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Der junge Kosak konnte sich in dem engen und dunkeln Gang kaum rühren, als er so, die Brotsäcke auf dem Rücken, hinter der Tatarin herschritt.
»Bald wird es hell«, sagte die Führerin, »wir sind gleich da, wo ich die Lampe abgestellt hab.«
Und wirklich zeigte sich an den Wänden ein leiser Lichtschimmer. Der Gang erweiterte sich zu einer Art Kapelle. An die Wand gerückt war ein schmales Tischchen, das wohl einen Altar vorstellen sollte, und darüber erblickte man ein fast völlig verwischtes, rauchgeschwärztes katholisches Madonnenbild. Eine silberne Ampel, die davor hing, spendete ungewissen Schein. Am Boden stand eine kupferne Lampe aus hohem, schlankem Fuß, von der an dünnen Kettchen eine Lichtschere, eine Nadel zum Herausziehen des Dochtes und ein Löschhorn herabhingen. Die Tatarin bückte sich zur Lampe und entzündete sie an der Ampel. Es wurde heller; und als die beiden nun weitergingen, bald von der Flamme scharf beleuchtet, bald von tiefschwarzem Schatten überkrochen, glichen sie einem Bild von Gherardo delle Notti. Das frische, schöne, von Gesundheit und Jugend strotzende Gesicht des Ritters stach seltsam gegen die ausgemergelten, bleichen Züge des Weibes ab. Der Gang erweiterte sich allmählich, so daß Andri sich aufrichten konnte. Neugierig musterte er die Erdwände, die ihn an das Kiewer Höhlenkloster gemahnten. In den Grabnischen der Wände standen Särge; verstreut am Boden lagen nackte menschliche Gebeine, die in der Feuchtigkeit vermoderten und zu Staub zerfielen. Auch hier also hatten heilige Männer gehaust und sich vor den Stürmen, Leiden und Versuchungen der Welt in die Stille geflüchtet. Die Feuchtigkeit war groß, manchmal gluckste ihnen Wasser unter den Füßen. Andri mußte oft halt machen und seine Begleiterin rasten lassen. Immer wieder gewann die Erschöpfung Macht über sie. Das Stückchen Brot, das sie heruntergeschlungen hatte, bereitete ihrem ausgehungerten Magen nur Schmerzen. Sie stand oft minutenlang unbeweglich auf einem Fleck.
Endlich gelangten sie an eine kleine eiserne Tür.
»Gott sei gelobt, da sind wir«, sagte die Tatarin mit schwacher Stimme und hob die Hand, anzuklopfen, hatte aber die Kraft nicht mehr dazu.
Andri pochte statt ihrer heftig an das Pförtchen. Das weckte einen hohlen, schnell wieder ersterbenden Klang, wie wenn drüben weite Hallen mit hohen Wölbungen lägen, von denen der Ton verschlungen würde. Alsbald hörte man Schlüssel rasseln, und Schritte schienen eine Treppe herunterzukommen. Endlich öffnete sich die Tür; vor ihnen stand auf schmaler Treppe ein Mönch, ein Schlüsselbund und einen Leuchter in den Händen. Andri stutzte unwillkürlich beim Anblick eines jener katholischen Mönche, die den Kosaken ein Gegenstand des Hasses und der Verachtung waren und von ihnen noch unmenschlicher behandelt wurden als selbst die Juden. Auch der Mönch fuhr zurück, da er den Kosaken erblickte, aber ein geflüstertes Wort der Tatarin beruhigte ihn. Er leuchtete den beiden, verschloß die Tür hinter ihnen und geleitete sie die Treppe hinauf. Sie fanden sich unter den hohen Bogen der Klosterkirche. Vor einem der Altäre, auf dem schlanke Leuchter mit brennenden Kerzen standen, kniete ein Priester und betete leise. Rechts und links von ihm knieten zwei Ministranten in veilchenfarbnem Ornat mit weißen, spitzenbesetzten Chorhemden darüber und schwangen Rauchfässer in den Händen. Der Priester erflehte ein Wunder: Gott möge die Stadt erretten, den sinkenden Mut stärken, Geduld im Leiden senden, den Versucher von hinnen treiben, der die Leute zum Murren aufstachle und ihre Seelen mit kleinmütigem, kläglichem Jammer über des Tages Not erfülle. Ein paar Frauen, die Gespenstern glichen, knieten in der Nähe, sie lehnten sich dabei an die Stühle und Bänke aus dunkelm Holz und stützten ihre kraftlosen Häupter gegen deren Lehnen; auch ein paar Männer knieten mit trüben Mienen da und ließen sich die Säulen und Pilaster, die den Chor trugen, als Halt dienen. Das bunte Fenster über dem Altar erstrahlte plötzlich von rosigem Morgenlicht, warf blaue, gelbe, rote, grüne Lichtflecke auf den Boden; und in der finstern Kirche wurde es hell. Der Altar in der tiefen Nische war auf einmal in Glanz getaucht; der Weihrauch hing als regenbogenfarbne Wolke über den Häuptern der Gemeinde. Andri starrte aus seinem dunkeln Winkel staunend in das Wunder des Lichts. Da erfüllte auf einmal das feierliche Dröhnen der Orgel den Raum; tiefer und tiefer wurde der Ton, er wuchs gewaltig zu schwerem Donnergrollen an, und plötzlich glitt er leicht in Sphärenharmonien hinüber, jauchzte silbern gleich hellen Mädchenstimmen durch das Gewölbe, schwoll wieder zu tiefem Brüllen und Donnern an und brach dann plötzlich ab. Lange noch bebte die Luft im Nachhall, lange noch lauschte Andri offnen Mundes der erhabnen Offenbarung dieser Klänge nach.
Da fühlte er sich am Rock gezogen. »Wir müssen gehn!« sprach die Tatarin.
Sie durchschritten die Kirche, ohne daß einer der Beter den Kopf nach ihnen gewendet hätte, und traten auf den Markt hinaus. Der Himmel leuchtete in dem Rot, das den Sonnenaufgang verkündet. Der rechteckige Platz war völlig menschenleer; die hölzernen Stände in seiner Mitte erzählten davon, daß hier vielleicht noch vor einer Woche Lebensmittelmarkt gehalten worden war. Statt eines Pflasters deckte den Boden eingetrockneter Schmutz. Umgeben war der Platz von kleinen, einstöckigen Häusern mit Wänden aus Stein und Lehm, durch die sich kreuz und quer die nackten Fachwerkbalken zogen, eine Bauart, die damals allgemein im Schwange war, und die man noch heute manchenorts in Litauen und Polen antrifft. Sie hatten alle unverhältnismäßig hohe Dächer mit einer Menge von Luken und Mansardenfenstern. Auf der einen Seite, neben der Kirche, erhob sich über die übrigen ein Bau von völlig andrer Art, wohl das Rathaus oder ein Regierungsgebäude. Das Haus hatte zwei Stockwerke und war gekrönt von einer Warte mit zwei offnen Lauben übereinander, deren obre einem Wächter als Ausguck diente. In das Dach war ein großes Zifferblatt eingelassen. Der Platz erschien wie ausgestorben, doch glaubte Andri ein leises Stöhnen zu vernehmen. Er schaute sich um und erblickte drüben auf der andern Seite eine Gruppe von zwei, drei Menschen, die reglos am Boden lagen. Er kniff die Augen zusammen, zu erkennen, ob diese Leute schliefen oder tot wären, da stolperte sein Fuß über etwas Weiches. Es war der Leichnam einer Frau – soviel er sehen konnte, einer Jüdin. Sie schien noch jung zu sein, wenngleich man ihrem verzerrten, ausgemergelten Gesicht nicht viel davon anmerken konnte. Sie trug ein Kopftuch aus roter Seide, um das eine doppelte Perlenschnur geschlungen war; darunter hervor ringelten sich ein paar krausgelockte Haarsträhnen auf den abgemagerten Hals hinab, dessen Adern stark angeschwollen waren. Neben ihr lag ein Säugling, der mit zitternden Händchen ihre schlaffe Brust betastete und zornig daran zerrte, weil sie ihm keine Milch zu geben hatte. Er konnte nicht mehr weinen noch schreien, das leise Heben und Senken seiner Brust aber bezeugte, daß er noch lebte und erst im Begriff war, den letzten Seufzer auszuhauchen. Sie bogen in eine Straße ein, da kam ihnen ein Tobsüchtiger entgegen. Als der Andris kostbare Last erblickte, stürzte er sich wie ein Tiger auf ihn und klammerte sich mit dem Rufe: »Brot!« an seinen Arm. Aber seine Kraft war kleiner als die rasende Gier; Andri versetzte ihm einen Stoß – er taumelte zu Boden. Von Mitleid ergriffen, warf ihm der Kosak ein Brot hin; der andre stürzte sich darauf, schlug seine Zähne hinein und begann heißhungrig zu schlingen. Der Nahrung lange schon entwöhnt, mußte er das mit dem Leben büßen – er gab unter furchtbaren Krämpfen gleich nach den ersten Bissen den Geist auf. Bei jedem Schritt fast, den die beiden machten, erregte der Anblick unglücklicher Opfer des Hungers ihr Entsetzen. Es war, als trieben ihre Leiden die Leute aus dem Hause, als glaubten sie, draußen auf der Straße könne schon die Luft ihnen Kraft und Nahrung spenden. Vor dem Tor eines Hauses kauerte eine alte Frau, man konnte nicht unterscheiden, ob sie schlafe, ob sie tot oder ob sie nur geistesabwesend sei: jedenfalls hörte und sah sie nichts; das Kinn auf die Brust gesenkt, kauerte sie schon lange reglos am gleichen Fleck. Vom Sims eines andern Hauses hing, die Schlinge um den Hals, ein langgestreckter dürrer Leichnam nieder – der arme Teufel hatte die Qualen des Hungers nicht bis zum Ende ertragen und sie durch Selbstmord abgekürzt.
Diese schauerlichen Spuren des Hungers entrissen Andri die Frage: »Haben sie denn wirklich gar nichts gefunden, ihr Leben zu fristen? In der letzten Not kann man nichts machen, da muß der Mensch essen, wovor er sich sonst ekelt; da muß auch das Viehzeug gut dafür sein, das einem sonst das Gesetz verbietet, da kann einem alles als Speise dienen.«
»Sie haben alles aufgegessen«, sprach die Tatarin, »du findest nicht Pferd, nicht Hund, nicht einmal eine Maus mehr in der ganzen Stadt. Wir haben hier drinnen nie Vorräte gehabt – es kam alles aus den Dörfern herein.«
»Aber wenn ihr einen so scheußlichen Tod sterben müßt – wozu wollt ihr die Stadt da noch halten?«
»Ja, es kann schon sein, daß der Marschall kapituliert hätte, aber gestern abend hat uns der Oberst, der bei Budschaki steht, einen Falken mit einem Brief geschickt: Wir sollen uns nicht ergeben; er will uns mit seinem Regiment entsetzen und wartet nur noch auf einen andern Obersten, der zu ihm stoßen soll. Jetzt hofft man, daß sie jede Stunde kommen. – Aber da ist schon unser Haus.«
Andri hatte längst von weitem diesen Bau bemerkt, der den andern so wenig glich und wohl von einem welschen Meister entworfen war. Zwei Stockwerke hoch reckten sich die Mauern, die aus zierlichen, schmalen Ziegeln gefügt waren. Die Fenster des Erdgeschosses hatten weit vorspringende Umrahmungen aus Granit; um den Oberstock zog sich eine Galerie aus dichtgestellten kleinen Bogenfenstern, auf deren Gittern Wappen prangten; Wappenschilder zierten auch die Ecken des Baues. Die Freitreppe aus bunten Ziegeln sprang weit in die Straße vor. Unten neben der Treppe saßen rechts und links zwei Wachtposten, die malerisch und in abgezirkelter Haltung, der eine genau wie der andre, mit der Rechten die Lanze hielten und mit der Linken den gesenkten Kopf stützten. So glichen sie mehr Bildsäulen als lebendigen Menschen. Sie schliefen nicht, schienen aber auch nichts zu hören und zu sehen; sie kümmerten sich nicht einmal darum, wer die Treppe hinanstieg. Auf der obersten Stufe erblickten die Ankömmlinge einen kostbar gekleideten, bis an die Zähne bewaffneten Krieger, der ein Gebetbuch in der Hand hielt. Er schlug die müden Augen zu ihnen auf, als aber die Tatarin ihm ein Wort zuraunte, senkte er den Blick wieder auf die Blätter des aufgeschlagnen Buches. Sie betraten das erste Gemach, das ziemlich groß war und als Vorraum und Wartezimmer diente. Rings an den Wänden rekelten sich Soldaten, Lakaien, Hundejungen, Mundschenken und andre Dienerschaft, wie sie der Rang eines polnischen Magnaten verlangte, mochte er Heerführer, mochte er nur Großgrundbesitzer sein. Der Qualm einer ausgegangnen Kerze beizte den Eintretenden die Nase; zwei andre Kerzen brannten noch auf beinah mannshohen Kandelabern, die mitten im Zimmer standen; und doch schaute durch das breite vergitterte Fenster auch hier längst der Morgen herein. Andri wollte geradeswegs auf eine hohe Tür aus Eichenholz zueilen, die mit einem Wappen und allerlei Schnitzwerk geziert war, die Tatarin aber zog ihn am Ärmel und deutete zu einem Pförtchen in der Seitenwand. Durch dieses kamen sie auf einen Gang und darauf in ein Zimmer, in dem sich Andri neugierig umsah. Der Lichtstrahl, der durch einen Spalt der geschlossenen Laden eindrang, streifte einen karmesinroten Vorhang, ein goldnes Gesims und Malereien an den Wänden. Die Tatarin hieß ihn hier warten und öffnete die Tür zu einem hell erleuchteten Nebenzimmer. Der junge Kosak vernahm das Flüstern einer sanften Stimme, vor der ihm das Herz erzitterte. Er hatte beim Öffnen der Tür flüchtig die schlanke Gestalt einer Frau erblickt, der eine lange, üppige Haarflechte über den erhobnen Arm herunterhing. Die Tatarin kehrte zurück und bat ihn, einzutreten. Er wußte nicht, wie er hineinkam, und wer die Tür hinter ihm schloß. In dem Gemach brannten zwei Kerzen; vor dem Heiligenbild flackerte die Ampel, darunter stand ein hoher katholischer Betschemel. Jedoch das war es nicht, was seine Augen suchten. Er wendete den Kopf und erblickte ein Weib, das wie mitten in einer schnellen Bewegung erstarrt und versteinert aussah – als hätte es ihm entgegenstürzen wollen und plötzlich halt gemacht. Auch er stand reglos, in tiefem Staunen. Nicht so hatte er geträumt sie wiederzusehen: das war nicht sie, die er früher gekannt hatte; sie glich in keinem Stück mehr ihrem Bild von einst, aber sie war jetzt zwiefach schön und herrlich. Damals hatte sie noch etwas gleichsam Unfertiges, Unvollendetes gehabt, jetzt war sie wie ein Meisterwerk, an dem sein Künstler den letzten Pinselstrich getan hat. Damals war sie ein reizendes kokettes Mädchen gewesen, jetzt war sie ein Weib von reifer Schönheit. Aus ihren voll zu ihm aufgeschlagnen Augen sprach ein starkes Gefühl, nicht bloß eine Spur und Andeutung von Gefühlen – nein, ein ganzes, großes Gefühl. Noch waren ihre Tränen nicht getrocknet; sie liehen ihren Augen einen feuchten Glanz, der Andri an das Herz griff. Ihre Brust, der Hals und die Schultern prangten in der schön gebändigten Fülle des voll erblühten Weibes; ihr Haar, das ihr früher in leichten Löckchen ins Gesicht gefallen war, hatte sich zu einer dicken, üppigen Flechte verwandelt, von der ein Teil aufgesteckt war, während der andre Teil armslang über die Schultern herabhing und ihr ein Netz von feinen krausen Goldfäden über die Brust legte. Ihre Züge schienen sich ganz verändert zu haben. Er suchte etwas von dem wiederzufinden, was er im Gedächtnis getragen hatte – umsonst! So furchtbar bleich sie war – das konnte ihrer Schönheit nicht Abbruch tun; es war, als gäbe ihr das vielmehr etwas Leidenschaftliches, unwiderstehlich Sieghaftes. Andri fühlte eine heilige Scheu im Herzen und stand wie ein Erstarrter vor ihr. Auch sie war wohl betroffen von dem Anblick des Kosaken, des Jünglingmannes in seiner ganzen Kraft und Schönheit, dem man auch jetzt, da er sich nicht bewegte, ansah, wie ungezwungen frei sich seine Glieder rühren müßten; sein Auge blitzte von sichrer Kraft, in kühnem Bogen schwang sich die samtne Braue, die sonnverbrannte Wange glühte vom Feuer unverdorbner Jugend, der kleine schwarze Schnurrbart glänzte seidig.
»Ich hab die Kraft nicht, noch die Macht, dir deine Güte zu vergelten, edler Ritter«, sagte sie, und ein Beben war in ihrer Silberstimme. »Gott allein kann dir das lohnen; niemals ein schwaches Weib wie ich . . .«
Sie schlug die Augen nieder; die schönen schneeigen Halbkreise der Lider, gesäumt von langen, pfeilgeraden Wimpern, verhüllten ihren Blick; auch ihr wunderholdes Gesicht neigte sich, und eine feine Röte stieg ihr in die Wangen. Andri wußte nichts zu erwidern; er hätte alles aussprechen mögen, was ihm am Herzen lag, es so glühend aussprechen mögen, wie ihm zumute war; aber er konnte es nicht. Ein dunkles Etwas versiegelte ihm die Lippen; die Stimme hätte keinen Klang gehabt – wie sollte er, das Kind des Seminars und des unsteten Kriegerlebens, auf solche Rede Antwort geben? Er haderte mit dem Schicksal, das ihn als Kosaken das Licht der Welt hatte erblicken lassen.
In diesem Augenblick betrat die Tatarin das Gemach. Sie hatte schon ein Brot in Scheiben geschnitten, trug es auf goldner Platte herein und stellte die vor ihre Herrin hin. Das schöne Mädchen sah die Dienerin und das Brot an und schlug die Augen dann zu Andri auf – es lag gar viel in diesen Augen. Dieser ergriffne Blick, der von Leid und Entbehrung sprach und davon, daß sie nicht die Kraft hätte, ihrem starken Empfinden Ausdruck zu geben, sagte Andri mehr als alle Worte. Ihm wurde es auf einmal leicht ums Herz, als fiele eine innre Fessel von ihm ab. Sein Gefühl, das eine unbekannte Macht bis dahin hart im Zaum gehalten hatte, fand sich auf einmal in Freiheit wieder und wollte sich schon in unaufhaltsame Wortströme ergießen, als die Schöne plötzlich besorgt zu der Tatarin sagte:
»Und meine Mutter? Hast du ihr Brot gebracht . . .?«
»Ich konnte nicht: sie schläft.«
»Aber dem Vater?«
»Ja. Er will selbst kommen und dem Ritter danken.«
Das Fräulein nahm vom Brot und führte es zum Munde. In unbeschreiblicher Wonne sah Andri zu, wie sie es mit ihren weißen Fingern brach und aß.
Da mußte er jäh des Hungerwahnsinnigen gedenken, der vor seinen Augen an ein paar Bissen Brot gestorben war. Er wurde blaß, legte die Hand auf ihren Arm und rief: »Genug! Iß jetzt nicht mehr! Du hast so lange nicht gegessen – das Brot ist Gift für dich.«
Sie ließ die Hand sinken, legte folgsam wie ein Kind das Brot auf die Platte zurück und schenkte ihm einen ergriffnen Dankesblick. O hätte das Wort doch Kraft des Ausdrucks! Aber nicht Meißel noch Pinsel, nicht das hochmächtige Wort kann schildern, was zu solcher Stunde im Auge einer Jungfrau lebt – nur fühlen kann das, erschauernd vor Ergriffenheit, der Glückliche, den einer Jungfrau Auge mit solcher Wärme grüßt.
»Königin!« rief Andri aus überströmendem Herzen. »Was brauchst du und was willst du? Befiehl! Wünsch dir das Unmöglichste, das es auf Erden gibt – ich laufe und erfüll es dir! Sag mir, ich soll zustande bringen, was über jedes Menschen Kräfte ist – ich tu's, und wenn ich dabei sterben soll! Dann sterb ich eben! Wenn es um dich ist, kann für mich nichts schöner sein. Beim heiligen Kreuz! – Aber ich sag es wohl nicht richtig. – Ich hab drei Höfe, die Hälfte von den Herden meines Vaters ist mir zu eigen – mein ist alles, was die Mutter dem Vater in die Ehe gebracht, und auch, was sie vor ihm verheimlicht hat – das alles ist mein. Keiner von unsern Kosaken hat solche schönen Waffen: allein für den Handgriff meines Säbels krieg ich auf der Stelle die beste Roßherde und dreitausend Schafe. Und auf das alles verzicht ich gern; ich geb es hin, verbrenn es, werf es ins Wasser, wenn du mir nur ein Wort sagst oder mir bloß mit deinen schwarzen Brauen winkst. Aber ich weiß schon, ich rede dumm, wie es sich hier nicht ziemt. Ich hab immer nur auf der Schule und im Lager gelebt, da kann ich die Worte nicht so setzen, wie es Brauch ist bei Königen und Fürsten und den Spitzen der adligen Ritterschaft. Ich seh ja, daß du ein andres Gottesgeschöpf bist als wir, und daß alle die andern Magnatenfrauen und Fräulein Töchter weit unter dir sind. Wir taugen nicht einmal zu Knechten für dich; nur die Engel im Himmel dürfen dir dienen.«
Mit wachsendem Staunen, jedes Wort begierig schlürfend, lauschte die Jungfrau dieser frei aus seinem Tiefsten sprudelnden Rede, die ihr zum Spiegel seiner jugendmächtigen Seele wurde. Und jedes dieser schlichten Worte war angetan mit Kraft, und diese Stimme drang geradeswegs bis auf den Herzensgrund. Ihr schönes Antlitz kam ihm wie gebannt entgegen, ungeduldig warf sie die widerspenstigen Haare über die Schulter zurück und starrte ihn lange mit leicht geöffneten Lippen an. Dann wollte sie etwas sagen, blieb aber stumm – es war ihr eingefallen, daß den Ritter sein Los ganz andre Wege führte, daß hinter ihm sein Vater, seine Brüder und alle seine Volksgenossen als grausame Rächer drohten, daß die Kosaken, die Dubno eingeschlossen hielten, furchtbare Menschen waren, daß ihr, den Ihren und der ganzen Stadt qualvoller Tod bevorstand. Und plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie verhüllte das Gesicht mit einem zierlich gestickten Seidentüchlein; das war im Nu ganz tränennaß. So saß sie lange, das Haupt zurückgebeugt, und nagte mit den weißen Zähnen an ihrer roten Lippe, als hätte sie jählings den Biß einer Giftotter gefühlt. Sie nahm das Tuch nicht vom Gesicht – sie wollte ihn ihren bittern Schmerz nicht sehen lassen.
»Sag mir doch nur ein Wort!« stammelte Andri und faßte ihre weiche, glatte Hand. Heißes Feuer sprang aus dieser Berührung in seine Adern, er preßte ihre Hand, die leblos zwischen seinen Fingern lag.
Sie aber blieb still und stumm und rührte sich nicht und nahm das Tuch nicht vom Gesicht.
»Warum bist du so traurig? Sag mir nur, warum du so traurig bist?«
Sie warf das Tüchlein in die Ecke, strich sich die Haare aus den Augen und ergoß den Schmerz in Worte, die leise, leise von ihren Lippen rannen. So geht der Wind, der in der Dämmerung eines schönen Abends aufwacht, durch Rohr und Schilf am Bachesrand wehmütiges Wispern füllt mit sanftem Klagelaut die Luft; da hemmt der Wandrer den Schritt und lauscht in einer Trauer, die er nicht deuten kann, er sieht nicht mehr die Abendglut am Himmel, er hört nicht mehr die frohen Lieder der heimwärts ziehenden Schnitter, hört nicht das Rasseln des fernen Wagens auf der Straße mehr.
»Bin ich nicht ewigen Mitleids würdig? Ist sie nicht tief beklagenswert, die Mutter, die mich zum Licht gebar? Welch bittres Los ist mir gefallen! Welch schlimmer Henker bist du mir, grausames Schicksal! Alle hast du sie mir zu Füßen gelegt: die edelsten Junker, die reichsten Herren, Barone und Grafen aus fremden Landen, die Blüte der heimischen Ritterschaft. Sie alle liebten mich, sie alle hätte meine Liebe der Erde höchstes Gut gedünkt. Ein Wink von meiner Hand, so hätte mich der schönste an Antlitz und Gestalt, der höchste an Adel und Geschlecht als seine Frau vor den Altar geführt. Du duldetest es nicht, grausames Schicksal, daß unter ihnen allen einer mein Herz gewann; gewinnen mußte mein Herz nicht einer unserer besten Recken, nein, dieser Fremde, unser Feind. Womit hab ich mich denn versündigt, heilige Mutter Gottes, reine Magd, was habe ich verbrochen, daß du mich ohne Gnade und Mitleid schlägst? An Überfluß und üppigem Reichtum gingen mir die Tage; köstliche Leckerbissen und süße Weine waren meine Speise. Wozu wurde mir das gegeben? Warum wurde mir das gegeben? Damit ich jetzt zum Schluß eines so elenden Todes sterbe wie nicht der ärmste Bettler im Königreich? Und dir ists nicht genug, daß du mich zu so hartem Los verurteilst, dir ist es nicht genug, daß ich vor meinem letzten Seufzer sehen muß, wie mir Vater und Mutter unter unerträglichen Martern in den Tod vorausgehen; das alles ist dir nicht genug – du mußtest es so fügen, daß ich vor meinem Ende Worte höre und eine Liebe fühle, die ich nie gekannt. Du mußtest es so fügen, daß er mit seiner Rede mein Herz in Stücke reißt, daß mein bittres Los noch bittrer wird, daß mich mein junges Leben zwiefach dauert, daß zwiefach hart der Tod mich ankommt! Fluch dir, grausames Schicksal, und dir – verzeih mir Gott die Sünde –, heilige Jungfrau!«
Als sie verstummte, sprach volle Hoffnungslosigkeit aus ihren Augen, nagender Schmerz aus jedem Zug ihres Gesichts; die trüb gesenkte Stirn, die halbgeschlossenen Lider, die Tränen, die auf ihren Wangen standen und langsam trockneten – das alles sagte: Dies Antlitz kennt nie mehr ein Glück!
»Das hat man auf der Welt noch nie gehört«, sprach Andri, »das kann auch nicht geschehen, daß die schönste und beste aller Frauen so etwas Bittres erdulden soll, wenn sie dazu geboren ist, auf den Knien angebetet zu werden, wie in der Kirche das Allerheiligste. Nein, nein, du stirbst nicht! Nein, du wirst nicht sterben! Ich schwör es dir bei meinem Namen und bei allem, was mir auf Erden lieb ist: nein, du wirst nicht sterben! Und wenn es doch so kommt und nichts mehr das bittre Schicksal wenden kann – nicht Manneskraft, nicht Mut und nicht Gebet –, dann sterben wir zusammen, und ich zuerst, ich sterbe vor dir; zu deinen Füßen will ich sterben, lebend trennt mich keine Macht von dir.«
»Lügen wir uns nichts vor!« sprach sie und schüttelte leis das schöne Haupt. »Ich weiß ja und weiß es zu meinem Schmerze nur zu gut: du darfst mich gar nicht lieben; ich weiß, was dir beschworne Pflicht ist: dich ruft dein Vater, deine Freunde rufen, es ruft die Heimat, und wir sind deine Feinde.«
»Was ist mir Vater, Freundschaft, Heimat?« rief Andri, warf den Kopf in das Genick und stand plötzlich so pfeilgerade aufgerichtet, wie die Pappel am Fluß zum Himmel ragt. »Muß es denn sein, so mag es sein: ich habe niemand! Niemand, niemand!« wiederholte er und warf die Handbewegung hin, mit der ein frischer, kecker Kosak erklärt, er wolle ein unerhörtes Stücklein vollführen, das ihm kein andrer nachmacht. »Wer sagt denn, daß mir das Grenzland Heimat ist? Wer gab es mir zur Heimat? Heimat ist mir, was meine Seele sucht, was mir das Liebste hier auf Erden ist. Du bist für mich die Heimat! Ja, das ist meine Heimat! Und diese Heimat will ich in meinem Herzen tragen, will ich hegen, solang ich lebe. Soll einer der Kosaken nur versuchen, sie mir aus der Brust zu reißen! Und was ich habe, geb ich hin, verkauf ich, laß ich zugrunde gehn für diese Heimat!«
Sie stand eine Weile starr wie ein schönes Marmorbild und sah ihn an, dann brach sie in heißes Schluchzen aus, stürzte ihm an die Brust und schlang die weißen Arme mit der hingerissenen Leidenschaft um ihn, deren nur eine edle Frau fähig ist, die ihrem Herzen folgt und keine enge Klugheit kennt.
In diesem Augenblick erhob sich draußen auf der Straße wirres Geschrei, Trompetenstöße und Paukenwirbel mischten sich darein; Andri hörte nichts von dem allen, er wußte nur, daß ihr Mund ihn in die holde Wärme ihres Atems hüllte, daß ihre Tränen heiß strömend über seine Wangen rannen, daß die blanke, duftende Seide ihres gelösten Haars als Mantel um ihn wallte.
Da stürmte die Tatarin mit einem Freudenschrei herein.
»Wir sind gerettet!« rief sie außer sich. »Die Unsern sind in die Stadt gedrungen, sie bringen Brot und Weizen und einen Haufen Kosaken mit gebundnen Händen.«
Das junge Paar wollte nichts davon hören, wer hilfreich in die Stadt gedrungen wäre, welche Vorräte er mitbrächte und wie er zu seinen Gefangnen käme. Andri küßte die frischen Lippen seiner Schönen, und ihre Lippen weigerten ihm nicht den Dank. Sie küßte ihn wieder, und in diesem innigen, zugleich gegebnen und genommenen Kusse war jene Seligkeit beschlossen, die dem Menschen in seinem Leben einmal nur beschieden ist.
Verloren war der Kosak. Verloren für das ritterliche Kosakentum! Nie wieder sollte er das Lager sehen, nie wieder seines Vaters reiche Höfe, die Kirche seines rechten Glaubens! Nie wiedersehen sollte auch die Heimat ihn, den tapfersten von ihren tapfern Söhnen, die ihr zu Schutz und Ruhm ins Feld gezogen waren.
In Büscheln wird der alte Taraß das Haar aus seinem grauen Schopfe raufen, verfluchen wird er Tag und Stunde, da er, sich selbst zu Schmach und Schande, dieses Kind erzeugte.