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Warum soll man die Armut, nichts als Armut und die Unvollkommenheit unseres Lebens schildern und zu diesem Zwecke die Menschen aus den entlegensten Winkeln des Reiches hervorholen? Was soll man aber machen, wenn der Verfasser einmal so veranlagt ist und, an seiner eigenen Unvollkommenheit krank, nichts anderes darzustellen vermag als die Armut, nichts als Armut und die Unvollkommenheit unseres Lebens, zu welchem Zweck er die Menschen aus den entlegensten Winkeln des Reiches hervorholt? Und so sind wir wieder in die Wildnis, in eine Sackgasse geraten. Was ist das aber da für eine Wildnis und was für eine Sackgasse!
Wie der Riesenwall einer unendlichen Festung mit Ecktürmen und Bastionen zog sich in Windungen mehr als tausend Werst weit eine Hügelkette hin. Majestätisch erhoben sich die Anhöhen über die grenzenlosen Räume der Ebene, bald als senkrechte Wände voller Löcher und Risse, mit Kalk und Ton an den Bruchstellen, bald als anmutig gerundete grüne Kuppen mit jungem Gebüsch, das zwischen umgehauenen Bäumen wucherte, wie mit krausem Lammfell bedeckt, und bald als dunkles Waldesdickicht, das wie durch ein Wunder von der Axt verschont blieb. Der Fluß blieb bald seinen Ufern treu und machte mit ihnen alle Windungen mit, bald verließ er sie, um sich über die Wiesen zu ergießen, um nach einigen in der Sonne wie Feuer leuchtenden Krümmungen in einem Gehölz von Birken, Espen und Erlen zu verschwinden und daraus wieder, in Begleitung von Brücken, Mühlen und Dämmen, die ihn bei jeder Wendung zu verfolgen schienen, im Triumph zum Vorschein zu kommen.
An einer Stelle war der steile Abhang besonders dicht mit grünem, lockigem Baumlaub geschmückt. Durch künstliche Anpflanzung hatten sich hier infolge der Unebenheit des Abhanges der Nord und der Süd des Pflanzenreiches zusammengefunden. Eichen, Tannen, wilde Birnen, Ahorne, Kirschbäume und Schlehen, Kleebäume und von Hopfen umrankte Ebereschen kletterten, einander bald im Wachstum unterstützend und bald erstickend, die ganze Anhöhe von unten bis oben hinauf. Und oben am Scheitel mischten sich unter die grünen Baumwipfel die roten Dächer der Gutsgebäude, die Giebelbalken und Dachfirste der sich hinter diesen verbergenden Bauernhäuser und das Obergeschoß des Herrenhauses mit dem geschnitzten Balkon und dem großen halbrunden Fenster. Und über dieser Versammlung der Bäume und Dächer ragte mit ihren fünf vergoldeten, in der Sonne funkelnden Kuppeln die alte hölzerne Kirche. Auf jeder der Kuppeln erhob sich ein durchbrochenes goldenes Kreuz, von goldenen durchbrochenen Ketten gehalten, so daß man aus der Ferne funkelndes und glühendes Dukatengold frei in der Luft, von nichts gestützt, zu sehen glaubte. Und dies alles spiegelte sich mit nach unten gewendeten Wipfeln, Dächern und Kreuzen anmutig im Flusse, wo die unförmigen hohlen Weiden, von denen die einen am Ufer und die anderen im Wasser standen, in das sie ihre vom schleimigen Flußschwamm, der auf dem Wasser zugleich mit den gelben Seerosen trieb, umsponnenen Zweige und Blätter tauchten, dieses herrliche Bild zu betrachten schienen.
Das Bild war sehr, sehr schön, doch die Aussicht von oben, vom Obergeschoß des Herrenhauses in die Ferne war noch schöner. Kein Gast, kein Besucher konnte auf diesem Balkon gleichgültig bleiben. Vor Staunen stockte ihm der Atem, und er rief bloß aus: »Gott, dieser schöne freie Raum!« Ohne Ende, ohne Grenzen dehnte sich die Ferne: hinter den mit Gehölz und Wassermühlen übersäten Wiesen grünten in mehreren Streifen die Wälder; hinter den Wäldern schimmerten durch die Luft, die allmählich neblig wurde, gelbe Sandflächen, und dann kamen wieder Wälder, aber schon so blau wie das Meer oder wie der sich weit ausbreitende Nebel. Und dann kamen wieder Sandflächen, immer blasser, aber immer noch gelb. Am fernen Horizonte erhob sich der Kamm eines Kreidegebirges, das auch bei trübem Wetter weiß schimmerte, wie von ewiger Sonne beleuchtet. Auf seiner blendenden Weiße, an seiner Sohle, die stellenweise aus Gips bestand, lagen hier und da rauchgraue Flecken. Das waren ferne Dörfer; aber kein Menschenauge vermochte sie zu unterscheiden. Nur der in der Sonne aufleuchtende Funken einer goldenen Kirchenkuppel ließ ahnen, daß da ein gut bevölkertes, großes Dorf war. Dies alles war in eine tiefe Stille gehüllt, die nicht einmal von dem das Ohr kaum erreichenden Widerhall der in der Ferne ersterbenden Lieder der Sänger der Lüfte gestört wurde. Mit einem Worte, der Gast, der auf dem Balkon stand, vermochte selbst nach einem zweistündigen Verweilen nichts anderes zu sagen als: »Gott, dieser schöne freie Raum!«
Wer war aber der Bewohner und Besitzer dieses Gutes, an das man von dieser Seite wie an eine unbezwingbare Festung gar nicht herankommen konnte und das nur von der anderen Seite zu erreichen war, wo die verstreuten Eichen den herannahenden Gast freundlich begrüßten, ihm wie Freundesarme ihre weitverzweigten Äste entgegenstreckend und ihn bis vor die Fassade jenes Hauses begleitend, dessen Obergeschoß wir schon von hinten gesehen haben und das nun ganz offen dalag zwischen einer Reihe von Bauernhäusern mit geschnitzten Giebelbalken und Dachfirsten einerseits und der Kirche mit den glänzenden goldenen Kreuzen und dem Gitterwerk der in der Luft hängenden goldenen Ketten andererseits. Welchem Glücklichen gehörte dieser versteckte Besitz?
Dem Gutsbesitzer des Tremalachanschen Kreises, Andrej Iwanowitsch Tjentjetnikow, einem jungen dreiunddreißigjährigen Glücklichen, der obendrein auch noch unverheiratet war.
Wer ist er, was ist er, wie sind seine Eigenschaften, wie sein Charakter? Darüber muß man die Nachbarn befragen, liebe Leserinnen. Ein Nachbar, der zu der Gattung der heute schon im Aussterben begriffenen schneidigen Stabsoffiziere a. D. und Draufgänger gehörte, äußerte sich über ihn: »Ein ganz gemeines Vieh!« Der General, der in einer Entfernung von zehn Werst von ihm wohnte, pflegte zu sagen: »Ein gar nicht dummer junger Mann, bildet sich aber zuviel ein. Ich könnte ihm nützlich sein, denn ich habe Verbindungen in Petersburg und sogar beim . . .« Der General sprach diesen Satz nicht zu Ende. Der Polizeihauptmann gab aber seiner Antwort folgende Wendung: »Ich will ihn gleich morgen wegen der rückständigen Steuern besuchen!« Und wenn man einen Bauer aus dem Dorfe befragte, wie der Herr sei, so gab er überhaupt keine Antwort. Die Ansichten über ihn waren also gar nicht günstig.
Doch unbefangen betrachtet, war er kein schlechter Mensch, er lief aber unnütz in der Welt herum. Da es wahrlich genug Menschen gibt, die unnütz in der Welt herumlaufen, warum sollte auch Tjentjetnikow nicht dasselbe tun? Hier ist übrigens ein aufs Geratewohl herausgegriffener Tag aus seinem Leben, der jedem anderen Tag dieses Lebens gleicht; der Leser möge danach selbst urteilen, was er für ein Mensch war und inwiefern sein Leben den Naturschönheiten, die ihn umgaben, entsprach.
Des Morgens pflegte er recht spät zu erwachen, dann sehr lange im Bett zu sitzen und sich die Augen zu reiben. Und da seine Augen unglücklicherweise sehr klein waren, dauerte dieses Reiben sehr lange; währenddessen stand sein Diener Michailo mit einem Waschbecken und einem Handtuch in der Türe. Dieser arme Michailo mußte eine ganze Stunde, sogar zwei Stunden dastehen; dann ging er in die Küche und kam wieder zurück – sein Herr saß aber noch immer im Bett und rieb sich die Augen. Endlich stand er auf, wusch sich, zog seinen Schlafrock an und begab sich in den Salon, um Tee, Kaffee, Kakao oder sogar kuhwarme Milch zu trinken; er trank alles schluckweise, streute dabei eine Menge Brotkrumen umher und überschüttete alles ganz abscheulich mit Pfeifenasche. An die zwei Stunden saß er so bei seinem Morgentee. Aber auch das genügte noch nicht: er nahm die erkaltete Tasse und trat mit ihr ans Fenster, das auf den Hof hinausging. Vor diesem Fenster spielte sich alltäglich folgende Szene ab.
Zunächst brüllte Grigorij, der Leibeigene, der im Range eines Küchenverwalters stand, indem er sich an die Haushälterin Perfiljewna mit beiläufig folgenden Worten wandte: »Du empörendes Geschöpf, du elende Null! Du solltest lieber schweigen, gemeines Frauenzimmer!«
»Willst du nicht so etwas haben?« schrie die Null, auch Perfiljewna genannt, ihm eine Feige zeigend. Dieses Weib war in ihren Handlungen roh, obwohl sie große Liebhaberin von Rosinen, Fruchtpasten und sonstigen Näschereien war, die sie in der Speisekammer verschlossen hielt.
»Du wirst es noch mit dem Verwalter zu tun bekommen, du Kehricht«, brüllte Grigorij.
»Der Verwalter ist genau solch ein Dieb wie du. Glaubst du, der Herr kennt euch nicht? Er ist doch hier und hört alles.«
»Da sitzt er ja am Fenster und sieht alles.«
Der Herr saß in der Tat am Fenster und sah alles.
Um die Hölle noch zu vervollständigen, brüllte ein leibeigenes Kind, das von seiner Mutter eine Ohrfeige bekommen hatte, und winselte ein junger Windhund, mit dem Hinterteil auf der Erde sitzend, nachdem er vom Koch mit heißem Wasser verbrüht worden war. Mit einem Worte, alles heulte und winselte unerträglich. Der Herr sah und hörte alles. Und nur wenn der Lärm so unerträglich wurde, daß er ihn selbst in seinem Nichtstun störte, schickte er jemand hinaus, den Leuten zu sagen, sie möchten doch etwas leiser lärmen.
Zwei Stunden vor dem Mittagessen zog er sich in sein Kabinett zurück, um sich ernsthaft an sein Werk zu machen, das ganz Rußland von allen möglichen Standpunkten behandeln sollte: vom bürgerlichen, vom religiösen und vom philosophischen; das ferner die schwierigen Aufgaben und Fragen, vor die die Zeit unser Rußland gestellt hatte, lösen und seine große Zukunft genau bestimmen sollte; mit einem Worte, er faßte die Aufgabe so auf, wie sie ein moderner Mensch gern auffaßt. Dieses kolossale Vorhaben beschränkte sich übrigens vorerst nur auf das Nachdenken: er kaute an seiner Feder, bedeckte das Papier mit Zeichnungen, schob dann alles beiseite und nahm statt dessen irgendein Buch in die Hand, das er bis zum Mittagessen nicht mehr fortlegte. In diesem Buche las er bei der Suppe, bei der Soße, beim Braten und selbst beim Kuchen, so daß manche Speisen kalt wurden und andere überhaupt unberührt blieben. Dann kam die Pfeife, eine Tasse Kaffee und eine Partie Schach mit sich selbst. Was er nachher bis zum Abendessen trieb, ist wirklich schwer zu sagen. Ich glaube, er trieb gar nichts.
So verbrachte seine Zeit mutterseelenallein der junge dreiunddreißigjährige Mann, unbeweglich, immer im Schlafrock und ohne Halsbinde. Er hatte keine Lust auszugehen, Spaziergänge zu machen, nicht einmal ins Obergeschoß hinaufzugehen, nicht einmal ein Fenster zu öffnen, um etwas frische Luft ins Zimmer hineinzulassen, und die schöne Aussicht auf das Dorf, die kein Besucher gleichgültig sehen konnte, schien für den Besitzer überhaupt nicht zu existieren. Daraus kann der Leser schließen, daß Andrej Iwanowitsch Tjentjetnikow zu der Gattung der Leute gehörte, die in Rußland nicht alle werden und die man früher Schlafmützen, Siebenschläfer und Faulenzer zu nennen pflegte; wie man sie heute nennt, weiß ich wirklich nicht. Werden solche Charaktere geboren oder bilden sie sich erst später als Folge trauriger Umstände, die das Leben des Menschen begleiten? Statt diese Frage zu beantworten, wollen wir lieber die Geschichte seiner Erziehung und Kindheit erzählen.
Alles schien darauf abzuzielen, daß aus ihm etwas Gescheites werden sollte. Der zwölfjährige Junge, scharfsinnig, nachdenklich und etwas kränklich, kam in eine Lehranstalt, die um jene Zeit von einem ungewöhnlichen Menschen geleitet wurde. Der Abgott der Jünglinge, das Wunder in den Augen aller Erzieher, der unvergleichliche Alexander Petrowitsch, war mit einem wunderbaren Spürsinn begabt . . . Wie gut kannte er die Eigentümlichkeiten des russischen Menschen! Wie gut kannte er die Kinder! Wie gut verstand er es, sie vorwärts zu bringen! Es gab keinen noch so ausgelassenen Bengel, der, nachdem er etwas angestellt hatte, nicht selbst zu ihm käme, um eine Beichte abzulegen. Und noch mehr als das: er bekam eine strenge . . ., doch der Bengel verließ ihn nicht mit hängender, sondern mit stolz erhobener Nase. Es lag etwas Ermunterndes in seinen Worten: »Vorwärts! Erhebe dich schnell wieder, und wenn du auch gefallen bist!« Nie sprach er zu ihnen vom guten Betragen. Gewöhnlich sagte er: »Ich verlange nur Vernunft und nichts anderes. Wer nur danach strebt, vernünftig zu sein, der stellt niemals böse Streiche an: jede Ausgelassenheit muß ganz von selbst schwinden.« Und die Ausgelassenheit schwand wirklich von selbst. Von allen seinen Kollegen wurde der Schüler verachtet, der nicht danach strebte, ein . . . Die erwachsenen Esel und Dummköpfe mußten sich seitens der Jüngsten die beleidigendsten Spitznamen gefallen lassen und wagten es nicht, sie auch nur anzurühren. »Das ist schon zuviel!« sagten manche: »Aus diesen klugen Kindern werden gar zu hochmütige Männer werden.« – »Nein, das ist nicht zuviel«, sagte er darauf. »Unbegabte Kinder behalte ich nicht lange; diesen genügt ein gewöhnlicher Kursus, für die Klugen habe ich aber noch einen zweiten Kursus.« Alle Begabten machten bei ihm in der Tat einen zweiten Kursus durch. Manche allzu lebhaften Regungen unterdrückte er nicht, da er in ihnen den Anfang der Entwicklung seelischer Eigenschaften sah; er pflegte zu sagen, er brauche sie, wie der Arzt die Ausschläge braucht, um mit Sicherheit zu erfahren, was im Menschen eigentlich steckt.
Wie liebten ihn die Knaben! Nein, niemals haben noch Kinder so an ihren Eltern gehangen. Selbst in den tollen Jahren der tollen Verirrungen gibt es keine so starke und unauslöschliche Leidenschaft, wie es die Liebe der Schüler zu ihm war. Bis zum Grabe, bis zu seinen letzten Tagen hob der dankbare Schüler am Geburtstage seines herrlichen Erziehers, der schon längst im Grabe lag, seinen Pokal . . ., schloß die Augen und vergoß Tränen. Ein einziges ermunterndes Wort aus seinem Munde ließ den Schüler vor Freude erzittern und weckte in ihm das ehrgeizige Streben, alle zu übertreffen. Die wenig Begabten behielt er nicht lange: für sie hatte er einen kurzen Lehrgang; doch die Begabten mußten die doppelte Lehrzeit absolvieren. Und die letzte Klasse, die aus lauter Auserwählten bestand, glich so gar nicht den letzten Klassen der anderen Lehranstalten. Erst hier verlangte er von seinen Schülern das, was andere Lehrer unvernünftigerweise von den Kindern verlangen: jenen höheren Verstand, der es fertigbringt, sich des Spottes zu enthalten, dabei aber jeden Spott zu ertragen, dem Dummen alles zu verzeihen, sich nicht aufzuregen, in keinem Falle Rache zu üben und die stolze Ruhe der unerschütterlichen Seele zu bewahren; alles, was geeignet ist, aus einem Menschen einen charakterfesten Mann zu machen, wandte er an und stellte selbst unaufhörliche Versuche mit seinen Zöglingen an. Oh, wie gut kannte er die Wissenschaft des Lebens!
Er hatte an seiner Anstalt nicht viele Lehrer. Die meisten Fächer dozierte er selbst. Ohne pedantische Fachausdrücke, ohne aufgeblasene Theorien und Anschauungen verstand er es, die Seele der Wissenschaft mitzuteilen, so daß auch der Jüngste sehen konnte, wozu er die betreffende Wissenschaft brauchte. Von allen Wissenschaften wählte er nur solche, die geeignet waren, den Menschen zu einem Staatsbürger zu machen. Der größte Teil seiner Vorlesungen bestand aus Erzählungen darüber, was den Jüngling in der Zukunft erwartete, und er verstand es, den Horizont dessen Lebensweges so zu umreißen, daß der Jüngling schon auf der Schulbank mit allen seinen Gedanken im Staatsdienste war. Nichts verheimlichte er vor ihm: alle Enttäuschungen und Hindernisse, die der Mensch auf seinem Lebenswege zu überwinden hat, alle Versuchungen und Lockungen, die ihn erwarten, zeigte er ihm in ihrer ganzen Nacktheit, ohne vor ihm etwas zu verbergen. Alles kannte er so genau, wie wenn er alle Ämter und Berufe schon ausgeübt hätte. Lag es am Ehrgeiz, der im Jüngling so früh angeregt wurde, oder daran, daß schon im Blicke dieses ungewöhnlichen Erziehers etwas war, was dem Jüngling »Vorwärts« zuzurufen schien, dieses jedem Russen wohl vertraute Wort, das an seiner empfindlichen Natur solche Wunder wirkt – kurz, der Jüngling strebte gleich am Anfang nach Schwierigkeiten und dürstete nach Handlungen, die die meisten Schwierigkeiten und Hindernisse boten, bei denen es galt, große Seelenkraft zu zeigen. Nur ganz wenige absolvierten diesen Kursus, dafür waren es lauter starke, gleichsam von Pulverrauch geschwärzte Menschen. Im Staatsdienste behaupteten sie sich auf den schwierigsten Posten, auf denen sich andere, die sogar klüger waren, infolge kleinlicher Unannehmlichkeiten nicht halten konnten: diese gaben die Stelle entweder auf oder gerieten, träge und gleichgültig geworden, in die Gewalt von bestechlichen Kollegen und Gaunern. Sie standen aber ohne zu wanken auf ihren Posten und hatten sogar, da sie das Leben und den Menschen kannten und durch Erfahrung gewitzigt waren, einen starken Einfluß selbst auf die Schlechten.
Das leicht entzündliche Herz eines ehrgeizigen Knaben pochte lange beim bloßen Gedanken, daß er endlich in diese Abteilung geraten würde. Unserem Tjentjetnikow konnte man einen besseren Erzieher gar nicht wünschen. Da mußte aber gerade um die Zeit, als er in die Abteilung dieser Auserwählten versetzt werden sollte, wonach er sich so sehr sehnte – der ungewöhnliche Erzieher eines plötzlichen Todes sterben! Was war das für ein harter Schlag! Wie schrecklich war dieser erste Verlust! Es war ihm, als hätte . . . Nun wurde in der Schule alles anders.
An Stelle des Alexander Petrowitsch kam ein gewisser Fjodor Iwanowitsch. Dieser verlegte sofort das Schwergewicht auf lauter Äußerlichkeiten und verlangte von den Kindern Dinge, die man nur von Erwachsenen verlangen darf. In ihrer freien Ungezwungenheit erblickte er Zügellosigkeit. Wie aus Bosheit gegen seinen Vorgänger erklärte er gleich am ersten Tage, daß der Verstand und die guten Fortschritte für ihn nichts bedeuten, daß er nur auf gutes Betragen Gewicht legen werde. Aber seltsam: gerade dieses gute Betragen vermochte Fjodor Iwanowitsch nicht durchzusetzen. Die Schüler gewöhnten sich verschiedene Laster an. Bei Tage ging alles wie am Schnürchen, doch bei Nacht gab es wüste Bummeleien.
Auch mit den Wissenschaften geschah etwas Sonderbares. Man stellte neue Lehrer mit neuen Prinzipien und neuen Gesichtspunkten und Gesichtswinkeln an. Sie erdrückten ihre Schüler mit einer Masse von neuen Fachausdrücken und Worten; sie zeigten zwar in ihrem Unterrichtssystem logische Zusammenhänge, eine Vertrautheit mit den neuesten Errungenschaften und das Fieber ihrer eigenen Begeisterung, doch eines fehlte ihrer Wissenschaft: nämlich das Leben. Die tote Wissenschaft klang aus ihrem Munde tot. Mit einem Worte, alles wurde anders. Der Respekt vor der Obrigkeit ging verloren; sie spotteten über ihre Lehrer und Erzieher; dem Direktor gaben sie die Spitznamen: »Fedjka«, »Semmel« und dergleichen. Sie gewöhnten sich Laster an, die nicht mehr kindlich waren: es kamen solche Dinge auf, daß man viele ausschließen mußte. In zwei Jahren war die Lehranstalt nicht mehr wiederzuerkennen.
Andrej Iwanowitsch hatte ein sanftes Gemüt. Die nächtlichen Orgien seiner Kameraden, die sich direkt vor den Fenstern der Direktorswohnung ein Dämchen hielten, und ihre blasphemischen Redensarten über das Allerheiligste aus dem bloßen Grunde, weil sie einen nicht allzu klugen Popen zum Religionslehrer hatten – vermochten ihn nicht mitzureißen. Nein, seine Seele fühlte selbst im Schlafe ihren himmlischen Ursprung. Es gelang den anderen nicht, ihn zu verderben; er ließ aber die Nase hängen. Sein Ehrgeiz war schon erregt, aber er hatte kein Feld, um ihn zu betätigen. Es wäre besser gewesen, wenn man ihn gar nicht geweckt hätte. Er hörte die Vorträge der Professoren, die auf dem Katheder aus der Haut fuhren, und gedachte seines früheren Lehrers, der es verstand, ohne sich zu ereifern, verständlich zu sprechen. Was hörte er nicht alles für Gegenstände und Kurse! Medizin, Philosophie, selbst Rechtswissenschaft und die allgemeine Geschichte der Menschheit in einem so gewaltigen Umfang, daß der Professor in den ersten drei Jahren nur mit der Einleitung und der Entwicklungsgeschichte einiger deutscher Stadtgemeinden fertig wurde – Gott allein weiß, was er nicht alles hörte! Doch alles ließ in seinem Kopfe nur formlose Bruchstücke zurück. Dank seinem angeborenen Verstand fühlte er, daß man die Wissenschaften ganz anders hätte vortragen sollen, doch wie – das wußte er nicht. Und er gedachte oft des verstorbenen Alexander Petrowitsch, und es wurde ihm dann so traurig zumute, daß er gar nicht wußte, was in seinem Gram anzufangen.
Die Jugend ist aber schon darum so glücklich, weil sie eine Zukunft hat. Je näher der Tag, an dem er die Schule verlassen sollte, heranrückte, um so heftiger pochte sein Herz. Er sagte sich: »Das ist ja noch nicht das Leben; es ist nur die Vorbereitung zum Leben; das echte Leben beginnt erst im Staatsdienste: da kann man Heldentaten vollbringen.« Ohne einen Blick auf den herrlichen Winkel zu werfen, der jeden Gast und Besucher in Erstaunen versetzte, ohne selbst die Gräber seiner Eltern besucht zu haben, eilte er wie alle ehrgeizigen Menschen nach Petersburg, wo bekanntlich die feurige Jugend aus allen russischen Gauen zusammenströmt – um zu dienen, zu brillieren, Karriere zu machen oder auch nur um den Rahm der farblosen, eiskalten, trügerischen gesellschaftlichen Bildung abzuschöpfen. Das ehrgeizige Streben Andrej Iwanowitschs wurde jedoch gleich am Anfang von seinem Onkel, dem wirklichen Staatsrat Onufrij Iwanowitsch gehemmt. Dieser erklärte, daß die Hauptsache eine gute Handschrift und nichts anderes sei und daß man ohne diese unmöglich Minister oder Staatsmann werden könne. Mit großer Mühe und dank der Protektion des Onkels bekam er endlich Stellung in irgendeinem Departement. Als man ihn in einen prachtvollen hellen Saal mit Parkettfußboden und lackierten Schreibtischen brachte, der den Eindruck erweckte, als säßen hier die ersten Würdenträger des Staates, die über das Schicksal des ganzen Reiches zu entscheiden hätten; als er Legionen hübscher schreibender Herren erblickte, die, den Kopf auf die Seite geneigt, mit ihren Federn einen großen Lärm machten; als man ihn selbst an einen Tisch setzte und beauftragte, irgendein Papier abzuschreiben, das zufällig einen ganz unbedeutenden Inhalt hatte – es war ein amtlicher Briefwechsel, der schon ein halbes Jahr währte und irgendwelche drei Rubel zum Gegenstand hatte –, da überkam den unerfahrenen Jüngling ein sehr merkwürdiges Gefühl: alle die Herren, die um ihn saßen, kamen ihm wie Schuljungen vor! Um diese Ähnlichkeit zu vervollständigen, lasen manche von ihnen dumme, aus fremden Sprachen übersetzte Romane, die sie in den großen Aktenbogen versteckt hielten; sie taten dabei so, als seien sie in ihre Arbeit vertieft und zuckten zusammen, sobald ein Vorgesetzter in den Saal trat. So seltsam kam ihm dies alles vor, so viel bedeutsamer erschien ihm seine bisherige Tätigkeit als diese neue, die Vorbereitung zum Staatsdienst schöner – als der Staatsdienst selbst! Er empfand Sehnsucht nach seiner Schule. Plötzlich stand Alexander Petrowitsch wie lebendig vor seinen Augen, und er fing beinahe zu weinen an. Das Zimmer drehte sich um ihn im Kreise, die Tische und die Beamten flimmerten ihm vor den Augen, und nur mit Mühe konnte er sich eines Ohnmachtsanfalls erwehren. »Nein,« sagte er sich, als er wieder zu sich kam, »ich will ans Werk gehen, wie unbedeutend es mir auch anfangs erscheinen mag!« Er faßte sich ein Herz und beschloß, den Staatsdienst wie die anderen Beamten zu versehen. Wo ist die Stadt, die keine Genüsse hätte? Auch in Petersburg sind sie trotz des düsteren, unfreundlichen Aussehens dieser Stadt zu finden. Draußen wütet ein böser Frost von dreißig Grad; es heult die Ausgeburt des Nordens, der teuflische Schneesturm, alle Bürgersteige mit Schnee verwehend, alle Augen blendend und die Pelzkragen, die Schnurrbärte der Männer und die zottigen Schnauzen der Tiere weiß überpudernd; doch durch die einander kreuzenden Schneeflocken leuchtet freundlich hoch oben in einem dritten Stock irgendein Fenster: in einem gemütlichen Zimmer wird hier beim Lichte bescheidener Stearinkerzen, beim Summen des Samowars ein das Herz und die Seele erwärmendes Gespräch geführt, ein herrliches Stück aus einem der durchgeistigten russischen Dichter vorgelesen, mit denen Gott Rußland gesegnet hat, und das Jünglingsherz bebt so begeistert und feurig, wie man es selbst unter dem Himmel des Südens nicht oft antrifft.
Tjentjetnikow gewöhnte sich bald an den Dienst; dieser wurde ihm aber nicht zur Hauptsache und zum Lebensziel, wie er anfangs gehofft hatte, sondern zu einer Angelegenheit zweiten Ranges. Er diente ihm zur besseren Einteilung seiner Zeit, indem er ihn zwang, die ihm bleibenden freien Stunden besonders zu schätzen. Sein Onkel, der wirkliche Staatsrat, glaubte schon, daß aus seinem Neffen etwas Gescheites werden würde, doch der Neffe machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Unter den Freunden Andrej Iwanowitschs, von denen er recht viele hatte, befanden sich zwei, die zu den sogenannten »verbitterten« Menschen zu zählen wären. Sie gehörten zu jenen unruhigen und seltsamen Charakteren, die nicht nur keine Ungerechtigkeit, sondern auch nichts, was ihnen als eine Ungerechtigkeit erschien, ruhig mitansehen können. Im Grunde gutmütig, doch in ihren Handlungen unordentlich, verlangten sie von den anderen jede Rücksicht, waren aber selbst unduldsam gegen alle anderen; durch ihre feurigen Reden und durch ihre edle Entrüstung gegen die Gesellschaft machten sie auf Tjentjetnikow einen starken Eindruck. Sie machten ihn nervös, weckten in ihm den Geist der Reizbarkeit und zwangen ihn, alle die Kleinigkeiten zu beachten, denen er früher auch nicht die geringste Beachtung geschenkt hatte. Fjodor Fjodorowitsch Ljenizyn, der Vorstand einer der Abteilungen, die sich im prunkvollen Saale befanden, mißfiel ihm plötzlich. Er fand an ihm plötzlich eine Menge Fehler. Es schien ihm, daß Ljenizyn sich bei den Gesprächen mit Vorgesetzten in ein Stück Zucker verwandelte und zu Essig werde, wenn sich an ihn ein Untergebener wandte; daß er nach Art aller kleinlichen Menschen gegen alle Beamten eingenommen sei, die an Feiertagen ihm nicht ihre Glückwünsche darbrachten, und an jenen Rache nehme, die ihre Namen nicht auf die beim Portier ausliegenden Gratulationslisten eintrugen; infolgedessen empfand er gegen ihn eine nervöse Abneigung. Ein böser Geist versuchte ihn, diesem Fjodor Fjodorowitsch eine Unannehmlichkeit zu bereiten. Mit besonderem Genuß suchte er nach einer Gelegenheit dazu, und er fand sie auch schließlich. Einmal hatte er mit ihm eine so heftige Auseinandersetzung, daß an ihn die Aufforderung erging, entweder Ljenizyn um Verzeihung zu bitten oder seinen Abschied zu nehmen. Er nahm seinen Abschied. Der Onkel, der wirkliche Staatsrat, kam zu ihm ganz erschrocken ins Haus und flehte ihn an: »Um Christi willen, Andrej Iwanowitsch! Was machst du für Sachen? Wie kann nur ein Mensch eine so glücklich angefangene Karriere aufgeben, bloß weil er einen Vorgesetzten bekommen hat, der ihm nicht paßt? Was fällt dir ein? Wenn man darauf sehen wollte, so bliebe bald niemand im Amte. Komme zu dir, gib deinen Stolz und Ehrgeiz auf, fahre zu ihm hin und setze dich mit ihm auseinander!«
»Es handelt sich nicht darum, Onkelchen«, sagte der Neffe. »Es würde mir nicht schwer fallen, ihn um Verzeihung zu bitten. Ich bin schuld: er ist mein Vorgesetzter, und ich habe mit ihm nicht so reden dürfen. Die Sache ist aber die. Mir steht ein anderer Dienst bevor: ich habe dreihundert Leibeigene, das Gut ist vernachlässigt, der Verwalter ein Dummkopf. Der Staat verliert nicht viel, wenn auf meinem Platze in der Kanzlei sich jemand anders hinsetzt, um die Papiere abzuschreiben; es ist aber für den Staat ein großer Verlust, wenn dreihundert Menschen keine Steuern entrichten. Ich bin – was glauben Sie wohl? – ein Gutsbesitzer, welcher . . . der Dienst . . . Wenn ich für die Erhaltung, Schonung und die Besserung der Lage der mir anvertrauten Menschen Sorge tragen und dem Staate dreihundert ordentliche, nüchterne, arbeitsame Untertanen liefere – ist dann mein Dienst weniger wert als der eines Abteilungsvorstandes Ljenizyn?«
Der wirkliche Staatsrat riß vor Erstaunen den Mund auf. Einen solchen Redestrom hatte er nicht erwartet. Nach kurzer Überlegung begann er folgendermaßen: »Aber immerhin . . . trotzdem . . . wie kann man sich nur auf dem Lande begraben? Was für eine Gemeinschaft kann zwischen dir und den Bauern bestehen? . . . Hier begegnet man auf der Straße mal einem General oder einem Fürsten. Du kommst auch selbst an einem . . . vorbei . . . nun, die Gasbeleuchtung, das industrielle Europa . . . dort aber ist alles, was du siehst, entweder ein Bauer oder ein Bauernweib. Für welches Vergehen hast du dich zum lebenslänglichen Umgang mit dem rohen Volke verurteilt?«
Alle diese überzeugenden Vorstellungen des Onkels machten auf den Neffen keinen Eindruck. Das flache Land erschien ihm als eine angenehme Zufluchtsstätte, als ein Nährboden für Träume und Gedanken, als das einzige Feld einer nutzbringenden Tätigkeit. Schon hatte er sich die allerneuesten Werke über Landwirtschaft angeschafft. Mit einem Worte, etwa zwei Wochen nach diesem Gespräch befand er sich schon in der Nähe der Gegend, wo er seine Kindheit verbracht hatte, in der Nähe jenes herrlichen Winkels, den die Gäste und Besucher gar nicht genug bewundern konnten. Ein neues Gefühl war in ihm erwacht. In seiner Seele regten sich die alten Eindrücke, die so lange nicht zum Ausbruch kommen konnten. Viele Plätze hatte er schon vergessen, und er betrachtete so neugierig wie ein Neuling die herrlichen Bilder, die sich seinem Auge boten. Und plötzlich begann sein Herz, er wußte selbst nicht warum, heftig zu pochen. Als die Straße als enge Schlucht ins Dickicht des großen verwilderten Waldes drang, als er oben und unten, über und unter sich dreihundertjährige Eichen, die drei Männer umfassen konnten, untermischt mit Fichten, Ulmen und Schwarzpappeln sah, die die Wipfel der Pappeln überragten; als man ihm auf die Frage: »Wem gehört dieser Wald?« antwortete: »Tjentjetnikow«; als die Straße dann den Wald verließ und zwischen Wiesen, an Espengehölz, jungen und alten Weiden vorbei, angesichts der fernen Hügelzüge vorüberzog und auf zwei Brücken über den gleichen Fluß führte, der ihr bald zur Rechten und bald zur Linken lag, und als er auf die Frage: »Wem gehören diese Wiesen?« die Antwort bekam: »Tjentjetnikow«; als die Straße dann bergauf ging und über eine flache Hochebene weiterzog, einerseits an den noch nicht gemähten Korn-, Weizen- und Gerstenfeldern, andererseits an allen den Plätzen vorbei, an denen er schon einmal vorbeigefahren war und die nun perspektivisch verkürzt dalagen; als die Straße, allmählich dunkel werdend, in den Schatten der mächtigen, weitverzweigten Bäume tauchte, die auf dem grünen Teppich bis dicht vor das Dorf verstreut dalagen, und als die mit Schnitzwerk verzierten Bauernhäuser und die roten Dächer der steinernen Gutsgebäude auftauchten und die goldenen Kirchenkuppeln erglänzten; als das glühend pochende Herz, auch ohne zu fragen, wußte, wo es sich nun befand – da kamen endlich die Gefühle, die sich in ihm während der ganzen Fahrt angesammelt hatten, in den lauten Worten zum Ausdruck: »War ich denn nicht ein Narr bisher? Das Schicksal hatte mich zum Besitzer des irdischen Paradieses gemacht, und ich verdammte mich zum Sklavendienst, der im Beschmieren toter Papiere bestand! Nachdem ich eine ordentliche Erziehung genossen, mir eine Bildung angeeignet und einen großen Vorrat von Kenntnissen angesammelt hatte, die man zur Verbreitung des Guten unter den Untergebenen, zur Hebung eines ganzen Bezirks, zur Erfüllung der verschiedenartigsten Pflichten des Gutsbesitzers brauchen kann, welcher zugleich Richter, Verwalter und Hüter der Ordnung ist – vertraute ich diesen Posten einem unwissenden Verwalter an und zog es vor, Angelegenheiten fremder Leute zu besorgen, die ich nie gesehen habe, deren Charaktere und Eigenschaften ich nicht kenne – habe der echten Verwaltung eine papierne, phantastische Verwaltung von Provinzen vorgezogen, die Tausende von Werst entfernt sind, die ich nie mit dem Fuße betreten habe und wo ich nur eine Menge von Unsinn und Dummheiten anstellen kann!«
Indessen erwartete ihn ein anderes Schauspiel. Als die Bauern von der Ankunft ihres Herrn erfuhren, versammelten sie sich alle vor dem Herrenhause. Er sah sich von allerlei Hauben, Kopftüchern, Bauernröcken und malerischen Vollbärten der hübschen Bevölkerung umgeben. Als die Worte erklangen: »Unser Ernährer! Hast dich doch unser erinnert . . .« und als viele alten Männer und Frauen, die noch seinen Großvater und Urgroßvater gekannt hatten, unwillkürlich in Tränen ausbrachen, konnte er sich nicht mehr der Tränen enthalten. Und er dachte sich: – Soviel Liebe! Wofür? – Weil ich sie nie gesehen und mich um sie noch nie gekümmert habe? – Und er leistete das Gelübde, mit ihnen alle Arbeit und Mühe zu teilen.
Und er fing an, sein Gut zu verwalten. Er setzte den Erbzins herab und ließ die Bauern weniger Tage für den Gutsbesitzer und mehr Tage für sich selbst arbeiten. Den dummen Verwalter jagte er davon. Er begann, sich selbst um alles zu kümmern: er zeigte sich auf den Feldern, auf der Tenne, in den Getreidespeichern, in den Mühlen, am Landungsplatz beim Laden und bei der Abfahrt der Kähne, so daß die Faulen anfingen, sich den Nacken zu kratzen. Dies dauerte jedoch nicht lange. So ein Bauer ist gar nicht dumm: er begriff bald, daß der Herr zwar mit großem Eifer dabei war und auch den Willen hatte, alles anzufassen, daß er aber noch nicht wußte, wie es anzufassen sei, daß er gebildet rede und ihnen nichts einzupauken versuche. So kam es, daß der Herr und der Bauer – man kann nicht sagen, daß sie sich nicht verstanden – sich aber nicht einander anzupassen und den gleichen Ton zu treffen vermochten.
Tjentjetnikow merkte, daß auf seinem Boden alles viel schlechter gedieh als auf dem der Bauern. Es wurde zwar früher gesät, ging aber später auf; und doch schienen die Bauern ordentlich zu arbeiten. Er wohnte den Arbeiten selbst bei und ließ den Leuten sogar ab und zu ein Glas Schnaps für ihre Mühe reichen. Bei den Bauern aber wogte das Korn schon längst in hohen Halmen, der Hafer war aufgegangen, die Hirse wuchs in dichten Büscheln; bei ihm stand aber das Korn erst in dünnen Halmen mit noch leeren Ähren. Mit einem Worte, der Herr merkte, daß die Bauern trotz aller Erleichterungen einfach schwindelten. Er versuchte ihnen Vorwürfe zu machen, bekam aber folgende Antwort: »Ist's denn möglich, Herr, daß wir nicht an den Nutzen der Herrschaft dächten? Sie beliebten doch selbst zu sehen, wie wir uns beim Ackern und Säen abgemüht haben – Sie haben uns ja auch je ein Glas Schnaps geben lassen.« Was konnte er darauf entgegnen?
»Warum ist es nun so schlecht geraten?« fragte der Herr weiter.
»Wer kann das wissen? Die Würmer werden es wohl von unten angenagt haben. Und dann ist auch der Sommer so schlecht: es hat noch keinen Regen gegeben.«
Der Herr sah aber, daß das Getreide der Bauern unten von keinen Würmern angenagt war; auch hatte es so seltsam geregnet, in lauter Streifen: der Regen hatte nur die Felder der Bauern getroffen, aber die des Herrn mit keinem einzigen Tropfen bedacht.
Noch schwerer fiel es ihm, mit den Weibern auszukommen. Sie bettelten fortwährend um Befreiung von der Arbeit und beklagten sich über den schweren Frondienst. Eine merkwürdige Sache: er hatte alle Lieferungen von Leinwand, Beeren, Pilzen und Nüssen abgeschafft und ihre sonstigen Arbeiten um die Hälfte gekürzt, in der Annahme, daß die Weiber diese Zeit ihrem Haushalt widmen, die Kleidung ihrer Männer instand halten und die Gemüsegärten vergrößern würden. Doch gefehlt! Unter dem schönen Geschlecht kamen Faulheit, Schlägereien, Klatsch und Zank auf, so daß die Männer zu ihm jeden Augenblick mit solchen Worten kamen: »Herr, bring doch meine Hexe zur Raison! Sie ist ja ein wahrer Satan und läßt einen gar nicht leben!«
Er wollte schon, wenn auch mit Selbstüberwindung, zur Strenge greifen; wie konnte er aber streng sein? So ein Weib kam zu ihm als echtes Weib; es begann zu heulen, war krank und schwach und hatte ekelhafte, häßliche Lumpen an; wo es diese Lumpen hernahm, das weiß Gott allein. »Geh, geh mir aus den Augen! Gott sei dir gnädig!« sagte der arme Tjentjetnikow und sah gleich darauf, wie die Kranke, nachdem sie zum Tore hinaus war, mit einer Nachbarin wegen einer Rübe in Streit geriet und diese so verprügelte, wie es auch der kräftigste Bauer kaum fertigbringen kann.
Er versuchte für sie eine Schule zu gründen, doch daraus wurde solch ein Unsinn, daß er den Kopf hängen ließ: hätte er es lieber gar nicht angefangen! Wenn er ihre Streitigkeiten zu schlichten hatte, so zeigte es sich, daß ihm alle die juristischen Finessen, die ihm seine philosophischen Professoren beigebracht hatten, nichts nützten. Die eine Partei log, auch die andere Partei log, der Teufel allein konnte sich da auskennen! Er sah, daß einfache Menschenkenntnis viel nützlicher wäre als alle Feinheiten der philosophischen und juristischen Bücher; er sah wohl ein, daß ihm etwas fehlte, doch was, das wußte Gott allein. Und so kam es, was so oft kommt: weder verstand der Bauer den Herrn, noch der Herr den Bauern; der Bauer sah den Herrn von einer unvorteilhaften Seite, ebenso der Herr den Bauern. Dies alles kühlte erheblich den Eifer des Gutsbesitzers ab. Die Feldarbeiten verfolgte er nun ohne jede Aufmerksamkeit. Wenn die Sensen bei der Heuernte leise rauschten, das Heu zu Schobern aufgerichtet oder auf Wagen verladen wurde und die Arbeit sich dicht vor ihm abspielte – so blickten seine Augen in die Ferne; wurde aber die Arbeit in der Ferne verrichtet, so hefteten sich seine Augen auf irgendeinen Gegenstand in der Nähe oder blickten zur Seite; auf irgendeine Windung des Flusses, wo ein Martin mit roter Nase und roten Beinen spazierte, natürlich ein Vogel und kein Mensch. Er sah neugierig zu, wie der Vogel am Ufer einen Fisch fing und, ihn quer im Schnabel haltend, sich überlegte, ob er ihn verschlingen solle oder nicht; zugleich blickte er auf eine andere Stelle des Ufers, wo in der Ferne ein zweiter Eisvogel schimmerte, der noch keinen Fisch gefangen hatte, doch aufmerksam den ersten beobachtete, der schon einen hatte. Oder er kniff die Augen zusammen, wandte das Gesicht den Himmelsräumen zu und überließ es seiner Nase, den Duft der Felder aufzunehmen, und seinen Ohren, sich am Gesang der Bewohner der Lüfte zu erfreuen, der, von überall, vom Himmel und von der Erde kommend, sich zu einem einzigen harmonischen Chore ohne Mißton vereinte. Im Korn schlägt eine Wachtel, im Grase schnarrt ein Wiesenschnarrer, über ihnen zwitschern die Hänflinge, blökt eine in die Höhe gestiegene Sumpfschnepfe, trillert, im Lichte verschwindend, eine Lerche; wie Trompetentöne klingen die Schreie der Kraniche, die hoch in den Lüften ihre dreieckigen Züge bilden. Und alles weckt einen Widerhall in der ganzen Umgegend, die sich in Musik verwandelt hat. O Schöpfer! Wie herrlich ist deine Welt in der Wildnis, im kleinen Dorfe, fern von den gemeinen Landstraßen und Städten! Aber auch dies wurde ihm bald langweilig. Bald hörte er ganz auf, aufs Feld zu gehen, zog sich in seine Zimmer zurück und empfing nicht mal den Verwalter, wenn der mit einem Bericht zu ihm kam.
Früher besuchte ihn ab und zu mancher von seinen Nachbarn: ein Husarenleutnant a.D., ganz von Pfeifenrauch durchräuchert, oder irgendein radikaler Student, der die Studien nicht abgeschlossen und seine Weisheit aus den modernen Broschüren und Zeitschriften geschöpft hatte. Aber auch dies begann ihn zu langweilen. Ihre Gespräche erschienen ihm allzu oberflächlich, ihr europäisch-ungeniertes Benehmen, das Klopfen aufs Knie, ebenso ihre Schmeichelei und Familiarität kamen ihm allzu ungezwungen und unverblümt vor. Er entschloß sich, alle diese Bekanntschaften aufzugeben und machte das auf eine recht schroffe Weise. Als ihn nämlich einmal der in seinen oberflächlichen Gesprächen über alle möglichen Dinge so angenehme Warwar Nikolajewitsch Wischnepokromow, der den im Aussterben begriffenen Typus der draufgängerischen Obersten und zugleich auch die allerneueste Geistesrichtung repräsentierte, besuchte, um mit ihm nach Herzenslust über alles mögliche zu sprechen: über Politik, Philosophie, Literatur, Moral und sogar den Zustand der englischen Finanzen – ließ er ihm sagen, er sei nicht zu Hause, beging aber zugleich die Unvorsichtigkeit, sich am Fenster zu zeigen. Die Blicke des Hausherrn und des Gastes trafen sich. Der eine murmelte natürlich durch die Zähne: »So ein Vieh!«, und der andere rief ihm gleichfalls etwas wie »Schwein« nach. Damit endeten ihre Beziehungen. Seitdem besuchte ihn kein Mensch mehr.
Er war froh darüber und faßte den Plan zu einem großen Werk über Rußland. Wie er sich diesen Plan überlegte, hat der Leser schon gesehen. In seinem Leben stellte sich eine merkwürdige unordentliche Ordnung ein. Man kann jedoch nicht sagen, daß es keine Augenblicke gegeben hätte, wo er nicht gleichsam aus dem Schlafe erwachte. Wenn die Post ihm Zeitungen und Zeitschriften brachte und er irgendwo den ihm bekannten Namen eines ehemaligen Freundes las, der es im Staatsdienste zu einer ansehnlichen Stellung gebracht hatte oder nach Kräften den Wissenschaften oder der Sache der Menschheit diente, beschlich ein stummer, stiller Schmerz seine Seele, und ihm entrang sich eine traurige, stumme Klage über seine Tatenlosigkeit. In solchen Augenblicken erschien ihm sein Leben widerwärtig und häßlich. Mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erstand vor ihm die entschwundene Schulzeit, und er sah vor sich Alexander Petrowitsch . . . Ströme von Tränen stürzten ihm aus den Augen . . .
Was bedeuteten diese Tränen? Deckte in ihnen seine krankende Seele das schmerzhafte Geheimnis ihrer Krankheit auf – daß der große Mensch, der im Begriffe war, sich in seinem Innern zu bilden, keine Zeit gehabt hatte, sich zu formen und zu erstarken; daß er, der nicht von Kind auf im Kampfe mit Mißerfolgen erprobt war, noch nicht jenen höheren Zustand erreicht hatte, wo der Mensch gerade durch Hindernisse und Mißerfolge wächst und erstarkt; daß sein reicher Vorrat an großen Gefühlen, der gleich glühendem Metall geschmolzen war, nicht die letzte Härtung bekommen hatte; daß ihm viel zu früh sein ungewöhnlicher Lehrer gestorben war und daß er nun niemand auf der ganzen Welt hatte, der die Kraft hätte, seinen durch ewiges Schwanken erschütterten und jeder Elastizität baren, kraftlosen Willen zu festigen, der seiner Seele anspornend das ermunternde Wort: »Vorwärts!« zuriefe, nach dem jeder Russe von jedem Rang und Stande, auf jeder Lebensstufe dürstet?
Wo ist der Mensch, der uns in der Muttersprache unserer russischen Seele das allmächtige Wort: »Vorwärts!« zuzurufen vermöchte? Der uns, mit allen Kräften und Eigenschaften und der ganzen Tiefe unserer Natur vertraut, mit einem einzigen Zauberwink zu einem höheren Leben lenken könnte? Mit welchen Tränen, mit welcher Liebe würde es ihm der dankbare russische Mensch bezahlen! Doch die Jahrhunderte vergehen, schmachvolle Faulheit und die sinnlose Geschäftigkeit eines unreifen Jünglings umfangen . . . und Gott schickt uns nicht den Mann, der dieses Wort zu sprechen vermöchte!
Ein Umstand hätte ihn beinahe geweckt, beinahe hätte sich sein Charakter von Grund auf verändert: er erlebte etwas wie Liebe. Doch die Sache führte zu nichts. In seiner Nachbarschaft, zehn Werst von seinem Gute entfernt, lebte ein General, der, wie wir es schon hörten, nicht allzu günstig über Tjentjetnikow sprach. Der General lebte wie ein richtiger General: hielt ein offenes Haus, liebte es, daß seine Nachbarn ihn besuchten, um ihm ihre Achtung zu bezeugen, erwiderte aber ihre Visiten nicht, sprach mit heiserer Stimme, las Bücher und hatte eine Tochter, ein ungewöhnliches, sonderbares Wesen. Sie war so lebendig wie das Leben selbst.
Ihr Name war Ulinjka. Sie hatte eine recht merkwürdige Erziehung genossen: durch eine englische Gouvernante, die kein Wort Russisch sprach. Ihre Mutter hatte sie sehr früh verloren. Der Vater hatte für sie niemals Zeit. Da er übrigens seine Tochter wahnsinnig liebte, hätte er sie nur verziehen können. Da sie in voller Freiheit herangewachsen war, war alles an ihr trotzig und eigensinnig. Wenn jemand gesehen hätte, wie bei einem plötzlichen Zornausbruch strenge Falten ihre herrliche Stirn durchfurchten und wie hitzig sie mit ihrem Vater stritt, hätte er glauben müssen, sie sei das launischste Geschöpf. Ihr Zorn entbrannte aber nur dann, wenn sie von irgendeiner Ungerechtigkeit oder einer bösen Tat hörte, ganz gleich, an wem sie verübt worden war. Niemals stritt sie aber um ihrer selbst willen, niemals suchte sie sich selbst zu rechtfertigen. Ihr Zorn würde sofort verpuffen, wenn sie den, gegen den sie zürnte, im Unglück sähe. Auf jede Bitte um ein Almosen war sie bereit, wem es auch sei, ihren Beutel mit seinem ganzen Inhalt zuzuwerfen, ohne erst irgendwelche Überlegungen oder Berechnungen anzustellen. Es war etwas Ungestümes an ihr. Wenn sie sprach, so schien sie mit ihrem ganzen Wesen ihren Gedanken nachzueilen, – mit ihrem Gesichtsausdruck, mit ihrem Tonfall, mit ihren Handbewegungen; selbst die Falten ihres Kleides strebten gleichsam in dieselbe Richtung, und man hatte den Eindruck, daß sie gleich selbst ihren eigenen Worten nachfliegen würde. Nichts blieb an ihr verborgen. Vor keinem Menschen scheute sie ihre Gedanken zu äußern, und keine Gewalt vermochte sie zum Schweigen zu bringen, wenn sie sprechen wollte. Ihr bezaubernder, nur ihr allein eigentümlicher Gang war dermaßen frei und sicher, daß ihr jeder unwillkürlich den Weg freigab. In ihrer Gegenwart fühlte sich jeder böse Mensch verlegen und mußte verstummen; der keckste und im Gespräch ungezwungenste Mensch fand in ihrer Gegenwart keine Worte und verlor jede Sicherheit; ein Schüchterner konnte aber mit ihr so lebhaft plaudern, wie er in seinem ganzen Leben noch mit niemand geplaudert hatte, und hatte gleich zu Beginn des Gesprächs den Eindruck, als sei er mit ihr schon einmal irgendwo bekannt gewesen, als hätte er ihre Züge schon einmal gesehen, als hätte er dies in den Tagen der schon vergessenen Kindheit erlebt, in seinem Vaterhause, an einem lustigen Abend, unter freudigen Kinderspielen; und nach einem solchen Gespräch erschien ihm lange noch das vernünftige Alter des Menschen so furchtbar langweilig.
Dasselbe erlebte mit ihr auch Tjentjetnikow. Ein unaussprechliches neues Gefühl drang in seine Seele. Sein langweiliges Leben wurde für einen Augenblick erhellt.
Der General nahm Tjentjetnikow anfangs recht gut und freundlich auf; intim wurden sie jedoch nicht. Ihre Gespräche endeten immer mit einem Streit und einem unangenehmen Gefühl auf beiden Seiten, denn der General liebte keinen Widerspruch; und Tjentjetnikow war auch seinerseits recht empfindlich. Der Tochter zuliebe vergab er natürlich dem Vater vieles, und der Friede zwischen ihnen blieb erhalten, bis einmal der General Besuch von zwei Verwandten erhielt: der Gräfin Bordyrjowa und der Fürstin Jusjakina, zwei Hofdamen des früheren Hofes, die aber noch einige Verbindungen behalten hatten, aus welchem Grunde der General sie auf eine recht gemeine Weise umschmeichelte. Gleich nach ihrer Ankunft kam es Tjentjetnikow vor, daß der General etwas kühler gegen ihn sei, ihn überhaupt nicht beachte oder wie ein stummes Geschöpf behandle; er apostrophierte ihn etwas wegwerfend mit: »Mein Lieber«, »Hör' mal, Bruder«, und selbst mit »du«. Da riß seine Geduld. Er biß jedoch die Zähne zusammen und hatte noch so viel Geistesgegenwart, um mit einer ungemein höflichen und sanften Stimme zu sagen, während auf seinem Gesicht Flecken hervortraten und alles in ihm kochte: »Ich danke Ihnen, General, für Ihre Zuneigung. Mit dem Worte ›du‹ fordern Sie mich zu einer intimeren Freundschaft auf und verpflichten mich, auch zu Ihnen ›du‹ zu sagen. Doch der Unterschied im Alter steht einem solchen familiären Verkehr zwischen uns im Wege.« Der General fühlte sich verlegen. Seine Gedanken sammelnd und nach passenden Worten suchend, sagte er, daß er das Wort »du« nicht in diesem Sinne gebraucht habe und daß es einem alten Manne zuweilen erlaubt sei, einen jüngeren mit »du« anzureden (von seinem Rang sprach er aber kein Wort).
Selbstverständlich hörte darauf jeder Verkehr zwischen ihnen auf, und die Liebe endete gleich bei Beginn. Das Licht, das für eine Weile vor ihm aufgeleuchtet hatte, erlosch, und die nun folgende Dämmerung wurde noch düsterer. Sein Leben nahm die Gestalt an, wie es der Leser zu Beginn dieses Kapitels gesehen hat – er verbrachte es im Liegen und im Müßiggang. In seinem Hause kamen Schmutz und Unordnung auf. Die Bodenbürste blieb tagelang mit dem Kehricht mitten im Zimmer. Die Unterhosen zeigten sich selbst im Salon. Auf dem eleganten Tisch vor dem Sofa lagen schmutzige Hosenträger, gleichsam als Präsent für den Gast, und sein ganzes Leben wurde so unbedeutend und verschlafen, daß ihn nicht nur seine Leibeigenen nicht mehr achteten, sondern auch die Hühner nach ihm pickten. Mit der Feder in der Hand vor einem Blatt Papier sitzend, zeichnete er stundenlang Kringel, Häuschen, Hütten, Bauernwagen und Troikas. Zuweilen vergaß sich aber die Feder und zeichnete ganz von selbst, ohne Wissen ihres Herrn, ein kleines Köpfchen mit feinen Zügen, mit einem schnellen, durchdringenden Blick und einer emporfliegenden Haarflechte, und Tjentjetnikow sah mit Erstaunen das Bildnis des Mädchens erstehen, dessen Porträt wohl kein Künstler hätte malen können. Und es wurde ihm noch trauriger zumute; er glaubte, daß ein Glück auf Erden unmöglich sei, und wurde nur noch trauriger und schweigsamer.
So war der Gemütszustand Andrej Iwanowitschs Tjentjetnikows. Als er einmal nach seiner Gewohnheit am Fenster saß und wie immer hinausblickte, hörte er zu seinem Erstaunen weder den Grigorij noch die Perfiljewna, dafür machte sich im Hofe gegenüber eine gewisse Bewegung und Unruhe bemerkbar. Der Küchenjunge und die Spülfrau liefen hinaus, um das Tor zu öffnen. Im Tore zeigten sich Pferde, ganz wie man sie auf Triumphpforten sieht: eine Schnauze nach rechts, eine Schnauze nach links und eine Schnauze in der Mitte. Über ihnen ragten auf dem Bock ein Kutscher und ein Lakai in einem mit einem Taschentuch umgürteten weiten Rock. Hinter ihnen saß ein Herr in Mantel und Mütze, mit einem regenbogenfarbigen Tuch um den Hals. Als die Equipage vor dem Hauseingange umwendete, zeigte es sich, daß es nichts anderes als ein leichter Reisewagen auf Federn war. Der Herr von einem ungewöhnlich angenehmen Äußern sprang mit einer beinahe militärischen Behendigkeit und Gewandtheit aus dem Wagen.
Andrej Iwanowitsch bekam Angst: er hielt den Herrn für einen Beamten von der Regierung. Es muß erwähnt werden, daß er in seiner Jugend in eine sehr dumme Geschichte hineingeraten war. Zwei Philosophen aus dem Husarenstande, die allerlei Broschüren gelesen hatten, ein Ästhet, der seine Studien nicht abgeschlossen hatte, und ein verkrachter Spieler gründeten eine philanthropische Gesellschaft unter dem Vorsitz eines alten Gauners und Freimaurers, der gleichfalls Kartenspieler war, aber eine ungewöhnliche Rednergabe besaß. Die Gesellschaft verfolgte sehr weitgesteckte Ziele: nämlich der ganzen Menschheit von den Themseufern bis Kamtschatka ein dauerndes Glück zu verschaffen. Sie brauchte dazu kolossale Barmittel, und die großmütigen Mitglieder mußten unglaubliche Summen spenden. Was mit diesem Gelde geschah, wußte nur der Oberleiter allein. In diese Gesellschaft wurde Tjentjetnikow von zwei seiner Freunde hereingezogen, die zur Klasse der »verbitterten« Menschen gehörten; sie waren zwar gute Menschen, aber infolge der vielen Toaste auf die Wissenschaft, die Aufklärung und die der Menschheit in Zukunft zu erweisenden Dienste zu richtigen Säufern geworden. Tjentjetnikow kam bald zur Besinnung und trat aus diesem Kreise aus. Doch die Gesellschaft hatte sich schon auf andere Dinge verlegt, die eines Edelmannes unwürdig sind, und so bekam man es mit der Polizei zu tun . . . Darum ist es auch kein Wunder, daß er, nach seinem Austritt aus der Gesellschaft und nach Abbruch aller Beziehungen zu ihr, nicht recht ruhig bleiben konnte: sein Gewissen war irgendwie belastet. Nicht ohne Angst blickte er darum auf die Türe, die sich vor ihm öffnete.
Seine Angst verflüchtigte sich aber sofort, als der Gast sich vor ihm mit einer ungewöhnlichen Gewandtheit verbeugte, wobei er den Kopf respektvoll zur Seite geneigt hielt, und ihm in kurzen, doch sicher vorgebrachten Worten erklärte, daß er, wie in Geschäften, so auch von Wißbegierde getrieben, schon seit längerer Zeit Rußland bereise; daß unser Reich, von der Verschiedenheit der Gewerbe und Bodenarten ganz abgesehen, eine ungeheure Menge von bemerkenswerten Dingen aufzuweisen habe; daß ihn die malerische Lage seines Gutes bezaubert habe; daß er aber trotz dieser malerischen Lage sich niemals erlaubt hätte, ihn mit seinem ungelegenen Besuch zu belästigen, wenn nicht seine Equipage infolge der Frühlingsüberschwemmung und der schlechten Straßen einen Bruch erlitten hätte, der die Hilfe von Schmieden und anderen Handwerkern erfordere; und daß er, selbst wenn mit seiner Equipage nichts passiert wäre, sich dennoch nicht das Vergnügen hätte versagen können, ihm persönlich seine Hochachtung zu bezeugen.
Nachdem der Gast diese Rede beendigt hatte, schlug er mit einer bezaubernden Anmut die Hacken seiner in eleganten Halbschuhen aus Glacéleder mit Perlmutterknöpfen steckenden Füße zusammen und prallte gleich darauf, trotz seiner Körperfülle, mit der Leichtigkeit eines Gummiballs etwas zurück.
Andrej Iwanowitsch wurde ruhig und sagte sich, daß es wohl ein wißbegieriger gelehrter Professor sei, der Rußland bereise, um vielleicht irgendwelche Pflanzen oder vielleicht auch Fossilien zu sammeln. Er erklärte sich sofort bereit, ihm in allen Dingen behilflich zu sein; er stellte ihm seine eigenen Handwerker, Wagenbauer und Schmiede zur Verfügung; bat ihn, sich's so bequem zu machen wie im eigenen Hause; setzte ihn in einen bequemen Großvatersessel und machte sich bereit, seinen Vortrag über irgendein naturwissenschaftliches Thema anzuhören.
Der Gast berührte jedoch vorwiegend Erscheinungen der inneren Welt. Er verglich sein Leben mit einem Schiffe mitten im Meere, das von allen Seiten von unbeständigen Winden herumgetrieben wird; er erwähnte, daß er genötigt gewesen sei, mehrere Berufe zu wechseln, daß er für die Wahrheit viel Ungemach erlitten, daß ihm sogar seitens seiner Feinde Lebensgefahr gedroht habe; er erzählte noch viele andere Dinge, die eher von einem Mann des praktischen Lebens zeugten. Zum Schlusse seiner Rede schneuzte er sich in ein weißes Batisttaschentuch so laut, wie es Andrej Iwanowitsch noch nie gehört hatte. Zuweilen gibt es im Orchester so eine verdammte Trompete: wenn die einen Ton von sich gibt, glaubt man, er sei nicht im Orchester, sondern im eigenen Ohre entstanden. Ein ähnlicher Ton erdröhnte in den aus dem Schlafe erwachten Zimmern, und gleich darauf verbreitete sich der Wohlgeruch von Kölnischem Wasser, der wohl unsichtbar dem Batisttaschentuch, mit dem der Gast fächelte, entströmte.
Der Leser hat vielleicht schon erraten, daß der Gast niemand anders war als unser verehrter, von uns schon so lange verlassener Pawel Iwanowitsch Tschitschikow. Er war etwas gealtert: diese Zeit war an ihm wohl nicht ohne Stürme und Unruhe vorübergegangen. Selbst sein Frack schien etwas abgetragen zu sein, auch der Wagen, der Kutscher, der Lakai, die Pferde und das Geschirr sahen etwas abgerieben aus. Man hatte den Eindruck, daß auch seine Finanzlage nicht beneidenswert sei. Doch der Gesichtsausdruck, der feine Anstand und die angenehmen Manieren waren noch dieselben. Er zeigte vielleicht sogar noch mehr Anmut, wenn er, sich in den Sessel setzend, die Füße kreuzte. In seiner Aussprache war noch mehr Weichheit, in seinen Worten und Wendungen noch mehr vorsichtige Mäßigung; er zeigte ein noch feineres Benehmen und noch mehr Takt in allen Dingen. Weißer und reiner als Schnee waren sein Kragen und Vorhemd, und obwohl er direkt aus dem Reisewagen stieg, war an seinem Frack auch nicht ein Federchen zu sehen: man könnte ihn auf der Stelle zu einem Geburtstagsessen einladen. Seine Wangen und sein Kinn waren so sorgfältig rasiert, daß nur ein Blinder ihrer angenehmen Fülle und Rundung seine Bewunderung versagen würde.
Sofort vollzog sich im Hause eine Veränderung. Die eine Hälfte, die bisher blind, mit zugenagelten Laden gelegen hatte, wurde plötzlich sehend und hell. In den nun erleuchteten Zimmern fand jedes Ding seinen Platz, und bald nahm alles folgendes Aussehen an: das Zimmer, das zum Schlafzimmer bestimmt war, nahm die Dinge auf, die man für die Nachttoilette braucht; das Zimmer, das zum Kabinett ausersehen war . . . zunächst müssen wir aber erwähnen, daß es in diesem Zimmer drei Tische gab: einen Schreibtisch vor dem Sofa, einen Kartentisch zwischen den Fenstern unter dem Spiegel und einen Ecktisch im Winkel zwischen der Schlafzimmertüre und der Türe, die zu dem unbewohnten Saal mit invaliden Möbeln führte, welcher schon seit einem Jahr von niemand betreten worden war und jetzt als Vorzimmer dienen sollte. Auf diesem Ecktische fanden die aus dem Koffer hervorgeholten Kleidungsstücke Platz, und zwar: eine Frackhose, eine neue Hose, eine graue Hose, zwei Samt- und zwei Atlaswesten und ein Rock. Alle diese Gegenstände wurden zu einer Pyramide aufgeschichtet und oben mit einem seidenen Taschentuche zugedeckt. In der anderen Ecke, zwischen der Türe und dem Fenster, wurden in schöner Reihe die Stiefel aufgestellt: ein nicht ganz neues Paar, ein ganz neues Paar, ein Paar Lackhalbschuhe und ein Paar Morgenschuhe. Auch sie wurden schamhaft mit einem seidenen Taschentuch zugedeckt, so daß man von ihnen überhaupt nichts sah. Auf den Schreibtisch kamen in der schönsten Ordnung folgende Gegenstände: die Schatulle, eine Flasche Kölnisches Wasser, ein Kalender und zwei Romane; beides zweite Bände. Die reine Wäsche kam in die Kommode, die sich schon im Schlafzimmer befand; die Wäsche aber, die der Waschfrau übergeben werden sollte, wurde zu einem Bündel zusammengebunden und unter das Bett gesteckt. Auch der nun geleerte Koffer kam unter das Bett. Der Säbel, den er mitzuführen pflegte, um den Dieben Angst einzujagen, kam gleichfalls ins Schlafzimmer, auf einen Nagel in der Nähe des Bettes. Alles sah plötzlich ungewöhnlich sauber und ordentlich aus. Kein Papierchen, kein Federchen, kein Stäubchen lag auf dem Boden. Selbst die Luft wurde gleichsam edler: sie nahm den angenehmen Geruch eines gesunden, frischen Mannes an, der seine Wäsche nicht zu lange trägt, regelmäßig das Dampfbad besucht und sich an Sonntagen mit einem nassen Schwamm abreibt. Im Vorsaale wollte sich schon der Geruch des Lakaien Petruschka festsetzen, aber Petruschka wurde bald, so wie es sich gehörte, in die Küche umlogiert.
In den ersten Tagen fürchtete Andrej Iwanowitsch für seine Unabhängigkeit: der Gast könnte ihm seine Freiheit nehmen, irgendwelche Veränderungen in seine Lebensweise einführen und seine so glücklich aufgestellte Tagesordnung stören; diese Befürchtungen erwiesen sich aber als unbegründet. Unser Pawel Iwanowitsch zeigte eine ungewöhnliche Fähigkeit, sich an alles anzupassen. Er lobte die philosophische Bedächtigkeit seines Gastgebers und sagte, sie verspreche ein Leben von hundert Jahren. Über seine Vereinsamung äußerte er sich sehr glücklich, nämlich in dem Sinne, daß sie die großen Gedanken im Menschen nähre. Nachdem er einen Blick auf die Bibliothek geworfen und sich über die Bücher im allgemeinen sehr lobend ausgesprochen hatte, bemerkte er, daß sie den Menschen vor Müßiggang bewahren. Er verlor nicht viel Worte, aber alles, was er sagte, hatte Hand und Fuß. In seinen Handlungen war er noch tadelloser. Er kam und ging immer zur rechten Zeit; bemühte den Hausherrn mit keinen Fragen, wenn dieser nicht gern sprechen wollte; spielte mit Vergnügen mit ihm Schach und schwieg auch mit dem gleichen Vergnügen. Während der eine den Pfeifenrauch in schönen Wolken aufsteigen ließ, suchte sich der andere, welcher keine Pfeife rauchte, eine entsprechende Beschäftigung: er holte zum Beispiel seine Schnupftabakdose aus Tulasilber hervor, hielt sie zwischen zwei Fingern seiner linken Hand fest und versetzte sie mit einem Finger der rechten Hand in Rotation, die der des Erdballs um seine Achse glich; oder er trommelte auf ihr mit dem Finger und pfiff etwas dazu. Mit einem Wort, er störte den Hausherrn nicht im geringsten. »Ich sehe zum erstenmal einen Menschen, mit dem man leben kann,« sagte sich Tjentjetnikow. »Diese Kunst ist bei uns im allgemeinen wenig verbreitet. Es gibt unter uns wohl genug kluge, gebildete und gute Menschen, aber Menschen von stets gleichmäßigem Charakter, Menschen, mit denen man sein Leben lang auskommen kann, ohne sich mit ihnen zu entzweien – ich weiß nicht, ob es bei uns viele solche Menschen gibt. Dieser ist der erste, den ich sehe.« So äußerte sich Tjentjetnikow über seinen Gast.
Tschitschikow war seinerseits sehr froh darüber, daß er sich für eine Zeitlang bei einem so friedlichen und ruhigen Herrn niedergelassen hatte. Das Zigeunerleben hatte er nun ordentlich satt. Sich wenigstens einen Monat in dem schönen Dorfe, angesichts der Felder und des eben beginnenden Frühjahrs auszuruhen, war sogar in Hinsicht auf die Hämorrhoiden von Nutzen.
Einen schöneren Winkel zum Ausruhen hätte man schwer finden können. Der von Frösten spät aufgehaltene Frühling zeigte sich plötzlich in seiner ganzen Schönheit, und überall regte sich neues Leben. Schon blaute es in den Waldlichtungen, und auf dem frischen Smaragdgrün der Wiesen leuchtete gelber Löwenzahn und neigten lila und rosa Anemonen ihre zarten Köpfchen. Über den Sümpfen zeigten sich Schwärme von Eintagsfliegen und Mengen anderer Insekten; sie wurden schon von den Wasserspinnen gejagt, und allerlei Vögel versammelten sich im trockenen Schilfe. Alles versammelte sich, um einander in der Nähe zu sehen. Plötzlich war die Erde bevölkert, plötzlich waren die Wälder erwacht, und in den Wiesen begann es zu summen und zu tönen. Im Dorfe tanzte man Reigen. Es war ein Vergnügen, sich im Freien aufzuhalten. Wie grell leuchtete das Grün! Wie frisch war die Luft! Wie laut zwitscherten die Vögel in den Gärten! Ein Paradies, ein Jauchzen und Jubilieren der ganzen Kreatur! Das Dorf tönte und sang wie bei einer Hochzeit.
Tschitschikow ging viel spazieren. Für seine Spaziergänge hatte er eine große Auswahl. Bald war sein Ziel die Hochebene über den sich unten breitenden Tälern, auf denen noch überall ganze Seen, Reste der Überschwemmung, lagen und gleich Inseln die noch unbelaubten Wälder dunkelten; oder er ging ins Dickicht, stieg in bewaldete Gräben hinab, wo die von Vogelnestern beschwerten Bäume sich drängten . . . krächzende Raben, die kreuz und quer durch den Himmel flogen und ihn verdunkelten. Auf dem schon trockenen Wege konnte er auch zum Landungsplatz gehen, wo die ersten mit Erbsen, Gerste und Weizen beladenen Barken abgefertigt wurden, während das Wasser sich mit ohrenbetäubendem Dröhnen über die Räder der in Bewegung kommenden Mühle ergoß. Er ging auch hinaus, um den ersten Feldarbeiten beizuwohnen, um zu sehen, wie frisches Ackerland als schwarzer Streifen durch das Grün zog und wie der Sämann, mit der Hand auf das Sieb schlagend, das er auf der Brust hängen hatte, die Saat gleichmäßig ausstreute, ohne auch nur ein Körnchen zuviel auf die eine oder die andere Seite zu werfen.
Tschitschikow kam überall hin. Er führte lange Gespräche mit dem Verwalter, den Bauern und dem Müller. Er erfuhr alles: wie es mit der Wirtschaft gehe, für welchen Betrag Getreide verkauft werde, was man im Frühling und im Herbst am Mahlen von Getreide verdiene, wie jeder Bauer heiße und mit wem er verwandt sei, wo er seine Kuh gekauft habe und womit er sein Schwein füttere; mit einem Wort, er stellte alles fest. Er erkundigte sich auch, wieviel Bauern gestorben waren und erfuhr, daß es nur wenige seien. Als kluger Mensch merkte er sofort, daß die Wirtschaft Andrej Iwanowitschs sich in einem wenig beneidenswerten Zustand befand: vieles war vernachlässigt, es gab genug Schlamperei, Diebstahl und auch Trunksucht! Und er dachte sich: – Was für ein Vieh ist doch dieser Tjentjetnikow! Wie kann man nur so ein Gut so vernachlässigen! Er hätte ja ein Jahreseinkommen von fünfzigtausend Rubeln haben können. –
Mehr als einmal kam ihm bei solchen Spaziergängen der Gedanke, selbst einmal – d. h. natürlich nicht jetzt, sondern später, wenn die Hauptsache erledigt sein und er die nötigen Mittel in Händen haben würde –, selbst einmal ein friedlicher Besitzer eines ähnlichen Gutes zu werden. Natürlich dachte er dabei gleich auch an ein junges, frisches Weibchen mit weißem Gesicht, aus dem Kaufmanns- oder einem anderen reichen Stande, die sogar musikalisch wäre. Er stellte sich auch die junge Generation vor, die das Geschlecht der Tschitschikows verewigen sollte: einen lebhaften Jungen und eine hübsche Tochter oder sogar zwei Jungen und zwei oder sogar drei Töchter, damit alle wissen, daß er wirklich gelebt und existiert hatte und nicht als ein Schatten oder Gespenst über die Erde gezogen war – damit er sich auch vor seinem Vaterlande nicht zu schämen brauchte. Dann fiel ihm noch ein, daß auch eine Erhöhung seines Ranges gar nicht übel wäre: Staatsrat ist zum Beispiel ein von allen geachteter Titel . . . Was kommt nicht alles einem Menschen beim Spaziergange in den Sinn, was ihn der langweiligen Gegenwart entreißt, seine Phantasie neckt und reizt, und wenn er auch selbst überzeugt ist, daß dies niemals eintreffen kann!
Auch den Leuten Tschitschikows gefiel das Dorf sehr gut. Sie fühlten sich darin gleich ihrem Herrn bald sehr heimisch. Petruschka schloß sich sehr schnell dem Küchenverwalter Grigorij an, obwohl sie beide zuerst sehr wichtig taten und die Nasen rümpften. Petruschka streute Grigorij Sand in die Augen, indem er ihm von seinen weiten Fahrten erzählte; Grigorij brachte ihn aber gleich mit der Erwähnung Petersburgs zum Schweigen, wo Petruschka noch nie gewesen war. Der letztere machte noch den Versuch, ihm mit der Entfernung der Gegenden, die er besucht hatte, zu imponieren; aber Grigorij nannte darauf einen solchen Ort, der auf keiner Karte zu finden war und der ganze dreißigtausend Werst weit liegen sollte, so daß der Diener Pawel Iwanowitschs vor Erstaunen den Mund aufriß und sofort vom ganzen Hausgesinde ausgelacht wurde. Trotzdem führte dieser Verkehr zu der allerengsten Freundschaft. Am Rande des Dorfes hielt Pimen der Kahle, der Onkel sämtlicher Bauern, eine Schenke, die den Namen »Akuljka« trug. In diesem Institut sah man sie zu allen Tageszeiten. Hier waren sie Stammgäste.
Sselifan fand hier andere Versuchungen. Im Dorfe wurden jeden Abend Lieder gesungen und Frühlingsreigen getanzt. Die rassigen schlanken Mädchen, wie man sie heute in den größeren Dörfern noch kaum finden kann, ließen ihn stundenlang mit aufgerissenem Munde dastehen. Es war schwer zu sagen, welche von ihnen die schönste war: sie alle hatten weiße Busen und weiße Hälse, schöne verschleierte Augen, Bewegungen von Pfauen und Zöpfe, die bis an den Gürtel reichten. Wenn er, sie bei ihren weißen Händen haltend, mit ihnen langsam den Reigen tanzte, oder mit den anderen Burschen als Mauer gegen sie vorrückte, wenn die Mädchen lächelnd sangen: »Ihr Herren, zeigt uns den Bräutigam!«; wenn die ganze Umgegend dunkel wurde und der Gesang weit jenseits des Flusses traurig widerhallte – so wußte er selbst nicht, wie ihm war. Im Schlafe und im Wachen, am Morgen und in der Dämmerung glaubte er dann immer in seinen beiden Händen weiße Mädchenhände zu halten und sich im Reigen zu bewegen.
Auch den Pferden Tschitschikows gefiel ihre neue Wohnung. Das Deichselpferd, der »Assessor«, und selbst der Schecke fanden den Aufenthalt bei Tjentjetnikow gar nicht langweilig, den Hafer vorzüglich und die Lage der Stallungen außerordentlich bequem: ein jedes hatte zwar seinen abgezäunten Stand, doch die Verschlage waren so niedrig, daß man über sie leicht die anderen Pferde sehen konnte; wenn es einem von ihnen, selbst einem, das am weitesten stand, einfiel, plötzlich zu wiehern, so konnte man ihm augenblicklich antworten.
Mit einem Worte, alle fühlten sich wie zu Hause. Was aber die Angelegenheit betrifft, in der Pawel Iwanowitsch das ganze weite Rußland bereiste, nämlich die toten Seelen, so war er in dieser Beziehung äußerst vorsichtig und heikel geworden, selbst wenn er es mit ausgesprochenen Dummköpfen zu tun hatte. Tjentjetnikow aber las doch immerhin Bücher, philosophierte und suchte verschiedene Zusammenhänge zu ergründen, warum und weshalb dies und jenes geschah. – Nein, ich fange vielleicht besser vom anderen Ende an, – dachte sich Tschitschikow. Aus seinen häufigen Gesprächen mit dem Hausgesinde erfuhr er, daß der Herr früher recht oft einen General in der Nachbarschaft besucht hatte, daß der General eine Fräulein Tochter habe, daß der Herr dem Fräulein und das Fräulein dem Herrn . . . aus der Sache sei aber nichts geworden, und sie seien auseinandergegangen. Er sah auch selbst, daß Andrej Iwanowitsch mit Bleistift und Feder fortwährend Köpfchen zeichnete, die alle einander ähnlich sahen.
Eines Tages nach dem Essen, als er wie gewöhnlich seine silberne Schnupftabaksdose um ihre eigene Achse drehte, sagte er: »Eines fehlt Ihnen nur, Andrej Iwanowitsch.«
»Was denn?« fragte jener, indem er eine krause Rauchwolke in die Luft steigen ließ.
»Eine Lebensgefährtin«, sagte Tschitschikow.
Andrej Iwanowitsch entgegnete darauf nichts. Damit war das Gespräch zu Ende.
Tschitschikow gab aber die Sache nicht auf. Er wählte eine andere Zeit vor dem Abendessen und sagte während eines Gesprächs über dies und jenes ganz unvermittelt: »Sie sollten doch wirklich heiraten, Andrej Iwanowitsch.«
Tjentjetnikow reagierte darauf mit keinem Wort, als wäre ihm dieses Thema höchst unangenehm.
Tschitschikow ließ den Mut noch immer nicht sinken. Zum drittenmal wählte er eine Zeit nach dem Abendessen und sagte: »Wie ich Ihre Lebensumstände auch betrachte, so sehe ich, daß Sie heiraten müssen: Sie verfallen in Hypochondrie.«
Klangen die Worte Tschitschikows diesmal besonders überzeugend, oder war Tjentjetnikow diesmal besonders zur Aufrichtigkeit geneigt – kurz, er seufzte auf und sagte, indem er den Rauch aufsteigen ließ: »Für jede Sache muß man als Glückspilz geboren sein, Pawel Iwanowitsch«, und er erzählte ihm die ganze Geschichte seiner Bekanntschaft mit dem General und ihrer Entzweiung.
Als Tschitschikow die Sache mit allen Einzelheiten erfuhr und sah, daß die Geschichte wegen des einen Wortes »du« entstanden war, schien er im ersten Augenblick ganz verdutzt. Eine Minute lang sah er Tjentjetnikow unverwandt in die Augen, als suchte er sich klar zu werden, ob jener ein ausgesprochener Dummkopf oder nur etwas blöde sei, und schließlich . . .
»Andrej Iwanowitsch! Erlauben Sie!« sagte er, seine beiden Hände ergreifend. »Was ist das für eine Beleidigung? Was ist denn in dem Worte ›du‹ so verletzend?«
»Im Worte selbst steckt natürlich nichts Verletzendes«, sagte Tjentjetnikow. »Die Beleidigung lag aber nicht im Sinne des Wortes, sondern im Ton, mit dem es gesprochen wurde! ›Du!‹ – das bedeutet: ›Merk es dir, daß du eine Null bist; ich verkehre mit dir nur, weil ich keinen besseren habe; wenn aber eine Fürstin Jusjakina gekommen ist, so sollst du wissen, wo dein Platz ist, und bei der Schwelle stehen.‹ Das bedeutet dieses Wort!« Bei diesen Worten sprühten die Augen unseres sanften und milden Andrej Iwanowitschs Funken; seine Stimme zitterte vor beleidigtem Ehrgefühl.
»Und selbst wenn er es in diesem Sinne gebraucht hat, was ist denn dabei?« fragte Tschitschikow.
»Wie? Sie wollen, daß ich mit ihm nach dieser Handlungsweise noch weiter verkehre?«
»Was ist denn das für eine Handlungsweise? Es ist überhaupt keine Handlungsweise«, sagte Tschitschikow kaltblütig.
»Wieso ist das keine Handlungsweise?« fragte Tjentjetnikow erstaunt.
»Es ist nur so eine Angewohnheit eines Generals und keine Handlungsweise: sie sagen zu allen ›du‹. Warum soll man das auch einem so verdienten und geachteten Mann nicht erlauben? . . .«
»Das ist eine andere Sache«, sagte Tjentjetnikow. »Wäre er ein Greis und arm, weder stolz, noch eitel, noch General, so würde ich ihm erlauben, mir ›du‹ zu sagen und dies sogar mit Respekt aufnehmen.«
– Er ist ganz dumm – dachte sich Tschitschikow, – einem Bettler würde er es erlauben, aber einem General nicht! . . . – »Schön!« sagte er laut. »Nehmen wir sogar an, daß er Sie beleidigt hat, Sie haben es ihm aber schon heimgezahlt: er hat Sie beleidigt, und Sie ihn. Aber sich mit einem Menschen entzweien und dabei eine persönliche Sache aufgeben, das ist, entschuldigen Sie . . . Wenn man sich schon einmal ein Ziel gesteckt hat, so muß man es energisch verfolgen. Wer wird darauf achten, daß der andere spuckt! Der Mensch ist schon einmal so beschaffen, daß er immer spucken muß. Finden Sie doch in der ganzen Welt einen Menschen, der nicht spuckte!«
– Ein merkwürdiger Kauz ist dieser Tschitschikow! – dachte sich Tjentjetnikow verdutzt und von diesen Worten überrascht.
– Ein merkwürdiger Kauz ist dieser Tjentjetnikow! – dachte sich währenddessen Tschitschikow.
»Andrej Iwanowitsch, ich will mit Ihnen wie ein Bruder sprechen! Sie sind unerfahren, lassen Sie mich diese Sache in Ordnung bringen. Ich will zu Seiner Exzellenz hinfahren und ihm erklären, daß ein Mißverständnis vorliege, daß alles von Ihrer Jugend und mangelnden Menschen- und Weltkenntnis komme.«
»Ich bin nicht geneigt, mich vor ihm irgendwie zu erniedrigen!« sagte Tjentjetnikow verletzt. »Und ich kann auch Sie nicht dazu ermächtigen.«
»Auch ich bin nicht fähig, mich zu erniedrigen«, sagte Tschitschikow verletzt. »Ich kann mir wohl eine andere menschliche Schwäche zuschulden kommen lassen, doch werde ich mich niemals vor jemand erniedrigen . . . Andrej Iwanowitsch, Sie müssen mir meine gute Absicht entschuldigen, ich hatte nicht erwartet, daß Sie meine Worte in einem beleidigenden Sinne auffassen werden.« Dies alles sagte er mit großer Würde.
»Ich bin schuld, entschuldigen Sie!« sagte Tjentjetnikow gerührt und ergriff ihn hastig bei beiden Händen. »Ich wollte Sie gar nicht beleidigen. Ich schwöre Ihnen, Ihre gütige Teilnahme ist mir sehr wertvoll! Brechen wir aber dieses Gespräch ab und sprechen wir nie wieder darüber!«
»In diesem Falle fahre ich ganz einfach zum General.«
»Wozu denn?« fragte Tjentjetnikow, ihm erstaunt in die Augen blickend.
»Um ihm meine Hochachtung zu bezeugen.«
– Ein merkwürdiger Mensch ist dieser Tschitschikow! – dachte sich Tjentjetnikow.
»Ich will ihn gleich morgen gegen zehn Uhr früh besuchen, Andrej Iwanowitsch. Ich bin der Ansicht, je schneller man einem seine Hochachtung bezeugt, um so besser. Da mein Reisewagen noch nicht im richtigen Zustande ist, so gestatten Sie mir, Ihren Wagen zu benützen. Ich würde schon morgen so gegen zehn Uhr früh zu ihm hinfahren.«
»Aber erlauben Sie, was ist das für eine Bitte? Sie sind hier der Herr, und die Equipage steht zu Ihrer Verfügung.«
Nach dieser Unterhaltung wünschten sie einander gute Nacht und zogen sich ein jeder auf sein Schlafzimmer zurück, nicht ohne über die Eigentümlichkeit des anderen nachzudenken.
Eine seltsame Sache! Als am anderen Morgen die Equipage vorfuhr und Tschitschikow mit einer beinahe militärischen Gewandtheit, in einem neuen Frack, weißer Binde und Weste hineinsprang und davonfuhr, um dem General seine Hochachtung zu bezeugen, geriet Tjentjetnikow in eine solche Aufregung, wie er sie schon lange nicht empfunden hatte. Alle seine eingerosteten und verschlafenen Gedankengänge wurden plötzlich lebhaft und unruhig. Eine nervöse Erregung bemächtigte sich plötzlich aller Gefühle des in sorglosen Müßiggang versunkenen Faulenzers. Bald setzte er sich aufs Sofa, bald trat er ans Fenster, bald nahm er ein Buch vor, bald versuchte er zu denken – ein vergebliches Bemühen: kein Gedanke kam ihm in den Kopf. Bald versuchte er, an nichts zu denken – vergebliche Mühe: Bruchstücke von Gedanken, Enden und Zipfel von Gedanken kamen ihm von allen Seiten in den Sinn. »Ein seltsamer Zustand!« sagte er und setzte sich ans Fenster, um auf die den Eichenwald durchschneidende Landstraße zu schauen, an deren Ende noch der Staub wirbelte. Wir wollen aber Tjentjetnikow verlassen und Tschitschikow folgen.