vielleicht stimmt das nur bei einem Juden nicht, doch der Russe . . . Nein, Durchlaucht, Sie haben nichts zu verheimlichen. Sprechen Sie zu ihnen genau so, wie Sie zu mir gesprochen haben. Sie schmähen Sie als einen stolzen, ehrgeizigen Menschen, der auf nichts hören will und selbstbewußt ist –, sollen sie nun sehen, wie es sich in Wirklichkeit verhält. Was kümmert Sie das? Ihre Sache ist doch gerecht. Sagen Sie das ihnen so, als beichteten Sie nicht ihnen, sondern dem Herrn selbst.«
»Afanassij Wassiljewitsch,« sagte der Fürst nachdenklich, »ich will es mir überlegen, einstweilen danke ich Ihnen aber für Ihren Rat.«
»Den Tschitschikow wollen Sie aber freilassen, Durchlaucht.«
»Sagen Sie diesem Tschitschikow, er soll sich aus dem Staube machen, und zwar so schnell als möglich, und je weiter, um so besser. Ihm würde ich niemals verzeihen.«
Murasow begab sich vom Fürsten direkt zu Tschitschikow. Er traf ihn bereits in guter Laune an, mit einem recht anständigen Mittagessen beschäftigt, das man ihm in einem Fayencegeschirr aus einer gleichfalls recht anständigen Garküche gebracht hatte. Schon aus seinen ersten Worten merkte der Alte, daß Tschitschikow inzwischen mit einigen von den beamteten Rechtsverdrehern gesprochen hatte. Er begriff sogar, daß auch der gerissene Rechtsbeistand unsichtbar mit hineinspielte.
»Hören Sie mal, Pawel Iwanowitsch,« sagte er, »ich bringe Ihnen die Freiheit unter der Bedingung, daß Sie sofort diese Stadt verlassen. Packen Sie alle Ihre Habseligkeiten und machen Sie sich mit Gott auf den Weg, ohne auch nur einen Augenblick zu säumen, denn Ihre Sache steht jetzt noch schlimmer. Ich weiß, Sie sind jetzt von einem gewissen Menschen beeinflußt; darum teile ich Ihnen vertraulich mit, daß eben noch eine Affäre an den Tag kommt, die so schlimm ist, daß Ihnen keine Macht auf Erden mehr helfen kann. Er ist natürlich froh, wenn er aus Zeitvertreib andere Menschen ins Verderben stürzen kann, doch die Sache kommt bald an den Tag. Als ich Sie verließ, waren Sie in einer guten Gemütsverfassung, in einer viel besseren als jetzt. Mein Rat ist vollkommen ernst gemeint. Bei Gott, es kommt wirklich nicht auf dieses Vermögen an, um dessentwillen die Menschen einander bekämpfen und umbringen: als ob es möglich wäre, sein irdisches Leben in Ordnung zu bringen, ohne an das künftige Leben zu denken! Glauben Sie es mir, Pawel Iwanowitsch: solange die Menschen nicht alles, um dessentwillen sie sich zerfleischen und auffressen, aufgeben, solange sie nicht daran denken, ihre geistige Habe in Ordnung zu bringen, kann auch die irdische Habe nicht in Ordnung gebracht werden. Es werden Zeiten des Hungers und der Armut kommen, wie für das ganze Volk, so auch für jeden einzelnen Menschen . . . Das ist klar. Sie mögen sagen, was Sie wollen, der Leib hängt doch nur von der Seele ab. Wie kann man nur erwarten, daß alles nach Wunsch gehe? Denken Sie nicht an die toten Seelen, sondern an Ihre eigene lebendige Seele und betreten Sie mit Gottes Hilfe den neuen Weg! Ich reise auch morgen ab. Beeilen Sie sich! Sonst wird es in meiner Abwesenheit ein Unglück geben.«
Der Alte ging, nachdem er dies gesagt hatte, hinaus. Tschitschikow wurde nachdenklich. Der Sinn des Lebens erschien ihm wieder gar nicht so unwichtig. – Murasow hat recht – sagte er: – Es ist Zeit, einen neuen Weg zu beginnen! – Nach diesen Worten verließ er das Gefängnis. Der Wachtposten schleppte ihm seine Schatulle nach . . . Sselifan und Petruschka freuten sich über die Befreiung ihres Herrn so, als ob es Gott weiß was für ein Glück wäre. »Nun, meine Lieben,« sagte Tschitschikow, sich gnädig an sie wendend, »wir müssen packen und abreisen.«
»Wie der Wind werden wir fahren, Pawel Iwanowitsch!« sagte Sselifan. »Der Weg ist jetzt wohl gut: es ist genug Schnee gefallen. Es ist wirklich Zeit, aus dieser Stadt herauszukommen. Ich habe sie so satt, daß ich sie nicht mehr ansehen mag.«
»Geh zum Wagenbauer und laß unseren Wagen auf Schlittenkufen setzen,« sagte Tschitschikow und begab sich in die Stadt; aber er hatte keine Lust, Abschiedsvisiten zu machen. Nach allen diesen Ereignissen wäre ihm dies auch unangenehm, um so mehr, als in der Stadt allerlei ungünstige Gerüchte über ihn umliefen. Er ging allen Begegnungen aus dem Wege und begab sich nur ganz still zu dem Kaufmann, bei dem er das Tuch von Navarinoscher Flammenfarbe mit Pulverrauch gekauft hatte; er kaufte wieder vier Arschin für Frack und Hose und ging dann zu demselben Schneider. Der Schneidermeister entschloß sich, für den doppelten Preis die Arbeit zu beschleunigen; die ganze Bevölkerung seiner Werkstatt mußte die ganze Nacht bei Kerzenlicht mit Nadeln, Bügeleisen und Zähnen arbeiten, und der Frack war auch wirklich am nächsten Tage, wenn auch etwas spät, fertig. Die Pferde waren schon angespannt. Tschitschikow probierte aber dennoch den Frack an. Er war schön, genau so schön, wie der erste. Doch wehe! Er bemerkte etwas Glattes und Weißes durch seine Haare hindurchschimmern und sagte traurig: »Warum ließ ich mich nur so von der Verzweiflung hinreißen? Am allerwenigsten durfte ich mir aber mein Haar ausraufen.« Er rechnete mit dem Schneider ab und verließ endlich die Stadt in einer sehr merkwürdigen Gemütsverfassung. Es war nicht mehr der alte Tschitschikow; es war nur eine Ruine des alten Tschitschikow. Sein Seelenzustand ließe sich mit einem in seine einzelnen Bestandteile zerlegten Gebäude vergleichen, welches aus diesen Bestandteilen neu aufgebaut werden soll; mit dem Neubau hat man aber noch nicht begonnen, weil der Architekt noch keinen endgültigen Plan geschickt hat, und die Arbeiter stehen ganz ratlos da. Eine Stunde vor Tschitschikows Abreise machte sich auch Murasow mit Potapytsch in einem einfachen, mit Bastmatten gedeckten Wagen auf den Weg, und eine Stunde nach Tschitschikows Abreise erging an alle Beamten der Befehl, zum Fürsten zu kommen, der sie vor seiner Abreise nach Petersburg noch sehen wolle.
Im großen Saale des Hauses des Generalgouverneurs versammelten sich sämtliche Beamte der Stadt, vom Gouverneur bis zum Titullarrat abwärts: die Kanzleivorstände, die Abteilungsvorstände, die Räte, die Assessoren, Kislojedow, Krasnonossow, Ssamoswitow, solche, die man bestechen konnte, solche, die man nicht bestechen konnte, Gauner, halbe Gauner und keine Gauner. Alle warteten nicht ohne Aufregung auf das Erscheinen des Generalgouverneurs. Der Fürst kam zu ihnen heraus; er war weder düster noch heiter: seine Blicke waren ebenso sicher wie seine Schritte. Die versammelten Beamten verneigten sich, viele sehr tief. Der Fürst dankte mit einer leichten Verbeugung und begann:
»Vor meiner Abreise nach Petersburg hielt ich es für angemessen, Sie alle noch einmal zu sehen und Ihnen zum Teil auch die Gründe zu erklären. Bei uns ist eine sehr ärgerniserregende Sache im Gange. Ich glaube, viele von den Anwesenden wissen, was für eine Sache ich meine. Diese Sache hat zur Aufdeckung anderer, nicht weniger schmachvoller Sachen geführt, in die schließlich auch solche Menschen verwickelt sind, die ich bisher für ehrlich hielt. Mir ist auch das geheime Ziel der Machenschaften bekannt: alles dermaßen zu verwirren, daß es gänzlich unmöglich werde, eine Entscheidung auf formalem Wege zu treffen. Ich weiß sogar, wer der Haupträdelsführer ist und durch wessen geheime . . . obwohl er seine Teilnahme sehr geschickt zu verheimlichen gewußt hat. Die Sache ist nun die, daß ich mich entschlossen habe, das Verfahren nicht auf formalem Aktenwege, sondern durch das schnelle Kriegsgericht wie in Kriegszeiten durchzuführen, und ich hoffe, vom Kaiser die Ermächtigung dazu zu erwirken, wenn ich ihm den ganzen Fall darlege. In einem solchen Falle, wo keine Möglichkeit besteht, die Sache mit Hilfe der bürgerlichen Gesetze zu erledigen, wenn Schränke mit Akten verbrennen und wenn man sich auch noch bemüht, durch eine Menge von falschen Aussagen, die mit der Sache nichts zu tun haben, und durch falsche Anzeigen diesen auch ohnehin dunklen Fall noch mehr zu verdunkeln – so halte ich das Kriegsgericht für das einzige Mittel. Nun möchte ich gerne auch Ihre Meinung darüber hören.«
Der Fürst hielt inne, als erwartete er eine Antwort. Alle standen da, den Blick zu Boden gesenkt. Viele waren blaß.
»Es ist mir auch noch eine andere Sache bekannt, obwohl die Beteiligten fest davon überzeugt sind, daß sie niemals an den Tag kommen wird. Auch dieser Fall wird nicht auf dem Aktenwege behandelt werden, weil ich hier selbst Bittsteller und Supplikant bin und offensichtliche Beweise vorlegen werde.«
In der Beamtenversammlung zuckte einer zusammen; auch manche andere von den Ängstlichen wurden verlegen.
»Es versteht sich von selbst, daß die Hauptschuldigen ihre Titel und Vermögen verlieren und dann auch ihrer Posten enthoben sein werden. Es versteht sich von selbst, daß dabei auch viele Unschuldige leiden werden. Aber was ist zu machen? Der Fall ist zu schmachvoll und schreit nach Gerechtigkeit. Obwohl ich weiß, daß dadurch nicht mal ein Exempel statuiert wird, weil an die Stelle der Bestraften sofort andere kommen werden, weil die, die bisher ehrlich waren, unehrlich werden und die, denen ich Vertrauen schenken werde, mich betrügen und verraten werden – trotz alledem muß ich hart vorgehen, denn die verletzte Gerechtigkeit schreit zum Himmel. Ich weiß, daß man mir Härte und Grausamkeit vorwerfen wird, aber ich weiß auch, daß diese . . . solche muß ich zu gefühllosen Werkzeugen der Gerechtigkeit machen, das auf die Häupter der . . . herabfallen soll . . .«
Über alle Gesichter lief unwillkürlich ein Zittern.
Der Fürst war ruhig. Sein Gesicht drückte weder Zorn noch seelische Empörung aus.
»Derjenige, in dessen Hand das Schicksal vieler liegt und den keinerlei Bitten erweichen können, richtet jetzt selbst eine Bitte an euch. Alles soll vergessen, getilgt und vergeben werden, ich selbst will euer Fürsprecher sein, wenn ihr meine Bitte erfüllt. Ich bitte um folgendes. Ich weiß, daß man das Unrecht durch keinerlei Mittel, keinerlei Einschüchterung und keinerlei Strafen ausrotten kann: es hat schon zu tiefe Wurzeln gefaßt. Die schmachvolle Bestechlichkeit ist schon zu einer Notwendigkeit und einem Bedürfnis selbst bei solchen Leuten geworden, die nicht als Ehrlose geboren sind. Ich weiß, daß es vielen beinahe unmöglich ist, gegen den Strom zu schwimmen. Doch jetzt, in dem entscheidenden und heiligen Augenblick, wo es das Vaterland zu retten gilt, wo jeder Bürger alles trägt und seine ganze Habe opfert, muß ich wenigstens diejenigen anrufen, die noch ein russisches Herz in ihrer Brust haben und denen das Wort Edelmut verständlich ist. Was soll man noch davon reden, wer von uns die meiste Schuld hat? Vielleicht habe ich die größte Schuld; vielleicht habe ich euch anfangs zu streng empfangen; vielleicht habe ich durch übertriebenen Argwohn diejenigen abgestoßen, die aufrichtig bestrebt waren, mir nützlich zu sein, obwohl ich auch meinerseits hätte erreichen können, daß . . . Wenn es Ihnen tatsächlich um die Gerechtigkeit und um das Wohl Ihres Landes zu tun war, so hätten Sie sich durch meine hochmütige Haltung nicht verletzt fühlen dürfen; Sie hätten Ihren Ehrgeiz unterdrücken und alles Persönliche zum Opfer bringen müssen. Es wäre undenkbar, daß ich Ihre Selbstaufopferung und Ihre hohe Liebe zum Guten übersehen und Ihre nützlichen und klugen Ratschläge nicht angenommen hätte. Der Untergebene muß sich doch eher dem Charakter seines Vorgesetzten anpassen, als der Vorgesetzte dem des Untergebenen. Das wäre jedenfalls natürlicher und leichter, denn die Untergebenen haben nur einen Vorgesetzten, doch der Vorgesetzte hat hundert Untergebene. Aber lassen wir jetzt die Frage beiseite, wer der Schuldige ist. Es handelt sich darum, daß wir jetzt unser Land retten müssen; daß unser Land nicht an der Invasion von zwanzig feindlichen Völkern zugrunde geht, sondern an uns selbst; daß neben der rechtmäßigen Regierung eine andere Regierung entstanden ist, die viel mächtiger ist als jede rechtmäßige Regierung. Es sind bestimmte Satzungen aufgestellt worden, für alles hat man Preise festgesetzt, und diese Preise sind sogar allen bekannt. Kein Regent, und wäre er auch weiser als alle Gesetzgeber und Regenten, kann das Übel ausrotten, und wenn er auch die Willkür der schlechten Beamten dadurch zu beschränken suchte, daß er sie von anderen Beamten überwachen ließe. Alles wird vergeblich bleiben, solange nicht ein jeder von uns das Gefühl hat, daß er sich ebenso gegen das Unrecht erheben muß, wie er sich in der Zeit der Erhebung der Völker gegen . . . erhoben hat. Als Russe, der mit euch durch die Bande der Blutsverwandtschaft, durch das gleiche Blut verbunden ist, wende ich mich jetzt an euch. Ich wende mich an diejenigen unter euch, die eine Ahnung davon haben, was edle Gesinnung ist. Ich fordere euch auf, an die Pflicht zu denken, die der Mensch auf jedem Posten zu erfüllen hat. Ich fordere euch auf, auf die Pflicht und Schuldigkeit eures irdischen Amtes zu achten, weil wir es schon alle dunkel ahnen und weil wir kaum . . .