Johann Wolfgang von Goethe
Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären
Johann Wolfgang von Goethe

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XIII. Von den Augen und ihrer Entwickelung

§ 85.

Jeder Knoten hat von der Natur die Kraft, ein oder mehrere Augen hervorzubringen; und zwar geschieht solches in der Nähe der ihn bekleidenden Blätter, welche die Bildung und das Wachsthum der Augen vorzubereiten und mit zu bewirken scheinen.

§ 86.

In der successiven Entwickelung eines Knotens aus dem andern, in der Bildung eines Blattes an jedem Knoten und eines Auges in dessen Nähe, beruhet die erste, einfache, langsam fortschreitende Fortpflanzung der Vegetabilien.

§ 87.

Es ist bekannt, dass ein solches Auge in seinen Wirkungen eine große Aehnlichkeit mit dem reifen Samen hat; und daß oft in jenem noch mehr als in diesem die ganze Gestalt der künftigen Pflanze erkannt werden kann.

§ 88.

Ob sich gleich an dem Auge ein Wurzelpunct so leicht nicht bemerken läßt, so ist doch derselbe eben so darin wie in dem Samen gegenwärtig, und entwickelt sich, besonders durch feuchte Einflüsse, leicht und schnell.

§ 89.

Das Auge bedarf keiner Cotyledonen; weil es mit seiner schon völlig organisirten Mutterpflanze zusammenhängt, und aus derselbigen, so lang es mit ihr verbunden ist, oder, nach der Trennung, von der neuen Pflanze auf welche man es gebracht hat; oder durch die alsobald gebildeten Wurzeln, wenn man einen Zweig in die Erde bringt, hinreichende Nahrung erhält.

§ 90.

Das Auge besteht aus mehr oder weniger entwickelten Knoten und Blättern, welche den künftigen Wachsthum weiter verbreiten sollen. Die Seitenzweige also welche aus den Knoten der Pflanzen entspringen, lassen sich als besondere Pflänzchen, welche eben so auf dem Mutterkörper stehen wie dieser an der Erde befestigt ist, betrachten.

§ 91.

Die Vergleichung und Unterscheidung beyder ist schon öfters, besonders aber vor kurzem so scharfsinnig und mit so vieler Genauigkeit ausgeführt worden, daß wir uns hier bloß mit einem unbedingten Beyfall darauf berufen können (b).

§ 92.

Wir führen davon nur so viel an. Die Natur unterscheidet bey ausgebildeten Pflanzen, Augen und Samen deutlich von einander. Steigen wir aber von da zu den unausgebildeten Pflanzen herab, so scheint sich der Unterschied zwischen beyden selbst vor den Blicken des schärfsten Beobachters zu verlieren. Es giebt unbezweifelte Samen, unbezweifelte Gemmen; aber der Punct, wo wirklich befruchtete, durch die Wirkung zweyer Geschlechter von der Mutterpflanze isolirte Samen mit Gemmen zusammentreffen, welche aus der Pflanze nur hervordringen und sich ohne bemerkbare Ursache loslösen, ist wohl mit dem Verstande, keineswegs aber mit den Sinnen zu erkennen.

§ 93.

Dieses wohlerwogen, werden wir folgern dürfen: daß die Samen welche sich durch ihren eingeschlossenen Zustand von den Augen, durch die sichtbare Ursache ihrer Bildung und Absonderung von den Gemmen unterscheiden, dennoch mit beyden nahe verwandt sind.


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