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Alsbald war das ganze südwestliche Polen eine Beute des Schreckens. Es erhob sich ein Jammergeschrei: »Kosaken! Kosaken im Land!« Wer fliehen konnte, floh. Jeder machte sich auf und lief, so schnell ihn die Füße trugen, wie es der Brauch war in dieser wilden, sorglosen Zeit, da keine festen Plätze und Schlösser errichtet wurden, sondern die Leute sich, wo sie grade waren, ihre vergänglichen Strohhütten bauten. Sie dachten sich: – Wozu sollen wir Arbeit und Geld auf die Hütte verschwenden, da ohnehin beim nächsten Tatareneinfall der rote Hahn auf das Dach fliegt! – Alles geriet in Bewegung: einer tauschte sich gegen seine Ochsen und seinen Pflug Pferd und Gewaffen ein und stieß zur Truppe, der andre flüchtete in ein sichres Versteck, trieb sein Vieh vor sich her und schleppte von seiner Habe mit, was er aufpacken konnte. Manch einen gabs auch, der den ungebetnen Gästen mit bewaffneter Hand in den Weg trat; die Mehrzahl freilich machte sich fort, ehe sie kamen. Jeder wußte, es war nicht gut Kirschen essen mit dieser kriegerischen Sturmschar, die hinter äußerlicher Disziplinlosigkeit die eiserne Disziplin verbarg, die den Sieg in Schlachten erkämpft. Die Reisigen ritten, ohne die Rosse zu übermüden und heiß zu machen, das Fußvolk marschierte nüchtern hinter den Packwagen; der ganze Heerzug bewegte sich nur bei Nacht; tags rastete er an einsamen, unbesiedelten Plätzen und in den Wäldern, deren es damals noch zur Genüge gab. Späher und Kundschafter wurden vorausgeschickt, überall die Gelegenheit zu erforschen. Und so tauchten sie oft an Orten auf, wo man sich ihrer noch gar nicht versah. Dann machte dort alles Reu und Leid. Feuer wurde an die Häuser gelegt; Vieh und Pferde, die das Heer nicht mitnehmen wollte, wurden am Platze niedergesäbelt. Das hatte mehr von wilden Blutorgien als von einem richtigen Feldzug. Groß war die Bestialität jener halbwilden Zeiten; das Haar würde sich einem Menschen von heute sträuben vor der grausigen Spur, die die Kosaken überall hinter sich ließen. Säuglinge fielen dem Mordstahl zum Opfer, Weiber mit abgeschnittnen Brüsten wehklagten; wen man laufen ließ, dem wurden die Füße von den Knieen abwärts geschunden – kurzum, mit Wucherzinsen trieben die Kosaken die Schulden von früher ein. Der Abt eines Klosters schickte ihnen zwei Mönche ein Stück weit entgegen und ließ ihnen seine Mißbilligung wegen ihres unziemlichen Benehmens aussprechen; dabei bestände doch ein Vertrag zwischen den Kosaken und der Regierung – sie verletzten ihre Pflicht gegen den König und brächen das Völkerrecht.
Der Hetman erwiderte: »Schönen Gruß zuvor an den Bischof von mir und allen Kosaken! Er soll keine Angst haben: die Kosaken zünden sich bloß ihre Pfeifen an.«
Und alsbald wurde die stattliche Abtei von der mörderischen Flamme gepackt, die hohen gotischen Fenster schauten düster aus lodernden Feuerwogen. Flüchtende Scharen von Mönchen, Juden und Weibern übervölkerten plötzlich alle Städte, wo irgendeine Hoffnung auf die Besatzung oder das Bürgeraufgebot zu setzen war. Die Hilfstruppen, die die Regierung hier und da, wenns schon zu spät war, schickte, waren gering an Zahl; sie fanden die Kosaken gar nicht, oder sie bekamen es mit der Angst, gaben Fersengeld bei der ersten Begegnung und rissen auf ihren flüchtigen Gäulen aus. Es geschah auch wohl, daß sich mehrere königliche Heerführer, die in früheren Schlachten ruhmreich gefochten hatten, zusammentaten und ihre Kräfte vereinten, den Kosaken die Stirn zu bieten. Hier war es, wo sich die jungen Kosaken vor allem erprobten. Sie schauderten noch vor Raub, vor Plünderung, vor der Vergewaltigung Wehrloser zurück, brannten aber darauf, sich den Alten als Kämpfer zu zeigen, Mann gegen Mann sich gegen einen geschmeidigen Polackenfant zu erproben, der auf edelm Roß einherstolzierte und die hängenden Ärmel des Dolmans im Wind flattern ließ. Fröhliche Wissenschaft war das; genug an Pferdegeschirr, kostbaren Säbeln und Flinten hatten sie schon erbeutet. Im Lauf eines Monats wurden sie Männer, waren die eben erst ausgeschlüpften Flaumküken erwachsen und völlig verwandelt; ihre Gesichter, die vorher noch knabenhafte Weichheit zur Schau getragen hatten, blickten jetzt streng und stark. Der alte Taraß hatte seine Freude daran, wie seine Söhne überall unter den vordersten waren. Ostap schien der Weg des Soldaten von Geburt an vorgezeichnet zu sein, er hatte alle Gaben für die schwierige Kriegskunst. Nichts, was ihm zustieß, konnte ihn aus der Ruhe und Fassung bringen; voll einer Kaltblütigkeit, die bei einem Zweiundzwanzigjährigen fast unglaublich schien, ermaß er mit einem Blick die ganze Gefahr und die Aussichten des Kampfes, fand er, wo das geraten schien, schleunigst ein Mittel, ihm auszuweichen, aber bloß auszuweichen, um nachher desto gewisser den Sieg zu gewinnen. Seine Bewegungen atmeten jetzt schon die Sicherheit der Erfahrung; der künftige Feldherr war nicht zu verkennen. Sein Körper strotzte von Kraft, sein Kampfesmut lieh ihm die Gewalt eines Löwen.
»Oh, der!« sagte der alte Taraß. »Das gibt einmal einen tüchtigen Hetman. Teufel, gibt das einen Hetman! Der Bursch steckt mit der Zeit den eignen Vater noch in die Tasche!«
Andri ließ sich von der bezaubernden Musik der Kugeln und Schwerter völlig fortreißen. Er wußte nicht, was überlegen heißt, einen Plan machen, die eignen und die Kräfte des Gegners in Rechnung ziehn. Ihm war die Schlacht wilde Wonne und Lust; gleich einem Rausch überkam es ihn in den Minuten, da den Mann die Kampfeswut packt, da alles vor seinen Augen flimmert und wirbelt, da abgehauene Köpfe fliegen und Rosse dröhnend zu Boden schlagen, da der Kosak trunken dahinsprengt, durch Kugelpfeifen und Säbelblitzen, und Hiebe austeilt und nichts von den Hieben spürt, die er selber empfängt. Auch an Andri hatte der Vater oft seine Freude, wenn er, einzig dem feurigen Drange folgend, Gefahren anging, die ein Mensch mit kaltem Blut und Kopf wohl vermieden hätte, und wenn er durch sein berserkerhaftes Draufgehn Wunder vollführte, vor denen auch die ältesten Kämpfer staunende Augen machten.
Der alte Taraß hatte seine Freude daran und sagte:
»Auch er – möge ihn Gott in der Schlacht beschützen – ist ein tapfrer Krieger. Er ist kein Ostap, aber, das muß man sagen, ein tapfrer Krieger!«
Der Hetman hatte beschlossen, geradeswegs gegen die Stadt Dubno zu ziehen, wo einem Gerücht zufolge ein schwerer Kriegsschatz lag und die Bürger Geld in Scheffeln besaßen. Schon um die Mitte des zweiten Tages rückte das Heer vor die Stadt. Die Einwohner beschlossen, sich bis zum letzten Mann und zur letzten Möglichkeit zu wehren und lieber auf dem Markt und den Gassen ihr Blut zu verströmen, als den Feinden den Weg über ihre Schwellen freizugeben. Ein hoher Erdwall umgab die Stadt; wo er nicht hoch genug war, hatte man Steinmauern errichtet oder mit Kanonen bestückte Blockhäuser oder Verhaue aus eichenen Palisaden. Die Besatzung war stark und wußte, worum es ging. Die Kosaken versuchten den Wall in schneidigem Ansturm zu nehmen, wurden aber von heißem Kartätschenfeuer empfangen. Auch die Bürger und das übrige Volk der Stadt schienen nicht müßig hinten bleiben zu wollen und drohten in hellen Haufen vom Wall. In ihren Augen las man den Willen zu verzweifeltem Widerstand. Selbst die Weiber nahmen am Kampfe teil. Den Kosaken auf die Köpfe regneten Steine, Fässer, Töpfe mit siedendem Wasser und endlich Säcke voll Sand, der ihnen die Augen blendete. Die Kosaken hatten nicht gern etwas mit festen Plätzen zu tun, der Sturm gegen Mauern war nicht ihr Fall.
Der Hetman gab also Befehl zum Rückzug und sagte: »Wartet es ab, ihr Herren und Brüder! Wir ziehn uns zurück; aber ein ungläubiger Tatar will ich heißen, und nicht ein Christenmensch, wenn auch nur einer von denen da aus der Stadt kommt! Sollen sie nur alle vor Hunger verrecken, die Hunde!«
Das Heer zog sich zurück, umzingelte die Stadt und machte sich aus lauter Langeweile daran, die Umgegend zu verwüsten. An die Dörfer der Nachbarschaft und die Kornschober, die noch nicht eingefahren waren, wurde Feuer gelegt; auf die ungemähten Felder jagte man die Gäule und ließ sie die vollen Ähren niedertrampeln, die den Landleuten in diesem Jahr einen selten reichen Lohn ihrer Mühe versprochen hatten. Die Leute in der Stadt sahen mit Schrecken, wie das, was ihnen Nahrung gewähren sollte, der Zerstörung anheimfiel. Inzwischen richteten sich die Kosaken, die eine zwiefache Wagenburg um die Stadt gelegt hatten, genau wie daheim im Lager ein, hausten nach Gemeinden geordnet, rauchten ihre Pfeifen, trieben Tauschhandel mit den erbeuteten Waffen, spielten Paar oder Unpaar und schauten mit zielsichrer Mördergeduld kalt nach der Stadt hinüber. Abends wurden die Lagerfeuer entfacht, die Gemeindeköche kochten in ungeheuren Kupferkesseln Riesenmengen an Grütze; neben Feuern, die die ganze Nacht unterhalten wurden, lagerten die Posten.
Es währte natürlich nur kurze Zeit, da begannen sich die Kosaken bei dem faulen Leben zu langweilen – diese ewige Nüchternheit, die durch so gar keine wichtige Tätigkeit geboten erschien, behagte ihnen wenig. Der Hetman entschloß sich seufzend, die Weinration zu verdoppeln. Das hielt man im Feld manchmal so, wenn keine größeren Kämpfe noch Marschleistungen zu erwarten waren. Besonders den jungen Leuten, nicht zuletzt Taraß Bulbas Söhnen, mißfiel dies Dasein aufs höchste.
Andri machte kein Hehl aus seinem Verdruß.
»Unvernünftiger Bursch«, sagte Taraß zu ihm, »nur durch Geduld wird aus dem Kosaken ein Hetman! Das ist mir noch lange nicht der richtige Krieger, wer bloß in der Schlacht keine Angst hat – nein, auch wenn nichts zu tun ist, hübsch munter bleiben, alles ertragen, was da auch kommt und was da auch los ist, und immer den Mut behalten . . .!«
Aber ein hitziger junger Bursch denkt darin nicht wie ein Alter – ihre Jahre sind weit auseinander, sie sehen die Dinge mit sehr verschiednen Augen.
Inzwischen war auch Taraß Bulbas Regiment unter der Führung des Oberstleutnants Towkatsch zum Heere gestoßen; zwei weitere Oberstleutnante, einen Schreiber und sonstige Chargen brachte er mit; es waren im ganzen mehr als viertausend Kosaken. An ihren Reihen gab es genug Freiwillige, die ohne Aufruf unter die Fahne getreten waren, als sie hörten, worum es ging. Towkatsch überbrachte Bulbas Söhnen den Segen der Mutter und jedem ein im Kiewer Kloster geweihtes Heiligenbild aus Zypressenholz. Die beiden Söhne hängten sich die Amulette um und kamen wider Willen ins Grübeln, da sie der Mutter gedachten. Was kündete und bedeutete ihnen dieser Segen? Hatte er wohl die Kraft, ihnen den Sieg über die Feinde zu schenken und darnach die fröhliche Heimkehr, schwer an Beute, strahlend in Ruhm, der ewig zum Klang der Pandora besungen würde; oder . . .? – Keiner erforscht die Zukunft, sie liegt vor dem Menschenblick wie herbstlicher Nebel, der aus Sümpfen empordampft; sinnlos flattern durch ihn mit bangem Flügelschlag die Vögel aufwärts und abwärts, ohne einander zu sehen, die Taube sieht nicht den Habicht, der Habicht sieht nicht die Taube, und keiner weiß, wie dicht auf den Fersen das Unheil ihm folgt . . .
Ostap hatte die Tagesarbeit getan und lag schon lange schlummernd bei den Kameraden. Andri aber war es, er wußte selbst nicht warum, sonderbar schwül ums Herz. Das Mahl der Kosaken war längst beendet, die Abendröte verglommen, eine herrliche Julinacht verhüllte die Erde. Andri ging nicht zu seinen Leuten, er legte sich auch nicht schlafen, er schaute verträumt auf das Bild, das sich vor ihm ausbreitete. Am Himmel funkelten klein und hell die Sterne. Weithin über das Feld zog sich die Reihe der Wagen, die mit allerhand Proviant und Beute beladen waren, und zwischen deren Rädern die Teereimer leise schaukelten. Neben den Wagen, unter den Wagen, seitab von den Wagen – überall hatten sich die Kosaken ins Gras geworfen. Sie schliefen in den mannigfaltigsten Stellungen – dem einen diente ein Mehlsack als Kissen, dem andern die Mütze, wieder einer bettete einfach den Kopf auf den Bauch eines Kameraden. Der Säbel, die Hakenbüchse, die kupferbeschlagne Pfeife mit kurzem Rohr, Stahl und Stein waren jedem zur Hand – davon trennte man sich auch bei Nacht nicht. Die schweren Ochsen lagen, die Beine unter den Leib gezogen, als weißliche Haufen da und glichen aus der Entfernung gesehen über die Hänge verstreuten grauen Felsblöcken.
Rundum erscholl das tausendstimmige Schnarchen des schlafenden Heeres; wie eine Antwort darauf kam von den Feldern das helle Wiehern der Hengste, die unwillig an ihren Koppeln zerrten. Und etwas war da, was der Schönheit der Julinacht eine unheimliche Erhabenheit lieh. Das war der Schein der ferne brennenden Dörfer. Hier wallte die Flamme still und feierlich zum Firmament empor; dort, wo sie leichtere Nahrung fand und vom Wind gepackt wurde, heulte sie pfeifend und flog bis an die Sterne hinauf, die losgerissenen Feuerfetzen erloschen erst hoch oben im Himmel. Ein niedergebranntes schwarzes Kloster stand dräuend wie ein grimmer Karthäusermönch da und wies im Licht der Brände seine düstre Majestät, der Klostergarten brannte, Andri meinte beinah, er höre die Bäume zischen, wenn sie in der Glut zu dampfen begannen; schlug dann die Lohe empor, so lag plötzlich das Licht grell phosphorblau auf Büscheln von reifen Pflaumen und verwandelte gelbe Birnen zu blankem Dukatengold. Dazwischen hing an der Klostermauer oder an einem Baumast in tiefem Schwarz der Leichnam eines Juden oder eines Mönches, der bei der Brandschatzung des Klosters sein Ende gefunden hatte. Oben über den Flammen flatterten ängstlich Vögel, die einem Muster aus dunkeln Kreuzchen auf feurigem Grunde glichen. Die belagerte Stadt schien zu schlafen, ihre Türme und Dächer, der Palisadenzaun und die Mauern glühten verschwiegen im Schein der fernen Brände.
Andri durchschritt die Reihen der Kosaken. Die Feuer, an denen die Posten lagerten, waren am Verlöschen, die Posten selbst schliefen – sie hatten ihren gesunden Kosakenhunger wohl durch zu reichliche Atzung befriedigt. Ein bißchen merkwürdig dünkte Andri soviel Sorglosigkeit; er überlegte: – Ein Glück noch, daß kein starker Feind um den Weg ist und nirgends Gefahr droht. – Endlich ging er selbst zu einem der Wagen, kletterte hinauf und legte sich auf den Rücken, den Kopf in die gefalteten Hände gebettet; aber er konnte nicht schlafen und schaute noch lange in den Himmel hinauf: grenzenlos offen lag der vor seinem Blick, die Luft war sichtig und rein, das Sterngewimmel der Milchstraße zog einen grell funkelnden Lichtgürtel über die Wölbung. Manchmal verschwammen Andris Gedanken, ein leichter Schlummernebel zog über die Sterne, gleich aber wurde er wieder wach und sah alles sehr scharf und sehr klar.
Da war es ihm plötzlich, als tauche so etwas wie ein seltsames Gesicht aus der Nacht. Er hielt es für ein Traumbild, das gleich wieder in Luft zerrinnen müsse, und riß die Lider gewaltsam auf. Da erkannte er, daß sich in Wahrheit ein verhärmtes, hagres Antlitz über ihn beugte und ihm gerade in die Augen sah. Lange, kohlschwarze Haare, ungekämmt und wirr, krochen unter einem dunkeln, lässig übergeworfnen Kopftuch hervor; das sonderbare Glimmen des Blickes, die Leichenblässe der scharfen Züge gemahnten ihn an ein Gespenst.
Unwillkürlich griff Andri zur Hakenbüchse und fragte mit bebender Stimme: »Wer da? Bist du ein unreiner Geist, so hebe dich fort; bist du ein lebendiger Mensch, so reut dich der Spaß – ich knall dich über den Haufen!«
Als Antwort legte die Erscheinung den Finger an die Lippen und schien ihn durch diese Gebärde zu bitten, er möge doch still sein. Er ließ die Hand sinken und musterte das seltsame Wesen genauer. An den langen Haaren, dem Hals und der halbnackten braunen Brust erkannte er, daß es ein Weib war. Aber sie mußte von fremdem Stamm sein; ihr braunes Gesicht erschien wie ausgemergelt durch harte Entbehrung, die breiten Backenknochen sprangen scharf aus den eingefallnen Wangen hervor, schief geschlitzt zogen sich die Augen gegen die Schläfen hinauf.
Je länger Andri das Gesicht musterte, desto bekannter dünkte es ihn. Endlich fragte er lebhaft: »Wer bist du? Ich glaube immer, ich kenn dich. Gesehen hab ich dich schon einmal.«
»Vor zwei Jahren, in Kiew.«
»Vor zwei Jahren . . . in Kiew . . .« wiederholte Andri und ließ die Erinnerungen aus der Schulzeit an sich vorüberziehen. Forschend musterte er die Fremde noch einmal, dann schrie er plötzlich: »Jetzt weiß ichs: die Tatarin bist du, die Magd des Fräuleins!«
»Scht!« wisperte das Weib und faltete flehend die Hände. Bang wendete es den Kopf, zu sehen, ob Andris laute Worte nicht am Ende einen der Schläfer aufgeschreckt hätten.
»Wo kommst du her? So sprich doch!« flüsterte er atemlos, die Erregung preßte ihm hart die Kehle zusammen. »Wo ist das Fräulein? Ist sie wohlauf?«
»Drinnen in Dubno ist sie.«
»Dort in der Stadt?« Er hätte beinah wieder aufgeschrieen, alles Blut schoß ihm jählings zu Herzen. »Wie kommt sie hierher?«
»Der alte Herr ist auch da: er ist schon im zweiten Jahr Marschall von Dubno.«
»Ist sie vermählt? Sprich, sprich doch! Sei nicht so komisch! Was macht sie?«
»Sie hat zwei Tage schon nichts mehr gegessen.«
»Nein . . .?!«
»Kein Mensch in der Stadt hat noch ein Stück Brot. Sie fressen Erde – es gibt nichts weiter.«
Andri starrte düster ins Leere.
Das Weib fuhr fort: »Das Fräulein hat dich vom Wall aus unter den Kosaken gesehen. Sie sagte zu mir: ›Geh hin zum Ritter: wenn er meiner gedenkt, soll er kommen; und hat er mich schon vergessen, dann soll er dir doch ein Stück Brot geben für meine alte Mutter – ich kann es nicht mit ansehen, wie sie vor meinen Augen langsam dahinstirbt. Lieber will ich zuerst verhungern – wenn sie nur lebt, bis ich tot bin. Wirf dich ihm vor die Füße und leg die Arme um seine Knie: er hat selbst eine Mutter – bei ihrem Leben beschwör ihn um ein Stück Brot!‹«
Ein Sturm von Gefühlen erschütterte den jungen Kosaken. »Aber wie kommst du her?« forschte er.
»Durch den geheimen Gang.«
»Gibt es da einen geheimen Gang?«
»Unter der Erde, ja.«
»Wo?«
»Wirst du uns auch gewiß nicht verraten, Herr Ritter?«
»Ich schwör es dir beim heiligen Kreuz!«
»Von hier zum Bach hinunter, über dem Wasser, dort wo das hohe Schilf ist . . .«
»Und kommt man durch diesen Gang in die Stadt?«
»Geradeswegs ins städtische Kloster.«
»Also . . . Was warten wir noch!«
»Aber um Christi und der heiligen Jungfrau willen, ein Stück Brot!«
»Schon recht, ich hol was! Bleib hier beim Wagen, oder kriech besser hinauf! Keiner sieht dich, sie schlafen alle; ich bin gleich wieder da.«
Er machte sich auf den Weg. Sein Herz klopfte heftig. Die Vergangenheit, die durch das Lagerleben, durch die bunten Kriegsabenteuer in den Hintergrund getreten war, drängte sich wieder vor und schob nun die Gegenwart in den Schatten. Wie aus dunkler Meerestiefe tauchte das stolze Weib ans Licht; von neuem letzte sich sein Gedächtnis an ihren weißen Armen, ihren Augen, ihren lachenden Lippen, an dem üppigen, dunkel nußbraunen Haar, das sich in Locken auf ihre Brüste ringelte, an dem vollendeten Ebenmaß ihrer biegsamen Mädchengestalt. Nicht erloschen war dies Bild, nicht entschwunden aus seinem Herzen – für eine Weile nur war es vor der Gewalt der neuen Bilder vom Schauplatz getreten, gar oft hatte es durch die nächtigen Träume des Jünglings gegeistert, gar oft war Andri emporgefahren und hatte schlaflos auf seinem Lager gelegen und nicht gewußt, warum ihm solches geschah.
Er setzte langsam Fuß vor Fuß und spürte beinah eine Lähmung in den Knien, fühlte sein Herz wilder und wilder pochen bei dem Gedanken, daß er sie wiedersehen sollte. Als er vor dem Packwagen stand, hatte er völlig vergessen, was er hier suchte; er rieb sich mit dem Handrücken die Stirn und überlegte, weshalb er gekommen sei. Endlich traf es ihn wie ein Schlag: ihn überfiel die Angst, sie könne Hungers sterben. Er lud sich eilend ein paar Laibe Brot auf. Doch konnte solche derbe Kosakenkost dem zarten Wesen willkommne Nahrung sein? Nun, es mußte wohl noch etwas andres geben. Erst heute abend hatte der Hetman die Köche hart angelassen, weil sie das Buchweizenmehl, das drei Tage reichen sollte, für eine einzige Mahlzeit verbraucht hatten! Fest überzeugt, daß er noch Brei zur Genüge finden würde, kramte Andri seines Vaters Feldkessel hervor und suchte den Gemeindekoch auf. Der lag schlafend neben den beiden großen Kupferkesseln, deren jeder zehn Eimer faßte, und unter denen die Asche noch glühte. Andri mußte zu seiner Verblüffung feststellen, daß die Riesengefäße sauber ausgekratzt waren. Solche Mengen zu vertilgen – dazu gehörten wirklich übermenschliche Kräfte, zumal da Andris Gemeinde weniger Köpfe zählte als die andern. Er untersuchte die Kessel der Nachbargemeinden – nirgends ein Restchen zu finden. Er mußte an den Spruch denken: »Der Kosak ist ein Kind: koch wenig, koch viel – er frißt, was da ist, mit Stumpf und Stiel.« – Was tun? Ihm kam in den Sinn, daß es auf dem Regimentspackwagen seines Vaters noch einen Sack Weißbrot geben müßte, den sie bei der Plünderung der Klosterbäckerei erbeutet hatten. Er fand das Gesuchte aber nicht auf dem Wagen: Ostap hatte sich den Sack unter das Genick geschoben und lag und schnarchte, daß es weit durch die Nacht klang. Andri packte den Sack und riß so hastig daran, daß seines Bruders Kopf hart gegen die Erde knallte.
Halb noch im Schlaf, setzte sich Ostap auf und schrie, ohne die Augen zu öffnen, aus vollem Halse: »Haltet ihn fest, haltet den Satanspolacken, fangt seinen Gaul, den Gaul müßt ihr fangen!«
»Sei still, oder du bist ein Kind des Todes!« rief Andri erschrocken und holte mit dem Sack gegen ihn aus.
Aber Ostap sagte ohnehin kein Wort mehr: er hatte sich schon wieder beruhigt und schnarchte, daß sich von seinem Hauch die Gräser bogen.
Andri spähte besorgt in die Runde, ob von Ostaps schlaftrunknem Gebrüll niemand aufgewacht wäre. Und wirklich hob sich in der Nachbarschaft ein beschopfter Kopf und ließ die Augen wandern. Doch sank er gleich wieder ins Gras. Der junge Kosak wartete noch eine Weile und ging dann weiter mit seiner Last.
Die Tatarin lag auf dem Wagen und wagte kaum zu atmen.
Andri flüsterte: »Hopp, komm herunter! Alles schläft, hab keine Angst! Kannst du nachher ein paar von den Broten nehmen, wenn mir der Kram zu schwer wird?« Sprachs, lud sich die Säcke auf den Rücken und holte im Vorbeigehn noch einen Sack Hirse von einem Wagen. Unter die Arme nahm er die Brote, die er der Tatarin zum Tragen hatte geben wollen, und schritt, etwas gebückt unter der Bürde, keck durch die Reihen der schlafenden Kosaken.
»Andri!« rief, als sie an ihm vorbeikamen, plötzlich der alte Bulba.
Dem Sohn stand das Herz still; er machte halt und stammelte, zitternd am ganzen Leibe: »Was ist denn?«
»Du läufst mit einem Weibsbild herum! Wart nur, mein Sohn, wenn ich aufsteh – den Hintern verhau ich dir! Von den Weibern lernst du nichts Gutes!«
Bulba stützte das Kinn in die Hand und musterte scharf die in ihr Tuch gehüllte Tatarin.
Andri war nicht lebendig und nicht tot, er hatte den Mut nicht, dem Blick des Vaters zu begegnen. Als er endlich die Augen hob und ihn ansah, merkte er, daß der alte Bulba schon wieder schlief, noch in der gleichen Haltung, das Kinn in die Hand gestützt.
Andri bekreuzigte sich. Der Schreck verebbte schneller, als er ihm vorhin zu Herzen geströmt war. Als er sich nach der Tatarin umschaute, sah er sie stehen gleich einer Bildsäule aus dunkelm Granit, fest in ihr Tuch gewickelt; nur ihre Augen glänzten im Schein der fernen Feuersbrünste – er fühlte sich an die gebrochnen Augen einer Leiche erinnert. Aufmunternd zog er sie am Ärmel; sie schritten zusammen rüstig aus und wendeten viele Male besorgt die Köpfe, bis sie endlich über den Hang in die Schlucht abgestiegen waren, auf deren Grunde der Bach zwischen Moostümpeln träg durch das Riedgras plätscherte. Hier waren sie vor jedem Blick vom Lager her gedeckt. Als Andri sich umschaute, sah er die Böschung als senkrechte Wand von mehr als Mannshöhe hinter sich aufsteigen; oben nickten vereinzelte Grashalme, und darüber hing schief im Himmel der Mond, gleich einer Sichel aus blankem Dukatengold. Ein leichter Wind, der das Gras erschauern ließ, kündete, daß der Tag nicht mehr fern sei.
Jedoch kein Hahnenschrei klang in der Runde. Hähne gab es hier längst nicht mehr, nicht in der Stadt, nicht bei den Bauern. Auf einem schmalen Brett überquerten sie den Bach, dessen andres Ufer noch höher und steiler anstieg als das verlassene. Dies schien ein von Natur fester und sichrer Punkt des städtischen Weichbildes zu sein – dafür sprach schon, daß der Wall hier niedrig und nicht von Posten besetzt war. Weiterhin schloß sich die feste Klostermauer an. Der Hang war mit Steppengras bewachsen; auf dem schmalen Rain zwischen ihm und dem Bach wucherte mannshohes Röhricht. Oben auf der Höhe sah man die Trümmer eines Flechtwerkzaunes, der einst einen Küchengarten umfriedet haben mochte. Außen säumten den Zaun breitblättrige Kletten, über ihn hervor lugte ein Gewirr von Melden und stachligen Disteln, dahinter hoben Sonnenblumen stolz die Köpfe. Nun schlüpfte die Tatarin aus den Stöckelschuhen und ging barfuß weiter, behutsam schürzte sie ihr Gewand, denn der Boden war sumpfig und wasserreich. Sie drangen durch das Röhricht und standen vor einem Reisighaufen. Der wurde zur Seite geschoben, und es öffnete sich eine Art Höhle, nicht viel größer als ein Backofenloch. Die Tatarin bückte sich und ging voran. Andri machte sich so klein, wie er nur konnte, um mit den Säcken durchzukommen; und bald nahm schwarze Finsternis die beiden auf.