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Unser Held hatte ordentlich Angst bekommen. Obwohl der Wagen im rasendsten Tempo dahinjagte, und Nosdrjows Besitzung schon längst hinter den Feldern, Anhöhen und Hügeln verschwunden war, blickte er noch immer voller Angst zurück, als setzte man ihm nach. Er atmete schwer, und als er die Hand versuchsweise aufs Herz legte, fühlte er, daß es so heftig hüpfte wie eine Wachtel in einem Käfig. »Das war mal ein Dampfbad! Ist das ein Kerl!« An die Adresse Nosdrjows ergingen noch viele schwere und kräftige Verwünschungen; sogar einige unanständige Worte waren darunter. Aber was soll man machen? Ein aufgebrachter Russe kann gar nicht anders! Die Sache war auch durchaus kein Scherz. »Man mag sagen, was man will,« sagte er zu sich selbst, »aber wäre der Landpolizeimeister nicht rechtzeitig gekommen, so käme ich vielleicht nicht mehr in die Lage, die Welt Gottes zu schauen! Wie eine Blase auf dem Wasser wäre ich geplatzt, ohne jede Spur, ohne Nachkommen, ohne meinen künftigen Kindern ein Vermögen und einen ehrlichen Namen zu hinterlassen!« Unser Held war um seine Nachkommenschaft außerordentlich besorgt.
– So ein schlechter Herr! – dachte Sselifan. – So einen Herrn habe ich noch nie gesehen. Dem könnte ich einfach ins Gesicht spucken! Laß lieber einen Menschen hungern, aber einen Gaul mußt du doch füttern, denn der Gaul liebt den Hafer. Das ist seine Nahrung; was für uns zum Beispiel unsere Kost ist, das ist für ihn der Hafer: er ist seine Nahrung. –
Auch die Pferde schienen ungünstig über Nosdrjow zu denken; nicht nur der Braune und der Assessor, sondern auch der Scheck waren schlechter Laune. Obwohl er immer einen schlechteren Hafer bekam und Sselifan ihm seine Portion niemals anders in den Trog schüttete als mit den Worten: »Ach, du Schuft!«, so war es doch immerhin Hafer und nicht gemeines Heu; er verzehrte den Hafer mit Hochgenuß und steckte seine lange Schnauze häufig in die Tröge seiner Freunde, um zu versuchen, was für eine Beköstigung sie bekamen, besonders, wenn Sselifan nicht im Stalle war. Aber diesmal kriegte er nichts wie Heu – das war gar nicht gut! Alle waren unzufrieden.
Alle diese Unzufriedenen wurden aber bald in ihren Betrachtungen auf die unerwartetste Weise unterbrochen. Alle, auch der Kutscher, kamen erst dann zur Besinnung, als ein mit sechs Pferden bespannter Wagen sie überrannte und fast über ihren Köpfen das Geschrei der im Wagen sitzenden Damen und die Flüche und Drohungen des fremden Kutschers erklangen: »Ach, du Spitzbube! Ich habe dir doch laut zugeschrien: ›Wende nach rechts, du Krähe!‹ Bist du gar betrunken?« Sselifan sah sein Versehen wohl ein, aber da der Russe seine Schuld vor anderen nicht gerne zugibt, so nahm er eine stolze Haltung ein und sagte: »Und was fährst du so schnell? Hast du deine Augen etwa in der Schenke versetzt?« Gleich darauf versuchte er, seinen Wagen zurückzuziehen, um sich aus dem fremden Gespann zu befreien; es war aber nichts zu machen: alles war durcheinander geraten. Der Scheck beschnüffelte neugierig die neuen Freunde, die plötzlich rechts und links von ihm standen. Die Damen, die im Wagen saßen, verfolgten dies alles mit ängstlichen Mienen. Die eine war alt, die andere blutjung, vielleicht sechzehnjährig mit goldigem Haar, das hübsch und geschickt um ihr niedliches Köpfchen angeordnet lag. Das hübsche Oval ihres Gesichts rundete sich und schimmerte in einem durchsichtigen Weiß wie ein frisches Eichen, das frisch gelegt, von den braunen Händen der prüfenden Haushälterin gegen das Licht gehalten wird und die leuchtenden Sonnenstrahlen durchläßt; so durchsichtig waren auch ihre feinen Ohren, die im warmen Lichte, das sie durchdrang, erglühten. Der Schreck, den ihre offenen, gleichsam erstarrten Lippen ausdrückten, und die Tränen in den Augen – alles war an ihr so reizend, daß unser Held sie einige Minuten lang betrachtete, ohne dem Durcheinander von Menschen und Pferden auch die geringste Beachtung zu schenken. »Zurück, du Nowgoroder Krähe!« schrie der fremde Kutscher. Sselifan zog die Zügel an, der fremde Kutscher machte dasselbe, die Pferde wichen ein wenig zurück, sogleich vermischte sich aber alles von neuem. Dem Schecken gefiel die neue Bekanntschaft, die er bei dieser Gelegenheit machte, so sehr, daß er nicht mehr vom Flecke wollte, auf den er durch die Macht des Schicksals geraten war; er legte seine Schnauze seinem neuen Freunde auf den Hals und schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern; vermutlich einen großen Unsinn, denn der Fremde schüttelte beständig die Ohren.
Der Skandal lockte die Bauern aus dem Dorfe herbei, das zum Glück in der Nähe lag. Da solch ein Schauspiel für einen Bauern ein Segen Gottes ist, wie für den Deutschen die Zeitung oder der Klub, so sammelte sich bald um die Equipagen eine ganze Menge; nur die alten Weiber und die kleinen Kinder blieben im Dorfe zurück. Man entwirrte die Stranghölzer und versetzte dem Schecken einige Püffe auf die Schnauze, so daß er zurückwich; mit einem Worte, die Wagen und die Pferde wurden getrennt. War es der Ärger, der die fremden Pferde befiel, weil man sie von ihren Freunden getrennt hatte, oder war es bloßer Eigensinn – sie blieben jedenfalls wie angewurzelt stehen, wie wütend der Kutscher auf sie auch einhieb. Die Teilnahme der Bauern nahm ungeheure Ausmaße an. Ein jeder kam mit seinem Ratschlag: »Geh, Andrjuschka, nimm du das rechte Beipferd am Zaum, Onkel Mitjaj soll sich aber aufs Mittelpferd setzen! Setz dich, Onkel Mitjaj!« Der hagere, lange, rotbärtige Onkel Mitjaj bestieg das Mittelpferd und wurde sofort dem Glockenturm einer Dorfkirche ähnlich oder richtiger einem Haken, mit dem man das Wasser aus dem Brunnen heraufholt. Der Kutscher hieb wieder auf die Pferde ein, doch ohne jeden Erfolg: Onkel Mitjaj hatte nicht viel erreicht. »Halt, halt!« schrien die Bauern. »Onkel Mitjaj, setz du dich auf das Beipferd, und auf das Mittelpferd soll sich Onkel Minjaj setzen!« Onkel Minjaj, ein breitschultriger Bauer mit pechschwarzem Bart und einem Bauch wie jener Riesensamowar, in dem das wärmende Getränk für einen ganzen frierenden Markt gekocht wird, bestieg nicht ungern das Mittelpferd, das sich unter ihm fast bis zur Erde senkte. »Jetzt geht die Sache!« schrien die Bauern. »Hau zu, hau zu! Gib ihm die Peitsche, dem Braunen! Was zappelt er wie eine Mücke?« Als sie aber sahen, daß die Sache gar nicht vorwärts ging und das Hauen nichts half, bestiegen Onkel Mitjaj und Onkel Minjaj gemeinsam das Mittelpferd, während sich auf das Beipferd Andrjuschka setzte. Schließlich verlor der Kutscher die Geduld und jagte wie den Onkel Mitjaj so auch den Onkel Minjaj davon; und er tat gut daran, denn von den Pferden stieg sofort solch ein Dampf auf, als hätten sie, ohne Atem zu holen, mindestens eine Station zurückgelegt. Er ließ sie eine Minute ausruhen, und dann begannen sie ganz von selbst zu laufen. Während dieser Ereignisse betrachtete Tschitschikow sehr aufmerksam die junge Unbekannte. Er versuchte einigemal, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Die Damen fuhren indessen davon, das hübsche junge Mädchen mit den feinen Gesichtszügen und der feinen Taille verschwand wie eine Vision, und nur der Wagen, die Straße, die dem Leser schon bekannten drei Pferde, Sselifan, Tschitschikow und die leeren, glatten Felder blieben zurück. Überall im Leben, wie in seinen rohen, armseligen, verschimmelten, unappetitlichen Schichten, so auch unter den eintönig kalten, langweilig sauberen Ständen, überall begegnet dem Menschen wenigstens einmal im Leben eine Erscheinung, die allem, was er bisher gesehen hat, unähnlich ist und die in ihm wenigstens einmal ein Gefühl weckt, das von allen Gefühlen, die er je empfunden, verschieden ist. Überall, allen Leiden zum Trotz, aus denen unser Leben gewebt ist, fliegt plötzlich eine schimmernde Freude vorbei, wie eine glänzende Equipage mit goldenem Geschirr, herrlichen Rossen und funkelnden Spiegelscheiben, die unerwartet an einem entlegenen armen Dörfchen vorüberjagt, das außer den Bauernwagen nie etwas gesehen hat: lange stehen die Bauern mit weit aufgerissenen Mündern und entblößten Köpfen da, obwohl die wunderbare Equipage schon längst ihren Blicken entschwunden ist. Ebenso unerwartet ist auch diese Blondine in unserer Erzählung aufgetaucht und dann ebenso plötzlich verschwunden. Wäre an Tschitschikows Stelle irgendein zwanzigjähriger Jüngling – ein Husar, ein Student oder sonst irgendein junger Fant, der erst eben ins Leben tritt – mein Gott! – was wäre da in ihm nicht alles erwacht! Lange stünde er wie erstarrt am gleichen Fleck, die Augen wie geistesabwesend in die Ferne gerichtet, gleichgültig gegen den Weg und die ihn erwartenden Vorwürfe und Rügen wegen der Versäumnis, ohne an sich selbst, an den Dienst, an die Welt und alles in der Welt zu denken.
Unser Held war aber schon in mittleren Jahren und von einem kühlen und umsichtigen Charakter. Er versank zwar in Gedanken, doch diese waren nicht so phantastisch, sondern gründlich und mehr positiver Natur. »Ein nettes Mädel!« sagte er, indem er seine Tabaksdose öffnete und eine Prise nahm. »Was ist aber an ihr so schön? Schön ist an ihr, daß sie soeben aus einer Pension oder einem Institut kommt und daß ihr noch alles Weibische fehlt, also gerade das, was an den Frauen am unangenehmsten ist. Sie ist jetzt wie ein Kind; alles an ihr ist einfach: sie sagt, was ihr in den Sinn kommt, und lacht, wenn sie eben lachen will. Aus ihr kann man alles machen: sie kann zu einem wahren Wunder heranwachsen und auch zu einem Ekel, und es wird aus ihr auch sicher ein Ekel werden! Wenn nur alle die Mamachen und Tantchen sie in Behandlung nehmen – in einem einzigen Jahre werden sie sie dermaßen mit allerlei Weibereien vollstopfen, daß ihr eigener Vater sie nicht mehr erkennen wird. Sie wird plötzlich aufgeblasen und geziert werden, wird sich darüber den Kopf zerbrechen, wie, wie lange und mit wem sie sprechen darf und wen sie anschauen soll; sie wird jeden Augenblick fürchten, mehr zu sagen, als nötig; sie wird sich in allen diesen Dingen verstricken und zuletzt ihr ganzes Leben zu einer Lüge machen; weiß der Teufel, was aus ihr werden wird!« Tschitschikow hielt in seinen Gedanken inne und fuhr dann fort: »Es wäre doch interessant, zu wissen, aus welcher Familie sie ist? Was mag ihr Vater sein? Ist er ein angesehener reicher Gutsbesitzer oder einfach ein wohlgesinnter Mann mit einem im Staatsdienste erworbenen Vermögen? Wenn dieses Mädchen so an die zweihunderttausend Rubelchen mitbekäme, wäre sie ein recht leckerer Bissen. Dann könnte sie sozusagen ein Glück für einen anständigen Menschen bilden.« Die zweihunderttausend Rubelchen malten sich so verlockend in seinem Kopfe, daß er sich schon zu ärgern begann, daß er während der Geschichte mit den Equipagen vom Vorreiter oder Kutscher nicht erfragt hatte, wer die durchreisenden Damen waren. Das Gut Ssobakewitschs, das bald vor ihm auftauchte, zerstreute jedoch seine Gedanken und lenkte sie auf den einzigen, ihn immer interessierenden Gegenstand.
Das Dorf erschien ihm recht groß; zwei Wälder – ein Birken- und ein Fichtenwald – faßten es wie zwei Flügel – der eine dunkler, der andere heller – von rechts und links ein: in der Mitte ragte das hölzerne Herrenhaus mit einem Mezzanin, einem roten Dach und Wänden von dunkelgrauer, oder richtiger, unbestimmter Farbe – ein Haus, wie man sie bei uns für Militärsiedlungen und deutsche Kolonisten zu bauen pflegte. Es war ihm anzusehen, daß der Baumeister bei seiner Arbeit ständig mit dem Geschmack des Hausherrn zu kämpfen hatte. Der Baumeister war ein Pedant und strebte nach Symmetrie; der Hausherr dachte aber nur an Bequemlichkeit und hatte wohl infolgedessen alle Fenster an der einen Seite vernagelt und an ihrer Stelle nur ein einziges durchbrochen, das er wohl für eine dunkle Kammer brauchte. Auch das Fronton kam trotz aller Bemühungen des Baumeisters nicht in die Mitte des Hauses, denn der Hausherr hatte ihm befohlen, eine der seitlichen Säulen zu beseitigen, und so standen statt der beabsichtigten vier Säulen nur drei da. Der Hof war von einem festen und ungewöhnlich dicken Holzgitter eingefriedigt. Der Besitzer legte anscheinend überhaupt das größte Gewicht auf Dauerhaftigkeit. Die Pferdeställe, Schuppen und Küchengebäude waren aus schweren, dicken Balken errichtet, als sollten sie Ewigkeiten überdauern. Auch die Bauernhäuser waren wunderbar fest gezimmert; es gab an ihnen zwar kein Schnitzwerk und sonstige Verzierungen, dafür waren die Balken fest und ordentlich aneinandergefügt. Selbst das Brunnengehäuse war aus festem Eichenholz gemacht, wie man es nur für Mühlen und Schiffe verwendet. Mit einem Wort – alles, was Tschitschikow auch sah, stand unwankbar und solide in einer festen und plumpen Ordnung da. Als sein Wagen vorfuhr, erblickte Tschitschikow zwei Gesichter, die fast gleichzeitig zum Fenster hinaussahen: ein weibliches, lang und schmal wie eine Gurke, mit einer Haube bekleidet, und ein männliches, rund und breit wie ein moldauischer Kürbis, aus dem man in Rußland die zweisaitige, leichte Balalaika macht, den Stolz und die Freude eines forschen zwanzigjährigen Bauernburschen, der den Mädchen mit weißem Busen und weißem Hals, die sich versammelt haben, um dem leisen Klimpern zu lauschen, keck zupfeift und zublinzelt. Nachdem die beiden Gesichter hinausgeschaut hatten, verschwanden sie gleich wieder. Ein Lakai in grauer Joppe mit blauem Stehkragen trat auf den Flur hinaus und führte Tschitschikow ins Vorzimmer, wo ihn schon der Hausherr erwartete. Als er den Gast sah, sagte er kurz: »Ich bitte!« und geleitete ihn in die inneren Gemächer.
Als Tschitschikow Ssobakewitsch von der Seite ansah, erschien er ihm diesmal wie ein Bär von mittlerer Größe. Die Ähnlichkeit wurde noch dadurch vervollständigt, daß er einen Frack von der Farbe eines Bärenpelzes mit sehr langen Ärmeln trug, sehr lange Hosen anhatte und seine Füße beim Gehen so schief voreinander setzte, daß er den anderen beständig auf die Füße trat. Seine Gesichtsfarbe war glühend rot wie die einer Kupfermünze. Bekanntlich gibt es auf der Welt viele solche Gesichter, bei deren Vollendung sich die Natur nicht allzu viele Mühe machte und keinerlei feinere Instrumente, wie Feilen, Bohrer usw., gebrauchte, sondern einfach mit einer Axt ausholte. Mit einem Hieb machte sie die Nase, mit einem anderen die Lippen, dann machte sie mit einem großen Bohrer die Augen und ließ den Menschen, ohne weitere Bearbeitung, mit den Worten: »Er lebe!« in die Welt laufen. So ein kräftiges und wunderbar fest gefügtes Antlitz hatte auch Ssobakewitsch: er hielt es eher gesenkt als aufrecht, bewegte den Hals gar nicht und blickte infolgedessen denjenigen, mit dem er sprach, nur in seltenen Fällen an; meistens sah er auf die Ofenecke oder auf die Tür. Als sie durch das Speisezimmer gingen, sah ihn Tschitschikow noch einmal von der Seite an: ein Bär! ein richtiger Bär! Der Zufall wollte es noch, daß er auch Michailo Ssemjonowitsch hieß, wie man in Rußland die Bären zu nennen pflegt. Da Tschitschikow seine Angewohnheit, den Leuten auf die Füße zu treten, kannte, bewegte er die seinigen äußerst vorsichtig und ließ ihn vorausgehen. Auch der Hausherr selbst schien diese seine Untugend zu kennen und fragte ihn sofort: »Habe ich Sie nicht belästigt?«
Worauf Tschitschikow dankend versicherte, er habe nicht die geringste Belästigung gespürt.
Als sie ins Gastzimmer traten, zeigte Ssobakewitsch auf einen Sessel und sagte wieder: »Ich bitte!« Nachdem Tschitschikow Platz genommen, musterte er die Wände und die Bilder, die an diesen hingen. Es waren Stiche, die lauter tapfere griechische Feldherren in ganzer Figur darstellten: den Maurokordato in roter Hose, Uniformrock und einer Brille auf der Nase, den Miauli und den Kanari. Alle diese Helden hatten so starke Schenkel und so mächtige Schnurrbärte, daß man beim bloßen Anblick erzitterte. Unter diesen herkulischen Griechen hing aus unbekanntem Grunde der schmächtige, magere Fürst Bagration, mit kleinen Fahnen und Geschützen am unteren Rande des Stiches, der in einem ganz schmalen Rahmen steckte. Dann folgte wieder die griechische Heldin Bobelina, deren Bein allein viel größer schien als der ganze Rumpf jener Stutzer, die die heutigen Salons füllen. Der Hausherr, der selbst ein rüstiger und kräftiger Mann war, schien Gewicht darauf zu legen, daß auch sein Zimmer von lauter kräftigen und stämmigen Menschen geschmückt werde. Neben der Bobelina hing dicht am Fenster ein Käfig, aus dem eine dunkle Amsel mit weißen Pünktchen hervorschaute, die gleichfalls große Ähnlichkeit mit Ssobakewitsch hatte. Der Gast und der Hausherr hatten kaum zwei Minuten geschwiegen, als die Tür aufging und die Hausfrau, eine große Dame in einer Haube mit hausgefärbten Bändern, ins Gastzimmer trat. Sie bewegte sich mit großer Würde und hielt den Kopf aufrecht wie eine Palme.
»Das ist meine Feodulia Iwanowna«, sagte Ssobakewitsch.
Tschitschikow küßte Feodulia Iwanowna die Hand, die sie ihm fast in den Mund stopfte, wobei er Gelegenheit hatte, die Wahrnehmung zu machen, daß ihre Hände mit Gurkenwasser gewaschen waren.
»Herzchen, ich empfehle dir den Pawel Iwanowitsch Tschitschikow!« fuhr Ssobakewitsch fort. »Ich hatte die Ehre, ihn beim Gouverneur und beim Postmeister kennenzulernen.«
Feodulia Iwanowna bot Tschitschikow Platz an, wobei sie gleichfalls »Ich bitte!« sagte und eine Kopfbewegung machte, wie sie die Schauspielerinnen machen, die auf der Bühne Königinnen darstellen. Dann setzte sie sich aufs Sofa, hüllte sich ganz in ihr Wolltuch und bewegte von nun an weder die Augen noch die Brauen.
Tschitschikow hob wieder die Augen und sah wieder den Kanari mit den dicken Schenkeln und dem unendlich langen Schnurrbart, die Bobelina und die Amsel in ihrem Käfig.
Fast fünf Minuten schwiegen sie alle; man hörte nur, wie die Amsel auf dem Holzboden des Käfigs die Getreidekörner aufpickte. Tschitschikow musterte noch einmal das Zimmer und alles, was darin war: alles war dauerhaft, im höchsten Grade plump und hatte eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Hausherrn selbst. In einer Ecke des Gastzimmers stand ein bauchiger Sekretär auf vier ungemein plumpen Füßen – ein richtiger Bär. Der Tisch, die Sessel, die Stühle, alles sah ungemein schwer und ungemütlich aus; mit einem Worte, jeder Gegenstand, jeder Stuhl schien sagen zu wollen: »Auch ich bin ein Ssobakewitsch!« oder: »Auch ich sehe Ssobakewitsch ähnlich!«
»Wir haben von Ihnen beim Kammervorsitzenden Iwan Grigorjewitsch gesprochen,« sagte endlich Tschitschikow, als er sah, daß niemand Lust hatte, ein Gespräch zu beginnen, »am vergangenen Donnerstag. Wir haben da die Zeit äußerst angenehm verbracht.«
»Ja, ich war an jenem Abend nicht dort«, antwortete Ssobakewitsch.
»Ist doch ein prachtvoller Mensch!«
»Wer denn?« sagte Ssobakewitsch mit einem Blick auf die Ofenecke.
»Der Kammervorsitzende.«
»Das ist Ihnen wohl nur so vorgekommen: er ist Freimaurer, sonst aber ein Dummkopf, wie es einen zweiten in der Welt nicht gibt.«
Diese etwas schroffe Charakteristik machte Tschitschikow ein wenig stutzig; dann faßte er sich wieder und fuhr fort: »Natürlich, jeder Mensch hat seine Schwächen. Aber der Gouverneur – der ist doch ein ausgezeichneter Mann!«
»Der Gouverneur ein ausgezeichneter Mann?«
»Gewiß, nicht wahr?«
»Der größte Räuber auf der Welt!«
»Wie, der Gouverneur ein Räuber?« sagte Tschitschikow, der unmöglich begreifen konnte, wie der Gouverneur unter die Räuber geraten war. »Ich muß gestehen, das hätte ich nicht gedacht«, fuhr er fort. »Aber erlauben Sie mir die Bemerkung: seine Handlungen sind gar nicht so; im Gegenteil, es steckt in ihm sogar viel Milde.« Zum Beweis führte er sogar die Geldbörsen an, die der Gouverneur eigenhändig zu sticken pflegte, und äußerte sich lobend über den freundlichen Ausdruck seines Gesichts.
»Und auch das Gesicht ist ein echtes Räubergesicht!« sagte Ssobakewitsch. »Geben Sie ihm ein Messer und lassen Sie ihn auf die Landstraße hinaus, und er wird dem ersten Besten den Kopf abschneiden, wegen einer einzigen Kopeke! Er und der Vizegouverneur sind Gog und Magog.«
– Nein, er scheint mit ihnen nicht gut zu stehen, – dachte sich Tschitschikow. – Ich will mal versuchen, vom Polizeimeister zu sprechen, der scheint sein Freund zu sein. – »Übrigens, was mich betrifft,« sagte er, »so muß ich gestehen, daß mir am besten der Polizeimeister gefällt. Welch ein gerader, offener Charakter, welch ein treuherziger Gesichtsausdruck!«
»Ein Gauner!« sagte Ssobakewitsch höchst kaltblütig. »Er wird Sie verkaufen und verraten und dann noch mit Ihnen zu Mittag essen: es sind lauter Gauner. Die ganze Stadt ist so: Da sitzt ein Gauner auf dem anderen. Es sind lauter Christusverkäufer. Einen einzigen anständigen Menschen gibt es da, das ist der Staatsanwalt, aber auch er ist, offen gestanden, ein Schwein.«
Nach diesen lobenden, wenn auch etwas kurzen Charakteristiken sah Tschitschikow ein, daß es sich gar nicht lohnte, die Rede auch auf die anderen Beamten zu bringen, und er erinnerte sich, daß Ssobakewitsch nur ungern über jemand gut sprach.
»Nun, Herzchen, gehen wir zu Tisch!« sagte zu Ssobakewitsch seine Gattin.
»Ich bitte!« sagte Ssobakewitsch. Sie traten zuerst an den Tisch, auf dem die kleinen Vorspeisen standen, und nahmen, wie es sich gehört, je ein Glas Schnaps zu sich. Sie machten es, wie es das ganze weite Rußland in seinen Städten und Dörfern zu machen pflegt, d. h. sie nahmen zum Schnaps einige gesalzene und andere appetitanregende Gottesgaben und begaben sich erst dann ins Speisezimmer; ihnen voran schritt die Hausfrau wie eine majestätische Gans. Der kleine Tisch war für vier Personen gedeckt. Den vierten Platz nahm sehr bald ein weibliches Wesen ein, es ist schwer zu sagen, ob es eine Dame oder ein Fräulein, eine Verwandte oder eine Haushälterin war oder ob es einfach aus Gnade im Hause gehalten wurde, kurz, ein Geschöpf, etwa dreißig Jahre alt, ohne Haube, mit einem bunten Tuch. Es gibt Personen, die in der Welt nicht als selbständige Individuen leben, sondern nur als Flecken auf anderen Gegenständen. Sie sitzen immer auf dem gleichen Platz, halten den Kopf gleich, man hält sie leicht für ein Möbelstück und denkt sich, daß sie noch nie im Leben auch nur ein Wort gesprochen haben; doch im Gesindezimmer oder in der Vorratskammer sind sie gar nicht so schweigsam!
»Die Kohlsuppe ist heute ausgezeichnet, Herzchen«, sagte Ssobakewitsch, nachdem er von der Suppe versucht und sich dazu ein Riesenstück von der bekannten »Njanja« genommen hatte, die stets zur Kohlsuppe gereicht wird und die bekanntlich aus einem mit Buchweizengrütze, Hirn und Füßchen gefüllten Hammelmagen besteht. »So eine Njanja«, fuhr er fort, sich an Tschitschikow wendend, »werden Sie in der Stadt nirgends bekommen; dort setzt man Ihnen weiß der Teufel was vor!«
»Beim Gouverneur ist die Küche gar nicht schlecht«, sagte Tschitschikow.
»Wissen Sie denn auch, woraus dort alles zubereitet wird? Wenn Sie es erfahren, werden Sie es nicht essen wollen.«
»Ich weiß nicht, wie die Speisen zubereitet werden, darüber habe ich kein Urteil; doch die Schweinekotelette und die gekochten Fische waren vorzüglich«
»Das ist Ihnen nur so vorgekommen. Ich weiß ja, was die Leute auf dem Markte einkaufen. So eine Kanaille von Koch, der bei einem Franzosen in der Lehre war, kauft einen Kater, zieht ihm das Fell ab und trägt ihn als einen Hasen auf.«
»Pfui, was für unangenehme Sachen du da erzählst!« sagte Ssobakewitschs Gattin.
»Ich kann doch nichts dafür, Herzchen! So wird es bei ihnen allen gemacht, und es ist nicht meine Schuld. Alle Abfälle, alles, was unsere Akuljka, mit Verlaub zu sagen, in den Mülleimer wirft, das tun sie in die Suppe!«
»Immer mußt du bei Tisch solche Dinge erzählen«, wandte Frau Ssobakewitsch ein.
»Was soll man machen, Herzchen«, sagte Ssobakewitsch. »Wenn ich es noch selbst machte, aber ich will dir ganz offen sagen, daß ich solchen Dreck nicht essen werde. Und wenn du mir einen Frosch auch verzuckerst, nehme ich ihn doch nicht in den Mund, und auch eine Auster nicht: ich weiß gut, was für einem Ding so eine Auster ähnlich sieht. Nehmen Sie sich doch vom Hammel«, fuhr er fort, sich an Tschitschikow wendend. »Das ist eine Hammellende mit Brei. Das ist kein Frikassee, wie es in den Herrschaftsküchen aus dem Hammelfleisch gemacht wird, welches vier Tage auf dem Markte herumgelegen hat. Das haben alles die deutschen und französischen Doktoren erfunden; ich würde sie dafür alle aufhängen lassen. Die Diät haben sie erfunden, das ist so eine Hungerkur! Da sie eine schwache deutsche Natur und dünne Knochen haben, so bilden sie sich ein, sie könnten auch mit einem russischen Magen fertig werden. Nein, das ist nicht das richtige, das sind lauter Erfindungen, das ist . . .« Ssobakewitsch schüttelte böse den Kopf. »Sie reden von Aufklärung und wieder von Aufklärung, diese ganze Aufklärung ist aber ein . . . Ich wüßte schon ein Wort dafür, aber bei Tisch möchte ich es nicht gerne sagen. Bei mir ist es anders. Wenn es bei mir Schweinebraten gibt, so kommt das ganze Schwein auf den Tisch; gibt es Hammelbraten, so bringe man mir den ganzen Hammel, gibt es Gänsebraten, dann soll es auch eine ganze Gans sein! Lieber esse ich nur zwei Gerichte, dafür aber so viel, wie meine Seele verlangt.« Ssobakewitsch bestätigte diese Worte auch sofort durch die Tat; er nahm die Hälfte der Hammellende auf seinen Teller, verzehrte alles und nagte auch noch jeden Knochen ab.
– Ja, – dachte sich Tschitschikow, – der weiß, was gut ist. –
»Bei mir ist es nicht so«, sagte Ssobakewitsch, indem er sich die Hände mit der Serviette abwischte. »Bei mir ist es nicht so wie bei irgendeinem Pljuschkin: der besitzt achthundert Seelen und lebt und ißt dabei schlechter als mein Hirte.«
»Wer ist dieser Pljuschkin?« fragte Tschitschikow.
»Ein Gauner«, antwortete Ssobakewitsch. »So ein Geizhals, wie man ihn sich gar nicht vorstellen kann. Die Sträflinge im Zuchthause leben besser als er: alle seine Leute hat er Hungers sterben lassen.«
»Wirklich?« fiel ihm Tschitschikow mit sichtbarer Teilnahme ins Wort. »Sie sagen, daß bei ihm die Bauern in großen Massen sterben?«
»Wie die Fliegen sterben sie.«
»Wahrhaftig, wie die Fliegen? Gestatten Sie die Frage, wohnt er weit von Ihnen?«
»Fünf Werst weit.«
»Nur fünf Werst!« rief Tschitschikow aus und fühlte sogar leichtes Herzklopfen. »Wenn man aber aus Ihrem Tore hinausfährt, so ist es rechts oder links?«
»Ich rate Ihnen nicht, sogar den Weg zu diesem Hund zu kennen«, antwortete Ssobakewitsch. »Es ist verzeihlicher, irgendeinen unanständigen Ort aufzusuchen, als ihn.«
»Nein, ich fragte nicht aus irgendwelchem . . ., sondern weil ich mich nur für die Lage von Örtlichkeiten jeder Art interessiere«, entgegnete Tschitschikow.
Nach der Hammellende kamen Käseküchlein, von denen jedes größer als der Teller war, dann folgte ein Truthahn von der Größe eines Kalbes, mit allerlei guten Dingen gefüllt: mit Reis, Eiern, Lebern und Gott weiß was sonst, was nachher wie ein Stein im Magen lag. Damit war das Mittagessen zu Ende. Als sie sich aber von der Tafel erhoben, fühlte sich Tschitschikow um ein ganzes Pud schwerer geworden. Sie gingen ins Gastzimmer hinüber, wo schon ein Tellerchen mit Eingemachtem bereitstand; es waren weder Birnen noch Pflaumen noch andere Beeren – übrigens rührte weder der Hausherr noch der Gast die Sachen an. Die Hausfrau ging hinaus, um noch einige Tellerchen zu bringen. Tschitschikow benutzte diese Gelegenheit und wandte sich an Ssobakewitsch, der, im Sessel liegend, nach dem üppigen Mittagessen nur noch ächzte, unartikulierte Laute von sich gab, sich bekreuzigte und jeden Augenblick die Hand vor den Mund hielt. Tschitschikow wandte sich an ihn mit folgenden Worten: »Ich möchte mit Ihnen gern über eine kleine Sache sprechen.«
»Hier ist noch Eingemachtes«, sagte die Hausfrau, wieder ins Zimmer tretend: »Rettich, in Honig gekocht!«
»Wir wollen später davon nehmen«, sagte Ssobakewitsch. »Geh jetzt in dein Zimmer. Pawel Iwanowitsch und ich möchten uns jetzt die Fräcke ausziehen und ein wenig ruhen!«
Die Hausfrau erklärte sich sofort bereit, Federbetten und Kissen holen zu lassen, aber der Hausherr sagte: »Es ist nicht nötig, wir ruhen in den Sesseln aus«, und die Hausfrau ging.
Ssobakewitsch neigte leise den Kopf, um zu hören, um was für eine kleine Sache es sich handle.
Tschitschikow holte sehr weit aus, berührte zunächst den ganzen russischen Staat, über dessen weite Ausdehnung er sich mit großem Lobe äußerte, und sagte, daß selbst die altrömische Monarchie nicht so groß gewesen sei, daß die Ausländer mit Recht staunen . . . (Ssobakewitsch hörte immer mit geneigtem Kopfe zu), und daß nach den bestehenden Gesetzen dieses Staates, dem an Ruhm kein anderer gleiche, die leibeigenen Seelen, die ihr irdisches Sein abgeschlossen, in den Revisionslisten wie die Lebenden geführt werden, um die Amtsstellen nicht mit einer Menge kleinlicher und nutzloser Schreibereien zu belasten und den schon ohnehin komplizierten Staatsmechanismus nicht noch komplizierter zu machen . . . (Ssobakewitsch hörte immer mit geneigtem Kopfe zu); wie gerecht diese Maßregel auch sei, falle sie jedoch manchem Besitzer zur Last, da sie ihn zwinge, für solche Seelen die Steuern genau so wie für die Lebenden zu entrichten; er aber sei bereit, da er eine persönliche Hochachtung für Ssobakewitsch empfinde, diese tatsächlich schwere Verpflichtung zum Teil auf sich zu nehmen. In bezug auf den Hauptgegenstand äußerte sich Tschitschikow sehr vorsichtig: er sprach von den Seelen nicht als von gestorbenen, sondern als von »nichtexistierenden«.
Ssobakewitsch hörte ihm immer mit geneigtem Kopf zu, während sein Gesicht auch nicht den geringsten Ausdruck zeigte. Es schien, daß er in seinem Körper überhaupt keine Seele habe, oder daß sie sich nicht dort befinde, wo sie sich zu befinden habe, sondern wie beim unsterblichen Kaschtschej der russischen Sage irgendwo hinter fernen Bergen wohne und in einer so dicken Schale stecke, daß alles, was sich auf ihrem Grunde bewege, nicht die geringste Erschütterung auf ihrer Oberfläche hervorrufe.
»Nun? . . .« sagte Tschitschikow, nicht ohne eine gewisse Aufregung auf die Antwort wartend.
»Sie brauchen tote Seelen?« fragte Ssobakewitsch sehr einfach, ohne das geringste Erstaunen, als ob die Rede von Getreide wäre.
»Ja,« antwortete Tschitschikow und milderte ein wenig den Ausdruck, indem er hinzufügte, »nichtexistierende Seelen.«
»Es werden sich schon welche finden, warum auch nicht . . .« sagte Ssobakewitsch.
»Und wenn sich welche finden sollten, so wird es Ihnen ohne Zweifel angenehm sein, sich ihrer zu entledigen?«
»Bitte sehr, ich bin bereit, sie zu verkaufen«, sagte Ssobakewitsch, indem er den Kopf ein wenig hob. Er ahnte, daß der Käufer irgendeinen Vorteil darin sehen müßte.
– Hol's der Teufel! – dachte sich Tschitschikow, – er will sie schon verkaufen, ehe ich auch nur ein Wort davon sprach! – Dann sagte er laut: »Und wie wäre beispielsweise der Preis? Obwohl es so ein Gegenstand ist, daß es sogar sonderbar wäre, vom Preise zu sprechen . . .«
»Um nicht zuviel zu verlangen, hundert Rubel pro Stück«, sagte Ssobakewitsch.
»Hundert Rubel pro Stück!« rief Tschitschikow, indem er den Mund aufriß und Ssobakewitsch gerade in die Augen blickte; er wußte nicht, ob er sich verhört oder ob die schwerfällige Zunge Ssobakewitschs aus Versehen ein falsches Wort gebraucht habe.
»Ist es Ihnen vielleicht zu teuer?« versetzte Ssobakewitsch. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Und was ist Ihr Preis?«
»Mein Preis! Wir haben uns wohl geirrt, oder wir verstehen uns nicht recht und haben vergessen, um was für einen Gegenstand es sich hier handelt. Hand aufs Herz, ich meine meinerseits, daß achtzig Kopeken pro Stück der angemessene Preis wäre!«
»Was Ihnen nicht einfällt – achtzig Kopeken pro Stück!«
»Nun, ich bin der Ansicht, daß man dafür nicht mehr bieten kann.«
»Ich verkaufe doch keine Bastschuhe.«
»Sie werden aber zugeben müssen, daß es auch keine Menschen sind.«
»Sie glauben also wirklich, daß Sie einen Dummkopf finden, der Ihnen eine in den Listen geführte leibeigene Seele für zwanzig Kopeken verkauft?«
»Aber gestatten Sie einmal: warum nennen Sie sie in den Listen geführte Seelen? Die Seelen selbst sind doch schon längst tot, und es ist von ihnen nur ein für die Sinne kaum faßbarer Schall geblieben. Um nicht viel zu reden, bin ich übrigens bereit, Ihnen anderthalb Rubel pro Stück zu geben, mehr kann ich nicht.«
»Sie sollten sich schämen, eine solche Summe zu nennen! Schlagen Sie doch einen vernünftigen Preis vor!«
»Ich kann nicht, Michailo Ssemjonowitsch; glauben Sie mir, ich kann wirklich nicht; was nicht geht, das geht eben nicht«, sagte Tschitschikow, erhöhte aber den Preis gleich um einen halben Rubel.
»Was geizen Sie so?« sagte Ssobakewitsch. »Es ist doch weiß Gott nicht teuer! Irgendein Gauner wird Sie betrügen und Ihnen statt Seelen einen Schund verkaufen. Bei mir ist es aber lauter gewählte Ware: entweder Handwerker oder sonst tüchtige Kerle. Nehmen Sie z. B. den Wagenbauer Michejew: der baute nur Wagen auf Federn. Und das war keine Moskauer Arbeit, die nur eine Stunde hält: seine Arbeit war sehr dauerhaft; auch polsterte und lackierte er die Wagen selbst.«
Tschitschikow machte den Mund auf, um einzuwenden, daß dieser Michejew schon lange nicht mehr auf der Welt sei; Ssobakewitsch war aber schon im Zug und so gesprächig geworden, wie man es ihm gar nicht zugetraut hätte.
»Und Stepan Probka, der Zimmermann? Ich setze meinen Kopf ein, daß Sie so einen Mann nicht mehr finden. Was der für eine Kraft hatte! Wenn er in der Garde diente, was bekäme er nicht alles: er war doch über drei Arschin groß!«
Tschitschikow wollte wiederum einwenden, daß auch Probka nicht mehr auf der Welt sei; aber Ssobakewitsch hatte wohl eine Art Durchfall bekommen: ihm entströmte ein so unaufhaltsamer Redefluß, daß man nur zuhören konnte. »Und dann der Ziegelbrenner Miluschkin! Der konnte in jedem Hause einen Ofen aufstellen. Maxim Teljatnikow, der Schuster: wenn der bloß mit der Ahle hinstach, so war gleich ein Paar Stiefel fertig. Stiefel, für die man sich bedanken mußte, und dabei nahm er keinen Tropfen Schnaps in den Mund. Und erst Jeremej Ssorokopljuchin! Dieser Bauer allein war so viel wert wie alle anderen: er trieb in Moskau Handel und brachte mir fünfhundert Rubel jährlich an Zins allein ein. Ja, das waren lauter solche Leute! Das ist doch was ganz anderes, als was Ihnen so ein Pljuschkin verkaufen wird.«
»Aber gestatten Sie«, sagte endlich Tschitschikow, erstaunt über diese Redeüberschwemmung, die gar kein Ende zu nehmen schien. »Warum zählen Sie alle ihre Vorzüge auf? Jetzt haben alle diese Leute nicht den geringsten Wert; sie sind ja alle tot. Mit einem Toten kann man höchstens einen Zaun stützen, wie es im Sprichworte heißt.«
»Ja, gewiß, sie sind tot«, sagte Ssobakewitsch, als hätte er erst jetzt eingesehen, daß alle diese Leute in der Tat tot waren. Dann fuhr er fort: »Übrigens, was taugen die Leute, die heute als Lebende gelten? Es sind Fliegen und keine Menschen.«
»Aber diese existieren immerhin, und die anderen sind nur ein Wahn.«
»Nein, durchaus kein Wahn! Ich will Ihnen nur das eine sagen: so einen Menschen wie den Michejew finden Sie jetzt nicht wieder; er war so ein Mordskerl, daß er in diesem Zimmer kaum Platz hätte; nein, das ist kein Wahn! In den Schultern hatte er aber eine Kraft, wie sie ein untersetztes Pferd von Wjatka hat. Ich möchte wissen, wo Sie noch einen solchen Wahn finden!« Die letzten Worte sprach er, sich an die Bildnisse Bagrations und Kolokotronis wendend, wie es meistens bei Gesprächen vorkommt, wenn einer der Sprechenden sich nicht an die Person, an die seine Worte gerichtet sind, wendet, sondern an einen Dritten, der zufällig ins Zimmer gekommen ist, selbst an einen Unbekannten; man weiß zwar, daß man von diesem Dritten weder eine Antwort noch seine Ansicht noch eine Bestätigung zu hören bekommt, aber man richtet auf ihn dennoch seinen Blick, als riefe man ihn zu einem Schiedsrichter an; der Unbekannte, der im ersten Augenblick ein wenig verlegen wird, weiß gar nicht, ob er sich zu der Sache, von der er noch nichts gehört hat, äußern oder lieber des Anstandes wegen eine Weile schweigend dastehen und dann erst fortgehen soll.
»Nein, mehr als zwei Rubel kann ich nicht geben«, sagte Tschitschikow.
»Gut, damit Sie mir nicht vorwerfen, daß ich zuviel verlange und Ihnen nicht entgegenkomme, will ich Ihnen die Seelen zu fünfundsiebzig Rubel das Stück lassen, doch nur in Banknoten, und das auch nur aus Freundschaft!«
– Hält er mich für einen Narren? – dachte sich Tschitschikow. Dann sagte er laut: »Es kommt mir wirklich sonderbar vor: es ist, als ob wir Theater oder irgendeine Komödie spielten; anders kann ich es mir nicht erklären . . . Sie scheinen ein recht kluger Mann zu sein und über Wissen und Bildung zu verfügen. Der Gegenstand ist doch nichts! Was ist er wert? Wer braucht ihn noch?«
»Sie wollen ihn doch kaufen, folglich brauchen Sie ihn.«
Tschitschikow biß sich hier in die Unterlippe und wußte im Moment nicht, was darauf zu antworten. Er fing an, etwas von Familienangelegenheiten zu reden, doch Ssobakewitsch unterbrach ihn einfach:
»Ich will von Ihren Verhältnissen nichts wissen: in Familienangelegenheiten mische ich mich nicht ein – das ist Ihre Sache. Sie brauchen Seelen, und ich will Ihnen welche verkaufen. Sie werden es auch bereuen, daß Sie sie nicht bei mir gekauft haben.«
»Zwei Rubelchen«, sagte Tschitschikow.
»Ach Gott, Sie haben sich das eine in den Kopf gesetzt: Sie haben sich auf die zwei Rubel versteift und wollen nicht herunter. Bieten Sie mir doch einen anständigen Preis!«
– Hol ihn der Teufel! – dachte sich Tschitschikow. – Einen halben Rubel will ich dem Hund noch hinwerfen! – »Schön, ich will noch einen halben Rubel dazugeben.«
»Gut, jetzt will ich Ihnen auch mein letztes Wort sagen: fünfzig Rubel! Ich verkaufe sie mit Schaden, billiger werden Sie so tüchtige Leute nirgends finden!«
– Dieser Filz! – sagte sich Tschitschikow. Dann fuhr er etwas geärgert fort: »Was ist das in der Tat? . . . Als ob es eine ernste Sache wäre! Anderswo bekomme ich sie umsonst. Ein jeder wird sie mir mit Freuden abgeben, um sie los zu sein, höchstens ein Narr wird sie noch länger behalten wollen und Steuern für sie zahlen!«
»Aber wissen Sie auch, daß Käufe dieser Art – das sage ich ganz unter uns, in aller Freundschaft – nicht immer erlaubt sind, und wenn ich oder ein anderer es wiedererzählen wollte, so würden Sie bei Abschluß von Verträgen oder irgendwelchen lohnenden Vereinbarungen nicht das geringste Vertrauen finden.«
– Da will er also hinaus, der Schuft! – dachte sich Tschitschikow und fügte gleich höchst kaltblütig hinzu: »Ganz wie Sie wollen! Ich kaufe sie nicht, weil ich sie brauche, wie Sie sich einbilden, sondern nur so . . . aus Gesinnung. Wenn Sie zwei Rubel fünfzig nicht nehmen wollen, so leben Sie wohl!«
– Den bringe ich nicht aus dem Konzept, er gibt nicht nach! – dachte sich Ssobakewitsch. »Nun, Gott mit Ihnen, geben Sie mir dreißig Rubel pro Stück und nehmen Sie die Seelen!«
»Nein, ich sehe, Sie wollen sie nicht verkaufen. Leben Sie wohl!«
»Aber erlauben Sie einmal!« sagte Ssobakewitsch, ohne seine Hand loszulassen und ihm auf den Fuß tretend; unser Held hatte sich nämlich nicht in acht genommen und mußte jetzt zur Strafe dafür aufzischen und auf einem Fuße hüpfen.
»Ich bitte um Verzeihung! Ich bin Ihnen, glaube ich, zu nahe getreten. Bitte, setzen Sie sich her! Ich bitte darum!« Mit diesen Worten nötigte er ihn in einen Sessel mit der Gewandtheit eines Bären, der schon in Dressur war und sich zu wenden und einige Kunststücke zu machen weiß, wenn man ihn auffordert: »Mischa, zeig mal, wie sich die Weiber im Dampfbade abreiben!« oder: »Mischa, zeig mal, wie die Kinder Erbsen stehlen!«
»Wirklich, ich verliere nur meine Zeit, ich habe Eile.«
»Bleiben Sie doch noch eine Minute, ich will Ihnen gleich ein Ihnen angenehmes Wort sagen.« Ssobakewitsch setzte sich näher zu ihm heran und raunte ihm ins Ohr wie ein Geheimnis: »Wollen Sie ein Viertel?«
»Das heißt fünfundzwanzig Rubel? Keine Rede! Nicht mal ein Viertel von dem Viertel, keine Kopeke mehr.«
Ssobakewitsch verstummte. Auch Tschitschikow schwieg. An die zwei Minuten währte das Schweigen. Bagration mit seiner Adlernase verfolgte von der Wand herab die Unterhandlungen mit der größten Aufmerksamkeit.
»Was wäre also Ihr äußerster Preis?« fragte endlich Ssobakewitsch.
»Zwei Rubel fünfzig.«
»Die Menschenseele scheint Ihnen wirklich so viel wert zu sein wie eine gebrühte Rübe. Geben Sie doch wenigstens drei Rubel.«
»Ich kann nicht.«
»Nun, es ist mit Ihnen wohl nichts zu machen. Ich verkaufe mit Schaden, aber ich habe schon mal so einen Hundecharakter: ich kann meinem Nächsten unmöglich ein Vergnügen versagen. Ich glaube, wir müssen auch einen Kaufvertrag abschließen, damit alles in Ordnung ist?«
»Nun sehen Sie es, also werde ich in die Stadt fahren müssen.«
So wurde das Geschäft abgeschlossen. Sie vereinbarten, sich am nächsten Tage in der Stadt zu treffen, um den Kaufvertrag perfekt zu machen. Tschitschikow bat um eine kleine Liste der Bauern. Ssobakewitsch ging gerne darauf ein, begab sich sofort zum Sekretär und stellte eigenhändig die Liste auf, die nicht nur die Namen, sondern auch die lobenswerten Eigenschaften eines jeden Bauern enthielt.
Tschitschikow begann indessen, da er nichts anderes zu tun hatte, das mächtige Gestell Ssobakewitschs zu studieren. Als er seinen Rücken, der so breit wie bei einem Pferde war, und seine Beine, die an die gußeisernen Pfosten erinnerten, wie man sie längs der Bürgersteige aufzustellen pflegt, sah, mußte er sich sagen:–Wie hat dich doch der liebe Gott ausgerüstet! Bist zwar nicht schön zugeschnitten, aber dauerhaft genäht! . . . Bist du schon als Bär zur Welt gekommen, oder haben dich das Provinzleben, die Landwirtschaft, die Plackereien mit den Bauern zu einem Bären gemacht, so daß du solch ein Wucherer geworden bist? Aber nein: ich glaube, du wärest der gleiche, auch wenn man dich nach der Mode erzogen und dir zu einer Karriere verholfen hätte, auch wenn du in Petersburg und nicht in der Provinz lebtest. Der ganze Unterschied besteht darin, daß du jetzt eine halbe Hammellende mit Brei und dazu einen Käsekuchen von Tellergröße verzehrst, während du dort irgendwelche Kotelette mit Trüffeln gegessen hättest. Jetzt hast du die Bauern in deiner Gewalt: du lebst mit ihnen in Eintracht und tust ihnen nichts zuleide, weil sie dein sind und weil es dein Schaden wäre, sie schlecht zu behandeln; dort hättest du aber Beamte unter dir, und die würdest du viel schlechter behandeln, weil sie nicht deine Leibeigenen sind, oder du würdest auch den Staat bestehlen! Nein, wenn einer schon so eine Faust hat, so kann er seine Finger nicht mehr gerade biegen! Und wenn du auch einen oder zwei Finger gerade biegst, so wird es noch schlimmer. Dann kostest du ein wenig von irgendeiner Wissenschaft, und wenn du nachher einen angeseheneren Posten bekommst, so wirst du allen, die die Wissenschaft wirklich verstehen, das Leben sauer machen! Vielleicht wirst du hinterher noch sagen: »Ich will mal zeigen, was ich kann!« Und du erfindest irgendeine weise Verordnung, daß es vielen recht bitter zumute wird . . . Ach, wenn doch alle diese Wucherer . . . –
»Die Liste ist fertig!« sagte Ssobakewitsch, sich nach ihm umwendend.
»Fertig? Bitte, geben Sie sie her!« Er überflog sie und wunderte sich über die Genauigkeit und Akkuratesse: bei jedem Bauern waren nicht nur sein Handwerk, Stand, Alter und Familienverhältnisse angegeben, sondern am Rande standen noch einige Bemerkungen über das Betragen, die Nüchternheit, mit einem Worte – es war ein Vergnügen, die Liste zu sehen.
»Nun bitte ich um eine kleine Anzahlung«, sagte Ssobakewitsch.
»Was brauchen Sie eine Anzahlung? Sie bekommen doch das ganze Geld auf einmal in der Stadt.«
»Ja, Sie wissen doch, es ist mal Sitte«, entgegnete Ssobakewitsch.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen die Anzahlung machen soll: ich habe kein Geld bei mir. Nur zehn Rubel habe ich da.«
»Ach, was sind zehn Rubel! Geben Sie mir wenigstens fünfzig.«
Tschitschikow versuchte zu behaupten, daß er soviel Geld nicht bei sich habe; Ssobakewitsch erklärte aber so positiv, daß er doch welches bei sich haben müsse, daß jener noch eine Banknote aus der Tasche zog und sagte: »Gut, hier haben Sie noch fünfzehn, im ganzen sind es also fünfundzwanzig. Ich möchte Sie aber um eine Quittung bitten.«
»Was brauchen Sie eine Quittung?«
»Wissen Sie, eine Quittung ist doch sicherer. Für jeden Fall . . . es kann doch allerhand passieren!«
»Gut, dann geben Sie erst das Geld her.«
»Warum denn das Geld? Ich halte es ja in der Hand! Sobald Sie die Quittung geschrieben haben, werden Sie es gleich bekommen.«
»Aber wie soll ich die Quittung schreiben? Ich muß doch zuerst das Geld sehen.«
Tschitschikow gab die Banknoten Ssobakewitsch, der an den Tisch ging, das Geld mit der linken Hand bedeckte und zugleich mit der Rechten auf einen Papierfetzen schrieb, daß er eine Anzahlung von fünfundzwanzig Rubel in Banknoten für die verkauften Seelen erhalten habe. Nachdem er dieses geschrieben hatte, sah er sich die Banknoten noch einmal an.
»Das eine Papierchen ist etwas alt«, sagte er, es gegen das Licht haltend, »und ein wenig zerrissen; aber unter Freunden sieht man nicht darauf.«
– Ein Wucherer, ein Wucherer! – dachte sich Tschitschikow. – Und auch noch eine Bestie dazu! –
»Wollen Sie nicht auch einige weibliche Seelen haben?«
»Nein, ich danke.«
»Die könnte ich Ihnen billig lassen. Aus Freundschaft zu einem Rubel das Stück.«
»Nein, Weiber brauche ich nicht.«
»Nun, wenn Sie keine brauchen, so lohnt es sich nicht, darüber zu reden. Über den Geschmack läßt sich nicht streiten: der eine liebt den Popen und der andere die Popenfrau, wie es im Sprichwort heißt.«
»Ich möchte Sie noch bitten, daß dieses Geschäft ganz unter uns bleibt«, sagte Tschitschikow beim Abschied.
»Das versteht sich doch von selbst. Ein Dritter braucht davon nichts zu wissen: was unter zwei intimen Freunden in aller Aufrichtigkeit abgemacht ist, das muß im Bereiche ihrer gegenseitigen Freundschaft bleiben. Leben Sie wohl! Ich danke Ihnen für den Besuch; vergessen Sie uns bitte auch in Zukunft nicht; wenn Sie mal eine freie Stunde haben, so kommen Sie zu uns: wir essen zu Mittag und verbringen die Zeit zusammen. Vielleicht bietet sich wieder einmal eine Gelegenheit, einander einen Dienst zu erweisen.«
– Ja, Schnecken! – sagte sich Tschitschikow, indem er in den Wagen stieg. – Zwei Rubel fünfzig hat er mir für eine tote Seele abgeknöpft, der Halsabschneider! –
Er war über Ssobakewitschs Benehmen äußerst unzufrieden. Ssobakewitsch war doch immerhin sein Bekannter, er war mit ihm beim Gouverneur und beim Polizeimeister zusammengekommen, hatte sich aber jetzt wie ein ganz Fremder benommen: ließ sich für einen solchen Dreck Geld zahlen! Als der Wagen schon den Hof verlassen hatte, sah sich Tschitschikow noch einmal um: Ssobakewitsch stand noch immer vor dem Hause und spähte aus, wohin sein Gast jetzt wohl fahren würde.
»Er steht noch immer da, der Schuft!« sagte Tschitschikow durch die Zähne und befahl Sselifan, den Wagen zu den Bauernhäusern zu wenden, so daß man ihn vom Herrenhause aus nicht mehr sehen könne. Er wollte nämlich zu Pljuschkin fahren, bei dem, nach Ssobakewitschs Worten, die Leute wie die Fliegen starben; er wollte aber nicht, daß Ssobakewitsch es wisse. Als der Wagen schon das Ende des Dorfes erreicht hatte, rief er den ersten besten Bauer zu sich heran, welcher gerade einen dicken Balken von der Straße aufgehoben hatte und gleich einer unermüdlichen Ameise zu sich ins Haus schleppte.
»He, du Bart! Wie kommt man von hier zu Pljuschkin, ohne am Herrenhause vorbei zu müssen?«
Die Frage machte dem Bauer anscheinend einige Schwierigkeiten.
»Nein, Herr, ich weiß es nicht.«
»Ach, du! Und dabei hast du schon graue Haare! Kennst du denn den Geizhals Pljuschkin nicht, der seinen Leuten nichts zu essen gibt?«
»Ach so, den Geflickten, den Geflickten!« rief der Bauer aus. Dem Worte »Geflickter« ließ er noch ein Substantivum folgen, das zwar äußerst gelungen war, aber in anständiger Sprache nicht gebraucht wird; darum wollen wir es hier nicht wiedergeben. Der Ausdruck war wohl übrigens ungemein treffend, weil Tschitschikow, auch schon als er eine ganze Strecke weiter gefahren war und den Bauer längst hinter sich gelassen hatte, noch immer, in seinem Wagen sitzend, grinste. Das russische Volk hat eben solche kräftige Ausdrücke. Und wenn es einem ein solches Wörtchen angehängt hat, so geht es dann von Geschlecht zu Geschlecht, folgt ihm in den Staatsdienst, nach Petersburg, bis ans Ende der Welt und bleibt ihm auch dann, wenn er schon seinen Dienst quittiert hat. Man mag dann klügeln, soviel man will, um den Spitznamen zu veredeln, man mag sogar einen Federfuchser gegen Bezahlung veranlassen, den Namen von einem altfürstlichen Geschlecht abzuleiten – es nutzt alles nichts: der Spitzname krächzt ganz von selbst aus seiner Rabenkehle und bezeugt unzweideutig, woher der Vogel stammt. Was einmal treffend ausgesprochen ist, das kann, ebenso wie was schwarz auf weiß geschrieben steht, auch nicht mit einer Axt ausgelöscht werden. Wie treffend ist aber alles, was aus den tiefsten Gründen Rußlands stammt, wo es weder deutsche noch finnische noch irgendwelche andere Volksstämme gibt, wo lauter urwüchsiges Volk mit seinem lebendigen, schlagfertigen russischen Verstand lebt, das das treffende Wort immer fertig zur Hand hat, das solch ein Wort nicht erst ausbrüten muß wie die Glucke ihre Kücken, und es einem wie einen Paß fürs ganze Leben mitgibt; dann braucht man nicht noch eigens zu erwähnen, was für eine Nase und was für Lippen der Mensch hat: mit dem einen Worte ist er ganz vom Kopfe bis zu den Füßen gekennzeichnet!
Wieviel Kirchen, Klöster mit Kuppeln und Türmen und Kreuzen über das ganze fromme Rußland verstreut sind, soviel Völker, Stämme und Geschlechter bewegen sich auf dem Antlitze der Erde. Und jedes Volk, das in sich das Pfand der Kraft trägt und von schöpferischen Eigentümlichkeiten seiner Seele, seiner grellen Eigenart und anderen Gottesgaben erfüllt ist, zeichnet sich auch durch seinen eigenen Wortschatz aus: wenn es einen Gegenstand mit einem Namen bezeichnet, so spiegelt diese Bezeichnung auch einen Teil des Volkscharakters wider. Herzenserkenntnis und Lebensweisheit spricht aus dem Worte des Briten; leicht und elegant blitzt das kurzlebige Wort des Franzosen auf, das sofort wieder verschwindet; kompliziert und schwer verständlich ist das superkluge und dürre Wort des Deutschen; aber es gibt kein Wort, das mit solchem Schwung und kühn direkt aus dem Herzen käme, das so brodelte und zappelte wie das treffende russische Wort.